Das Geheimnis von Hully Gully - Peter Vogl - E-Book

Das Geheimnis von Hully Gully E-Book

Peter Vogl

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Bunte Lichter, nackte Haut und Geisterbahnen: Mädchen Mangold ist überglücklich, als sie 1992 ihr altes, trauriges Leben zurücklassen kann und mit ihren zwei Kindern an einen völlig abgeschiedenen und fantastischen Ort namens Paradise Peak gelangt. Die Stadt ist um den gigantischen und pulsierenden Vergnügungspark Hully Gully herum aufgebaut. Glückliche Menschen genießen dort ein schier unendliches Unterhaltungsangebot und können kindliche Nostalgie und sexuelle Freizügigkeit ausleben. Vielleicht schafft es Mädchen in dieser fast utopischen Gemeinde, ihren Traum einer Musikkarriere doch noch zu verwirklichen. Sind die mysteriöse Gründungsfamilie der Stadt und ein eleganter Bordellbetreiber wirklich ihre neuen Freunde? Stimmt es, dass eine Gruppe von Freimaurern eine kosmische Urenergie entdeckte? Wer hütet Das Geheimnis von Hully Gully?

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Seitenzahl: 627

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Peter Vogl

Das Geheimnis von Hully Gully

© 2024 Peter Vogl

Umschlag: Edison Wormhole

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback

978-3-347-45021-9

Hardcover

978-3-347-45022-6

e-Book

978-3-347-45023-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

1. Mädchens Moll

2. Okkasion

3. Nana

4. Paradise Peak

5. Rummelbummel

6. R.R.

7. Kinderspiel

8. R&R

9. Weltschmerz

10. +1

11. Der neue Mitbewohner

12. Story Time

13. Burg Barone

14. Burg Barone II

15. Breakneck

16. Prosit 1993!

17. Vorhang auf

18. London, 1951: The Greatest Show on Earth

19. Entscheidungen

20. Fackeln in Utopia

21. Sondersendung

22. The Show Must Go On

23. Ausnahmezustand

24. Rückkehr zur Rotunde

25. Finale

26. Zugabe

Das Geheimnis von Hully Gully

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Urheberrechte

1. Mädchens Moll

26. Zugabe

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Über allen andren Dingen

Lasst uns spielen, tanzen, singen

Denn das Mu******tt soll fließen

Und sich auf die Welt ergießen

Wenn Leiber wie auch Seelen beben

Wissen wir: Wir sind am Leben!

Allvater, wir wollen dich hören

Uns an deinem Lied betören

Schenk erneut uns deine Zeilen

Auf dass wir enge Herzen heilen

Aus „Ser'olkok: Das Menschlein im Universum“

(Übersetzung, zensiert)

1. Mädchens Moll

Mädchen stand allein auf der Bühne. Kein einziges fröhliches Gesicht war in der kleinen Kneipe zu sehen. Sie kniff ihre Augen zu, in der Hoffnung durch den Nikotinnebel hindurch doch noch irgendwo ein zufriedenes Lächeln zu finden. Nur wenige Leute hatten an diesem Abend ihren Weg in diese schummrige Spelunke gefunden und sie hatten allesamt offenbar keine Freude an Mädchens Musik. "Singe ich so schlecht, oder mag das Publikum meine Lieder einfach nicht?", dachte sie. "Ich spiele ihnen lieber etwas vor, das sie kennen sollten." Mädchen drückte das Mikrofon fest, um ein Gefühl von Kontrolle zu erlangen. Zwei bekannte Publikumslieblinge später herrschte immer noch Teilnahmslosigkeit im Raum. Noch nie fühlte sie sich Mädchen auf einer Bühne so verlassen und völlig einsam.

In einiger Entfernung nahm der kleine Guppi plötzlich Witterung auf. Seine großen Augen wurden riesig und seine Mundwinkel spitzten sich nach oben zu. "Melange!" Er lief aufgeregt über den Asphalt. "So viel Melange. Kann es sein? Wenn mich meine Nase nicht täuscht, dann kann ich meinen Soll für dieses Monat heute schon erfüllen." Um noch schneller zu sein, warf Guppi seinen Körper nach vorne und rannte auf allen Vieren. Sofort fiel ihm wieder ein, dass die Menschen ihn so nicht sehen durften, also lief er wieder auf zwei Beinen weiter. Er huschte über Straßen, durch Wiesen, Gärten und Sträucher. "Ich bin immer näher dran."

Mädchen hängte sich ihre alte Konzertgitarre um und atmete tief durch. Ihr nächstes Lied war immer noch sehr nahe an ihrem Herzen. Kurz vor der Trennung von Russ war sie vor zwei Jahren an einem Tiefpunkt in ihrem Leben angelangt und zu diesem Song inspiriert. Sie strich über die Saiten und begann gefühlvoll zu singen. Ihre helle, weiche Stimme konnte die lauten Männergespräche im Raum kaum durchdringen. Vor einer Woche war sie verzweifelt auf der Suche nach einem geeigneten Ort für ihren Auftritt und hatte diese Kneipe gefunden. An jenem Abend war das Publikum um einiges respektvoller gewesen und hatte der Sängerin zugehört. "Ist es, weil sie Anfang 20, blond und hübsch war? Und ich 38 und brünett bin, und nicht mehr so strahle? Oder waren ihre Lieder wirklich besser?" Am emotionalen Höhepunkt des Songs ertönte plötzlich ein lauter Knall. Zwei Männer rangen und schlugen aufeinander ein. Fleisch traf auf Fleisch und Glas zersprang. Mädchens Performance war vorhin bereits Hintergrundmusik, doch jetzt wurde sie komplett übertönt. Die Freunde des einen Mannes gingen auf die Freunde des anderen los. Noch bevor der Türsteher eingreifen konnte, war ein wenig Blut vergossen worden und ein Stuhl sowie einige Gläser und Flaschen waren kaputtgegangen.

Guppi schnürte seinen kleinen Mantel zu, um seine nackte Haut zu verdecken, und betrat aufgeregt das Lokal. "Überwältigend." Die Melange strömte in solch rauen Mengen durch den gesamten Raum, dass er beinahe nach ihr greifen konnte. Sie ging von der attraktiven Frau mit dem traurigen Gesicht auf der Bühne aus. Der Besitzer des Lokals und der Türsteher trugen einen aus dem Mund blutenden Mann an den Schultern nach draußen und forderten andere auf, die Kneipe zu verlassen. Guppi grinste und amüsierte sich über die lauten, diskutierenden, verletzten Männer. Der Besitzer gab der Frau auf der Bühne ein Zeichen, dass sie weitermachen soll. Sie seufzte und spielte weiter. Guppi nahm als einer der wenigen verbliebenen Gäste ganz hinten im Raum Platz. Er war so klein, dass er gerade über den Tisch blicken konnte, auf den er sein Köpfchen legte. Gespannt hörte er der traurig aussehenden Frau zu. Sie sang drei melancholische Lieder über Schmerz, Verlust und leise Hoffnung. "Was für ein Glück, was für ein Glück. Nana wird sehr zufrieden mit mir sein."

Mädchen dachte "Das letzte Lied, dann ist es endlich vorbei. Niemand wird nachher meine Kassetten kaufen, das weiß ich jetzt schon." Ein dicker Mann saß direkt vor ihr, paffte eine Zigarre und blies den Rauch nach oben zu ihr, als wolle er damit seine Verachtung zum Ausdruck bringen. Mädchen sah ein Grinsen von weit hinten im Lokal. Sie konnte durch den Nebel hindurch zwei Augen und einen kleinen, fröhlichen Mund erkennen. "Wenigstens einem gefällt das Lied." Als der Nebel sich lichtete, sah sie, dass das Grinsen zum Kopf eines kleinen Mannes gehörte. Das komisch aussehende Männlein stützte seinen Kopf mit beiden Fäustchen auf dem Tisch ab und schien sich zu amüsieren.

Wenig später stand Mädchen hinter einem kleinen Tisch, auf dem ein Koffer mit Kassetten stand. Ihre Vermutung bestätigte sich und niemand interessierte sich für ihre Musik. Sie hatte es satt, immer und immer wieder ihr Herz vor einem gleichgültigen Publikum auszuschütten. Und sie hatte es ebenso satt, zu versuchen, ihre ganz persönlichen Kompositionen unter die Leute zu bringen, und dabei so gut wie keine Gegenliebe zu erfahren. "Wow, exakt null Kassetten habe ich diesmal verkaufen können. Das ist ein neuer Rekord." Der Besitzer stand hinter der Theke und als Mädchen zu ihm blickte, zuckte er mit den Achseln. Dann merkte sie, dass sich das einzige Lächeln des heutigen Abends noch im Lokal befand. Das merkwürdige Männlein saß noch immer in der selben Position am hintersten Tisch und blickte zu ihr. "Er macht einen netten, zufriedenen Eindruck." Mädchen beschloss, zu ihm hinüberzugehen. » Hey. Ich bin Mädchen Mangold. « Sie hatte es sich schon vor langer Zeit zur Angewohnheit gemacht, sich bei Fremden immer mit ihrem vollen Namen vorzustellen, um sie mit ihrem ungewöhnlichen Vornamen nicht zu verwirren. » Hey, Mädchen. Bin Guppi⁠ «, antwortete das Männlein mit einer krächzenden Stimme. "Ein komischer Name, der zu seiner komischen Erscheinung passt", dachte sich Mädchen. Er hatte große Augen, wuschelige Brauen, eine dicke Nase, dicke, spröde Lippen und konnte nicht größer als einen Meter gewesen sein. Sie fand, dass er aussah wie eine Mischung aus einem Kleinwüchsigen und einem Behinderten, wobei noch ein dritter, undefinierbarer Einschlag dazukam. "Er sieht aus, als wäre er geschrumpft und dabei entstellt worden. Oder als hätte man einem sehr gemeinen Karikaturisten gesagt, er solle 'Gier' als Person darstellen und die Zeichnung ist dann lebendig geworden." So einzigartig wie sein Aussehen war auch seine Begeisterung für ihren Auftritt.

» Kommst du öfter hier her, Guppi? «

» Nein. Erstes Mal. Show hat sehr gut gefallen. Leider spät gekommen. Letzten Teil gesehen. «

» Danke, das ist sehr lieb und freut mich wirklich, zu hören. Heute war es besonders furchtbar. Außer dir hatte niemand eine Freude mit meinen Liedern. «

» Oh. Vielleicht mögen Menschen Lieder von dir nicht. «

» Den Verdacht habe ich auch. «

» Sing andere. «

Trotz ihrer Frustration musste Mädchen über Guppis Direktheit schmunzeln und antwortete

» Auch wenn ich beliebte Popsongs spiele, funktioniert es meistens nicht. Ich weiß nicht, vielleicht klingt meine Stimme zu traurig. «

» Das ist schade. « Mädchen wirkte niedergeschlagen. » Nichts bleibt ewig «, meinte Guppi. » Wird wieder anders. Irgendwann bin ich auch wieder gut. «

» Was meinst du? «

» Irgendeinen Tag bin ich wieder ganz. «

» O… Okay. Was heißt das? «

» Dann bin ich wieder Arzt. Großer Mann. Schöne Frauen mögen mich. Alles wird gut für mich und alles wird gut für Mädchen. «

Sie warf ihm ein bemühtes Lächeln zu. Wenig später bedankte sie sich erneut bei Guppi und verabschiedete sich von ihm.

Es begann zu regnen, also lief Mädchen den restlichen Weg zur Bushaltestelle. Guppi verfolgte sie in sicherer Distanz in der Dunkelheit der Nacht. Im Bus musste Mädchen noch eine Viertelstunde bis zur Abfahrt warten. Der Regen prasselte laut auf das Fahrzeug. Der Fahrer, der ebenso wie Mädchen wartete, blies den Rauch seiner Zigarette durch den Fensterspalt seiner Kabine und nahm dafür nasse Kleidung in Kauf. Guppi, den Regen noch nie gestört hatte, war hinter einem Mülleimer versteckt. Er lief schnell auf allen Vieren zum Heck des Busses. Guppi sah, dass an der Unterseite genug Platz für seinen kleinen Körper war, also beschloss er, sich dort zu verstecken. Er tastete mit seinen Fingern und Zehen ab, wo er sich festhalten könne. Der Bus wurde in Bewegung gesetzt. Kopfüber in der Luft hängend fuhr der grinsende Guppi unten mit.

Nach einer langen Fahrt an den äußeren Rand der Stadt wurde der besondere Geruch wieder stärker. Noch bevor der Bus stehenblieb, ließ sich Guppi auf die Straße fallen, folgte seiner sensiblen Nase und huschte zu einem grauen Wohnblock. "Ja, ja. Ganz sicher, hier im Erdgeschoss lebt die Familie von Mädchen Mangold. Die haben ja wohl zwei Monatsvorräte von der Melange, unglaublich." Er sprang wie eine Katze auf das Fensterbrett und lugte vorsichtig in das Fenster. Die Wohnung sah alt und schäbig aus. Sie war zwar sauber und ordentlich, aber sehr leer. Die Küche und die Möbel waren verschlissen. Die Farbe war überall ausgebleicht und abgekratzt. Ein etwa zehnjähriger Junge saß auf einem Holzstuhl an einem Tisch und bediente ein Kassettendeck. Ein Mädchen um die 16 stand in der Küche und beschmierte Brotscheiben. Guppi schaute auf die Wohnungstür. Mädchen hätte eigentlich längst eintreten müssen. Er sprang vom Fensterbrett, tapste zur Vorderseite des Hauses und spionierte um die Ecke. Mädchen stand mit gesenktem Kopf knapp vor dem Gebäudeeingang.

Mädchen wäre am allerliebsten zu ihren über alles in der Welt geliebten Kindern nach Hause gekommen, um ihnen von ihren Erfolgen zu erzählen. Ihnen ein gutes Leben mit vielen Möglichkeiten zumindest in Aussicht stellen können. Aber sie hatte nichts dergleichen vorzuweisen. Trotz zweier Jobs hatte sie bislang noch keinen Weg aus ihrer Misere gefunden. "So dürfen mich Kylie und Duane nicht sehen. Sie dürfen nicht wissen, wie schlimm es wirklich ist." Mädchen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, räusperte sich und ging weiter. Als sie die Wohnung betrat, sprang Duane vom Stuhl, rannte zu seiner Mutter und umarmte sie. Mädchen drückte ihn fest zurück. Kylie begrüßte ihre Mutter von der Küche aus.

» Warum seid ihr beide so spät noch auf? «

» Morgen ist keine Schule «, informierte Duane Mädchen und grinste sie dabei an. » Schau, ich hab den ganzen Abend Kassetten überspielt. So viele hab ich schon. «

Mädchen wurde von Duane an der Hand zum Tisch gezogen, wo ein kleiner Hügel mit Kassettenhüllen lag.

» Super, Schatz. Sehr brav. «

» Wie war der Auftritt? «, wollte Kylie wissen.

» Frag nicht. Dort trete ich nie wieder auf. «

» Noch ein Reinfall, hm? War zu erwarten. «

» Warum sagt du sowas? «

» Mam, in dieser Stadt wollen die Leute keine Kultur. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Zwölf Spelunken drei Sexshops, aber kein einziges Geschäft für Musikinstrumente. «

Mädchen warf einen kritischen Blick auf Kylie und deutete mit dem Kopf auf Duane. Dann drückte sie die Play-Taste auf dem Kassettendeck.

» O nein. Ich hab dir doch gesagt, dass du immer die Originalkassette zum Überspielen verwenden musst, sonst geht die Qualität mit jeder Kopie immer mehr verloren. So kann ich die nicht verkaufen. Verdammt, Duane! «

Beide Kinder waren überrascht vom untypisch rauen, verärgerten Ton ihrer Mutter. Duane sah sie mit großen, wässrigen Augen und offenem Mund an. Mädchens Herz sank beim Anblick ihres Sohnes und sie umarmte ihn erneut, küsste seinen Kopf und sagte

» Tut mir leid, Schatz. Mama ist sehr müde. War ein langer Tag. Hab dich lieb. «

» Ab jetzt mach ich's richtig, versprochen. «

» Okay. Aber heute nicht mehr. Abmarsch ins Bett, junger Mann. «

Mädchen gab Duane einen kleinen Klaps auf den Hintern, worauf dieser kurz auflachte und ins Kinderzimmer lief. "Die Kassetten muss ich alle wegschmeißen und neue kaufen", dachte Mädchen. "Das wird teuer."

» Mam, die Briefe, die dauernd kommen. Wie viel Schulden haben wir eigentlich? «, wollte Kylie wissen.

» Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Ich passe auf uns auf.⁠ « Kylie sah ihre Mutter mit einem fragenden, zweifelnden Blick an. » Ich hab alles im Griff. So lange du bei mir bist, wird dir nie etwas fehlen, okay? Das verspreche ich dir. «

Mädchen wünschte sich in dem Augenblick, dass sie den letzten Satz nicht ausgesprochen hätte. Denn in Wahrheit wusste sie nicht mal, ob ihre Familie bis zum Ende der nächsten Woche genug Geld zum Essen haben würde. Oder ob der Vermieter anklopfen und auf die gestundeten Zahlungen bestehen würde. Als Kylie ihre Mutter gegen Tränen kämpfen und verlieren sah, ging sie zu ihr, umarmte sie und begann auch zu weinen.

Duane lag im Bett und glaubte, ein Schluchzen gehört zu haben. Er schlich über den knarrenden Boden, nahm die Klinke der Zimmertür mit beiden Händen und öffnete sie. Mit einem Auge sah er, wie sich seine Mutter und Kylie in den Armen lagen und weinten. Duane gab einen kummervollen Seufzer von sich. Er schloss die Tür wieder und blieb betrübt und nachdenklich in der Mitte des Raumes stehen. An dem Tag, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, sagte sein Vater zu ihm, dass er nun der Mann im Haus sei und auf seine Mutter und seine Schwester aufpassen muss. Aber was sollte er machen? Was kann er machen? Duane ging zu dem Schreibtisch, den er sich mit Kylie teilte und drehte die kleine Tischlampe so, dass seine Mutter das Licht nicht sehen würde. Dann nahm er einen Zettel und legte ihn vor sich hin.

 

Lieber Papa!

Ich hoffe es geht dir gut. Ich vermisse dich sehr! Heute war so ein schlimmer Tag :-( Mama hat wieder geweint. Ihr Auftritt ist nicht gut gegangen. Sie ist sehr oft traurig und wenn ich sie frage warum, tut sie so als wär sie nicht traurig.

Mamas Lieder klingen anders seit du weg bist. Ich finde ihre Stimme ist auch anders geworden. Komm uns bitte besuchen, du bist schon so lange weg. Wenn Mama dich nicht sehen will können wir uns geheim treffen wenn du magst. Ich zeige dir mein Verstek und meine Kugelrutsche. Die habe ich mit Papier gebastlt. Sie fängt ganz oben in meinem Zimmer an und dauert gaaanz lange bis die Kugel am Boden rauskomt.

Die Schule ist bäh. Die Lehrer haben alle keine Lust. Überhaupt ist alles BÄH! Mama will nicht mehr hier wohnen und wo anders hinziehen. Aber das ist schwer. Mama und Kylie tun mir leid. Ich finde es ganz okey hier aber wo anders kann es sicher besser sein. Bitte melde dich bei mir! Hab dich Lieb! Dein Duane.

Duane öffnete die Schreibtischlade und nahm das bunte Briefset heraus, das er zu seinem vorletzten Geburtstag bekommen hatte. Er faltete den Zettel fein säuberlich, steckte ihn in ein Kuvert aus dem Set und leckte dieses ab. "Bäh, grausig." Dann hörte er seine Schwester »⁠ Schlaf gut « sagen, also drehte er das Licht schnell ab, huschte zurück in sein Bett und tat so, als ob er schlafen würde.

Guppi saß auf einem Metallzaun auf der anderen Straßenseite und schaute mit einem äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck auf den Wohnblock der Mangolds. Er zog wieder und immer wieder so viel Luft in seine Nase, wie er konnte und stieß sie durch seinen kleinen Mund wieder aus. "Jajajaja. So ein Glück, so ein Glück. So viel Melange. Auftrag mit großem Erfolg ausgeführt", dachte er und rieb sich dabei aufgeregt seinen kleinen Penis.

2. Okkasion

Zwei Tage später fühlte sich Mädchen im Bus auf dem Weg zur Arbeit so, wie sie sich am Vortag auch gefühlt hatte, und an fast jedem anderen Tag davor: Leer, müde, perspektivlos und am Ende. Auf beiden Seiten der Straße erstreckte sich ein graues, monotones Industriegelände. Ihr war, als würden sie ständig an den selben Gebäuden vorbeifahren. Wie in einer alten Zeichentrickserie, bei dem die Figuren immer wieder vor dem selben Hintergrund vorbeilaufen. Mädchen wandte sich von dem kümmerlichen Anblick ab und beobachtete die anderen Buspassagiere. Kein einziger von ihnen machte einen zufriedenen, schon gar keinen glücklichen Eindruck. Ein paar der Leute kannte sie flüchtig, weil sie so wie Mädchen in der riesigen Zigarettenfabrik der Stadt arbeiteten. "Was für eine Ansammlung offenbar geknickter und gescheiterter Existenzen", dachte sie und wollte den Gedanken, dass sie zu ihnen dazugehören könnte, nicht akzeptieren.

Mädchen stand in einer langen Schlange in der riesigen Fabrikhalle vor einer Metallschleuse und wartete. Um Punkt 6 Uhr öffnete sich die Schleuse. Die Menschenschlangen verteilten sich und die Frühdienstarbeiter begannen mit ihrer Schicht. Mädchen ging zu ihrer Station bei der Mitte eines Förderbandes und nahm eine der großen Kartonschachteln, die eine Kollegin neben ihr faltete. Unzählige Zigarettenstangen fuhren auf sie zu und sie begann, diese vom Förderband zu nehmen und in den Karton zu schlichten, bis er voll war. Diesen Ablauf machte sie immer wieder, immer und immer wieder. Immer und immer wieder …

Nachdem sie fünf von ihren zehn Arbeitsstunden absolviert hatte, betrat Mädchen den Pausenraum. Ein kleiner Schreck fuhr in sie als sie glaubte, im Fenster des Pausenraums kurz ein fremdes Gesicht gesehen zu haben. Mädchen ging zum Fenster, blickte hinaus, doch es war niemand zu sehen.

Sie setzte sich auf den großen Tisch in der Mitte des Raums und begann, ihr mitgebrachtes, von Kylie zubereitetes Brot zu essen. Vor ihr lag wie immer ein befremdlicher Haufen Papier, bestehend aus Boulevardzeitungen, schwachsinnigen Magazinen, Coupons und Gutscheinen. Gelangweilt betrachtete Mädchen diverse Angebote für Dinge, die sie sich nicht leisten konnte. Die Pausenzeit war vorbei und Mädchen machte sich auf den Weg, um die restlichen fünf Stunden ihres Tagewerks am Fließband abzuleisten.

Zuhause fand Mädchen ihrem Postfach noch mehr sinnlose Werbeflyer. Sie hätte den kleinen Stoß beinahe weggeworfen, als ihr ein knallrotes Stück Papier ins Auge stach. Sie nahm es in die Hand und noch bevor sie zu lesen begann, fiel ihr auf, wie seltsam weich sich die Karte anfühlte. Der Text war in goldähnlichen Lettern in das Papier eingeprägt. Mädchen strich mit ihren Fingern über die Buchstaben und genoss das taktile Erlebnis. "Das Ding riecht auch noch gut. Du meine Güte, ist es sogar parfümiert?" Mädchen führte die Karte an ihre Nase und ja, tatsächlich: Der Hauch eines unbeschreiblich wohligen, undefinierbaren Geruchs streichelte ihre Nase. Er war fremd und gleichzeitig merkwürdig vertraut. Als wäre man an einem Sehnsuchtsort aus vergangenen, besseren Tagen angekommen, von dem man vergessen hatte, wie es dort riecht. Mädchen saugte das Papier ein zweites und drittes Mal durch die Nase ein. Im Vergleich zur bezaubernden Optik und der schönen Verarbeitung der Karte war der Text darauf fast banal: „Gesucht: Ein warmherziger, seriöser, verlässlicher und tierlieber Haushüter. Guter Verdienst bei geringem Aufwand. Barone Boulevard 226, Paradise Peak. Persönliche Bewerbung vor Ort. Mitnahme eines Motivationsschreibens gewünscht. Familie Barone.“

Als Mädchen wenig später zu Bett ging, platzierte sie die Karte auf einen umgestülpten Umzugskarton, der als Nachttisch fungierte. Mit müden Augen betrachtete sie das Ding eine Weile. Sie nahm die Karte wieder zu sich und drückte sie an ihre Brust, so als ob das Stück Papier eine Wärmflasche oder ein Rettungsring sei. Mädchen kam sich albern dabei vor, legte die Karte wieder zurück, drehte sich um und schlief ein.

Am nächsten Tag war Mädchen in der Arbeit sehr aufgeregt. Sofort nachdem die Hallenglocke schrillte und die halbstündige Mittagspause ankündigte, verließ sie ausnahmsweise ihren Arbeitsplatz und rannte los. So schnell ihre Füße es zuließen, lief sie zur Bushaltestelle, wartete kurz angespannt und fuhr dann vier Stationen bis zur örtlichen Bibliothek. Außerhalb ihrer Zehn-Stunden-Arbeitstage hätte Mädchen diese nicht besuchen können, also war die Mittagspause ihre einzige Chance. "Hoffentlich finde ich schnell eine Antwort und komme rechtzeitig zu meinem Arbeitsplatz zurück", dachte sie nervös und drückte auf ihren Bauch, in der Hoffnung, damit ihr Hungergefühl unterdrücken zu können.

Nach der kurzen Busfahrt und einer erneuten Laufstrecke war Mädchen nach nur zwölf Minuten bei der Bibliothek angekommen. "Selbst wenn der Bus bei der Rückfahrt wieder so schnell kommt, bleiben mir nur sechs Minuten, um Paradise Peak zu finden." Die Bibliothek war lächerlich klein, schwach beleuchtet und bis auf die Bibliothekarin komplett verlassen. Die ältere Frau saß mit einem ziemlich verbitterten Gesichtsausdruck an einem Pult, aß Kautabak und las im Licht einer Tischlampe ein Modemagazin. Sie schien etwas überrascht, als sich die knarrende Eingangstür öffnete und jemand hereintrat. Mädchen schloss die schwere Tür wieder. Auch der Boden knarrte, während sie schnellen Schrittes in dem düsteren Raum bis zum Pult ging. Bei der Bibliothekarin angekommen, war Mädchen außer Atem und klang etwas hektisch, als sie » Guten Tag « zu ihr sagte. Die Alte legte ihr Magazin langsam auf das Pult, spuckte Kautabak in einen Eimer neben sich, hustete ein Mal absichtlich auf, um ihre Luftröhre für das Gespräch vorzubereiten, und sagte mit einer ziemlich kaputten Stimme

» Was brauchst du? «

» Ich bin auf der Suche nach einem Ort. «

» Süße, ich bin kein Auskunftsbüro. «

» Nein, ich meine, ich würde gerne wissen, wo ein bestimmter Ort liegt, Paradise Peak. Sie haben doch sicher eine Abteilung für Geographie. «

» Ja, habe ich. In welchem Land soll sich dieses Paradise Peak befinden? «

Mädchen schoss das Bild des wunderschönen roten Papiers in den Kopf und sie antwortete

» In unserem, hoffe ich. Es muss in diesem Land sein. Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. «

» Na gut. Ich bringe dir das Ortsregister. «

» Vielen lieben Dank. «

Mädchen saß in der Ecke der winzigen Bibliothek, ihr Zeigefinger glitt erneut über die Seiten und sie wurde immer verzweifelter. Vom Pult aus rief ihr die Bibliothekarin zu:

» Du gehst die selbe Seite jetzt schon zum vierten Mal durch. Hast deinen Ort nicht gefunden, was? «

» Das kann nicht sein. Er muss doch hier drin stehen. Können wir die Suche bitte ausweiten? Vielleicht ist Paradise Peak doch in einem Nachbarland. Sorry. «

Die Bibliothekarin seufzte, erhob sich aus ihrem Stuhl, holte ein viel größeres Buch, knallte es vor Mädchen auf den Ecktisch und sagte in einem sarkastischen Ton

» Tu dir keinen Zwang an. «

» Dankeschön «, antwortete Mädchen leise.

Mit jeder Sekunde wurde Mädchen verzweifelter und verärgerter. "Mehr als die Hälfte der Pause ist schon um." Als ihr klar wurde, dass Paradise Peak auch in dem riesigen Wälzer nicht verzeichnet war, hätte sie das „unvollständige“ Nachschlagewerk am liebsten in der Luft zerrissen. Mädchen sprang vom Stuhl und aus dem Eck heraus. Auf dem Weg nach Draußen rief sie der Bibliothekarin im Vorbeilaufen zu:

» Es tut mir leid, ich würde Ihnen helfen, die Bücher zurückzustellen, aber ich muss sofort wieder zu meinem Arbeitsplatz. Danke trotzdem. «

Die Bibliothekarin erhob sich und gab einen verächtlichen Ton von sich. Sie schrie Mädchen nach und klang dabei wie eine alte Hexe.

» Das Paradies würden wir alle gerne finden, da bist du nicht die einzige. Hörst du mich? Du dumme Gans! Niemand will mehr in dieser Stadt leben. Glaubst du, du bist zu gut für uns? «

Die schwere Eingangstür fiel wieder zu. Die Bibliothekarin ließ sich in ihren Stuhl fallen, starrte einen Moment lang auf ihr Modemagazin, begann dann zu schluchzen und ein paar Tränen fielen auf das Cover ihres Modemagazins.

Draußen peitschte Mädchen ein kalter, frühwinterlicher Wind ins Gesicht und erst dadurch merkte sie, dass auch ihre Augen feucht waren. Der Bus kam erneut günstig an, dennoch schaffte es Mädchen nicht, rechtzeitig vor der Metallschleuse zu stehen. Das brachte ihr ein kurzes, aber sehr unangenehmes Gespräch mit der Fabriksleiterin ein. Für die elf Minuten Zeitüberzug wurden ihr zwei Stundenlöhne abgezogen und die Hälfte der Toilettenpausen für 30 Tage gestrichen. Ihren Job durfte Mädchen nur deshalb behalten, hieß es, weil sie zum allerersten Mal zu spät bei der Metallschleuse erschienen war.

Der einzige Trost an diesem Tag waren Kylie und Duane. Sie waren heute und für alle Zeit der schönste Trost in Mädchens Leben. Sie ließ Duane an dem Abend länger aufbleiben. Erstens, weil er es sich verdient hatte, und zweitens, weil Mädchen die Aufmunterung brauchte wie ein Hungernder einen Bissen Brot. Duane hatte im Radio gebildete Menschen sprechen gehört und merkte völlig richtig an, dass in ihrer Stadt niemand so sprechen würde. Er wollte sie nachmachen und versuchte sich an komplizierten Wörtern und Sätzen. Duane sprach in einem Satz zwei Wörter falsch aus und Mädchen und Kylie mussten lachen. Duane schmollte, grinste aber gleich wieder, als Mädchen ihn aufmunterte und liebevoll weiter neckte. Plötzlich wurde es finster im Hause Mangold. Der Strom war ausgefallen. Duane machte sich einen Spaß daraus und wollte mit Kylie im Dunkeln Verstecken spielen. Kylie tat ihm den Gefallen und spielte mit. Mädchen konnte keine Kerzen finden und dann fiel ihr ein, dass die Heizung an den Strom gekoppelt war. "Bald wird hier drinnen eine klirrende Kälte herrschen." Der Küchenbereich der Wohnung hatte die beste Abdichtung. Also schoben die drei den Küchentisch zur Seite, legten zwei Matratzen auf den Boden, und alle Decken, die sie finden konnten. Dann kuschelten sie sich eng zusammen. Mädchen sang leise und mit sanfter Stimme. Kylie wollte kein Gutenachtlied hören, brachte es aber nicht übers Herz, ihrer Mutter das zu sagen. Die gemeinsame Körperwärme machte ein Einschlafen in der Winternacht möglich. Bevor Mädchen als letzte einschlief, atmete sie tief ein und wieder aus. Für den morgigen Tag hatte sie schon einen neuen Plan. Wenn dieser nicht klappte, dann wüsste sie nicht, wohin und an wen sie sich noch wenden sollte.

Am nächsten Morgen brach Mädchen auf, als es noch finster war. Die Busse drehten ihre Runden noch nicht. Sie stapfte durch den Schnee, den noch niemand weggeräumt hatte. Die Straßenlampen, von denen einige ausgefallen waren, gaben den Weg vor. Nach einem langen Fußmarsch kam sie am Bahnhof an. Dort wurde der Bus vorgewärmt, der in Kürze seine Route starten und zurück in Mädchens Richtung fahren würde. Abgesehen vom Busfahrer war Mädchen die erste dort und noch ganz allein. Sie blickte auf die Analoguhr an der Granitwand der Ankunftshalle. Es war 4: 41. Laut Aushang würde der Schalter um 5: 00 geöffnet werden. Mädchen setzte sich auf eine Bank und rieb sich ihre kalten Oberarme. Kurz darauf betrat eine alte Frau in lilafarbener, salopper Kleidung die Halle und setzte sich gegenüber von ihr hin. Sie hatte ein dickes, fast dreieckiges Gesicht mit vielen Falten. Ihre langen Hängebrüste lagen über mehreren Fettreifen. Trotz ihrer Erscheinung fand Mädchen, dass eine besondere Ausstrahlung von ihr ausging. Als wäre sie eine ins hohe Alter gekommene Schauspielerin, bei der Anmut und Pep einer längst vergangenen Zeit noch immer irgendwie durchblitzte. Mädchen war überrascht, dass man in dem Alter noch so rote Haare und so stechende, grüne Augen haben konnte. Die Frau sah Mädchen an, worauf diese ihr zunickte. Die Frau lächelte zurück. Mädchen fiel ein Artikel aus einem der albernen Magazine ein, den sie in der Arbeit überflogen hatte. Als sie an die Besonderheiten und „Superkräfte“ dachte, die rothaarigen Menschen in dem Artikel zugeschrieben wurden, musste sie kurz schmunzeln.

Um 4: 58 wurde Licht aufgedreht. Mädchen sprang auf und ging schnell zu dem Schalter. Doch sie bekam wieder nicht die Antwort, die sie suchte. » Paradise Peak? Wo soll das sein? « Mit langsamen Schritten näherte sich Mädchen jemand, aber sie war zu aufgeregt, um das wahrzunehmen. Sie bestand flehentlich darauf, dass der Stationsleiter sichergehen soll und fragte ihn so höflich wie möglich, ob er nicht doch etwas übersehen haben könnte. Doch er fand auch in seinem großen Verzeichnis nichts und war sich mit seinem Kollegen einig: »⁠ Paradise Peak existiert nicht. « Mädchens Gesicht sackte nach unten. Wenn sie nicht gleich zum Bus vor dem Bahnhof laufen und einsteigen sollte, würde sie es nicht mehr rechtzeitig zum Arbeitsbeginn um 6: 00 in die Fabrik schaffen. Plötzlich spürte Mädchen eine Hand auf ihrem Rücken und erschrak. » Und es existiert doch «, ertönte es von unten. Sie drehte sich um und die dicke, alte Frau, die einen ganzen Kopf kleiner war als sie, stand vor ihr und sagte

» Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich kann dir helfen. Paradise Peak ist auf keiner amtlichen Karte eingezeichnet. Ich komme von dort und fahre jetzt wieder dorthin. «

» Wirklich? Mit dem Zug? «

» Ja, mit einem Zug. «

» Wie lange braucht man dorthin? «

» Du machst einen netten Eindruck. Darfst mich gerne begleiten. « Nana sah, dass Mädchen zögerte und sagte » Du willst doch den Haushüter-Job. Die Barones warten nicht ewig auf dich, weißt du. «

» Sie kennen die Barones? «

» Natürlich. Jeder, der in Paradise Peak lebt, kennt die Barones. Ich bin Nana Barone. «

» Sie sind Frau Barone? Ja, Madam, ich will den Job haben. Vielen Dank! Ich bin Mädchen Mangold. «

"Habe ich gerade wirklich „Ja, Madam“ gesagt? Wie verzweifelt bin ich eigentlich? Daran ist der schöne Flyer schuld."

» Abfahrt ist in einer Stunde, Mädchen Mangold. Darfst auch „Nana“ zu mir sagen. Hast du alles, was du brauchst? Wenn du die Stelle bekommst, wirst du nämlich sofort dort einziehen. «

» Was? Nein, ich habe gar nichts dabei. Und ich habe zwei Kinder. «

» Die sind uns herzlich willkommen. «

» Ich muss zu meinem Arbeitsplatz am anderen Ende der Stadt fahren. Ich kann nicht sofort weg. «

» Wie du meinst. Die Bewerbungsphase für Barone Boulevard 226 ist fast zu Ende, nur damit du es weißt. Und ich werde so schnell nicht mehr in deine Stadt kommen. Wenn ich Glück habe, muss ich sogar nie wieder hierher. «

Die Alte watschelte wieder zu ihrer Bank zurück und setzte sich hin. Mädchen griff sich an die Stirn, atmete schneller und fühlte sich flau. Als sie hörte, wie der Motor des Busses gestartet wurde, sprintete sie zum Busparkplatz. Der Wagen war schon losgefahren und hatte eine Kurve gemacht, da sah der Fahrer, wie Mädchen neben ihm her rannte, mit beiden Handflächen an das Glas der Tür schlug, im Schneematsch ausrutschte und fast nach vorne umfiel. Der Fahrer stoppte den Wagen.

» He, nicht gegen die Tür hauen! «, schrie er sie sofort an, nachdem er die Tür geöffnet hatte.

» Sorry! Ich muss zur Arbeit, sonst verliere ich meinen Job. «

» Ja, nicht nur du. Hinsetzen! «

Mädchen hätte gerne ein wenig zurück gepöbelt. Es widersprach ihrer Natur, Konfliktsituationen weiter anzuheizen, doch der Busfahrer hätte es sich durch seinen Tonfall verdient gehabt. Das war jedoch nur der erste von vielen Gedanken, die Mädchen durch den Kopf schossen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal in ihrem Leben so aufgeregt war. Sie rechnete sich zur Sicherheit noch einmal aus, dass sie der Bus rechtzeitig zur Endstation und damit zu ihrem Arbeitsplatz bringen würde. "Aber will ich dort hin? Oder soll ich wirklich alles liegenlassen und der alten Nana folgen? Was, wenn ich die Stelle gar nicht bekomme, weil sie schon besetzt ist? Dann komme ich wieder mit leeren Händen zurück. Wie weit es wohl bis Paradise Peak ist? Was, wenn die Rückreise bis morgen dauert? Ich habe noch nie an meinem Arbeitsplatz eine Krankheit vorgetäuscht. Soll ich es ausnahmsweise wagen und mir eine Krankschreibung bei einem Arzt erbetteln? Wenn ich Pech habe, dann habe ich am Ende weder die Anstellung in Paradise Peak, noch einen Job in der Fabrik. Dann sind wir am Ende. Die sozialen Einrichtungen in dieser Stadt sind eine Katastrophe, da wären die Kinder nicht sicher. Warum haben die Barones keine Telefonnummer angegeben und akzeptieren nur Bewerbungen vor Ort? Die Reichen können es sich immer richten. Arme kleine Mäuse wie ich müssen sich nach ihren Befindlichkeiten richten. Ich weiß ja noch nicht mal, wie lange man auf das Haus aufpassen soll. Ich könnte nach wenigen Wochen schon wieder vor die Tür gesetzt werden. Dann stünde ich wieder vor dem Nichts. Warum glaube ich eigentlich, dass dieser Job so toll wäre? Nur weil der Flyer das behauptet und so eine einzigartige Aufmachung hat? Wie naiv bin ich eigentlich? Vielleicht ist das alles eine große Betrugsgeschichte. Sowas gibt es immer wieder. Andererseits sind die Barones anscheinend stadtbekannt und sicher wohlhabend und haben mehrere Immobilien. Warum sollten die es nötig haben, eine Betrugsmasche aufzuziehen? Mache ich mir zu viele Gedanken? Denke ich zu negativ? Soll ich die Chance ergreifen, oder nicht? So wie bisher kann es nicht lange weitergehen, allerdings: 'Schlimmer geht immer', leider. Aktuell schaffe ich es noch, dass meine Kinder und ich irgendwie über die Runden kommen. Aber an dem Schuldenberg konnte ich noch kein bisschen kratzen, dafür blieb nie genug Geld übrig. Da ist mein Wohnblock, die nächste Station. Kylie und Duane schlafen noch. In eineinhalb Stunden nimmt sie ihn mit zur Schule. Eine Schule, die sie beide hassen. Weil sie, so wie alles und jeder in dieser Stadt, Scheiße ist. Riesengroße Scheiße." Mädchen drückte als einzige die Haltewunschtaste. Der Bus blieb nicht weit vor ihrem Wohnblock stehen und die Tür öffnete sich. Der Fahrer wunderte sich, warum Mädchen wie angewurzelt stehen blieb. "Hier bleiben oder den Aufbruch ins Ungewisse wagen? Arschloch City oder Paradise Peak?" » Also was ist jetzt?! «, schnauzte der Busfahrer Mädchen an. » Du hast gedrückt. « Mädchen starrte auf die offene Tür. Sie dachte an die Metallschleuse in der Fabrik, dann schossen ihr die Zigarettenstangen, die trübsinnigen Kollegen und zuletzt der rote Flyer in den Kopf. Der Busfahrer sagte » Dann fahren wir eben weiter. Blöde, lethargische Kuh «, drückte einen Knopf und die Tür begann, sich wieder zu schließen. Wie elektrisiert sprang Mädchen im letzten Augenblick durch den Spalt nach Draußen. Der Busfahrer schimpfte ihr irgendetwas nach, aber sie konnte ihn nicht mehr hören. "Selbst wenn ich die Anstellung nicht bekomme, will ich nie wieder hier leben", dachte sie, während sie auf ihr Haus zulief.

Die dicke, alte Nana Barone hatte sich gerade von Mädchen verabschiedet und setzte sich in der Ankunftshalle des Bahnhofs wieder hin. Als sie sah, wie Mädchen fast zu Boden ging, um den Bus noch aufhalten und einsteigen zu können, gluckste sie. Nachdem der Bus weggefahren war, steckte sie ihren runzligen Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff sehr laut. Der Stationsleiter und die paar wenigen Leute, die sich dort befanden, schauten zu ihr. Nana wartete und summte, während hinter ihr ein gleichmäßiges Stapfen immer näher kam. Guppi erschien und ging durch die schmutzige Glastür in die Ankunftshalle. Nana zeigte auf ihre Tasche am Boden, schnippte mit den Fingern und zeigte dann mit dem Daumen hinter sich. Guppi quakte, nahm die Tasche und ging wieder nach draußen. Nana summte weiter, während die Augen der Menschen vor Ort weiter auf sie gerichtet waren. Sie kicherte und stand auf. Die runzlige, übergewichtige Frau begann langsam, ihre Hüften zu schwingen und schließlich summte sie mit ganzer Kehle und tanzte. Nana war außergewöhnlich beweglich. Verdutzt und gebannt beobachteten die Leute ihre kreisenden Bewegungen und die Schlangenlinien, die sie mit ihrem Körper in der Luft zeichnete. Eine Mutter hielt ihrem Sohn die Hand vor die Augen. Nana hielt inne und schaute sich um. Noch immer waren alle Blicke auf sie gerichtet. Der Stationsleiter, zwei Arbeiter und die wenigen Menschen, die auf ihren Zug warteten, starrten sie alle an. Nana rief laut » Wo ist mein Applaus? HÄ? … Wollt ihr auch mitfahren? Keine Chance. « Die Leute blieben weiter wie versteinert stehen und starrten weiter. Nana hob ihre Hände wie Pranken, imitierte ein attackierendes Tier und brüllte wie eine Löwin. Die Leute erschraken und entfernten sich in der Ankunftshalle so weit von ihr, wie sie konnten. Die Arbeiter gingen weg und der Stationsleiter schloss die Jalousie in seiner Glaskabine. Nana lachte laut und herzlich.

Kylie und Duane lagen in der kalten Küche auf den Matratzen am Boden und schliefen. Mädchen platzte zur Tür herein, lief zu ihnen, kniete sich hin und rüttelte sie wach.

» Hey, hey, hey. Kylie, Duane. Kommt, aufwachen! Wir müssen sofort zum Bahnhof. «

» Was? Warum? «, fragte Duane verträumt.

» Wir fahren weg. Nach Paradise Peak. Mama bekommt vielleicht einen besseren Job und wir alle eine bessere Bleibe. «

» Wo ist Paradise Peak? «, wollte Duane wissen.

» Weiß ich nicht. Komm jetzt, hopp hopp. Aufstehen. Waschen. Zähneputzen. Anziehen. Packen. Pack alles, was du brauchst. In einer halben Stunde ist Abfahrt. «

Kylie schüttelte den Kopf, stand vom Boden auf, ging ins Bad, sagte genervt » Schon wieder. Nicht zu glauben « und warf die Badezimmertür mit einem Knall zu. Duane schaute seine Mutter mit großen Augen an, die schnell immer wässriger wurden, und begann dann zu schluchzen. Mädchen nahm seinen Kopf fürsorglich zwischen ihre Hände und sagte

» Neineineinein, Baby, es gibt keinen Grund zu weinen. «

» Ist etwas passiert? «

» Was? Nein! Gar nichts ist passiert. Etwas Gutes ist passiert. Wir fahren weg, weg von hier. «

» Kommen wieder böse Männer zu uns, wie damals? «

» Nein. Duane, hör mir zu: Das waren Freu… Bekannte von deinem Vater, okay? Die haben ihn gesucht und wollten gar nichts von uns. Ich weiß, du hast dich so erschreckt, Baby. Es sind keine bösen Männer in der Nähe, Duane, versprochen. Niemand wird dir etwas tun. «

Kylie stieß mit einem Fuß die Badezimmertür auf und fragte, während sie sich die Zähne putzte

» Und was ist mit Schule? «

» Ich schreibe euch Entschuldigungen. Wenn wir Glück haben, kommt ihr bald auf eine bessere Schule. «

Duane sagte mit leiser Stimme

» Ich will nicht, dass sich alles wieder ändert. «

» Tut mir leid Duane, so ist das Leben. Es gibt keinen Stillstand. Du wirst neue Leute kennenlernen und neue Freunde haben. Und jetzt los, die Uhr tickt. «

Kylie war mit dem Zähneputzen fertig, verschränkte ihre Arme und fragte

» Was ist das für ein besserer Job, Mam? «

» Ich bewerbe mich als Haushüterin. «

» Was macht man da und für wen? «

» Pack bitte alles zusammen, was du mitnehmen willst und hilf dann deinem Bruder. «

» Und wir lassen wieder mal alles stehen und liegen. «

» Was lassen wir stehen und liegen? Was, bitte? Wir haben hier nichts. «

» Du vielleicht nicht. Ich habe Freunde hier. «

Mädchen seufzte und sagte dann

» Es tut mir sehr leid, aber das ist die Entscheidung. «

» Danke, dass du mich zirka halbjährlich vor Entscheidungen stellst, die du alleine triffst und die mein Leben komplett umkrempeln. Du weißt gar nichts über die Stadt, nicht mal wo sie liegt und auch nichts über deine neue Arbeit. Wow, wirklich sehr verantwortungsvoll und weitsichtig von dir, Mam. Wahrscheinlich ist „Paradise Peak“ eine Touristenfalle. Klingt zumindest so. «

Kylie warf die Kinderzimmertür hinter sich zu. Mädchen hätte gerne einen guten Konter für ihre Tochter gehabt, aber ihr fiel keiner ein. Nachdem alle hektisch gepackt hatten, riss Kylie ihre Tür wieder auf, schmiss lustlos eine große Sporttasche auf den Boden und sagte

» Mir ist wieder eingefallen, wo ich „Paradise Peak“ schon mal gehört habe. «

Mädchen stopfte schnell einen Laib Brot in ihre Tasche und antwortete

» Fein, das kannst du mir auf dem Weg erzählen. «

» Nein, hör mir mal zu: Da gab's einen Mann, der war von einem auf den anderen Tag verschwunden. Jahre später ist er auf einmal wieder aufgetaucht. Er hat ständig von diesem megatollen Ort „Paradise Peak“ erzählt, wo er angeblich war und hat ganz verzweifelt versucht, ihn wiederzufinden. «

» Wir müssen sofort los. «

» Er ist wahnsinnig geworden, im Irrenhaus gelandet und unglücklich gestorben. «

» Ich werde wegen dir gleich wahnsinnig. Danke Kylie, mein Leben ist schon ein Schauermärchen, ich brauche kein zweites. Unglücklich sterben ist nicht schlimm, unglücklich leben schon. Komm jetzt. «

» Das ist kein Märchen, das war sogar in der Zeitung. Er war komplett besessen. So wie du gerade. «

Nana sah Mädchen, Kylie und Duane schnell auf sich zukommen und hörte mit dem Summen auf. Mädchen war etwas außer Atem, als sie vor der sitzenden alten Frau Halt machte und erwartungsvoll auf sie blickte.

» Da bist du wieder «, sagte Nana. » Oh, was für entzückende Kinder. «

» Das sind Kylie und Duane. Los, gebt der Dame die Hand. «

Die beiden folgten der Aufforderung ihrer Mutter und begrüßten Nana. Sie sagte

» Hallo, Mangolds. Nennt mich „Nana“, eine Dame bin ich schon lange nicht mehr. Ihr habt nur zwei kleine Taschen? Wohl keine Modefreunde. Sehr sympathisch, Kleidung ist generell überbewertet. Der Mensch sollte eigentlich so oft nackt sein, wie er kann. Also gut, ihr seid rechtzeitig gekommen. Wir können los, kommt. «

Nana stemmte sich in die Höhe und ging los. Mädchen und ihre Kinder folgten ihr und merkten sofort, dass sie sich von den Gleisen entfernten.

» Nana, die Züge fahren hier drüben ab «, sagte Mädchen.

» Mhm, und mir müssen hier lang. «

» Aber … Wir gehen von den Gleisen weg. «

» Nur die Ruhe. Paradise Peak läuft uns nicht davon. «

Mädchen war höchst irritiert und versuchte das zu verbergen, als ihre Kinder sie fragend ansahen. Nachdem Nana mehrere dutzend Meter mit den Mangolds im Schlepptau durch eine matschige Wiese gewatschelt war, fragte Mädchen

» Nana, müssen wir mit einem Bus fahren? Warum gehen wir hier lang? « Nana seufzte und sagte

» Eieiei. Die Ungeduld der Jugend. Immer mit der Ruhe. «

Sie kamen zu einer kleinen, asphaltierten Straße, auf der ein Seniorenmobil wartete. Nana setzte sich auf den gepolsterten Sitz und deutete auf die Ablage hinter sich.

» Ihr könnt eure Taschen hier drauflegen. Kinder, wollt ihr die restliche, kurze Strecke mit meinem Flitzomobil mitfahren? « Kylie und Duane wirkten eher ablehnend. » Nein? Gut, ihr habt ja noch junge Beinchen. Und du? Armes Mädchen, bist erschöpft, so viel gelaufen. Willst du dich hier an der Seite raufstellen? «

» Ja, danke. «

» Gut. Hast ja kaum Gewicht. « Mädchen stellte sich auf das Mobil. Nana zwickte ihr in die Hüfte und sagte »⁠ Bist ein schlankes, hübsches Ding. Kinder, machen wir ein Rennen. Wer schneller bei unserem Zug ist, hat gewonnen. «

Erst jetzt sahen die Mangolds, dass in einiger Entfernung ein Zug im Feld stand. Duane lächelte und sagte

» Okay. «

» Drei, zwei, eins, los! «, rief Nana und fuhr zusammen mit Mädchen schnell mit dem Seniorenmobil los. Kylie ging in Schritttempo und Duane rannte. Er kam als erster bei dem Zug an und schrie

» Gewonnen! Gewonnen! «

Nana gratulierte ihm. Duane drehte sich um und staunte. Die Mangolds standen ungläubig vor dem prächtigen, violetten Zug mit silbernen Verzierungen. Er sah anders aus als alle Züge, die sie in ihrem Leben gesehen hatten. Auch das einsame Gleis auf der Wiese wirkte so, als sei es soeben erst verlegt worden. Nana öffnete die Zugtür, kletterte nach oben und sagte

» Bitte sehr, hereinspaziert. «

3. Nana

Mädchen stand mit ihrer Tasche auf der Heckplattform des fahrenden Zuges und ließ den Abschied auf sich wirken. Ihr war, als würde diese graue, hässliche, unerbittliche Stadt ein letztes Mal nach ihr schnappen, aber ohne Erfolg. Der kaputte Asphalt und der dreckige Schneematsch verschwanden langsam am Horizont. Bahnhof, Bus und Häuser wurden immer kleiner. Mädchen dachte an den Laib Brot in ihrer Tasche und dass dieser ausreichen müsste, egal wie lange die Reise dauern würde.

Guppi saß mit geöffnetem Hemd auf dem Dach des hinteren der drei Waggons und genoss den Fahrtwind auf seiner dicht behaarten Haut. Er legte seinen kleinen Kopf in die Hände, beobachtete Mädchen und grinste. Als diese sich umdrehte, huschte er schnell weg. Guppi begann zu laufen und sprang zum nächsten Waggon. Er krabbelte über den Rand des Dachs, klammerte sich kopfüber an der Seite des Waggons fest, drückte das kleine Schiebedach mit seinen dünnen Fingern nach unten und kroch durch den Spalt in den Waggon.

Mädchen hörte, wie begeistert Kylie und Duane klangen und schloss zu ihnen auf. Wenn sogar Kylie temporär aus ihrer Teenager-Gleichgültigkeit entrissen wurde, dann musste die Innenausstattung des Zuges wohl ähnlich bewundernswert sein, wie sein Äußeres. Mädchens Vermutung bestätigte sich und sie betrat einen langen Waggon, der tatsächlich noch schöner war, als sie es sich ausmalen hätte können. Alles war mit edlem Holz ausgestattet und feinen Stoffen bedeckt. Die Bänke waren gepolstert und auf den Tischen standen kleine Tabletts, Teller und Tassen. Der Raum war altmodisch, aber sehr gut erhalten. Dass Nana, die Kinder und sie die einzigen Gäste in dem Waggon waren, war angesichts der Luxusausstattung das am wenigsten Verblüffende. Im selben Moment, als Mädchen sich hinsetzte, entspannte sie sich endlich. Es war, als ob ihr jemand eine enorm schwere Last abgenommen hätte. Dabei wusste sie noch gar nicht, ob sie die Anstellung wirklich bekommen würde. Duane kuschelte sich in die Bank und die Kissen. Sofort sprang er wieder auf und rannte zu der Gepäcktasche, denn ihm war eingefallen, dass er noch gar nicht überprüft hatte, welches Spielzeug in der Eile mitgenommen worden war. Kylie ging langsam umher und war noch damit beschäftigt, die Pracht des Zuges zu absorbieren. Nana saß gegenüber von Mädchen, lächelte ihr zu und sagte

» Geschafft. « Mädchen, die genau das fühlte, lächelte zurück.

» Danke, dass du uns mitgenommen hast. «

» Gern geschehen. Du sollst immerhin auf mein Haus aufpassen. «

» Barone Boulevard 226 gehört dir? Hast du die schönen, roten Flyer verteilt? «

» Mein Helfer. Ja, das Haus ist im Familienbesitz. «

» Das heißt, ich muss mich bei dir bewerben? «

» Du hast die Stelle bereits. «

» Was, wirklich? Danke. «

Mädchen und Duane strahlten, während Kylie einen ungläubigen Eindruck machte und sich zu ihnen setzte.

» Wie lange darf ich dein Haus hüten? «, fragte Mädchen.

» Ich brauche dich auf unbestimmte Zeit. Hoffentlich ist das in Ordnung für dich. «

» Ja, ja, natürlich. Aber du hast doch gesagt, dass gerade eine Bewerbungsphase stattfindet. Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. «

» Die Bewerbungsphase ist zu Ende. Du hast bewiesen, dass du den Job wirklich willst. Zudem habe ich ein sehr gutes Gefühl bei dir und auf mein Gefühl konnte ich mich immer verlassen. Mehr muss ich erstmal nicht wissen. Weißt du, nur ein Narr hinterfragt eine gute Sache. « Mädchen schmunzelte. » Und keine Sorge «, sagte Nana, » das Haus ist moderner ausgestattet als mein Zug. «

» Das ist keine meiner Sorgen. Moment, dein Zug? «

» Mhm. «

» Von Privatflugzeugen habe ich gehört. Aber ich wusste nicht, dass es auch Menschen gibt, denen Züge gehören. «

» Nana, bist du reich? «, wollte Duane wissen.

» Das ist Ansichtssache. Was ist für dich reich, Duane? «

» Reich ist wer, der viel mehr hat, als er überhaupt braucht. Ein Reicher hat so viel, dass er gar nicht mehr weiß, was er damit machen soll. Und wenn er lieb ist, dann gibt er anderen was davon ab. « Nana gluckste und sagte dann

» Verstehe. Wenn das so ist, dann komme ich aus einer Stadt, in der nur reiche Menschen leben. «

» Echt? Gibt es so eine Stadt wirklich? «

» Wenn ich es dir sage. Paradise Peak wird dir gefallen, Kleiner. Ganz bestimmt. «

Begeistert sah Duane seine Mutter an, die interessiert zuhörte, und sagte dann

» Wenn dort wirklich alle reich sind, können wir dann was von ihnen haben? Wir sind nämlich leider arm. «

» Duane! «, rief Mädchen in einem ermahnenden Ton.

» Kindermund tut Wahrheit kund «, sagte Kylie spöttisch. Mit einem simplen, strengen

» Kylie! « wurde auch sie von ihrer Mutter ermahnt. Duane sagte kleinlaut

» Ich hab nur gemeint, wenn jeder ein kleines Bisschen abgibt … Darf ich was von dem Brot haben? «

» Ja klar, Schatz «, sagte Mädchen und seufzte ein wenig. » Ich muss die beiden noch für die Schule in Paradise Peak einschreiben. «

» Natürlich «, sagte Nana. » Das macht bei uns Gitta im Amtshaus. «

Sie runzelte die Stirn, als Duane die Tasche öffnete, einen in Zeitungspapier eingewickelten Brotlaib herausnahm und mit seiner ganzen Kraft ein Stück davon abriss. Nana schüttelte den Kopf und sagte

» Warte, Duane. Bevor du da hineinbeißt, schaue ich nach, ob ich hinten in der Küche was für dich finde. «

» Mach dir bitte keine Umstände «, sagte Mädchen.

» Unsinn. In meinem Zug hat noch nie jemand trockenes Brot essen müssen. Bin gleich wieder da. Da fällt mir ein: Kylie, Duane, kommt mal mit. Ich zeige euch etwas Tolles. «

Duane blickte zu seiner Mutter, die ihm zunickte, woraufhin er von der Polsterbank sprang und Nana folgte. Kylie zuckte mit den Schultern und folgte den beiden. Guppi hörte, wie eine Holzschiebetür geöffnet wurde und die drei in den Waggon gingen, wo er sich versteckt hatte. Dieser war sogar noch gemütlicher als der erste. Am Boden erstreckte sich eine große Liegelandschaft mit Spielzeug, Abenteuerheften und Comics. Duane sprang begeistert auf den gepolsterten Boden und Nana lachte. Kylie schaltete einen Bildschirm an der Wand ein, und begann zu zappen. Nana sagte » Wenn ihr mich braucht, bin ich nur einen Waggon weiter, in der Küche, gut? « Der kleine Mann wusste nicht, auf was er sich zuerst stürzen sollte, und entschied sich für eines der Abenteuerhefte. "Das ist mein Heft. Meins!", dachte Guppi. "Nimmt sich Sachen, die ihm nicht gehören, BAH!" Als Duanes Kopf nach oben schnellte, wurde Guppi klar, dass er das „BAH!“ nicht nur gedacht hatte und er hielt sich die Hände über den Mund. Duane meinte, dass er sich wohl getäuscht haben musste. Dann fiel ihm ein schöner Kleiderschrank auf, der in der Ecke des Waggons stand. "Da sind sicher noch mehr tolle Sachen drin", dachte er, ging hinüber und nahm die beiden großen Schrankknöpfe in seine Hände. Duane begann, mit seiner Zunge Trommelwirbel zu imitieren und rief

» Meine Damen und Herren, Ladys und Gentlemen. Ich weiß, sie alle sitzen auf heißen Kohlen, deshalb möchte ich Sie auch nicht länger auf die Folter spannen. «

» Was soll das? «, fragte Kylie. » Warum redest du so geschwollen? Setz dich wieder hin. «

» Ich präsentiere ihnen stolz und mit Freude den Inhalt dieses tollen Schranks. Tadaaa! «, rief Duane und riss mit einem Ruck die beiden Schranktüren zur Seite. Die Welt schien für ihn eine Sekunde stehenzubleiben, als er ein Meter großes Wesen mit weit aufgerissenen Augen sah, das kopfüber wie eine Fledermaus an der Kleiderstange hing. Duane begann zu schreien, woraufhin Guppi sich mit der Hand vom Schrankinneren abstieß, in der Luft drehte und mit den Beinen auf der Liegelandschaft landete. Kylie zog ihren Bruder zu sich und schützte ihn mit ihrer Umklammerung. Sie war fast so entsetzt wie ihr kleiner Bruder und konnte nicht schreien, ganz im Gegensatz zu Guppi. Kylie rannte mit Duane aus dem Wagen und stieß mit ihrer herbeilaufenden Mutter zusammen, die sofort aufgesprungen war, als sie Duanes Schrei hörte. Mädchen sah Guppi, der mit erhobenen Händen und erschrockenem Gesicht hinter ihren Kindern näherkam, ballte ihre Faust und holte aus.

» Mama! Mama! Der ist aus dem Schrank gesprungen! «, schrie Duane. Nana riss die Schiebetür des Küchenabteils auf und rief

» Mädchen, warte! Er tut euch nichts. «

» Was machst du hier? «, wollte Mädchen von Guppi wissen. Der kleine Mann trommelte auf seinem Kopf und gab Klagelaute von sich. » Bist du mir gefolgt? «

» Ihr kennt euch? «, fragte Kylie ihre Mutter.

Nana watschelte mit einer etwa 15 Zentimeter langen Stange in ihrer linken Hand zu Guppi. Sie drückte einen Knopf auf der Stange, woraufhin mehrere Rohrsegmente aus ihr herausschossen und Nana plötzlich einen langen Teleskopschlagstock in der Hand hatte. Mit diesem schlug sie zwei Mal auf den Kleinwüchsigen ein und rief » Setz dich sofort hin! « Guppi gab einen fauchenden Laut von sich. Nana drehte sich zu den verängstigten Mangolds um und sagte

» Immer mit der Ruhe, Mangolds. Tut mir leid, dass er euch so erschreckt hat. Guppi, warum versteckst du dich im Schrank? Ich hab dir gesagt, du sollst mir helfen. « Der Zwergenmann fuhr sich wild mit den Händen übers Gesicht und gab ein paar wehleidige Töne von sich. » Guppi ist mein Gehilfe. Er hat das Gemüt und den Verstand eines Kindes, aber er ist komplett harmlos. «

Duane glaubte Nana sofort und seine Angst war verflogen. Er reichte dem Männlein seine Hand und sagte » Hi Guppi. Ich bin Duane. « Guppi lächelte und gab dem Jungen die Hand. Dann streckte er Kylie seine Hand entgegen, doch sie zog ihren Körper verunsichert zurück. Guppi senkte seine Hand und kratzte sich am Kopf. Die Mangolds nahmen wieder auf ihrer Sitzbank Platz, während Nana und Guppi sich gegenüber hinsetzten. Kylie fragte ihre Mutter

» Woher kennst du ihn? «

» Ich habe Guppi am Samstag nach meinem Auftritt getroffen. Warum bist du hier? «, fragte Mädchen Guppi.

Dieser drehte sich zu Nana, lächelte mit erwartungsvollem Gesicht und sagte halb flüsternd » Melaaaange. « Die alte Frau wirkte daraufhin etwas genervt und Mädchen fragte angespannt

» Wie, bitte? « Nana sagte

» Ihr könnt euch sehr glücklich schätzen, Mangolds. Guppi hat euch gefunden. Er und ich finden traurige Menschen und geben ihnen die Chance, wieder glücklich zu werden. «

» O nein, bitte sag jetzt nicht, dass ihr so eine komische Sekte seid. «

Nana gluckste und sagte

» Nein, keine Sorge. Euer Leben wird von nun an sehr verändern, zum Positiven. In Paradise Peak werdet ihr freie Menschen treffen, die ein hohes Maß an innerer Harmonie erreicht haben und diese auch nach außen tragen. «

» Sorry, aber das klingt nach einer Sekte oder einem Kult. «

» Müssen wir uns bei euch die Haare abscheren und Vorträge anhören? «, wollte Kylie wissen. Mädchen sagte

» Wenn mir jemand erklärt, ich sei so traurig und soll seiner Community beitreten, dann klingt das sehr nach … «

» Donnerwetter, wir sind keine Sekte «, entgegnete Nana.

» Wenn wir aussteigen wollen, dürfen wir das? «

» Selbstverständlich. Wollt