Valo - Marleen Kansy - E-Book

Valo E-Book

Marleen Kansy

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Beschreibung

Nach ihrem Kampf gegen die Harpyien steht Lucy direkt vor der nächsten Herausforderung: An der Akademie in Valo hat sie nicht nur gegen weitaus erfahrenere Engel zu kämpfen, sondern auch mit vielen Vorurteilen und Misstrauen. Das Regime der Erzengel über die leuchtende Stadt steht dabei über allem und bestätigt ihre Vermutung, dass nicht alles, was glänzt, Gold ist. Mit aller Kraft versucht sie, sich in dieser ihr unbekannten Welt zurechtzufinden, während die Prophezeiung und das Erbe ihres Vaters sie weiter unter Druck setzen. Als wäre das noch nicht genug, schlägt ihr Herz für einen gewissen Engel mit ozeanblauen Augen immer höher und sorgt für noch mehr Chaos in ihrem sonst so beschaulichen Leben. Als beim Training eine ungeheure Kraft von ihr Besitz ergreift und sie die Kontrolle verlieren lässt, sehen die Erzengel schlagartig eine Bedrohung in ihr, die es nun zu kontrollieren gilt. Und auch Lucifer scheut sich nicht davor, Lucy daran zu erinnern, was sie ihm versprochen hat.

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2024

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GENDERKLAUSEL

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung von männlicher, weiblicher und diverser Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.

Für alle, die manchmal an ihrer eigenen Stärke zweifeln. Gebt niemals auf, an euch selbst zu glauben.

Playlist

Dynasty – MIIA Brother – Kodaline Used to Be – AJ Mitchell The Prophecy – Taylor Swift You – James Arthur (feat. Travis Baker) Monsters – Ruelle Bloodline – Natalie Jane Maps – Madilyn Bailey Sweater Weather – Kurt Hugo Schneider, Alyson Stoner, Max S Where We Come Alive – Ruelle Armor – Landon Austin What If I Told You That I Love You – Ali Gatie Angel By The Wings – Sia I Think I’m In Love – Kat Dahlia Say Yes To Heaven – Lana Del Ray Love In The Dark – Adele Kind of Love – Natalie Jane Love Me Again – John Newman Not About Angels (Cover) – Daneliya Tulershova War of Hearts – Ruelle Live Like Legends – Ruelle The Other Side – Ruelle

Thought we built a dynasty that heaven couldn’t shake. Thought we built a dynasty like nothing ever made. Thought we built a dynasty forever couldn’t break up. It all fell down. (Dynasty by MIIA)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Im Engelsein bin ich eine Versagerin

2. Mein Moment im Rampenlicht

3. It’s Time to Party!

4. Seven Minutes in Heaven or Hell?

5. Meine Erleuchtung auf einer Insel im Himmel

6. Is This How The World’s Gonna Remember Me?

7. Wahrheit, Wahrheit und nichts als die Wahrheit

8. Boot-Camp à la Nathan

9. Paradise Calling

10. Was stimmt nicht mit mir?

11. Friends at last

12. Der Retter, auf den wir unser ganzes Leben gewartet haben

13. Ich hasse es – aber ich brauche die Erzengel

14. We Are Family

15. Meine Hormone können nicht einmal von Erzengeln unter Kontrolle gebracht werden

16. Don’t Run With The Singing Fish

17. Die Wahl zwischen Pest und Cholera

18. Die Konsequenzen meiner Entscheidungen schmecken bitterer als schwarzer Kaffee

19. Der Zaubergarten, die Harfe und tanzende Sterne

20. Mein Innerstes vor dir

21. Die Engelsschwäche, die ich nicht habe

22. Mein Herz in der Hölle

23. Die Hölle auf Erden

24. Mein schlimmster Albtraum

25. Ich glaube, ich sterbe

26. Mein Flug in die Ewigkeit

27. Heaven’s going down

28. Die Erfüllung des Schicksals

29. Der Anfang nach dem Ende

30. Time to say Goodbye

Danksagung

PROLOG

Es war heiß. Viel zu heiß. Ich hasste, wie meine Kleidung an mir klebte und wie die von Schwefel erfüllte Luft in meiner Lunge brannte. Selbst hier, in einem selkeä unelma, spürte ich, wie mit jeder weiteren Sekunde, die verging, meine Energie schwand. Bald würde ich das Ganze abbrechen müssen, dabei war ich meinem Ziel noch kein Stück nähergekommen. So ging es nun schon seit Tagen.

Lucy war vor knapp einer Woche nach Valo aufgebrochen und um mich abzulenken, hatte ich mich voll und ganz auf die unbekannten Pläne meines Bruders gestürzt. Jeden Tag vergrub ich meine Nase in Büchern, bis mir die Augen zufielen, und im Schlaf kehrte ich jedes einzelne Mal an diesen schrecklichen Ort wieder, an den er sich zurückgezogen hatte.

Lucifer. Der wohl abtrünnigste Engel, den es je gegeben hatte. Der Anführer der Paholainen. Nachdem er damals versucht hatte, die Erzengel zu stürzen und Valo zu vernichten, um die Erde einzunehmen und die Menschen zu beherrschen, hatte er sich in den Tiefen des Erdreichs versteckt. Dort, wo Magmaseen und -flüsse ihren Ursprung hatten, hatte er seine Kräfte gesammelt, um Rache zu nehmen. Die vergangenen Jahre hatte ich ihn beinahe vergessen, so intensiv hatte ich unter meiner eigenen Verbannung gelitten und nach dem wahren Grund von Lucys Existenz gesucht. Doch nun schien er seinem Ziel immer näher zu kommen, denn er hatte sich erneut offenbart. Er hatte Lucy mehrfach zu sich berufen und damit mehr als deutlich gemacht, dass er eine noch immer ernst zu nehmende Gefahr war. Was ich getan hätte, wenn er Lucy verletzt hätte, will ich mir gar nicht ausmalen.

Allein der Gedanken ließ das einst so vertraute Kribbeln durch meine Adern fließen, gepaart mit der Zuversicht, Berge verrücken zu können, um meine Tochter vor jeglichem Leid zu bewahren. Da sie nun in Valo war, um an der Akademie der Wächter zu trainieren, und ich sie dort nicht beschützen konnte, tat ich das Einzige, was mir möglich war: Hier auf der Erde zu bleiben und Lucifers Plan erst zu entlarven und dann zu vereiteln. Allerdings war dies leichter gesagt als getan.

Wie schon die Nächte zuvor schlich ich vorsichtig durch die engen Gänge seines unterirdischen Verstecks. Das schwarze Gestein war so rau, dass ich mir womöglich die Haut aufreißen würde, sollte ich mich zu stark daran pressen. Noch immer ließ mich der Schwefelgeruch in der Luft röcheln und die sengende Hitze brannte sich in meine Wunde am Rücken. Angestrengt biss ich die Zähne zusammen. Zumindest die, die noch übrig waren.

Ich war schon lange nicht mehr der Engel, der ich einst zu meiner Zeit in Valo gewesen war, doch seit Lucy sich verwandelt hatte, hatte der Verfall meines Körpers rasant zugenommen. Als hätte er all die Jahre durchgehalten, damit ich dieses Ereignis noch erlebte. Meine Aufgabe, ihr alles über ihre Familie, ihr Leben, ihr Schicksal zu erzählen. Dabei gab es noch so viel zu bereden. Ich hatte ihr bisher nur die Spitze des Eisbergs an Informationen gegeben, die sie brauchte, damit ich sicher war, dass sie das alles hier gut überstehen würde. Was utopisch war, denn keiner wusste, was das alleshier überhaupt war. Nicht ich, nicht Austin, nein, nicht einmal die Erzengel, da war ich mir sicher. Diese aufgeblasenen, eingebildeten …

Ja, die saßen doch nur den ganzen lieben langen Tag in ihrem Tempel in Valo und achteten darauf, dass niemand aus der Reihe tanzte, und für mehr interessierten sie sich nicht. Es war ihnen egal, dass die Engel immer mehr und mehr nur noch auf sich aus waren und den Ursprung ihrer Existenz – die Aufopferung, die ihnen ins Blut gegeben worden war – verloren. Es war ihnen egal, dass sogar einer von ihnen gegen ihre eigenen Regeln verstieß. Es war ihnen egal, dass Lucifer, ein Feind Valos, sich erneut regte und vermutlich den Untergang Valos wie auch der Erde plante. Hauptsache, Lucy und Nathan waren auf ihr Geheiß nach Valo gekommen und alle tanzten nach ihrer Pfeife. Ich konnte nicht glauben, wie …

Ein Geräusch ganz in meiner Nähe ließ mich ruckartig zusammenfahren. Augenblicklich blieb ich stehen und hielt den Atem an. Dann lauschte ich.

Da ist er endlich.

Es waren nahende Schritte, die von einer Weggabelung einige Meter vor mir her hallten.

Bitte lass ihn nicht in meine Richtung gehen, flehte ich. Obwohl ich meine mentalen Fähigkeiten immer noch recht gut kontrollieren konnte, wurde auch dies immer schwieriger. Sollte mein Bruder in meine Richtung gehen, so wäre es nahezu unmöglich, nicht bemerkt zu werden. Die schmalen Felsgänge boten keinerlei Versteckmöglichkeiten. Mich unsichtbar werden zu lassen, erforderte nicht nur ein Maß an Energie, welches ich kaum noch besaß, weil ich durch das Unterdrücken des traumüblichen Flimmerns den selkeä unelma bereits manipulierte, damit mein Bruder meine Anwesenheit nicht bemerkte. Es war außerdem nahezu unmöglich für mich, weil Unsichtbarkeit eng mit der Sehfähigkeit verbunden war, und da ich nur noch mit einem Auge sehen konnte, war es ein Risiko, das ich nicht gewillt war einzugehen.

Darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, wich ich ein paar Schritte tiefer in den Gang zurück, aus dem ich gekommen war. Nun presste ich mich doch gegen die Wand. Das harte Gestein bohrte sich in meine papierdünne Haut und Blut mischte sich zu dem Schweiß auf meinem Rücken, doch ich gab keinen Laut von mir. Zu aufgeregt war ich, nach all den Tagen endlich meinen Bruder in diesem Wirrwarr aus Gängen gefunden zu haben.

Als dieser nun am Ende des Ganges auftauchte, war er in Gedanken versunken, denn er warf nicht einmal einen Blick in meine Richtung und machte sich auf in den anderen Gang, der von mir fortführte.

Schnell nahm ich die Verfolgung auf und heftete mich auf leisen Sohlen an seine Fersen, mit gewissem Abstand selbstverständlich. Ich folgte ihm durch so viele Gänge, um Windungen und Bögen herum, dass ich schnell die Orientierung verlor. Lucifer schien ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, denn er verlangsamte keinen einzigen Moment seine Schritte und blieb an keiner einzigen Weggabelung stehen. Es war mein Glück, dass er sich nicht umdrehte, denn um mit ihm mitzuhalten, eilte ich ihm zeitweise so ungeschickt hinterher, dass ich gnadenlos hätte entdeckt werden können.

Schließlich verlangsamte er sein Tempo doch und seine zügige Gangart verwandelte sich in dominante, waltende Schritte. Er erreichte eine schwere Holztür, die inmitten des umliegenden schwarzen Gesteins fehl am Platz wirkte. Ohne zu zögern, trat er ein und ließ die Tür einen Spalt offen.

Vorsichtig schlich ich mich heran und lugte durch den Schlitz. Der Raum hinter der Tür war eine Art Büro. Die Wände waren mit Regalen voller Bücher und Akten gesäumt und in der Mitte stand ein großer Tisch. Auf diesem war eine Modellstadt erbaut und beim genaueren Betrachten erkannte ich, dass es sich umValo handelte.

Lucifer war indes an den Tisch herangetreten und lehnte, auf seine Hände gestützt, an dessen Kante. Tiefe Furchen zierten seine Stirn und ich realisierte, dass auch er nicht mehr viel Ähnlichkeiten mit dem Engel hatte, den ich einst gekannt hatte. Das dunkelblonde Haar fiel ihm glanzlos in die Stirn und seine einst grünen Augen, die meinen und Lucys so ähnlich sahen, waren matt, als wäre alle Farbe aus ihnen gewichen. Doch der größte Unterschied waren mit Abstand seine Flügel. Von seinen einst sandfarbenen Federn war nichts mehr übrig. Stattdessen schmückten schwarz ledrige Membranen mit Krallen an den Spitzen seinen Rücken. Sein schauriger Anblick rief eine Gänsehaut bei mir hervor.

Was ist nur aus ihm geworden?

Wehmut drückte mir schwer auf die Brust und nicht zum ersten Mal bekam ich ein schlechtes Gewissen, dass ich seinen Verrat womöglich hätte verhindern können. Ob ich etwas hätte tun können, sodass er ein Engel geblieben und nicht zu einem Paholainen geworden wäre? Ich wusste es nicht, ja, ich bezweifelte es sogar, ich –

»HAB’ ICH DICH!«, zischte Lucifer, sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, direkt vor meinen Augen. Purer Wahnsinn erfüllte seine blassen Augen und er bleckte die Zähne. »Mach’s gut, Leo.«

1

Im Engelsein bin ich eine Versagerin

Wums! Schon wieder lag Lucy machtlos auf der Matte und hielt die Hände schützend vor ihr Gesicht, während Casey ihr das Schwert an die Kehle hielt.

»Das macht dann siebzehn zu …« Den Kopf schief legend strahlte sie Lucy an. Sie zog das Schwert zurück und legte dessen Spitze an ihr Kinn, so als müsste sie überlegen.

»Null«, keuchte Lucy und setzte sich auf.

Casey hielt ihr die freie Hand hin und zog Lucy mit einem Ruck hoch. Sie sah kein bisschen müde aus, dabei trainierten sie jetzt schon fast drei Stunden am Stück. Casey war bereits ihre zweite Trainingspartnerin für den Tag und weder gegen sie noch ihre Schwester Cara hatte Lucy auch nur einen einzigen Kampf gewonnen.

Allgemein hatte Lucy noch keinerlei Erfolg an der Akademie der Wächter errungen. Weder im Kampfunterricht noch der Strategielehre, der Kriegsgeschichte oder irgendeinem anderen Fach. Zugegebenermaßen war das alles auch noch neu für sie, immerhin war sie erst vor einer Woche in Valo angekommen und lernte all diese Dinge zum ersten Mal.

Doch Lucy war nicht die Einzige, die neu war. Nathan hatte genauso wenig Erfahrung wie sie in den Angelegenheiten der Engel und trotzdem meisterte er jede Herausforderung, als hätte er noch nie etwas anderes in seinem Leben getan. Gerade war er mit Celeste am Duellieren, Caseys anderer Schwester. Blitzschnell trafen ihre Speere aufeinander und sausten durch die Luft.

Mit einem Mal ließ sich Nathan zu Boden nieder, machte eine Vorwärtsrolle an Celeste vorbei und zog ihr in diesem Zug mit seinem Speer die Beine weg. Bevor Celeste auch nur realisieren konnte, dass er sie gerade ausgetrickst hatte, stand Nathan bereits über ihr und hielt ihr den Speer an die Kehle.

»Tja, Cece. Scheint so, als hättest du Konkurrenz um den Platz als Camaels Liebling.« Luke, der genau wie Casey und Lucy gebannt den Kampf zwischen Nathan und Celeste verfolgt hatte, lachte. Anerkennend pfiff er mit seinen Zähnen und gab ihm ein High Five. »Nicht schlecht, Nate.« Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. »Wenn du magst, kannst du mich morgen auch gerne mal auf die Matte legen.« Luke zwinkerte Nathan keck zu.

Nathan erwiderte bloß Lukes Blick. »Oh, ich glaube, damit würdest du nicht klarkommen.«

»Ich lass’ es drauf ankommen.«

Nathans selbstgefälliger Gesichtsausdruck verrutschte, als er erkannte, wie ernst Luke es meinte, woraufhin dieser drauf los lachte. »Dacht’ ich’s mir doch, dass eher du derjenige bist, der mich nicht händeln könnte.« Dann lief er in Richtung der Umkleiden.

Wie sehr sich Lucy nach einer heißen Dusche sehnte, war ihrer Meinung nach nicht in Worte zu fassen. Ihr gesamter Körper war schweißgetränkt. Ihre Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, glänzten feucht und ihr Oberteil klebte an ihrem Körper.

Doch Camaels Anweisungen für die Trainingseinheit im Kampfunterricht waren eindeutig gewesen: Keiner hörte auf, bevor keine zwanzig Siege errungen worden waren. Caseys Score war bereits weitaus höher, das war Lucy bewusst, was bedeuten musste, dass sie extra für Lucy weitertrainierte, damit sie noch einen Partner hatte. Die meisten Anwärter waren nämlich nach einer Stunde Training fertig gewesen und gegangen. Nur die Drillinge und Luke waren geblieben, weil Lucy und Nathan eben etwas länger brauchten als die anderen. Nun musste jedoch auch Nathan seine zwanzig Siege errungen haben, während Lucy ganze 37-mal mit ihrem Hintern auf der Matte gelandet war. Es war zum Verrücktwerden!

»Ich bitte dich, Lukas«, rief Celeste Luke hinterher, der augenblicklich stehen blieb und sich umdrehte. Sie warf ihm einen zynischen Blick zu, während sich dessen Augen verdunkelten. Celeste wusste, dass er es hasste, bei seinem vollen Namen genannt zu werden. Die Genugtuung in ihrer Stimme ließ allerdings darauf schließen, dass sie es genoss, ihn verärgert zu haben. »Ich habe ihn gewinnen lassen, damit wir endlich gehen können. Wir trainieren schließlich seit einer Ewigkeit, so lange kann es doch nicht dauern, zwanzigmal zu gewinnen.«

»Nun ja …« Verlegen kratzte sich Casey am Hinterkopf und alle drehten sich in Lucys Richtung.

Diese wollte sich am liebsten in Luft auflösen, als sie Caseys schuldbewussten Blick sah, den unsicheren von Cara, den erstaunten von Luke und den abwertenden Celestes. Doch keiner war so schlimm wie das von Mitleid triefende Blau von Nathans Augen, das sich tief in ihr Innerstes brannte. Schnell wandte sie sich ab.

»Nicht dein Ernst, Case.« Celeste schnaubte und verdrehte genervt die Augen. »Es kann doch niemand so inkompetent sein und immer noch keine zwanzig Siege errungen haben. Vor allem mit dir als Gegnerin.«

»Hey!«, protestierte Casey, aber Celeste zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab.

»Du tänzelst mehr durch die Gegend, als dass du kämpfst. Selbst sie sollte es schaffen, dich mindestens einmal zu schlagen. Und so etwas nennt sich die Nachfahrin von Leonardo de Caziers.«

Jetzt wurde es Lucy zu viel. Sie wusste, dass keiner an der Akademie sie als würdig ansah, doch sie kam damit klar, solange es bei den Blicken und den geflüsterten Gehässigkeiten über sie blieb. Es vor ihr zu sagen, als wäre sie nicht anwesend, anstatt zu ihr, dass sie es wagten, das Andenken ihres Vaters – des Engels, der diese Stadt gerettet hatte – zu beschmutzen, war ein Schritt zu viel. Insbesondere vor Nathan, dem einzigen Engel in Valo, der sie noch nicht als wertlos erachtete. Wut rauschte durch ihre Adern und ihre Flügel zuckten provoziert an ihrem Rücken.

»Sag das nochmal!« Sie ging auf Celeste zu, die sich, eine Augenbraue erwartungsvoll hochgezogen, nun erwartend zu ihr umdrehte. »Sag das nochmal und sag es mir diesmal ins Gesicht!«, fauchte Lucy der Engelsdame entgegen.

Diese verengte die Augen zu Schlitzen und beugte sich vor. »Warum? Du bist doch vermutlich auch zu inkompetent, um richtig zu begreifen, was ich sage.« Sie stieß Lucy mit ihrer Hand gegen die Brust, sodass diese ein paar Schritte zurücktaumelte, bevor sie sich abwandte und ging.

Lucy wollte sich wutentbrannt auf sie stürzen, da schlangen sich zwei starke Arme von hinten um ihren Körper.

»Sie ist es nicht wert«, raunte Nathan ihr ins Ohr, während sein unverwechselbarer Duft, ein Gemisch aus Sonne und Ozean, der an einen heißen Tag am Strand erinnerte, sie einnahm. Trotz der unweigerlichen Hitze, die sie aufgrund ihres Zorns verspürte, hieß sie die Wärme, die von Nathan ausging, willkommen und ließ sich von ihr tragen. Wie auf einer Welle, die einen wieder zurück an das ruhige, sichere Ufer spülte.

Als sie sich wieder vollständig beruhigt hatte, hauchte Nathan ihr noch einen Kuss auf die Wange, bevor er sie losließ.

Mit hochrotem Kopf drehte sie sich den anderen zu.

Aufmunternd schaute Casey sie an. »Hör nicht auf sie, Lucy. Du bist gerade erst seit wenigen Tagen hier, während wir anderen schon seit Jahren trainieren. Keiner kann von dir erwarten, direkt mit uns auf einem Level zu sein.« Liebevoll knuffte Casey ihr in den Oberarm.

»Ich weiß.« Lucy seufzte. »Aber sie hat recht. Immerhin einmal hätte ich gewinnen müssen. Nathan schafft es schließlich, mit euch mitzuhalten.« Frustriert deutete sie auf Nathan, der bei ihren Worten selbstgefällig mit den Schultern zuckte und zufrieden vor sich hin lächelte. Sie verdrehte die Augen.

Sein Ego ist wirklich zu groß für diese Welt.

»Lucy, du kannst dich nicht mit der Perfektion in Person vergleichen«, schwärmte Luke.

Während alle Anwesenden mit den Augen rollten, grinste Nathan noch selbstzufriedener und zwinkerte Luke frech zu.

Auch wenn Lucy erst wenige Tage in Valo und auf der Akademie der Wächter war, so waren ihr bereits einige Dinge klar geworden: Engel waren sehr von sich überzeugt und von daher schwer zu beeindrucken. Doch dies hielt Nathan nicht davon ab, auch hier von allen angehimmelt zu werden, wie auch schon auf der Erde. Von Beginn an hatten ihn alle mit offenen Armen empfangen, während sie Lucy nur argwöhnisch beäugt hatten. Dass sie in allem, was sie tat, obendrauf auch noch versagte, half nicht sonderlich dabei, ihr Image zu verbessern. Einzig Casey, mit der sie sich einen Schlafsaal am Campus der Akademie teilte, war nett zu ihr. Luke, der mit Nathan in einem Zimmer schlief, schien sie auch zu mögen – oder zumindest zu tolerieren – und unterhielt sich gelegentlich nett mit ihr, doch hatte meist nur Augen für Nathan. Abgesehen von den beiden hatte sie bisher nur Kontakt zu Caseys Schwestern Cara und Celeste, doch Cara war größtenteils zu schüchtern, um etwas zu sagen, und Celeste konnte sie nicht leiden, obwohl Lucy ihr nie etwas getan hatte.

»Sie mag keine Versager«, hatte Casey ihr eines Abends in ihrem Zimmer erzählt, auf Lucys Frage hin, ob sie Celeste unbewusst irgendwie beleidigt hatte. Direkt nach dieser Aussage hatte sich Casey die Hände vor den Mund geschlagen und sich tausendmal entschuldigt und beteuert, dass sie nicht glaube, dass Lucy eine Versagerin sei, aber dass Celeste das vermutlich über sie denke, was es selbstverständlich in keiner Weise wahr mache.

Lucy hatte den ganzen restlichen Abend damit verbracht, ihrer Zimmergenossin zu versichern, dass sie nicht annehme, dass Casey sie für eine Versagerin halte, und doch war sie an diesem Abend mit Tränen in den Augen eingeschlafen.

Tagsüber an der Akademie war ihre einzige Bezugsperson Nathan, da Casey meistens bei ihren Schwestern saß. Auch wenn dieser häufig von einer ganzen Traube an Anwärtern umgeben war, verbrachte er neuerdings immer mehr Zeit mit ihr allein, anstatt sich in der Aufmerksamkeit der anderen zu sonnen. Seit dem Kampf mit den Harpyien vor wenigen Wochen hatte sich etwas in ihm verändert. Wo früher nur Arroganz und Überheblichkeit in seinem Blick zu erkennen gewesen waren, sah sie heute Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Vor allem Letzteres, denn er bekam schließlich die volle Ladung Missgunst mit, die Lucy von den anderen Engeln erntete. Immer wieder hatte er versucht, sie mit anderen bekannt zu machen, ihr bei Aufgaben in der Akademie zu helfen, aber es nützte nichts.

Ich bin eine solche Versagerin, sagte sich Lucy und spürte heiße Tränen in ihren Augenwinkeln brennen.

»Geht schon mal, wir kommen gleich nach«, sagte Nathan, der ihre immer röter werdenden Augen bemerkt hatte. Als die anderen in den Umkleiden verschwunden waren, nahm er sie erneut in den Arm. »Ignorier sie. Ignorier sie alle. Du brauchst einfach ein wenig länger, das macht nichts.« Beruhigend strich er ihr über den Rücken.

Zornig biss sich Lucy auf die Unterlippe. Sie wollte jetzt auf keinen Fall vor ihm weinen. Schon gar nicht wegen der Tatsache, dass sie ein miserabler Engel war. Doch es wurde nicht besser. Immer stärker schnürte sich ihre Kehle zu und Lucy hielt die Luft an, um nicht aufzuschluchzen.

Reiß dich zusammen!, sagte sie sich. Doch das war einfacher gesagt als getan.

Immerhin hatte ihr Besuch an der Akademie einen bestimmten Grund: Sie musste trainieren, musste stärker werden, um im Kampf gegen Lucifer eine reale Chance zu haben, damit sich die Prophezeiung erfüllte. Sie würde die Welt retten. Sie musste. Allerdings glaubte sie jetzt noch weniger daran, als sie es ohnehin schon getan hatte, während sie noch auf der Erde gewesen war. Wie sollte sie es schon mit Lucifer aufnehmen? Demjenigen, der es geschafft hatte, fast ganz Valo zu zerstören. Dem Herrscher und Anführer der Paholainen, der abtrünnigen Engel. Sie schaffte es ja nicht einmal, einen einzigen Trainingskampf für sich zu entscheiden.

Allerdings spielte nichts davon eine Rolle, sollte sie ihrem Onkel den Schlüssel der Gläsernen Brücke geben, um ihre Familie vor seiner Drohung zu beschützen. Doch zu welchem Preis …?

Egal, wofür sie sich entscheiden würde: Für den Verrat an Valo und den Erzengeln oder die Erfüllung einer Prophezeiung, die vom Ende der Welt handelte, … es würde stets in Tod und Zerstörung enden, so viel konnte sie sich denken.

Als Nathan schließlich von ihr abließ, hielt sie den Blick auf ihre Füße gesenkt, damit er es ihr nicht ansah, falls es doch eine Träne geschafft hatte, ihre Augen zu verlassen.

Lucy zuckte zusammen, als er ihr Kinn unerwartet anhob.

Tief schaute er ihr in die Augen. Dieses undurchdringliche Blau, welches bis in ihr Innerstes zu blicken schien, verschlug ihr wie immer die Sprache. Während ihre Augen sich gegenseitig gefangen hielten, beugte er sich langsam zu ihr hinunter und schloss die Augen.

Kurz bevor sich ihre Lippen trafen, zögerte Lucy.

»Warte! Ich …« Sie taumelte ein paar Schritte rückwärts. Sie brauchte Abstand. Um zu denken. Um sich zu beruhigen. Um zu verstehen, was eigentlich gerade in ihrem Leben passierte. »Ich kann das nicht. Nicht … nicht jetzt.«

Ich habe zu viel in meinem Kopf, als dass ich mir auch noch Gedanken darüber machen könnte, was das zwischen uns ist oder werden kann oder … was auch immer. All diese Worte dachte sie, aber sie wagte nicht, sie auszusprechen. Schließlich beließ sie es bei: »Tut mir leid.«

»Entschuldige dich nicht dafür, Lucy. Du hast jedes Recht, darüber zu entscheiden, was du willst und was nicht.« Zaghaft schenkte er ihr ein Lächeln, das ein wohliges Kribbeln in ihren Bauch schickte. Das Glänzen seiner Augen hatte trotzdem ein wenig nachgelassen.

Ich will dich aber!, schrie ihr Innerstes, doch ihr Kopf signalisierte ihr deutlich, dass sie genug Dinge hatte, die im Moment von höherer Priorität waren, als ihr Verlangen nach Nathan. Zum einen ihre erfolgreiche Ausbildung an der Akademie. Und zum anderen Lucifers Drohung, alle, die ihr lieb waren, umzubringen, wenn sie ihm nicht den Schlüssel zu der Gläsernen Brücke und damit den Pforten Valos brachte.

2

Mein Moment im Rampenlicht

Erschöpft verließ Lucy das Gebäude, in dem sich die Trainingshalle der Akademie befand, und betrat den Campusinnenhof. Die Akademie der Wächter befand sich im Zentrum Valos und war trotzdem vom alltäglichen Leben der Engel vollkommen abgeschirmt. Das Hauptgebäude war ein riesiger marmorner Tempel, der wie ein Vierkanthof aufgebaut war. Er war ringsum gesäumt von schweren Säulen, auf denen das Vordach erbaut war. Auf jeder der vier Seiten wurde ein anderes Hauptfach unterrichtet. Den Unterricht leiteten die Erzengel.

Für den restlichen Sommer musste Lucy nun fünf Tage die Woche pünktlich um acht Uhr im Ostflügel des Hauptgebäudes erscheinen, um in Raphaels Kriegsgeschichteunterricht alles über Valos militärische Vergangenheit zu erfahren. Danach zogen sie und die anderen Anwärter weiter in den Südflügel zu Jophiels Strategielehre. Nach viereinhalb Stunden gab es eine Stunde Mittagspause, die die meisten Anwärter jedoch zum weiteren Trainieren und Lernen nutzten, wie Lucy mit Entsetzen direkt an ihrem ersten Tag festgestellt hatte. Um halb zwei ging es dann weiter im Westflügel mit Uriels Realienkunde, gefolgt von dem Kampftraining bei Camael im Nordflügel des Hauptgebäudes, den Lucy soeben verlassen hatte.

Der Innenhof, der sonst von jungen Engeln gefüllt war, war wie ausgestorben. Alle waren bereits zu ihren Schlafsälen zurückgekehrt, da sie ihr Training im Gegensatz zu Lucy erfolgreich beendet hatten.

Schnellen Schrittes lief sie den überdachten Weg nach links am Gemäuer des Nordflügels entlang, um das Hauptgebäude durch den Ostflügel zu verlassen und auch zu ihrem Schlafsaal zu gelangen, da nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr und erschrak.

»Lucienna«, sagte eine Stimme.

Ertappt drehte sich Lucy um und blickte hinauf in das ebenmäßige Gesicht von Jophiel, dem Engel der Weisheit und Geduld. Seine smaragdgrünen Augen musterten sie aufgeweckt.

»Zu so später Stunde noch am Studieren?«

Lucy verlagerte ihr Gewicht nervös von einem auf das andere Bein. »Ja, also ich … die Macht der Weisheit ist eben unendlich, stimmt’s?« Sie lachte verlegen und merkte sofort, dass ihr Versuch, ihn mit ihrem Spruch zu beeindrucken, misslich gescheitert war.

»Es ist wahr, man lernt nie aus. Eine der wichtigsten Lektionen des Lebens ist es jedoch, Geduld zu üben, die es benötigt, um die Erkenntnis dieses Lebens zu erlangen.« Wissend schaute er auf sie hinab.

Lucy schluckte. War sie so einfach zu durchschauen? Oder hatte es sich an der Akademie schlichtweg herumgesprochen, dass sie eine Versagerin war? Vermutlich. Wenn auf der Erde die Lehrer über die Schüler lästerten, warum nicht auch die Erzengel über die Anwärter? Allerdings musste sie zugeben, dass die Vorstellung, dass Uriel, Jophiel, Raphael und Camael mit Kaffeetassen mit Sprüchen wie ›Ich hasse Montage.‹ oder ›Kaffee fragt nicht, wo du letzte Nacht gewesen bist. Kaffee versteht.‹ zusammenstanden und tratschten, mehr als gewöhnungsbedürftig war.

»Habe Geduld, Lucienna. Die Weisheit dieses Lebens erlangt niemand über Nacht.« Er neigte seinen Kopf leicht nach unten und sie erwiderte die Geste. Es war die Art, sich in Valo zu verabschieden und zu begrüßen.

»Sehr wohl, Valaistua«, hauchte sie in ihrer Verbeugung.

Als sie wieder aufsah, war Jophiel bereits verschwunden. Valaistua. Lucy glaubte, es hieß so viel wie ›erleuchtet‹. So sprachen alle Engel die Erzengel an, da sie – als Fürsten Valos – mit ihrem Namen anzusprechen, als unhöflich erachtet wurde.

Langsam schlenderte sie nun aus dem Hauptgebäude, die große Treppe hinunter, und betrachtete das restliche Gelände der Akademie. Vor ihr erstreckte sich ein riesiger Platz, der links und rechts von kleineren Marmortempeln, die den Anwärtern als Schlafsäle dienten, gesäumt war. Die linke Seite war von den Frauen, die rechte Seite von den Männern bezogen. Mit einem kurzen Blick auf den Tempel, in dem Nathan schlief, ging sie zielstrebig in ihren.

Als sie ihre Zimmertür öffnete, stellte sie fest, dass Casey vermutlich bei ihren Schwestern war und sie so ihr Zimmer für sich hatte. Es war üblich, dass ein Zimmer immer von zwei Anwärtern bezogen wurde, so teilten sich Celeste und Cara, Luke und Nathan und Casey und Lucy ein Zimmer. Allerdings waren diese Zimmer so groß, dass Lucy es als gerechtfertigt sah, von Schlafsälen zu sprechen.

Müde und immer noch überwältigt von den Eindrücken ihres neuen, mystischen Lebens ließ sie sich rücklings auf ihr Bett fallen und stieß einen frustrierten Laut aus.

Wie war sie nur hier hineingeraten? Als 17-jähriges Mädchen in einer Stadt im Himmel zusammen mit Engeln, die sie alle für unnütz hielten, an der Seite eines attraktiven Engels, den sie versucht hatte zu hassen und der sich dennoch in ihr Herz gestohlen hatte, denn verdammt …! So sehr Lucy sich auch bemühte und sich einredete, sie müsse sich voll und ganz auf ihre Ausbildung an der Akademie konzentrieren und auf das, was Lucifer plante, alles, woran sie letztendlich dachte, war Nathan. Seine perfekt verwuschelten Haare, die ihm immer so sexy in die Stirn fielen. Seine geschwungenen Lippen, die sich so himmlisch auf ihrem Körper anfühlten, und seine Hände, die ihr immer Halt gaben, wenn sie ihn brauchte. Die stolzen schwarzen Flügel, die ihm den Look eines sexy Todesengels verliehen, und seine ozeanblauen Augen, die sie einnahmen und mit sich in unendliche Tiefen rissen. Bei diesen Gedanken überzog sich ihr Körper mit einer Gänsehaut und zwischen ihren Beinen breitete sich ein zehrendes Prickeln aus. Es war zum Verrücktwerden!

»Ahh!« Frustriert schlug sie mit den Fäusten neben sich aufs Bett.

»Unterdrückte Aggressionen? Wenn du die eben beim Training rausgelassen hättest, hättest du vielleicht einmal gegen mich gewonnen.«

Mit einem Satz saß Lucy kerzengerade im Bett. Casey lag seelenruhig bäuchlings auf ihrem Bett und blätterte durch eine Zeitschrift. Wie lange lag sie schon da? Lucy hatte nicht mitbekommen, wie sie das Zimmer betreten hatte. Oh, wie sie Engel und ihre Fähigkeit, sich schnell und lautlos bewegen zu können, hasste! Oder war sie etwa so in ihren Gedanken an Nathan gefangen gewesen, dass sie es gar nicht mitbekommen hatte?

»Ich habe keine unterdrückten Aggressionen, ich bin frustriert«, grummelte sie.

»Also, so frustriert, wie du mir scheinst, kann es nur zwei Erklärungen geben: Entweder du hast Mordshunger oder du bräuchtest mal dringend jemanden, der sich um dich kümmert.« Vielsagend zwinkerte Casey Lucy zu.

»Kümmert?«, fragte sie ratlos, doch verstand, als Casey belustigt mit den Augenbrauen wackelte.

»Ich habe das Gefühl, Nate würde dir da bestimmt gerne dabei helfen. Er kann seine Augen ja nie von dir lassen.«

»Na warte, du …« Innerhalb eines Wimpernschlags war Lucy von ihrem Bett mit ihrem Kissen in der Hand aufgesprungen und schlug es voller Wucht Casey ins Gesicht.

Vielleicht mag ich Engelschnelligkeit ja doch, gestand sie sich ein. Seit ihrer Ankunft in Valo hatte sie angefangen, das volle Ausmaß ihrer Engelskräfte auszuprobieren.

Sich wehrend nahm sich Casey nun auch ein Kissen und drückte es ihr ins Gesicht. Kichernd rollten die beiden umher, bis Lucy schließlich die Überhand gewann und Casey sich geschlagen geben musste.

»Siehst du?« Casey lachte. »Du schaffst es, mich zu besiegen.«

»Ja, sicher.« Lucy rollte mit den Augen, nun wieder nüchtern. »In einer Kissenschlacht kann ich Lucifer sicherlich das Wasser reichen«, witzelte sie.

»Nun spiel deine Kraft nicht so runter. Du musst nur lernen, sie richtig einzusetzen.« Aufmunternd sah Casey sie an. »Ich vermute, du glaubst nicht an dich. Du traust dir nicht zu, das hier zu schaffen.« Sie machte eine Handbewegung durch den Schlafsaal. »Du denkst, du gehörest nicht hierher. Nach Valo. An die Akademie. Als wären dir aus Versehen diese Flügel gewachsen und du müsstest nun zwanghaft beweisen, dass du ihrer würdig bist. Doch Lucy …« Durchdringend sah sie Lucy an. »Wärst du ihrer nicht würdig, wären sie dir erst gar nicht gewachsen. Du bist Valo würdig und du bist der Akademie würdig, sonst hätten die Erzengel nicht befohlen, dass du sie besuchst. Ein Platz an der Akademie ist wie der Gewinn im Lotto. Nicht jeder Engel bekommt die Chance, an ihr zu trainieren und ein Wächter zu werden. Also hör bitte auf, nur mit halber Überzeugung zu üben, denn so kommst du nicht weit.«

Ratlos zuckte Lucy mit den Schultern. »Ich versuche es ja …«

»Nein, tust du nicht!«, erwiderte Casey entschieden. »Sonst würde es dir nicht so nah gehen, wenn Celeste oder die anderen über dich herziehen. In deinem Inneren glaubst du nämlich, dass sie recht haben. Dass du zu nichts zu gebrauchen bist und gar nicht hier sein solltest. Und das sieht man. In der Art, wie du im Hörsaal bei Uriel in deinem Sitz versinkst oder wie du bei Camaels Training dein Schwert hältst. Es sollte eine Verlängerung deines Armes sein. Ein Teil von dir. Du hingehen hältst es, als wäre es ein Haufen nasser Haare aus dem Duschsieb, den du schnellstens entsorgen willst.«

»Es ist für mich einfach nicht so selbstverständlich, mit einer tödlichen Waffe zu kämpfen, wie für euch«, entgegnete Lucy nun ein wenig aufgebracht. »Nicht einmal kämpfen ist für mich ›normal‹.«

»Ich weiß, aber das ist etwas, was bestimmt mit der Zeit kommt.« Mitleidig sah sie Lucy an. »Jetzt zieh dich nicht selbst runter und komm aus deinem Pool aus Selbstmitleid raus. Du musst einfach noch ein wenig mehr trainieren, damit du anfängst, dein neues Leben zu akzeptieren. Wir können gerne zusammen am Wochenende ein paar Extrastunden einlegen, wenn du magst. Nate macht bestimmt mit, solltest du ihn fragen. Der gibt dir sicherlich allzu gerne private Nachhilfestunden.« Keck zwinkerte Casey ihr zu und lachte, als Lucy erneut ein Kissen in Caseys Gesicht donnerte. Abwehrend hob Casey die Hände. »Ich sag’ ja nur. Schaden kann es nicht und du wirst dich auf jeden Fall besser fühlen, sobald du nicht mehr so durch die Kampfhalle stolperst.«

Casey hatte leicht reden und doch nicht unrecht. Schon eine Woche taumelte Lucy von einem Bein aufs andere. Wenn sie das Beste aus diesem Sommer herausholen wollte, dann musste sie anfangen, ernsthaft zu trainieren. Doch wie gut würde ihr das letztendlich gelingen? Sie stieß einen langen Atem aus. Wenn es nach den anderen Anwärtern ginge, vermutlich gar nicht.

Am nächsten Morgen saß Lucy im Hörsaal des Südflügels der Akademie und notierte sich alles Wichtige der heutigen Strategielehrestunde. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her, denn Jophiels smaragdgrüne Augen ruhten fast durchgehend auf ihr. Nervös hielt sie den Blick auf ihren Schreibblock geheftet und notierte akribisch, was der Erzengel erzählte.

»Was meinst du, Lucienna?«

Erschrocken riss sie die Augen von ihren Notizen und sah Jophiel an, der wieder einmal wissend den Kopf zur Seite neigte.

»Wenn es gilt, die Stadt zu verteidigen, und ein unbekannter Feind eines Tages direkt vor Valos Pforten auftaucht, wie sollte vorgegangen werden?«

Ratlos sah sich Lucy im Hörsaal um, doch alle sahen sie nur erwartungsvoll an.

Casey nickte ihr aufmunternd zu, während Celeste neben ihr hämisch den Mund verzog, als würde sie sich freuen, erneut mitzuerleben, wie sie versagte. Doch nach einem Blick auf ihre Notizen erkannte sie, dass sie dort keine Antwort auf Jophiels Frage finden würde. Eine unangenehme Hitze breitete sich in ihr aus und ließ ihre Handflächen feucht werden, die sie an ihrer Hose abwischte.

Da legte Nathan, der neben ihr saß, zaghaft seine Hand auf ihre und drückte sie leicht, als wollte auch er ihr Mut zusprechen, auf sich selbst zu vertrauen. An seinen Mundwinkeln zupfte ein leichtes Lächeln und er gab ihr mit einem angedeuteten Nicken zu verstehen, dass sie die Antwort kannte.

»Ich würde …«, fing sie an und drehte sich wieder, um Jophiel in die Augen zu blicken. Das Grün seiner Augen war unnatürlich stechend und doch wirkte es in seiner Erscheinung vollkommen. Alles in ihr zog sich unangenehm zusammen, als sie ihre Antwort nannte: »Warten.«

Ein ungläubiges Raunen ging durch den Hörsaal an Anwärtern, gefolgt von missbilligendem Getuschel, aber sie drückte ihre Schultern durch und erklärte: »Erstens kann der Feind nicht ohne den Schlüssel über die Gläserne Brücke nach Valo gelangen. Zweitens wissen wir noch gar nichts über ihn. Es wäre sinnvoll, erst einmal möglichst viele Informationen über ihn, seine Stärken, Schwächen und seine Strategien in Erfahrung zu bringen, bevor wir uns unüberlegt und überstürzt aus der Sicherheit der Stadt begeben.«

»Also sollen wir einfach wie ein Festmahl auf dem Präsentierteller liegen, bis der Feind einen Weg gefunden hat, doch zu uns zu gelangen?«, rief Celeste aufgebracht in den Hörsaal.

Sofort richtete Jophiel seine Aufmerksamkeit tadelnd auf sie. »Celeste, ich dulde es nicht, dass Anwärter in meinem Unterricht unaufgefordert das Wort erheben. Sollte es noch einmal vorkommen, schließe ich dich für die restliche Woche aus.«

Erschrocken senkte sie demütig ihren Kopf. »Natürlich. Verzeihung, Valaistua.« Einen Moment später richtete sie ihren Blick vernichtend auf Lucy, die sich schnell wieder nach vorne umwandte und fortfuhr: »Natürlich sollten wir nicht nichts tun, aber wir sollten eben überlegt an die Sache herangehen. Eine Strategie ausarbeiten und dann koordiniert handeln. Es ist wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, wen man als Gegner vor sich hat.«

Zustimmend nickte Jophiel. »Ganz genau, Lucienna. Es ist sehr wichtig, seinen Feind so gut es geht zu kennen.« An den gesamten Hörsaal gewandt, fuhr er fort: »Die meisten von euch haben noch keinerlei Erfahrung in echten Kämpfen und Kriegen. Ihr brennt darauf, der oder die Beste zu werden und euch in das Getümmel zu stürzen. In euren Augen seid ihr unschlagbar, doch euch fehlt das oftmals Wesentliche.« Eindringlich ließ er seinen Blick über die Anwärter schweifen. »Bescheidenheit.« Er schmunzelte bei dem daraufhin erklingendem Gemurmel. »Manchmal ist es von größter Bedeutung, zu wissen, wann man einem Gegner gnadenlos unterlegen ist, um sicherzugehen, wie man gegen ihn antreten sollte. Lucienna und Nathan …« Er deutete auf die beiden und Lucy wäre am liebsten mit ihrem Sitz verschmolzen, so unangenehm war es ihr, von dem Erzengel so hervorgehoben zu werden. »… haben bereits solch eine Situation erlebt und während Nathan blind drauflos agiert hat, hat Lucy strategisch ihren Kampfstil geplant. Als die beiden vor wenigen Wochen zwei Harpyien gegenüberstanden, hat Lucy begriffen, dass sie in der Luft keine Überlebenschance gehabt hätten. So hat sie die Harpyien gezwungenermaßen am Boden gehalten und besiegt.«

Nun durchschnitt ungläubiges Gemurmel den Hörsaal. Wahrscheinlich hätten sie es Lucy nie zugetraut, bei irgendetwas im Leben Erfolg zu haben.

Tja, ihr alle kennt mich eben doch nicht, dachte sie sich und verfolgte, nun um einiges gelassener, den Rest der Strategielehrestunde.

3

It’s Time to Party!

Selbst in der darauffolgenden Mittagspause warfen ihr die anderen Anwärter immer noch unsichere Blicke über den Innenhof des Hauptgebäudes zu, so als wüssten sie nicht, ob sie Jophiel tatsächlich glauben sollten.

Lucy wandte sich entschieden ab und biss in ihr Rühreitoast.

Sollen sie sich doch ihre kleinen schönen Köpfchen zerbrechen, ist nicht mein Problem.

»Ist hier noch frei?«

Irritiert drehte sie sich zu Nathan, der sie verschmitzt anblickte. Ihr war bewusst, dass es eine rhetorische Frage war, aber bei seinem provozierenden Gesichtsausdruck konnte sie einfach nicht anders. Wer blöd fragt, bekommt auch blöde Antworten.

»Tut mir leid, alles schon besetzt.« Sie sah ihn aus großen Augen heraus an.

Seine Augen blitzten irritiert auf und sein Lächeln verrutschte für den Bruchteil einer Sekunde, doch dann hatte er sich wieder gefangen. »Haha, sehr lustig.« Schwungvoll ließ er sich neben ihr auf der Bank nieder.

Sie überging seinen Kommentar. »Als ob jemand anderes außer dir hier etwas mit mir zu tun haben will. Der Obernull der Akademie.« Sie machte eine Handbewegung in der Luft, so als würde der Titel in Großbuchstaben in der Luft geschrieben vor ihr stehen.

»Also die Obernull der Akademie würde sicherlich nicht vor dem gesamten ersten Jahrgang von Jophiel gepriesen werden«, sagte Nathan entschieden und biss in sein üppig belegtes Sandwich.

Die Ausbildung an der Akademie dauerte vier Jahre. Aus logischen Gründen besuchten Lucy und Nathan die erste Klasse, auch wenn sie selbst dort den anderen weitaus unterlegen waren. Schließlich mussten Engel jahrelang trainieren, um sich für einen der heißbegehrten Plätze bei der Aufnahmeprüfung zu qualifizieren.

»Auscherdem schollte esch disch nischt intereschieren, wasch die anderen von dir halten«, schmatzte Nathan weiter.

»Sollte es nicht«, gab sie mit einem resignierten Seufzen zu. »Aber nach der ganzen Mühe, die es sie gekostet haben muss, hier einen Platz zu erlangen, kann ich sie irgendwie verstehen. Sie haben einiges mehr drauf als wir – und vor allem ich.«

Beeindruckt beobachtete sie, wie Nathan sich nun sein gesamtes Sandwich in den Mund stopfte und es hinunterschlang.

»Vergiss es. Niemand hat meinen Charme.« Anzüglich zwinkerte er ihr zu.

Sie verdrehte die Augen.

»Was denn? Ich mein’ ja nur.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du dir die anderen anschaust, wird dir auffallen, dass sie perfekt sind.«

Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Ja, ich weiß. Danke, dass du es mir auch noch unter die Nase reibst.«

Vehement schüttelte er den Kopf. »So mein’ ich das gar nicht. Aber schau sie dir genauer an. Sie sind alle Engel, sie sind alle gleich, sie sind alle perfekt. Und das wissen sie. Sie machen sich nicht die Mühe, über Dinge nachzudenken, sich zu überlegen, wie sie ihre Schwächen ausmergeln könnten, wie sie besser werden könnten. Doch du und ich …« Er sah ihr nun tief in die Augen. In seinen tobte leidenschaftlich der Ozean. »… wir sind keine Engel, wir sind nicht gleich und – bei den Erzengeln – wir sind nicht perfekt. Du ein bisschen weniger als ich selbstverständlich«, schob er schnell ein und erntete dafür einen Schlag auf den Oberarm. Er lachte auf. Es klang leicht und unbeschwert und verursachte ein angenehmes Kribbeln in ihrem Bauch. »Ich sag’ ja nur.« Er hob abwehrend die Hände, um sich vor weiteren Angriffen ihrerseits zu schützen. »Wir sind anders als die aufgeblasenen Himmelsfurzer und das macht uns außergewöhnlicher. Daran können wir wachsen, in Dimensionen, die die gar nicht erst verstehen. Und das schaffen wir. Gemeinsam.« Er nahm ihre Hand, die auf dem Tisch lag, und fuhr mit dem Daumen über ihren Handrücken.

Das angenehme Kribbeln in ihren Bauch vervielfachte sich und seit einer Ewigkeit umspielte ihre Lippen ein zaghaftes Lächeln. »Okay.«

Kurz darauf fragte er sie, ob sie am Freitagabend mit ihm auf eine Campusparty gehen wolle. Um den Stich in ihrer Brust zu überspielen, dass Nathan eingeladen worden war und sie nicht, sagte sie, dass sie sich Schöneres vorstellen könne, als noch mehr Zeit mit den von ihm betitelten ›Himmelsfurzern‹ zu verbringen. Doch Nathan ließ nicht locker und so sagte sie schlussendlich zu.

So stand sie nun am Freitagabend vor dem Spiegel in ihrem Schlafsaal und betrachtete sich.

»Du siehst gut aus«, versicherte ihr Casey, die extra dageblieben war, um sich zurechtzumachen, und nicht zu ihren Schwestern gegangen war, als sie erfahren hatte, dass Lucy auch zur Party gehen würde. Casey legte sich gerade einen goldenen Schmuck auf ihr dunkelbraunes Haar, sodass sie aussah, als trüge sie einen Heiligenschein. Sie sah umwerfend aus. Ihr Outfit bestand aus einer silbern glänzenden enganliegenden Hose, die ihre langen, schlanken Beine betonte, und als Oberteil hatte Casey sich ein knallpinkes Tuch umgebunden, über dem ihr braunes Haar in wogenden Wellen hinabfiel. Ihre gebräunte Haut stand in verführerischem Kontrast zu den hell funkelnden Glitzerelementen ihres Outfits.

Als Lucy damals in Valo angekommen war, hatte sie feststellen müssen, dass Engel keine Oberteile trugen, die mit denen der Menschen zu vergleichen waren. Wie auch? Menschen hatten keine Flügel am Rücken, die ihnen im Weg waren. Folglich banden sich Engel Tücher eng an ihren Oberkörper, um ihre Flügel herum. Vor abertausenden von Jahren hätten sich die Engel noch Tuniken umgebunden wie die alten Griechen, doch das sei mittlerweile vollkommen aus der Mode, hatte Casey ihr erzählt, als sie Lucy geholfen hatte, sich das erste Mal solch ein Tuch umzubinden. Zunächst war Lucy skeptisch gewesen und hatte erwartet, dass sie sich eingeschränkt, gar eingeschnürt fühlen würde, doch der Stoff war so leicht und sanft, dass sie fast nicht merkte, dass er da war. Warum Jenny und Mr Brown auf der Erde auf diese verzichteten, war ihr schlichtweg ein Rätsel. Welch eine Qual es sein musste, jeden Tag menschliche Kleidung anzuziehen –auch wenn es von den Erzengeln angepasste Kleidung war – und auf den Komfort der Engelskleidung zu verzichten. Alle Engel in Valo trugen diese Tücher, die Alkuun genannt wurden, abgesehen von den Erzengeln, die tagtäglich weiße Anzüge bevorzugten. Nur Camael band sich beim Kampftraining in der Akademie selbst ein Alkuun um.

Es hatte unzählige Versuche gebraucht, bis Lucy es geschafft hatte, sich selbst ein Alkuun anzulegen, welches auch hielt und nicht gleich allen Umstehenden einen freien Blick auf ihre Brust gab. Aus diesem Grund hatte sie auch immer nur geübt, das Alkuun zu binden, wenn sie sich sicher war, dass sie ihren Schlafsaal nicht mehr verlassen würde. Jeden Morgen vor dem Unterricht bat sie immer noch Casey, zu prüfen, ob er auch fest genug saß.

»Könntest du nochmal …?«, fragte Lucy nun und lächelte Casey entschuldigend an.

»Ja, klar. Aber langsam solltest du es doch hinkriegen, dich allein anzuziehen, oder? Ich bin nämlich nicht bereit, noch länger die Schwere der Verantwortung einer Mutter zu tragen und darauf zu achten, dass du vernünftig angezogen bist.«

»Haha, sehr lustig, muumio«, sagte Lucy, um Casey aufzuziehen, die bei dem engelischen Wort für ›Mama‹ entsetzt das Gesicht verzog.

»Sieht gut aus, Luce. Du brauchst mich tatsächlich gar nicht mehr. Meine Kleine ist jetzt wohl erwachsen«, schniefte Casey gespielt auf und hielt sich die Hände vor ihr Gesicht, bevor sie sich wieder daran machte, in ihrem Frisiertisch zu wühlen.

Erneut betrachtete Lucy ihr Spiegelbild. Ihr Outfit war nicht so glamourös wie Caseys, aber sie fühlte sich recht wohl mit ihrer Wahl. Sie trug eine schwarze eng anliegende Hose und ihr Alkuun war in einem zarten Rosa. Ihre blonden Haare trug sie offen, mit den vorderen Strähnen zurückgebunden in einem kleinen Knoten. Schlicht und einfach, dachte sie sich. Perfekt, um nicht zu viel Aufsehen auf einer Party zu erregen, auf die sie eigentlich gar nicht eingeladen worden war.

»Eine Sache fehlt noch«, hörte Lucy Casey hinter sich sagen und schreckte hoch, als Casey ihr plötzlich etwas auf den Kopf legte.

Es war Caseys Haarschmuck ähnlich, allerdings war es kein goldener Reif wie bei ihr, sondern ein filigranes silbernes Gebilde aus kleinen Blüten.

»Ein richtiger Engel.« Casey strahlte sie hinter ihr im Spiegel an. Kurz darauf blitzten ihre braunen Augen abenteuerlustig auf. »Und jetzt: Let’s Juhla!«

Zu Lucys Bedauern würde sie Nathan erst auf der Party treffen, da diese im Tempel, in dem sich sein Schlafsaal befand, stattfand. Sobald Lucy und Casey nämlich den Tempel betreten hatten, hatte diese sich entschuldigt und war zu ihren Schwestern geeilt, welche genau dasselbe Outfit trugen wie sie. Einzig ihr Alkuun hatte unterschiedliche Farben. Casey hatte Lucy selbstverständlich eingeladen, mit ihr zu ihren Schwestern zu gehen, doch bei Celestes funkelndem Blick war es ihr lieber, allein nach Nathan zu suchen.

»Lucyyy!«, brüllte jemand hinter ihr und als sie sich umdrehte, sah sie Luke auf sich zukommen, in jeder Hand einen Becher. Bei ihr angekommen reichte er ihr einen und nahm direkt einen Schluck aus seinem. »Ahh!«, stieß er wohlig aus und sah sich um.

Der Tempel war schon gut gefüllt. Überall standen Anwärter und tranken, redeten oder tanzten, wie Lucy gerade feststellen musste. Nie im Leben hätte sie den ernsten, engagierten Anwärtern zugetraut, zu wissen, wie man tanzte, geschweige denn Spaß hatte. Doch scheinbar hatte sie noch viel über Valo und dessen Bewohner zu lernen.

»Probier’ mal. Schmeckt echt gut!«