5,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Du bist ihr Untergang. Sie ist deine Verdammnis. Düster-romantische Dark Academia für Fans von Stella Tack, Leigh Bardugo und Kerri Maniscalco »Sie war kein Albtraum, sondern etwas weitaus Schlimmeres: ein verlockender, unerreichbarer – ein verbotener Traum.« Rahel gebietet über den Hochmut, eine der sieben Todsünden. Menschen wie sie werden von den unbarmherzigen Tugendwächtern, den Wardens, gejagt. Als man sie erwischt, wird sie gegen ihren Willen in die Academy of Sins gebracht. Dort soll sie lernen, mit ihrer Macht umzugehen – oder bei dem Versuch sterben. Für den Warden Asher ist Rahel die Chance, sich endlich zu beweisen. Freiwillig übernimmt er ihre Bewachung, nicht ahnend, dass sie alles infrage stellen wird, woran er glaubt. Und eine verbotene Leidenschaft in ihm weckt, die immer wieder in Konflikt mit seiner Pflicht gerät …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Vanity Falling: Academy of Sins« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Stephanie Kempin
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
Kapitelzierden: Designed by Freepik
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Widmung
Triggerwarnung
Personenverzeichnis
Order of Saints
Vicious
Weitere Personen
Prolog Vincere aut mori.
1 Etiam sanato vulnere cicatrix manet.
2 Etiam innocentes cogit mentiri dolor.
3 Non timebo mala.
4 Incepto ne desistam.
5 Nemo sine vitio est.
6 Per aspera ad astra.
7 Pulvis et umbra sumus.
8 Omnes sumus peccatores.
9 Oderint dum metuant.
10 Veritas nunquam perit.
11 Ira furor brevis est.
12 Vivamus, moriendum est.
13 Geminat peccatum, quem delicti non pudet.
14 Nullius nisi insipientis perseverare in errore.
15 Fortes fortuna adiuvat.
16 Carpe noctem.
17 Nitimur in vetitum.
18 Fiat justitia ruat caelum.
19 Flectere si nequeo superos, acheronta movebo.
20 Nec violae semper nec hiantia lilia florent, et riget amissa spina relicta rosa.
Danksagung
Glossar der lateinischen Kapitelüberschriften
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
I loved you
as Icarus loved the sun.
Too close.
Too much.
Dieser Text enthält Themen, die triggernd wirken können. Eine Aufzählung findet sich im Folgenden.
Wir wünschen ein bestmögliches Leseerlebnis.
Physische, psychische und sexuelle Gewalt, unter anderem gegen Schutzbefohlene
Gefangenschaft und Folter, Blut
Tod und Mord, Verlust von Freunden und engen Familienangehörigen
Trauer und Trauerverarbeitung
Erwähnung von Suizid und selbstverletzenden Verhaltens
Religion und Glauben, religiöses Trauma
Panikattacken
Erwähnung emotionalen und sexuellen Missbrauchs
Diskriminierung einer Personengruppe
Gaslighting, Manipulation
Folgen psychischer Misshandlung, psychische Probleme
Drogen- und Alkoholmissbrauch, Sucht
Erbrechen
Warden
Testa, Gabriele: Inquisitor
Esra, Rafael: Richter
Murray, Edith: Ausbilderin
Lambert, René: Ausbilder
Callaham, Veland: Warden
Chandler, Nikolai: Adept, 4. Rang
Snyder, Arthur: Adept, 3. Rang
Sideri, Chrysander: Adept, 3. Rang
Yudin, Asher: Adept, 2. Rang
Berkeley, Olivia: Adeptin, 2. Rang
Durfort, Laurent: Adept, 2. Rang
Khan, Victoria: Adeptin, 2. Rang
Crowley, Nolan: Adept, 2. Rang
Divines
Sideri, Markos: High Divine
Mazur, Amelia: Divine, Krankenstation
Archivists
Darnell, Eirene: Erste Archivarin
Hadid, Nadim: Bibliothekar
Van Hoven, Ruben: Lord Rector der Academy of Sins Dean of Pride
De rosa, Ginevra: Dean of Envy
Jovanović, Stane: Dean of Greed
Bennett, Alaric: Dean of Wrath
Solberg, Liv: Dean of Lust
Forrester, Rufus: Dean of Gluttony
Walsh, Caius: Dean of Sloth
Weyand, Esther: Mistress of Greed
Sterling, Sybil: Mistress of Sloth
Barroso, Rahel: Vicious of Pride
Lancaster-Elmsworth, Callum: Vicious of Envy
Pine, Elliot: Vicious of Envy
De Santis, Vergil: Vicious of Greed
Åkesson, Eden: Vicious of Wrath
Lykke, Ann: Vicious of Wrath
Tahan, Sabeela: Vicious of Lust
Veselý, Pavel: Vicious of Lust
Wagner, Nika: Vicious of Gluttony
Barroso, Mateo: Rahels jüngerer Bruder
Barroso, Flavio: Rahels älterer Bruder
Vicente, Maria: Resident assistant
Fitz-Maurice, William: Angestellter
Lucifer beging die erste und schlimmste aller Sünden. Er fiel, und mit ihm alle Aeterni und ihr Himmelreich.
Seine Knochen zerschmetterten.
Und so soll fortan jeder Knochen im Leib desjenigen gebrochen werden, der seinem Vorbild folgt und sich durch Hochmut zu der Macht eines Gottes erhebt.
Satan starb in den Flammen.
Und so soll fortan jeder verbrannt werden,der seinen Zorn nicht kontrolliert.
Belphegor erfror.
Und so soll fortan jeder erfrieren,der sich der Trägheit hingibt.
Mammon erstickte.
Und so soll fortan jeder ersticken,der sich der Habgier schuldig macht.
Asmodeus verblutete.
Und so soll fortan jeder bluten,der von Lust besessen ist.
Baal wurde vergiftet.
Und so soll fortan jeder vergiftet werden,der in Völlerei ausschweift.
Leviathan ertrank.
Und so soll fortan jeder ertränkt werden,der in Neid verfällt.
Die sieben Urdämonen waren geboren, ihre Sünden unter die Menschen zu bringen. Die Vier Heiligen erschlugen jeden einzelnen von ihnen. Doch mit ihrem Tod war die Sünde nicht beseitigt, sondern breitete sich in Gestalt der Vicious über die Welt aus, um sie ins Chaos zu stürzen.
Allein der Order of Saints bewahrt die Menschen davor.
Seine Wächter kämpfen in Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung bis zum letzten Atemzug gegen die Sünde.
(aus dem Codex des Order of Saints)
Siegen oder sterben.
Der Geruch verbrannter Erde lag in der Luft. Rahel schmeckte Asche auf ihren Lippen und wusste, dass sie nicht von dem Feuer stammte, das sich seinen Weg über den trockenen Boden fraß und jeden Gedanken an Flucht erstickte. Es war die Asche, die sie selbst hinterließ, der letzte Rückstand dessen, was sie einmal ihr Leben genannt hatte – und in diesem Moment verlor. Sie entstammte zerschlagenen Hoffnungen und einer ungeträumten Zukunft. Als sich Rahel mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte die Asche nach dem letzten Kuss, den sie auf die Stirn ihres Bruders platziert hatte.
Wenn ich heute sterbe, dachte sie grimmig, dann hoch erhobenen Hauptes, und meine Asche soll noch wochenlang die Gassen der Cañada Real überschwemmen, auf dass sie niemals vergessen, was sie verloren haben.
Die Warden hatten sie überrascht, waren plötzlich in den Innenhof eingedrungen, hatten die Wellbleche scheppernd aus ihren geflickten Verankerungen gesprengt und die roten Ziegel der Mauer wie Bauklötze auseinandergenommen. Sie waren zu viert gekommen – drei Warden in schwarz-goldenen Uniformen und ein Vicious, mit emotionslosem Blick in ihrem Schatten. Einem von ihnen hätten sie sich entgegenstellen können, zwei von ihnen wären sie mit hohen Verlusten entkommen, den Vicious hätte Rahel in die Knie gezwungen. Doch vier stellten eine Übermacht dar, der sich jeder vernunftbegabte Mensch unterworfen hätte. Spätestens beim Anblick ihrer strahlenden Schwerter, die von jahrhundertelanger Verwüstung sprachen.
Rahel jedoch hatte nicht eine Sekunde mit dem Gedanken an eine Kapitulation verschwendet. Sie drangen hier ein, in ihr Heiligtum, ihr Zuhause, mischten ihre Anhänger, ihre Familie auf – und erwarteten, dass sie sich stellte? Nicht mehr als ein verächtliches Lachen hatte sie für sie übrig, nichts anderes als ihre ungezügelte Macht würde sie ihnen zur Antwort geben.
Ein Leben voller Verehrung und Reichtum hätte sie mit offenen Armen willkommen geheißen. Stattdessen hatte Rahel die Cañada Real gewählt, das größte Elendsviertel Europas, den Schmutzabtreter vor den Toren Madrids. Seit Jahren wartete man auf die Katastrophe, mit der die Unerwünschten ausgelöscht werden sollten, oder versuchte, sie selbst herbeizuführen. Doch ebenso wenig, wie sie ihnen den Kampfgeist nehmen konnten, ließen sie sich dieses Land, ihre Häuser nehmen – so heruntergekommen sie auch waren. Rahel hatte die Entscheidung getroffen, diese Menschen zu beschützen und sie in eine bessere Zukunft zu führen. Und wenn jemand ihr das, was sie geschaffen hatte, entreißen wollte – dann würde sie darum kämpfen. Oder bei dem Versuch sterben.
Doch da war auch eine leise Stimme, die voller Verachtung für ebenjene Menschen sprach. Dass sie nicht vorher darüber informiert worden war, dass sich die Wächter näherten, konnte nur eines bedeuten: Rahel war verraten worden.
Ein Warden schritt inmitten der Panik, die ihr Überfall gestiftet hatte, auf sie zu. Das Schwert in der Hand, mit entschlossenem Blick und tödlicher Eleganz unter der eng anliegenden Uniform, doch Rahel ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie selbst stand etwas erhöht auf Stufen, die hinauf zu einer Terrasse führten, und hatte sich während der vergangenen Sekunden nicht bewegt. Nun verschränkte sie in einer herrischen Geste die Arme.
»Du bist mickrig.
Deine Uniform kann nicht kaschieren, was sich darunter verbirgt: ein schwaches Individuum, nicht stark genug, mehr zu empfinden als Unterwürfigkeit für jene, die dir deinen Willen diktieren.
Ich bin Rahel, und die Menschen der Cañada Real beschützen mich. Ich bin mächtig.
Bleib stehen.«
Der Warden verzog das Gesicht zu einer Grimasse, und einen Moment lang legte Rahel alle Gewissheit, dass er es nicht wagen würde, sie anzufassen, in ihre Gedanken. Trunken vor heraufbeschworenem Siegesmut verschwamm ihre Sicht, und ein angenehmer Schmerz durchlief ihren Körper in einer trägen Welle. Sie nahm ihn an, umfing ihn mit ihrem Sein. In diesem Moment glaubte sie ihre Worte nicht nur – und sorgte dafür, dass der Warden sie ebenso als seine Wahrheit annahm –, sie formte sie zu einer neuen Wirklichkeit.
Und sein Geist gehorchte ihr. Bevor er die erste Stufe betreten konnte, blieb er stehen und schwankte. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, während er sich verängstigt umsah, als würde er die Situation zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Wer nicht rechtzeitig vom Innenhof auf die Straße geflohen war, hatte sich oben bei Rahel auf die Terrasse zurückgezogen. Doch der Warden sah nicht länger abgerissene Gestalten, sondern Krieger, die mit allem, was sie hatten, für Rahel kämpfen würden. Ihre Heilige. Ihre Göttin.
Als die anderen beiden Warden, ein Mann und eine Frau, zu ihm aufrückten, war er bereits einen Schritt zurückgewichen. Rahel nutzte ihre Macht, um ihre Wirklichkeit weiter zu dehnen und auch um sie zu schließen. Sie würde die drei Wächter darunter zermalmen. »Ihr werdet euch aus der Cañada Real zurückziehen oder hier und heute sterben«, flüsterte sie ihnen ein, und es spielte gar keine Rolle, ob sie vorhatte, das in die Tat umzusetzen. Entscheidend war, dass sie keinen Moment daran zweifelte.
Die Frau hatte eine Hand auf die Schulter des Warden gelegt, der sich Rahel bereits unterworfen hatte, und schrie ihm irgendwas ins Ohr. Der andere Mann dagegen atmete zischend ein, als Rahel ihm ihre Wirklichkeit aufzwingen wollte. Er murmelte etwas, das sie nicht verstand, und streckte seine Hand in einer schnellen Geste nach ihr aus. Wie ein Keil, der ins Eis geschlagen wurde, zerbrach er den Schleier, den sie gewoben hatte. Seine Splitter bohrten sich in ihren Geist und verletzten ihn dort, wo er am empfindlichsten war: in ihrem Hochmut.
»Versuch das noch mal, und wir töten dich auf der Stelle!«, zischte der Warden. Während der andere in sich zusammensackte und von der Frau nach hinten gedrängt wurde, setzte er den ersten Schritt auf die unterste Stufe.
Jemand bewegte sich zu ihrer Rechten. »Rahel, wir müssen hier weg!« Mateos Stimme war kaum mehr als ein angsterfülltes Raunen, und ihr wurde klar, dass es keine Bewegung nach vorne, sondern nach hinten gewesen war.
Sie drehte den Kopf, um in das Gesicht ihres jüngeren Bruders zu sehen. Seine Augen waren geweitet, als würde er nicht glauben, was sich vor ihm abspielte. Auch die anderen, die sich hier oben bei ihr befanden, waren unruhig.
Nicht Mateo.
»Nein«, erwiderte Rahel mit schneidender Stimme. »Es gibt keinen Ausweg. Ich bin verraten worden. Sie werden uns finden und uns alles nehmen, was wir erschaffen haben. Wenn ihr jetzt aufgebt, ist das nicht nur mein Todesurteil, sondern auch das eure.« Sie alle waren gefangen in dieser Illusion und wären ohne sie verloren. Rahel am allermeisten.
Sie blieben standhaft, obwohl Rahel merkte, wie ihr die Kontrolle immer mehr entglitt. Es war Jahre her, seit sie damit angefangen hatte, sie zu ergreifen, und inzwischen war es so natürlich wie das Atmen geworden. Und mindestens genauso überlebenswichtig. Wenn sie damit aufhörte, würde sie in den Staub getrampelt werden.
Sie schirmte sich vor den anderen ab und sah ihren Bruder an, allein ihn und niemanden sonst. Sie erlaubte ihm, sie zu sehen, wie er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Rahel presste die rissigen Lippen zusammen, die nicht mehr verheißungsvoll von einer besseren Zukunft sprachen, sondern nach Mitgefühl dürsteten. Sie schloss für einen Sekundenbruchteil die Augen, deren dunkles Braun nicht mehr unerbittlich jeden niederstarrte, der sich ihr entgegensetzte. Tiefe Schatten darunter zeigten, wie müde sie war. Ihre Hände glitten zitternd über ihr schweiß- und staubverkrustetes Gesicht und streckten sich dann nach ihrem Bruder aus.
»Mateo, ich brauche dich.« Wenn Mateo den ersten Schritt machte, würden weitere folgen. Er vertraute ihr, und sie vertrauten ihm, wenn Rahel sie nicht mehr erreichen konnte. So war es schon immer gewesen. Er war ihnen näher, als sie ihnen jemals sein könnte. Mateo war einer von ihnen, während sie selbst schon immer etwas anderes gewesen war.
Etwas, an dem die Sünde haftete, das spürten sie.
Sein Blick wurde weich, von bedingungsloser Liebe erfüllt. Dass er so viel fühlte, hatte sie schon immer an ihm bewundert. »Rahel, mi querida hermana.« Er strich ihr eine verirrte schwarze Locke zurück. Ganz kurz genoss sie die Berührung, als die Furcht sie überkam, dass es die letzte sein könnte. Vielleicht hatte Flavio recht gehabt. Vielleicht hätte sie Mateo niemals in diese Sache mit reinziehen dürfen.
Dann verhärtete sich seine Miene, und Mateo trat an ihr vorbei, dem Warden in den Weg. »Wir lassen nicht zu, dass ihr unserer Rahel etwas antut!«
Zeitgleich setzten die anderen einen Schritt nach vorn, und Rahel verschwand in ihrer schützenden Mitte.
In einem Moment flatterte der Blick des Warden noch alarmiert durch die Menge, im nächsten trat die Frau in gleicher Uniform auf sie zu.
»Verblendete Wichser«, knurrte sie, griff mit der Hand, die nicht das Schwert führte, an ihren Gürtel und hob etwas in die Höhe, das Rahel erst auf den zweiten Blick als schmale Sanduhr erkannte. »Veritas liberabit vos!« Die Wahrheit wird euch befreien. Damit drehte sie das Glas, und der dunkle Sand begann in einem feinen Rinnsal auf die andere Seite zu rieseln.
Es war wie ein Ruck, der durch Rahel ging und sie ihres Atems beraubte. Sie bekam kaum mit, wie die anderen beiden Warden es der Frau gleichtaten und dabei immer wieder voller Inbrunst die Worte sagten, die in ihren Ohren widerhallten. Wie ein Gebet. Und wie ein solches vereinte es ihre Kraft, die sich geballt gegen Rahel wandte.
Sekundenlang kämpfte sie dagegen an. »Beschützt mich!«, schmetterte sie ihren Anhängern entgegen. Nichts als Angst erhielt sie als Antwort. Die Kontrolle entglitt ihr wie ein Seil, an dem sie hing und Stück für Stück mit brennenden Handflächen nach unten rutschte. Wenn sie das Ende erreicht hätte, würde sie fallen. Verbissen klammerte sie sich an die letzten Zentimeter.
»Ihr seid stärker als sie, ihr seid die Kinder der Cañada Real, habt unzähligen Gefahren getrotzt. Auch diese werdet ihr abwenden!« Vereinzelt stürmten die Leute nach vorn, brüllend eine Machete oder ein Brecheisen schwingend, mit dem sie sich unter ihresgleichen behaupteten. Nicht aber gegen die Warden.
»Vicious!«, rief einer von ihnen mit befehlsgewohnter Stimme nach hinten zu ihrem Schoßhund. Rahel verstand nicht sofort, was er tat, denn sie hatte nur bei einer einzigen Gelegenheit mit einem anderen Vicious zu tun gehabt. Weder spürte sie seine Macht kommen noch schaffte sie es, ihm irgendetwas entgegenzusetzen, ohne dass ihr das Seil endgültig entglitten wäre. Sie musste mit ansehen, wie der Kampfgeist aus ihren Leuten wich. Einige ließen sich ergeben zu Boden sinken, anderen schwanden jegliche Kräfte und jeglicher Antrieb. Die Trägheit griff um sich und verpestete ihre Seelen, besänftigte sie mit dem Versprechen, dass alles gut werden würde, und überzeugte sie von der Aussichtslosigkeit ihrer Gegenwehr.
Wen der fremde Vicious nicht erreichte oder bezwingen konnte, wurde von den Warden gerichtet. Sie vollstreckten das Urteil schnell und mit harten Mienen, denn für sie stand die Schuld dieser Menschen fest. Es war ein Verbrechen, jemanden wie sie, eine Sünderin zu schützen. Rahel erzitterte, als sie fünf von ihnen mit ihren Schwertern töteten. Sie starben wegen ihr. Für sie. Weil sie es so gewollt hatte.
Der Rest geriet im Angesicht des Todes endgültig ins Wanken. Sie rissen sich von Rahels Kontrolle los, die wie ein Peitschenhieb auf sie zurückschnellte.
Sie landete auf den Knien. Es war, als würden um sie herum immer mehr Lichter erlöschen, die sie zuvor so mühevoll entzündet hatte. Nun war es Panik, von der die Luft erfüllt war, Schreie und Flüche, die immer lauter wurden, bevor sie irgendwann verstummten.
Konnten sie tatsächlich innerhalb kürzester Zeit zerstören, was Rahel sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte? Sie wollte es nicht glauben, durfte sich dieser Verzweiflung nicht hingeben. Doch als sie aufsah und dem Blick ihres Bruders begegnete, der wie sie vor dem Warden kniete, der über ihnen aufragte, holte sie die Gewissheit ein, gescheitert zu sein. Es hatte niemals einen Ausweg gegeben. Sie war nur zu stolz gewesen, es sich einzugestehen.
»Rahel … was hast du getan?!« Mateos Stimme überschlug sich vor Entsetzen. Er sah nun nicht länger das, was sie ihn sehen lassen wollte, oder das, was sie ihm erlaubte, dahinter zu sehen. Sondern das Monster, zu dem Rahel geworden war.
Auch nachdem die Wunde verheilt ist, bleibt eine Narbe.
Die sieben Laster schmückten das Portal der Academy of Sins wie eine beständige Warnung. Groß und Furcht einflößend erhob es sich an dem gotischen Außenwerk, Jahrhunderte alt, und fungierte als stilles Versprechen: über die Vicious zu wachen und über sie zu richten. Die Reliefs führten ihnen vor Augen, was mit jenen geschah, die sich ihrem Laster vollständig verschrieben.
Eine ausgemergelte Figur mit viel zu langen Fingern streckte sich nach unendlichen Schätzen aus, doch alles, was sie erreichen konnte, war ein Totenschädel. Avaritia stand darüber. Habgier.
Voller Begehren drückte sich eine nackte Gestalt dem Betrachter entgegen, den Mund zu einem verzückten Schrei geöffnet, während ihre Rippen splitternd den Brustkorb durchbrachen. Luxuria. Wollust.
Das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt und zähnefletschend stand ein Sünder in Flammen und wurde von ihnen verbrannt. Ira war der Zorn.
Superbia betitelte das wohl schlimmste aller Laster. In ihrem Hochmut setzte sich eine geflügelte Gestalt die Krone auf das eigene Haupt, bevor sie fiel, die Schwingen gebrochen, der Körper zerschmettert.
Mit einem unstillbaren Hunger verzehrte eine weitere Figur alle Speisen, während die restlichen Menschen am Tisch hungerten und starben, bis sie es ihnen als Letzte gleichtat. Gula bedeutete Völlerei.
In Neid, Invidia, waren die Augen des Sünders auf dem vorletzten Relief überall, sodass er die Schlange nicht bemerkte, die sich über seinen Arm und schließlich um seinen Hals wand. Drohend riss sie das Maul auf, als würde sie die spitzen Giftzähne jeden Moment in sein Gesicht schlagen.
Die letzte Figur schließlich hing mit geschlossenen Augen über einer untergehenden Sonne, wirkte leblos, während sich die Dunkelheit über sie senkte. Sie verkörperte die Trägheit. Acedia.
Asher hatte nie verstanden, warum sie diese Erinnerung brauchten, wenn sie täglich mit den Vicious zu tun hatten. Was konnte lehrreicher sein, als den Lastern selbst ins Auge zu blicken? Zu spüren, wie sie einen in Versuchung führen wollten, mit anzusehen, welchen schmalen Grat die Vicious beschritten. Dennoch bewunderte er die Kunstfertigkeit des Reliefs jedes Mal aufs Neue, wenn er Wachdienst hatte.
»Augen nach vorn, Yudin!« Natürlich lief just in jenem Moment, während er in seine Betrachtung versunken war, Ausbilderin Murray an ihnen vorbei. Sofort straffte Asher sich und erwartete, sie würde auf das Portal zusteuern. Stattdessen folgte sie dem Weg zum Tower House. Es klammerte sich in circa zwei Kilometern Entfernung an die Steilküste der Insel, und von hier aus waren nur die obersten Stockwerke sowie der Wehrturm über die baumlose Hügellandschaft hinweg zu erkennen. Wie weiß-graue Tupfer waren die grasenden Schafe darauf verteilt, bevor Kliff und Wolkentürme aufeinandertrafen.
Asher warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der Murray gekommen war. Das Refugium, der Rückzugsort des Order of Saints, befand sich dort. Es lag außerhalb der Mauern der Akademie und wurde durch eine eigene Wehranlage geschützt. Es war ihnen erlaubt, sich dort gelegentlich von den Einflüssen der Vicious zu erholen und reinigen zu lassen, ansonsten diente es vor allem der Führungsriege. Doch was wollte Ausbilderin Murray am Tower House? Dort befand sich der einzige Zugang zur Insel. Ein altertümlicher Aufzug fuhr hinab zu einem unterirdischen Hafen in der Steilküste. Noch nie hatte Asher mitbekommen, dass Murray die Gelegenheit genutzt hatte, die Fähre zum Mainland zu nehmen. Sie gehörte quasi zum Inventar der Akademie, war genauso unverrückbar wie die vielen Statuen und Büsten in den Gärten.
Der Orden hatte sich auf den Orkney Islands eine unüberwindbare Basis geschaffen, von der aus er ganz Europa von den Einflüssen der Vicious befreite. Sindaray nannten die Einheimischen die nördlich von Kirkwall gelegene Insel, die allein der Verwaltung des Ordens unterstand. Insel der Sünder. Barsch hatte Murray den Adepten einmal erklärt, dass sie besser daran täten, die Insel nicht nach ihren Gefangenen, sondern nach ihren Wächtern zu benennen.
Nolan und Victoria, mit denen er Wachdienst hatte, unterhielten sich leise.
»Ich habe gehört, sie bringen einen Dämon hierher. Zu Schauzwecken. Vielleicht bekommen wir heute Abend noch was zu sehen.« Nolan grinste Victoria zu, die nur verächtlich schnaubte. Von ihnen war sie die Einzige, deren Hand auf dem Knauf ihres Schwertes lag, wachsam und jederzeit bereit, es einzusetzen. Als würde sie genau das herbeisehnen.
»Freu dich nicht zu früh. Ich habe gehört, es ist nur eine weitere Sünderin, keine Dämonin.« Sie ließ sich nicht mal zu einem Blick in Nolans Richtung herab, der zwei Meter zu ihrer Rechten stand, während Asher die Position zu ihrer Linken einnahm.
Die salzige Meeresbrise trug Nolans Lachen heran. »Mehr Vicious heißt doch nur, dass …«
Der Rest seines Satzes ging in dem Ächzen des Portals unter, das sich in diesem Moment hinter ihnen öffnete. Die Reliefs teilten sich und gaben kurz den Blick in den Innenhof der Akademie frei, bevor sie sich wenige Sekunden später wieder aneinanderfügten.
Ein Mann mit Vollbart und schulterlangem Haar trat zwischen sie. Sein Blick hinter herabhängenden Augenlidern streifte die drei Wächteradepten nur kurz, bevor er sich an den Horizont vor ihnen heftete.
Victoria fand ihre Fassung als Erste wieder. In einer fließenden Bewegung zog sie ihre Waffe.
Auch Asher zückte sein Schwert, normaler Stahl statt heiliger, bis sie sich ihre dritte Reliquie verdient hatten, und rückte näher an Victoria heran. Im ersten Moment hätte er es nicht weiter hinterfragt, dass der Vicious die Akademie verließ. Das geschah gelegentlich – wenn sie zu einer Mission abberufen wurden oder im Refugium vorstellig werden sollten. Allerdings nie ohne Begleitung eines Warden.
Ruben van Hoven, einer der sieben Deans und Lord Rector der Akademie, erinnerte sich Asher an seinen Namen, weil er versucht hatte, sich zumindest jene zu merken, die hochrangigen Vicious gehörten. Jeder der Prodekane stand einem der sieben Laster vor und koordinierte die Master der Akademie. Diese wiederum lehrten die studierenden Vicious den Umgang mit ihrer Macht. Asher fühlte sich stets unwohl in ihrer Gegenwart, weil sie eine gewisse Autorität ausstrahlten – und innehatten. Und das widersprach dem, was ihnen als angehende Warden eingeschärft worden war. Sie sollten über den Vicious stehen, und überall sonst taten sie das auch. Nur in der Academy of Sins herrschten andere Regeln.
»Was wollen Sie hier, Sünder?«, verlangte Asher mit schneidender Stimme zu wissen. Auch wenn Victoria und Nolan sonst kaum ein Wort mit ihm wechselten, so konnte er sich in diesem Moment doch ihres Rückhalts sicher sein. Im Angesicht der Vicious waren sie alle Brüder und Schwestern. Meistens erfüllte ihn das mit Erleichterung, da er in allem anderen allein stand. Doch manchmal erschien es ihm wie eine einzige Farce.
Van Hovens dunkle Augenbrauen senkten sich. »Schön, dass ihr jungen Wächter euren Pflichten so zuverlässig nachkommt. Wir sollten uns alle ein großes Stück von euch abschneiden, nicht wahr?«, grollte er. »Aber ihr werdet nicht in die Verlegenheit kommen, mich aufhalten zu müssen. Ich habe nicht vor, diese Mauern zu verlassen.« Eine breite Treppe führte vom Eingangsportal zum Kiesweg. Er sah vielsagend auf seine Füße, mit denen er auf der letzten Stufe stand.
»Hochmut«, stieß Victoria aus.
Der Dean of Pride neigte das Haupt in einer beinahe freundlichen Geste, würde ihr kein solcher Spott anhaften. »Wäre das hier eine Unterrichtsstunde der Warden, hättest du für diese Erkenntnis sicher die volle Punktzahl bekommen. Verzeih mir, dass mich das Offensichtliche nicht beeindruckt.«
»Was wollen Sie außerhalb des Portals?«, setzte Asher erneut an.
Van Hoven griff in die Innenseite seines Cabans. Alarmiert umklammerten die drei Warden ihre Schwerter fester, doch er zog nur eine dünne Zigarette sowie ein Feuerzeug hervor, mit dem er diese entzündete. Verwirrend genug, da in der Akademie jegliche Laster verboten waren. Für den Lord Rector gab es offenbar Ausnahmen. »Ich bin hier, um etwas zu überprüfen. Genug davon, zurück auf eure Posten. Ignoriert meine Anwesenheit, wenn ihr euch damit besser fühlt.«
Ashers Hand glitt zu dem kleinen Spiegelstein, der in einer metallenen Fassung um seinen Hals hing. Das Amulett war die erste Reliquie, die jeder Warden erhielt, und verlieh ihnen die Fähigkeit, zu erkennen, wann ein Vicious seine Macht nutzte. Außerdem erlaubte es ihnen, die von ihnen erschaffenen Albträume zu sehen. Doch nichts deutete darauf hin, dass der Lord Rector sie gefügig gemacht und seinen Hochmut gegen sie eingesetzt hatte.
»Ausbilderin Murray wird davon erfahren«, drohte Victoria ihm noch an, was van Hoven nicht einmal ein müdes Lächeln entlockte.
Dass es eine Vicious und keine Dämonin war, die sie zur Akademie abführten, verriet Asher allein ihre menschliche Gestalt. Außerhalb der Akademie wurden Sünder getötet, die hoffnungslos verloren waren, hier nur, wenn sie sich in Dämonen verwandelten. Normalerweise durften sie die Akademie nur besuchen, wenn sie genügend Kontrolle über ihre Macht hatten, um ausgebildet zu werden. Die Warden mussten diese Vicious hergebracht haben, um die Adepten zu lehren, wie eine Sünderin aussah, die dazu nicht mehr fähig war.
Sie wurde von vier Warden inklusive Murray umringt und war in Ketten gelegt worden. Eiserne Schellen lagen um ihre Handgelenke, untereinander und mit einem Ring um ihren Hals verbunden, und weitere Ketten führten an beiden Seiten zu je zwei Warden. Die Arme vor die Brust gelegt schritt sie mit starrem Blick voran. Königlich. Als wäre sie keine Gefangene, sondern die Personen um sie herum lediglich ihre Leibwächter. Beim Näherkommen konnte Asher Einzelheiten an ihr ausmachen, das schwarz gelockte Haar, die hellbraune Haut und die dunklen Augen.
Dunkle Augen, die ihm in diesem Moment begegneten – und sich direkt in seine Seele brannten.
Wild und unbezwingbar.
Niemand würde diese Frau brechen. Sie wollte diese Welt brennen sehen, und die Welt würde brennen. Für sie. Und wenn sie es verlangte, würde auch er brennen.
Ihre Willensstärke überrollte Asher unvorbereitet, als sie sich in seinem Blick verhakte und ihm nicht erlaubte, wegzusehen. Selbst wenn er es gekonnt hätte, hätte er es womöglich nicht getan. Etwas in ihm wollte den Blick nie wieder von ihr abwenden, denn es kam ihm in diesem Moment wie die schlimmste aller Sünden vor. Und etwas in ihm … wollte sie von diesen Ketten befreien und sich gegen diejenigen richten, die er gerade noch als seine Brüder und Schwestern bezeichnet hatte. Als er sich dieses Gedankens bewusst wurde, versteifte sich Asher mit einem leisen Keuchen.
»Yudin!«, fuhr Murray ihn an. »Wende dich ab! Alle Reliquien nützen dir nichts, wenn du sie nicht einsetzt, verdammt noch mal!«
Asher riss sich los. Es bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen, sie nicht mehr ansehen zu dürfen. Nein, das ist nicht richtig, dachte er. »Ich … Hat sie …?«
»Ja«, knurrte einer der anderen Warden, den er nicht kannte. »Sie kann nicht damit aufhören, hält die Illusion aufrecht, als hätten wir sie nicht schon längst enttarnt.«
Ein verächtlicher Laut zu seiner Rechten ließ Asher herumfahren. Sein Herz raste mittlerweile, während sein Geist nur langsam akzeptierte, hereingelegt worden zu sein. Victoria hatte die Augen zusammengekniffen. »War ja klar, dass ausgerechnet du auf ihre Macht anspringst, nicht wahr, Yudin?«
Was Nolan ein unterdrücktes Grunzen entlockte, bohrte sich eiskalt in Ashers Brust. Hatte er als Einziger nicht sofort erkannt, was die Vicious, oder Dämonin, tat? Seine Kehle wollte sich zuschnüren, doch er kämpfte mühsam um Beherrschung. Später, nicht jetzt, sagte er sich. Ich habe mich schon genug zum Narren gemacht.
Die Prozession blieb am Fuße der Treppe zum Portal stehen. Ein weiteres Mal musterte er die Vicious, wobei er diesmal ihren Blick mied. Kein Zweifel, sie war ganz und gar menschlich, und doch … strahlte sie etwas Dämonisches aus. Als würden sich die Schwingen bereits wie Schatten hinter ihren Schultern ankündigen, ihr Gesicht erste Risse zeigen, obwohl dort keine waren. Es war ihre ganze Ausstrahlung, die eine einzige Sünde war.
Als sie Ashers Verwirrung bemerkte, hob sich einer ihrer Mundwinkel.
Zorn rauschte durch seine Adern, genährt von der Demütigung, die er wegen ihr erlitten hatte. Er sollte seine Reliquien einsetzen? Das konnte Murray haben.
Asher konzentrierte sich auf die Reliquie, die als Gürtel um seine Hüfte lag, und wisperte: »Fiat iustitia et pereat mundus!« Dabei machte er eine Handbewegung nach vorne, als würde er etwas beiseiteschieben – die Illusion, in die sich die Sünderin hüllte.
Sie erbebte, und im nächsten Moment fiel ihre Übermächtigkeit in sich zusammen. Das Hoheitliche und Überhebliche verschwanden, zurück blieben purer Zorn und Trotz, die ihr Gesicht zu einer Grimasse verzerrten. Ihr Strahlen verging und ließ nichts als eine übel zugerichtete und erschöpfte junge Frau zurück.
Mit einem Keuchen hatte sie den Kopf gesenkt, sah nun aber wieder auf. Asher begegnete ihrem Blick voller Genugtuung, weil sie ihn nicht länger für sich einnehmen konnte. Dass sich trotzdem etwas in ihm regte und seine Haut mit einem eigenartigen Kribbeln überzog, ignorierte er eisern.
»Glückwunsch«, sagte sie, die Stimme vor Hass triefend. »Freut mich, dir etwas Stolz geschenkt zu haben.«
»Ich sagte, du sprichst nur, wenn es dir erlaubt ist!«, fuhr der fremde Warden sie sofort an. »Und jetzt öffnet uns das Portal, Adepten. Sie wird noch heute Abend verurteilt werden.«
Nun erhob van Hoven die Stimme, dessen Anwesenheit Asher tatsächlich beinahe vergessen hatte. »Und da wollen Sie den Adepten gleich mal eine Show bieten? Wie außerordentlich lehrreich das für sie sein wird.« Der Sarkasmus in seiner Stimme war schwerlich zu überhören. »Aber sagen Sie, wo haben Sie sie aufgegriffen? Und was lässt Sie denken, sie wie eine Dämonin abschlachten zu können?«
Unwillig wandte sich der Wächter dem Vicious zu. »Kann mich nicht daran erinnern, dir Rechenschaft schuldig zu sein, Sünder.«
Ausbilderin Murray trat einen Schritt nach vorn. »Ist schon in Ordnung. Ich habe den Lord Rector herbestellt, damit er die Lage einschätzen kann. Er wird uns begleiten.«
»Ist das so.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ich habe schon immer gesagt, dass ihr Warden, die ihr hier in der Akademie dient, viel zu verweichlicht von diesen Möchtegern-Gelehrten und ihren Titeln seid. Würde euch nicht schaden, ab und zu mal rauszukommen, zu sehen, wie es dort wirklich zugeht, und ein paar von ihnen zu erledigen.«
»Wir bewachen sie, damit ihr da draußen weniger zu tun habt. Niemand von uns würde zögern, einem Dämon sein Ende zu bereiten«, erwiderte Murray.
Täuschte Asher sich, oder blieb ihr Blick eine Sekunde zu lang an ihm hängen? Er neigte bekräftigend den Kopf, wobei ihm eine seiner hellbraunen Strähnen ins Gesicht fiel.
Einen Moment glitzerte es gefährlich in van Hovens Blick. »Danke, das war sicher sehr lehrreich für Ihre Adepten. Nein, für alle hier.«
»Ihr werdet alle großartige Schlächter abgeben, wenn ihr mal groß und stark seid.« Die gefangene Vicious lachte bitter auf. »In welcher Hölle bin ich hier bitte gelandet?« Erneut strömte ihr der Hochmut aus jeder Pore, diesmal düster, als wollte er sie alle in die Knie zwingen.
Dieser Eindruck endete schlagartig, als sich die Faust des Warden in ihren Magen bohrte. Sie ächzte, krümmte sich zusammen. Und sah dann hasserfüllt zu ihm auf, dachte nicht daran, den Blick zu senken. Er rammte sein Knie in ihren Unterleib. »In die Hölle werden wir dich zurückstoßen, Miststück!«
Asher wünschte sich, es würde ihn mit derselben Genugtuung wie gerade eben noch erfüllen, als er ihren erstickten Schrei hörte. Stattdessen breitete sich nur bittere Galle in seinem Mund aus. Er wusste, dass es notwendig war, die Vicious mit fester Hand zu führen und zu bestrafen. Es gehörte zum harten Alltag an der Akademie. Allein deshalb blieb seine Miene unbewegt.
»Genug«, brummte Murray, bevor der Warden ein weiteres Mal zuschlagen konnte. »Nimm das Urteil nicht vorweg. Das steht dir nicht zu.«
»In der Tat«, ergänzte der Lord Rector. »Es steht noch nicht fest, was mit ihr geschehen soll.«
»Ich lasse euch nicht über mein Schicksal bestimmen!«, sprach die Vicious so klar und deutlich, dass Asher sich wünschte, sie hätte einfach den Mund gehalten. Und tatsächlich ließ die Reaktion keine Sekunde auf sich warten. Der nächste Schlag traf sie ins Gesicht.
»Natürlich nimmst du deinesgleichen in Schutz«, höhnte der Warden, während er seine Faust ausschüttelte und sich zu van Hoven umwandte. Hinter ihm spuckte die Sünderin hustend blutigen Speichel aus, und die Ketten um ihren Körper klirrten, als sich ihr Gewicht auf sie senkte. Die anderen beiden fremden Wächter ruckten erbarmungslos an ihnen, bis sie sich wieder selbst auf den Beinen halten konnte.
Mit einer Geste befahl Murray, das Portal zu öffnen, und endlich kamen Victoria und Nolan dem nach. Als sich die Prozession an ihm vorbei in Bewegung setzte, glaubte Asher für einen Moment, Angst in der Miene der Vicious zu erkennen. Einmal durch diese Tür, gäbe es kein Entrinnen mehr. Ihr Urteil erwartete sie bereits.
Gut so, Angst wird dich Demut lehren, dachte er noch, dann starrte er wieder auf das Relief und seine unheilvollen Darstellungen.
Noch am selben Abend, kurz nach der Wachablöse, fanden sich alle Adepten auf den Rängen der Arena ein. Nicht im Kerker, wo die Vicious bei Vergehen bestraft wurden. Auch nicht im großen Hörsaal, wo sie sich zu Lehrzwecken versammelten. Sondern an dem Ort, an dem Dämonen hingerichtet wurden und die Warden ihre Reliquien verdienten.
»Sie wollen ein Exempel an ihr statuieren.« Olivia hatte sich neben Asher aufgestellt und die Worte gedankenverloren gemurmelt, während sie das Geschehen in der Arena verfolgte.
Weiterhin lag die Vicious in Ketten, nun an Metallstreben befestigt, die sich zu allen vier Seiten um sie herum erhoben. Sie dienten normalerweise dazu, Dämonen zu sichern, sodass ihre menschliche Gestalt geradezu zerbrechlich inmitten des Konstrukts wirkte. Bizarr. Van Hoven befand sich davor und blickte aufmerksam in die Reihen der Adepten, die zwar geordnet dastanden, sich aber noch leise unterhielten. Neben ihm befanden sich Murray sowie der fremde Warden.
Oh, und wie sie über dein Schicksal bestimmen werden, dachte Asher grimmig. Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. Immer wieder war er die Situation vor den Toren im Geiste durchgegangen und hatte sich gefragt, warum er ihrem Einfluss sofort erlegen war. Und Nolan und Victoria nicht. Warum er den brennenden Blick der Vicious noch immer auf der Haut spürte, obwohl die Illusion längst gebrochen war.
Zweifel fraßen sich durch Ashers Herz, seit er die Ausbildung in der Akademie begonnen hatte. Jeden Tag kämpfte er sie nieder, und damit gleichzeitig gegen das, was andere in ihm sahen, sobald sie herausfanden, wer seine Eltern gewesen waren. Sie waren an der wichtigsten Aufgabe eines Warden gescheitert: der Versuchung durch die Vicious zu widerstehen. Das hatte ihren Tod sowie die ewige Verachtung für die Familie Yudin nach sich gezogen. Wenn die Leute ihn ansahen, sahen sie seine gefallenen Eltern. Wenn er sich gegen einen Vicious stellte, um ihn in seine Schranken zu weisen, erwarteten sie, dass er scheiterte. In allem, was er tat, musste er sich beweisen, als wäre er nicht besser als die Sünder, deren Schritte überwacht werden mussten. Jede Anstrengung verdoppeln. Nie war es genug.
Und es schmerzte. Es schmerzte, dass er nicht um seine Eltern trauern konnte. Dass er jeden Tag an ihre Hinrichtung erinnert wurde, weil sie an diesem Ort stattgefunden hatte. Dass auch andere Adepten ihre Eltern im Kampf gegen die Vicious verloren hatten und ihrer in Heldengeschichten gedachten, während er die Existenz seiner eigenen am besten verschwieg.
Asher wandte sich an Olivia. »Sie ist zwar noch keine Dämonin, aber ich schätze, sie halten sie für nicht rehabilitierbar und haben sie zu Anschauungszwecken hergebracht.«
Seine Freundin aus Kindheitstagen nickte. Sie war eine der wenigen, die über den Makel seiner Vergangenheit hinwegsah, weil sie Asher bereits vorher gekannt hatte. Wie immer saß ihre schwarze Uniform perfekt, und die beiden goldenen Streifen am hochgeschlossenen Kragen, die sie wie ihn selbst als Adeptin zweiten Ranges auszeichneten, glänzten in der untergehenden Sonne. Sie warf ihm unter dem Pony ihres Kurzbobs einen schnellen Blick aus stechend blauen Augen zu. »Wie das beim Council ankommen wird, ist dagegen die andere Frage.«
Asher folgte ihrem Blick zur anderen Seite der Arena, wo keine Adepten die Ränge füllten, sondern Vicious. Die sechs anderen Deans sowie die Grandmaster der Akademie. Auch wenn sie den Warden und dem Order of Saints unterstanden, verloren die Vicious in der Akademie nicht jegliche Rechte. Es gab Abmachungen und Regelungen, vor allem in Bezug auf die Befugnisse, die sie untereinander hatten. Unerlässlich, um eine Zusammenarbeit zu garantieren, die letztlich das Ziel dieser Einrichtung war. Früher hatte der Orden Jagd auf die Sünder gemacht und sie von seinen Wächtern richten lassen, und das Urteil war immer der Tod gewesen. Heute appellierten die Divines an die Menschlichkeit, die es zu bewahren galt. Sie waren ihre Geistlichen, die ihre Seelen rein hielten, während die Warden als Schwertarm des Ordens vor allem körperlich gestählt wurden und die Archivare von ihren intellektuellen Fähigkeiten ausgezeichnet wurden. Mäßigung, Tapferkeit, Weisheit – und der Richter sorgte für Gerechtigkeit innerhalb ihrer Reihen. Das waren die vier Tugenden, denen sich der Order of Saints verschrieben hatte.
Solange ein Vicious seine dämonische Bestimmung ablehnte und bereit war, zu lernen, durfte er am Leben bleiben. Denn es war weitaus effektiver, sie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Innerhalb der Akademie durften Warden nur Todesstrafen gegen Vicious vollstrecken, die sich bereits in Dämonen verwandelt hatten.
Das Gatter der Arena öffnete sich, und Inquisitor Testa betrat das Zentrum, in eine dunkelrote Uniform gehüllt, deren Cape sich hinter ihm aufbauschte. Auf seiner Brust prangte das Wappen des Ordens, ein Schwert, zu dessen beiden Seiten sich je ein Flügel ausstreckte. Begleitet wurde er von weiteren Warden der Führungsriege, die vom Refugium aus sämtliche Aktivitäten der Vicious überwachten. Unter dem herrischen Blick ihrer Ausbilderin nahmen die Adepten Haltung an, und das Gemurmel verstummte schlagartig. Das hier war keine nette Abendveranstaltung.
Der Inquisitor begrüßte Murray, Callaham und van Hoven mit einem kurzen Nicken, bevor seine Habichtaugen zu der gefangenen Vicious glitten. Sekundenlang musterte er sie, was sie nicht mal registrierte, da ihr Blick starr auf die untergehende Sonne hinter den obersten Rängen gerichtet war. Ihr Haupt war in das orangene Licht getaucht, und erneut ertappte sich Asher bei dem Gedanken, dass sie etwas Königliches an sich hatte.
»Ausbilderin Murray, setzen Sie die Adepten ins Bild.« Testa musste nicht einmal großartig die Stimme erheben, so still war es geworden.
Die ältere Frau trat einen Schritt nach vorn und räusperte sich. »Diese Vicious ist vor einer Woche von Warden Callaham und seiner Einheit aufgegriffen worden. In einem Elendsviertel Madrids, in der berüchtigten Cañada Real, hat sie Hochmut nicht nur verbreitet, sondern sich ihrem Laster vollends verschrieben.«
Callaham nahm das zum Anlass, um zu ergänzen: »Die Anhänger der Santa Rahel, wie sie diese Vicious getauft haben, sind der festen Überzeugung gewesen, nur sie allein könnte ihnen Erlösung bringen und sie aus ihrem Leben im Elend führen. Verdorbene Rahel wäre der passendere Name gewesen. Sie hat diese Menschen mit ihrem Hochmut vergiftet und ausgenutzt, zu Aufständen gegen die Obrigkeit gezwungen, die unzählige Todesopfer nach sich gezogen haben. Das ganze Viertel ist von ihr infiltriert worden, sodass es lange genug gedauert hat, sie aufzuspüren. Und dann hat sie ihre Leute gegen uns eingesetzt, obwohl sie ganz genau gewusst hat, dass es ihr Todesurteil sein würde.« Voller Verachtung deutete er auf die Vicious, die sich immer noch nicht rührte. »Damit hat sie sich der schlimmsten aller Sünden schuldig gemacht: Sie hat sich selbst zu einer Göttin erhoben, in vollem Bewusstsein, was sie tut. Und wie die Dämonin, die sie in Wahrheit ist, muss sie nun fallen.«
Die Zustimmung erhob sich nicht hörbar, doch sie war zwischen den Rängen zu spüren. Auch Asher schloss sich diesem Urteil still an. Was diese Vicious getan hatte, war abstoßend. Menschen zu manipulieren, sodass sie sich für sie sogar in den Tod gestürzt hatten, enttarnte ihre wahre Boshaftigkeit – und das wahre Ausmaß ihrer Macht.
Als hätten sie sich abgesprochen, erhob nun van Hoven das Wort. Einzig Callahams säuerlicher Gesichtsausdruck verriet, dass er es lieber gesehen hätte, wenn der Lord Rector den Mund gehalten hätte. »Wenn sie sich ihrer Sünde vollständig verschrieben haben soll«, konstatierte der Lord Rector in aller Gelassenheit, »warum haben wir hier eine Vicious vor uns und keine Dämonin?«
Asher runzelte die Stirn. Auch er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie die Sünderin ihre Menschlichkeit bisher behalten haben sollte. Wenn sie ein ganzes Viertel unter ihre Kontrolle gebracht hatte und Menschen für sie gestorben waren, hatte sie sich weit mehr als nur einen kleinen Fehltritt geleistet. Je häufiger Vicious ihre Sündenmacht nutzten und diese annahmen, desto schneller wurden sie zu Dämonen. Und begingen sie eine besonders schwere Sünde, verwandelten sie sich sofort. Doch bis auf ihre Unheil verkündende Ausstrahlung deutete nichts auf eine dämonische Natur hin.
»Eine Frage der Zeit«, erwiderte Callaham. »Ihre Seele ist verloren, und es wäre fahrlässig, sie in der Akademie zwischen den Adepten herumlaufen zu lassen.«
»Sie wendet ihre Sündenmacht ungezügelt an«, bekräftigte nun auch Murray. »Sie ist eine Gefahr für jeden hier.«
»Und dennoch«, grollte van Hoven, wobei er Callaham überging, der bereits den Mund geöffnet hatte, »haben wir nicht abschließend geklärt, warum sie trotz allem, trotz der offensichtlichen Sünde, nicht zur Dämonin geworden ist.« Nun wandte er sich an Testa direkt, der etwas abseits stand und sich die Ausführungen mit unbewegter Miene angehört hatte. Asher hatte diesen Mann noch nie lächeln gesehen. »Inquisitor, ist es nicht so, dass Warden innerhalb der Akademie keine Vicious töten dürfen, solange sie nicht zu Dämonen geworden sind? Bestrafen, in Ketten legen, züchtigen, einsperren, ja – aber den Tod bringt ihnen erst die Verwandlung ein.«
Gespannt richteten sich alle Blicke auf den Inquisitor. Er rieb sich übers Kinn und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Dabei entging Asher nicht, wie sich seine Augen beim Blick in die Reihen des Councils verengten. »Wenn diese Vicious noch keine Sünde begangen hat, die ihre Seele verdammt hat, ist auch nicht der Tod ihr Urteil, nein.« Sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. »Allerdings stimme ich zu, dass eine Gefahr von ihr ausgeht, die wir nicht einschätzen können. Wenn sie der Sünde widerstehen kann, soll sie das beweisen. Indem wir ihre Menschlichkeit auf die Probe stellen.«
Selbst Unschuldige zwingt der Schmerz zur Lüge.
Vor Rahels innerem Auge fielen die Warden auf die Knie und ergaben sich ihr. Ihr und ihrem Hass, den sie auf jeden Einzelnen von ihnen verspürte für das, was sie ihnen angetan hatten. Sie wünschte sich die Verachtung für den Orden herbei, die sie die letzten Jahre ihres Lebens begleitet hatte und jedes Mal aufgeflammt war, wenn sie ihre sogenannten Tugenden gepredigt hatten, während Menschen verhungert und ihren sinnlosen Gesetzen zum Opfer gefallen waren. Doch die letzten Tage hatten an ihr gezehrt. Ein ums andere Mal war ihr bewiesen worden, wie machtlos sie gegen die Wächter war. Sie hatten sie zu Boden geschmettert, immer und immer wieder, wie oft sie sich auch erhoben hatte.
Langsam schwanden Rahel die Kräfte, und ihre sorgsam errichtete Fassade begann zu bröckeln. Darunter kam die Angst zum Vorschein, was nun aus der Cañada Real werden würde. Aus ihrer Familie. Aus ihrem Bruder. Aus ihr selbst. Sie wusste nicht, wohin die Warden sie gebracht hatten, was mit Mateo passiert war und wie sie ihren Fängen entkommen konnte. Nur eines wusste sie mit einer schrecklichen Gewissheit: Sie wollten sie töten. Warum sie dies noch nicht getan und Rahel erst an diesen düsteren, kalten Ort verfrachtet hatten, konnte sie mittlerweile zumindest erahnen. Doch es machte das Unausweichliche nicht weniger gewiss.
Und je schwächer sie wurde, desto mehr gewann die lauernde Stimme in ihrem Inneren an Macht, die ihr Verderben versprach. Ihnen allen – und Rahel selbst.
»Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass dich das retten wird.«
Ruckartig versteifte sie sich und richtete sich in ihren Ketten auf. Die Warden hatten sie direkt nach ihrer Ankunft in ein klammes Gewölbe gebracht und dort zurückgelassen, natürlich nicht, ohne ihre Ketten in der Wand hinter ihr zu verankern. Durch ein Gitter in der Decke fiel etwas Licht in den Raum, und sie konnte nur erraten, was sich dort oben befand. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie den Schatten, der an den Stufen zur eisenbeschlagenen Tür stand, schnell ausmachte. Ein weiterer Warden, seiner Silhouette nach zu urteilen, aber mehr konnte sie nicht erkennen.
Rahel verengte die Augen, während sich etwas Heißes durch ihre Adern fraß. »Fick dich!« Für eine klügere Beleidigung fehlte ihr gerade die Kraft. Trotzdem erfüllten diese zwei Worte sie mit Genugtuung.
Der Schatten löste sich von den Stufen und kam auf sie zu. Er stieß einen missbilligenden Laut aus und sprach leise: »Behandelt man etwa so einen Verbündeten?«
Noch bevor Rahels Verwirrung einsetzte, war er dicht bei ihr. Er packte sie mit zwei Fingern unter dem Kinn und hob ihr Gesicht an, sodass sie zu ihm aufsehen musste. Da die einzige Lichtquelle sich nun hinter ihm befand und von ihm verdeckt wurde, konnte sie seine Züge trotzdem kaum ausmachen. »Wie sehr du auch kämpfst, wie sehr du dich auch wehrst, das wird es ihnen nur einfacher machen, dich zu töten. Sie stechen so lange auf dich ein, bis sich das Monster aus seinem Käfig befreit. Aber das Monster in dir ist noch nicht stark genug, und das wird deinen Tod absolut sinnlos machen.«
»Lass mich los!«, zischte Rahel und zerrte links und rechts an den Schellen, die es ihr nicht erlaubten, ihre Arme zu heben. Mühsam stemmte sie ihre Fingerkuppen gegen seinen Bauch, doch sie hätte genauso gut gegen eine Wand aus Stein drücken können. Der Warden mit der Stimme so dunkel wie die Nacht und so weich wie das Mondlicht rückte sogar noch dichter an sie heran, sodass sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte. Sein herber Duft hüllte sie ein. Mit einem Hauch von … Lilien? »Fass mich nicht an!« Sie hasste es, sich so hilflos zu fühlen.
»Oh, Rahel. Du tätest besser daran, mir zuzuhören.« Er wisperte ihren Namen nur, und doch war es seit Tagen das erste Mal, dass jemand sie damit ansprach. Als Vicious bezeichneten sie Rahel immer nur, oder Dämonin. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Atem ihr zitternd entwich.
»Was bringt das schon?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme kratzte unangenehm in ihrer trockenen Kehle. »Wenn du mir nur meinen eigenen Tod vorhersagst. Genau das ist es doch, was ihr alle wollt.«
»Ich will nicht, dass du stirbst, Rahel.« Er drehte ihren Kopf leicht zur Seite und näherte sich ihrem Ohr, in das er flüsterte: »Lässt du mich dir helfen?«
Seine Nähe überflutete ihre Sinne. Gänsehaut breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Warum kam er ihr so nahe, redete mit solch samtener Stimme auf sie ein, sprach von Rettung? Rahel schnappte nach Luft und befreite sich mit einer ruckartigen Bewegung aus seinem Griff, wobei ihre Hände erneut gegen ihn drängten. Einen Moment hielt er ihr noch stand, dann rückte er endlich von ihr ab.
»Wenn du mir helfen willst, dann löse diese Ketten und lass mich gehen.« Sie unterdrückte das bittere Lachen und legte stattdessen Autorität in ihre Stimme. Ganz natürlich bediente sie sich der Macht. Solange sie sich daran klammerte, konnte sie nicht zusammenbrechen.
Der Warden zerschmetterte ihren Hochmut zwar nicht, schien aber auch nicht darauf anzuspringen. Er entfernte sich einige Schritte in die Schatten, von wo aus er sie beobachtete. »Glaubst du immer noch, das würde dich hier rausbringen? Oder es würde reichen, deine Ketten zu lösen? Nein, du wirst den harten Weg gehen müssen, ob du willst oder nicht.«
Rahel schnaubte. Was konnte härter als das sein, was sie ihr bereits angetan hatten? »Und warum solltest du mir diesen Weg weisen?«
»Lerne, zuzuhören! Ich sagte bereits, dass ich deinen Tod nicht will«, erwiderte der Fremde scharf.
»Warum willst du nicht, dass ich sterbe?« Er konnte nicht ernsthaft erwarten, dass sie seinen Worten glaubte.
»Wir nähern uns den wichtigen Fragen. Es wäre ein sinnloser Tod, und ich sähe es lieber, wenn du dein Potenzial entfalten würdest.« Seine Uniform raschelte leise. »Doch dafür musst du ihnen weismachen, dass du menschlich bist.«
Der Sonnenuntergang war wunderschön. Es sah aus, als würde der Himmel in Flammen stehen, ganz anders als die grauen, trostlosen Wolken, die über der Insel gehangen hatten, als man sie über das stürmische Meer hierhergebracht hatte. Das letzte Licht am Horizont versprach Hoffnung. Oder ihren Untergang.
Rahel hatte sich bewusst vor den Worten der Menschen verschlossen, die über ihr Schicksal bestimmten, als hätte sie jegliches Recht darauf verwirkt. Es interessierte ohnehin niemanden, was sie zu sagen hatte, und die hilflose Wut brachte sie nur aus dem Gleichgewicht. Auch den Blick in die Ränge der Adepten hatte sie aus diesem Grund gemieden. Wie sie sie anstarrten, als wäre sie ein Monster, in neugieriger Erwartung, was mit ihr geschehen würde. Stattdessen wappnete sie sich für das, was ihr nun bevorstand. Denn der fremde Warden, der sich ihr noch nicht einmal vorgestellt hatte, behielt recht: Sie sollte ihnen beweisen, dass sie noch menschlich war.
Rahel atmete tief ein, dann fixierte sie den Warden, der als Einziger in der Arena zurückgeblieben war und sich ihr gegenüber aufgestellt hatte. Es war derjenige, den sie Callaham nannten, derjenige, der in der Cañada Real vor ihr auf der Treppe gestanden hatte. Nur allzu lebhaft sah sie vor sich, wie sein Schwert einen ihrer Anhänger durchbohrte. Bevor sie Mateo erreicht hatte, zog er ihn an den Haaren brutal nach hinten und von ihr weg. Dann stürzte er sich auf sie. Alles danach versank in Dunkelheit, denn sie war erst wieder aufgewacht, als sie bereits von der spanischen Küste abgelegt hatten. Ihre Fragen nach ihrem Bruder waren mit Schweigen und jeder Versuch, ihre Fähigkeiten anzuwenden, mit Schlägen bestraft worden.
»Du wirst leiden, wie ich gelitten habe. Hoffe nicht auf meine Gnade.«
Callaham verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ein sinnloser Versuch. Das hier wird ein schnelles Ende nehmen.« Mit gezogenem Schwert kam er auf sie zu.
Die Ketten an den Metallverankerungen waren gelöst worden und man hatte ihr eine Klinge hingeworfen, die sie nun aufhob. Trotzdem wusste Rahel, dass sie nicht gewinnen konnte, indem sie den Warden mit dem Metall durchbohrte. Die Waffe fühlte sich ungewohnt in ihren Händen an, denn normalerweise waren es ihre Worte und Gedanken, auf die sie sich verließ. Der mysteriöse Fremde in ihrer Zelle hatte deutlich gemacht, dass das hier kein Kampf werden würde, bei dem sie eine faire Chance auf Rache erhielt. Sie musste den Warden irgendwie dazu bringen, von ihr abzulassen.
Eine Illusion musste her. Die mächtigste, die sie je erschaffen hatte. Rahel schloss die Augen und reckte ihr Gesicht dem letzten Licht des Tages entgegen. Die Sonne war längst nicht so kräftig und wärmespendend wie in ihrer Heimat Spanien, aber wenn das Licht durch ihre Lider drang und mit dem Staub der Arena unter ihren Schuhen, fühlte es sich fast so an, als wäre sie wieder dort. In ihrer Erinnerung erschien einer dieser endlosen Sommerabende, während denen sie mit Mateo und Flavio durch die Gassen gestreift war. Sie waren mit einer geklauten Wassermelone bis zu den Hügeln gelaufen, die an das riesige Kieswerk anschlossen. Schon damals, bevor die Macht über ihren Hochmut erwacht war, war Rahel vor ihren Brüdern auf und ab marschiert und hatte Visionen der großartigen Zukunft erschaffen, die ihnen bevorstand. Während Mateo ihr mit leuchtenden Augen gelauscht hatte, hatte Flavio nur den Kopf geschüttelt und sie ausgelacht. Jahre später war er nicht mehr unter ihren Zuhörern gewesen.
Rahel atmete tief ein und aus, bevor sie alle Kraft aus diesen Erinnerungen zog und sich stattdessen dem Hier und Jetzt zuwandte.
Das hier war keine Arena. Sie stand wieder in dem Innenhof, der ihr Zuflucht und schließlich Zuhause geworden war. Aus den baufälligen Mauern hatten sie das Beste gemacht und ihnen neuen Glanz verliehen. An eine der kalkweißen Außenfassaden hatten die Kinder mit Kreide eine bunte Landschaft gemalt. Mit dem nächsten Regen würden ihre Bilder weggespült werden. Ganz ähnlich wie ihre Hoffnungen und Träume.
Auf den Rängen standen keine Wächter, die ihren Tod wollten. Es waren ihre Anhänger, die sich versammelt hatten, um den Warden zu bestrafen, der ihre Vision zunichtegemacht hatte. Sie trauerten um die Gefallenen und hofften auf Gerechtigkeit. Ein Zeichen würde genügen, und sie würden sich auf ihn stürzen, doch es war an Rahel, ein Urteil zu fällen.
»Es ist in Ordnung.« Sie öffnete die Augen und sah nicht in die Gesichter der Warden, sondern in die der Menschen der Cañada Real. Sonnengebrannt und ausgemergelt. »Ich spüre euren Schmerz.«
Ihr Schmerz rührte von dem, was sie verloren hatte. Nichts auf der Welt würde ihr das zurückbringen. Kein Tod wäre genug. Sie stockte kurz, als sie Mateo inmitten der anderen sah. Einen Moment hielt er ihren Blick, dann nickte er ihr zu, voller Liebe. Er wusste, dass sie das Richtige tun würde.
Schließlich wandte sie sich dem verurteilten Warden zu. In leicht gebeugter Haltung war er stehen geblieben und umklammerte sein Schwert mit beiden Händen, als würde es ihm jeden Moment entgleiten. Seine Kieferknochen mahlten, und Rahel sah die Mordlust in seiner Miene. Gleichzeitig war dort Furcht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie nach allem noch so viel Macht übrig hatte.
Sie reckte das Kinn und blickte kalt auf ihn herab. »Es ist in Ordnung«, wiederholte sie. »Lass das Schwert fallen.«
Er keuchte auf. Seine Hände bebten, während die Ader an seinem Hals pulsierte. Ganz langsam ließ er den Arm sinken, lockerte seinen Griff, seine Schultern sackten herab …
Und wenn er die Waffe fallen ließ, was würde dann geschehen?
›Täusche ihnen vor, noch menschlich zu sein. Alles andere wird dich dein Leben kosten.‹ Das hatte der Wächter gesagt. Obwohl Rahel ihm nicht traute, ergaben seine Worte Sinn. Doch was sie hier tat, bewies nicht ihre Menschlichkeit. Bereits jetzt spürte sie, wie ihr all das, was sie einst ausgemacht hatte, entglitt. Nur noch einen Schritt weiter und sie würde sich verlieren. Sie hätten ihr eigentliches Ziel erreicht und eine Dämonin aus ihr gemacht. Dann würde sie nichts mehr daran hindern, Rahel zu töten.
Hochmut ließ keinen Zweifel zu. Es war nur der Anflug eines Gedankens gewesen, trotzdem zerbrach er die Illusion. Ein unangenehmer Ruck ging durch Rahel. Als die Macht auf sie zurückgeschleudert wurde, tat sie etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte: Sie verleugnete sie.
Statt ihn zum Teil ihrer selbst werden zu lassen, stieß sie den Hochmut von sich. Sie gab die Illusion auf und lenkte ihre Macht nach außen von sich weg. Als hätte sie ein Pflaster abgerissen, tat es kurz weh, bevor sich Erleichterung einstellte. Ihr entfuhr sogar ein leises Seufzen. Gleichzeitig ließ sie das unbrauchbare Stück Eisen fallen.
Zu ihrer Rechten erhob sich ein Schatten.
»Bei den Vier Heiligen.« Der Warden keuchte. Dann rief er: »Ich brauche hier Verstärkung!«
Rahel folgte seinem Blick schräg neben sich. Da stand er, der Grund, warum sie irgendwann damit aufgehört hatte, ihren Hochmut abzulehnen. Ihn anzunehmen war so viel einfacher und sicherer für die Menschen in ihrer Umgebung, wenn die Alternative ein Albtraum war, der über sie herfiel. Und dieser Albtraum, der aus ihrer zerbrochenen Illusion geboren worden war, war größer als alles, was sie jemals erschaffen hatte. Gerade kauerte er sich noch zusammen, dann öffnete er die Schwingen. Sein Kopf war augenlos und sein Körper bestand aus schwarzen Schatten. Ohne sie zu beachten, wandte er sich den Rängen der Arena zu. Die Warden drängten sich zusammen und zogen ihre Schwerter.