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Erfahrung ist ein gnadenloser Lehrmeister. Hina liebt es, sich in der Bibliothek ihres Vaters zu verstecken und fremde Welten zu erkunden. Doch je älter sie wird, desto mehr Sorgen machen sich ihre Eltern. Sie überreden ihre Tochter, sich etwas mehr mit der Aussenwelt zu beschäftigen. Da gibt es nicht viele Möglichkeiten, denn die Menschen ausserhalb ihrer Bibliothek mögen sie nicht besonders. Jedenfalls die meisten davon. Die Zwillinge jagen, seit sie denken können. Mit ihnen auf eine kleine Abenteuerreise zu gehen, klingt nach einer guten Idee. Doch dann kommt den dreien der Wille des Wassers dazwischen, und dieser kleine Ausflug entpuppt sich als unberechenbares Abenteuer. Schnell muss Hina lernen, dass nicht alles so ist, wie es scheint.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Prolog
Ich werde Gross und Stark!
Tote Augen
Roter sand
Die weisse Festung
Das schwarze Kloster
Rot, Grün oder Blau?
Mutters Erbe
Der Kompromis
Du hast keine Ahnung!
Wie Ihr wünscht, Prinzessin
Lauf!
Monster
Der Traum
WAS HAST DU GETAN?
schmerzliche Vergangenheit
Der Brunnen
Schutt und Asche
Unsere Leben sind Geschichten. Sorge dafür, dass deine es wert ist, gelesen zu werden.
„Tja, Papa, ich denke, dass ich das ganz gut hinbekommen habe.“
Vorsichtig geht Hina durch die verkohlte Gegend.
Zwischen den Mauerresten, die noch knapp erahnen lassen, wie groß das Gebäude gewesen sein könnte, und den Metall- und Eisenstücken, die nicht ganz geschmolzen sind, fallen ihr hin und wieder einige verbrannte Knochen auf. Das gesamte Gelände ist in Rauch gehüllt und mit Asche übersät. Auf dem Boden zeichnet sich ein größer werdender Schatten ab.
Gigantische Flügel wirbeln den Staub auf, und Hina bleibt stehen. Ein riesiger schwarzer Drache landet einige Meter vor ihr. Mit seinen klaren Augen blickt er auf die Armee, die gerade am Rande der Verwüstung auftaucht. Seufzend sieht sie zu ihnen hinüber.
„Nun, dann fängt der Spaß wohl gerade erst an.“
In der Stadtbibliothek von Xyr sucht der Bibliothekar in der großen Bibliothek nach seiner Tochter. Bereits das dritte Mal an diesem Tag.
„Hina! Deine Mutter hat das Essen fertig, komm raus!
Du kannst morgen weiterlesen.“
In einer kleinen versteckten Nische zwischen dem vorletzten Regal und der Wand auf der rechten Seite des Gebäudes hat sich die zehnjährige Hina mit einem dicken Buch zurückgezogen, das sie nun genervt zumacht, um aufzustehen und aus ihrem Versteck zu kriechen. Natürlich hat sie das Buch in ihrem Rückzugsort gelassen, um sicherzugehen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt weiterlesen kann.
„Ich bin ja schon da. Was hat sie denn gekocht?“
„Das wirst du gleich sehen, komm Kleines.“
Der Bibliothekar nimmt seine Tochter an die Hand und führt sie zur Nebentür, die in das angrenzende Gebäude führt, das Heim der Familie. Ihre Mutter, in Hinas Augen die schönste Frau überhaupt, hat gerade den Tisch gedeckt. Schüsseln mit dampfenden Kartoffeln und frischem Gemüse stehen auf dem Tisch.
Mit einer flüssigen Bewegung stellt Hinas Mutter noch die Becher und den Wasserkrug auf den Tisch, setzt sich dann zu ihrer Familie. Als alle bereit sind, beginnt der Bibliothekar mit dem Tischgebet. Während die Eltern ihre Augen geschlossen haben, versucht Hina, schon eine Karotte zu nehmen. Aber noch bevor ihre Hand das Gemüse berührt, wird sie von ihrem Vater festgehalten und erst wieder losgelassen, nachdem er das Tischgebet beendet hat.
„Jetzt darfst du sie nehmen.“
Mit einem Lächeln streichelt er Hinas roten Haarschopf, während sie sich hungrig über das Essen hermacht. Nachdem alle gegessen haben, hilft sie ihrer Mama beim Abräumen und Abwaschen.
„Hör mal, Prinzessin, kannst du morgen zum Jäger gehen und ihn nach einem Fuchsfell fragen? Ich möchte dir für den Winter ein paar schöne Handschuhe nähen, sonst erfrierst du noch zwischen den Büchern.“
Mit einem nassen Lappen wischt Hina den Tisch ab.
„Ist gut, aber bitte so, dass ich noch die Seiten umblättern kann, sonst ziehe ich sie nicht an.“
Ihre Mutter kichert, während sie das Geschirr wegräumt.
„Natürlich, Kleines.“
Während ihre Eltern schlafen, schleicht sich Hina aus dem gemeinsamen Schlafzimmer auf den Flur.
Vorsichtig versucht sie, jede knarrende Diele zu vermeiden, und geht am Waschzimmer vorbei die Treppe hinunter. Dort bleibt sie einen Moment stehen, um dem Schnarchen ihres Vaters zu lauschen.
Aufatmend macht sie sich daran, die Tür zur Bibliothek zu öffnen und durch die vertrauten Regale voller Bücher zu schlendern. Seit Hina denken kann, hat sie die meiste Zeit in diesen Steinmauern verbracht.
Etliche Stunden, in denen sie gelesen und von anderen Welten und Helden geträumt hat, mit denen sie zusammen Abenteuer erlebt und fremde Orte besucht hat. Mit einem freudigen Lächeln kuschelt sie sich in ihre Decke. Diese hatte sie vor einiger Zeit in ihrem Versteck platziert, nun schlägt sie ihr Buch wieder dort auf, wo sie es zuletzt schließen musste. Durch das Fenster über ihrem Lieblingsplatz scheinen der Mond und die Sterne auf die Seiten ihres Buches. Hell genug, um die gedruckten Wörter problemlos lesen zu können. Zufrieden taucht sie in die vor ihr wartende Welt ein.
Erst, als die Sonne Hinas Nase kitzelt, schließt sie die letzte Seite ihres Buches. Der Staub, der dadurch aufgewirbelt wird, tanzt in den ersten Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster scheinen.
Während Hina den Staubkörnern zusieht, denkt sie wieder an den Helden, der in der letzten Schlacht gegen eine ganze Horde wilder Monster gekämpft und gesiegt hat.
Müde reibt sie sich ihre Augen und streckt ihren Oberkörper, bevor sie aufsteht und ihr Versteck summend verlässt, um das Buch an seinen Platz zurückzubringen. Sie biegt gerade in den Mittelgang, als sie an ihren Ohren gepackt wird.
„Wir haben dir doch verboten, nachts zu lesen! Es ist schön, dass du so gern liest, aber ständig Nächte durchzumachen, um irgendwelche fremden Geschichten zu lesen, ist nicht gesund für dich! Was denkst du, wie wir erschrocken sind, als dein Bett heute Morgen leer war?“
Immer noch an den Ohren ziehend, wird sie von ihrem Vater in die Wohnstube gebracht.
„Aber wenn du weißt, wo ich bin, warum machst du dir dann Sorgen?“
Wütend platziert der Bibliothekar seine Tochter auf dem Stuhl und setzt sich auf die andere Seite, um ihr in die Augen zu sehen. Ihre Mutter bereitet das Frühstück vor.
„Weil es für dich nicht gesund ist, so wenig zu schlafen. Du bist noch im Wachstum, und wenn du nicht immer so klein bleiben willst, solltest du genug schlafen und essen.“
Hina lässt sich diese Worte durch den Kopf gehen und nickt.
„Ich will nicht so klein bleiben! Ab sofort werde ich nur noch lesen, wenn die Sonne scheint!“
Seufzend und nickend lehnt sich ihr Vater zurück und verschränkt dabei seine Arme.
„Und was machst du, damit du es in einer Woche nicht wieder vergessen hast?“
Hina lehnt sich ebenfalls zurück und spielt mit ihren roten Haaren.
„Keine Ahnung. Ihr seid die Erwachsenen. Ist das nicht eure Aufgabe?“
Der Bibliothekar bricht in schallendes Gelächter aus.
„Das haben wir davon, Helena. Wir haben unsere Tochter zu einem selbst denkenden kleinen Naseweis erzogen.“
„Dem würde ich nicht ganz zustimmen, Arthur. Ich finde, unsere Prinzessin ist perfekt, genau so wie sie ist.“
Nachdem Helena den Topf mit Grießbrei auf den Tisch gestellt hat, küsst sie Hina auf die Stirn und setzt sich ans Tischende.
„Aber dass du dich nach etlichen Ermahnungen immer noch rausschleichst, enttäuscht mich schon etwas.“
Nach dem letzten Satz hat Hina das dringende Bedürfnis, sich unter dem Tisch zu verkriechen. Ihre wunderschöne Mutter mit den hüftlangen roten Haaren und den leuchtenden grünen Augen, ihrem sanften Lächeln und den immer gut riechenden Kleidern zu enttäuschen, will sie nicht.
„Hm, wie wäre es, wenn ich mir einen Zettel an die Tür klebe?“
Arthur, der seine Tochter amüsiert mustert, zieht eine Augenbraue hoch.
„Und, was willst du darauf schreiben?“
Verstohlen sieht Hina zu ihrer Mutter, die sich nichts anmerken lässt und Milch in drei Becher füllt.
„Hm, na zum Beispiel, dass ich groß und stark werden will?“
„Und du glaubst, dass das ausreicht, damit ich dich nicht wieder an den Ohren packen muss?“
Hina nickt stark und sieht ihre Eltern abwechselnd mit großen Augen an.
„Was meinst du dazu, Helena?“
Ihre Mutter hat die Ellbogen auf den Tisch gestellt und die Finger vor ihrem Mund verschränkt. Lange sieht sie Hina an, dann lächelt sie.
„Ich finde, dass das eine großartige Idee ist, meine kleine Prinzessin.“
Hina fühlt sich um einiges leichter.
„Dann werde ich gleich nach dem Frühstück …“ „Zum Jäger gehen, wie du es mir gestern versprochen hast. Danach kannst du diesen Zettel schreiben. Und iss nicht zu schnell, sonst bekommst du wieder Bauchschmerzen.“
Auf dem Weg zum Jäger muss Hina durch die gesamte Stadt. Hüpfend und summend streift sie zwischen den Gassen umher und streicht mit ihren Händen an den Steinhäusern entlang. Trotz der frühen Morgenstunde ist schon einiges los. Der Markt ist gut besucht, und einige Kinder spielen Fangen. Mit anderen in ihrem Alter konnte Hina noch nie etwas anfangen, weil sie Bücher allem und jedem vorzieht. Auf dem Marktplatz, der sich in der Mitte der Stadt Xyr befindet, steht ein alter großer Steinbrunnen. Hina hat schon etliche Bilder von viel kunstvolleren Brunnen gesehen. Und doch zieht dieser einfach gestaltete Stein ihre Aufmerksamkeit auf sich. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeigeht. Während sie sich das Emblem auf dem Brunnen ansieht, wird sie von einer reifen Tomate getroffen. Die Kinder, die vorhin Fangen gespielt haben, strecken Hina ihre Zunge entgegen und laufen davon. Mit dem Wasser des Brunnens wäscht sie sich das Gröbste aus den Haaren und schüttelt traurig den Kopf. Solche Sachen passieren immer, wenn sie nach draußen geht. Deswegen bleibt sie lieber zu Hause. Ihr Weg führt sie durch weitere Gassen. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn eine menschengroße Eidechse an den Gemäuern hochklettern würde. Die Gesichter, die dieses Ereignis hervorbringen würde, bringt sie zum Kichern. Schnell versucht Hina, sich wieder zu beruhigen, als sie von den entgegenkommenden Leuten fragend gemustert wird. Am Ende der Gasse sieht sie den Waldrand, und nachdem sie die steinernen Gemäuer verlassen hat, steht sie vor den Getreide- und Gemüsefeldern. Die Bienen und Schmetterlinge, die über die Felder fliegen, lassen Hinas Herz schneller schlagen. Mit weit aufgerissenen Augen spaziert sie zwischen den Ackerböden und stolpert dabei öfter über Stock und Stein. Am Waldrand angekommen, geht sie auf die Holzhütte zu und klopft an die Tür.
„Hmmm, wahrscheinlich ist er gerade auf der Jagd.“
Schulterzuckend setzt sie sich an einen Baum und sieht weiter den Insekten zu, wie sie von Blume zu Blume fliegen. Die verschiedenen Farben der Schmetterlingsflügel leuchten in der Sonne. Verträumt sieht Hina ihnen nach.
Dabei werden ihre Augenlider immer schwerer und fallen langsam zu.
„Hey! Hier wird nicht geschlafen!“
Eine Kinderstimme weckt Hina unsanft. Genervt reibt sie sich die Augen und sieht zu den Zwillingen hoch.
Die Kinder des Jägers, Gil und Sora, hatte Hina schon völlig vergessen. Sora hält Hina eine Hand hin und hilft ihr beim Aufstehen, Gil steht mit verschränkten Armen und skeptischem Blick Hina gegenüber.
„Was willst du Bücherwurm hier?“
„Nun sei doch nicht so grob zu ihr, Gil.“
„Ich darf so grob zu ihr sein, wie ich will!“
„Meine Mutter hat mich zu eurem Vater geschickt.“
„Und, dann schläfst du einfach ein? Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass du uns auch suchen könntest?“
„Sei still, Gil, was glaubst du, wäre passiert, wenn sie sich verlaufen hätte? Dann müssten wir doch auch suchen helfen.“
„Stimmt. Komm mit, ich bringe dich zu Vater.“
Die zwei gehen ihr voraus, und Hina geht seufzend hinterher. Ihr ist bewusst, dass man sie nicht besonders gern hat und ihr noch weniger zutraut. In ihrer Bibliothek ist ihr das egal, wenn sie jedoch direkt damit konfrontiert wird, trifft es sie ein wenig.
Jedenfalls mehr, als sie zugeben möchte.
„Vater, der Bücherwurm will zu dir.“
„Wer?“
Die tiefe Stimme, die aus der Holzhütte dringt, lässt Hina schaudern. Eine große bärtige Gestalt erscheint gebückt unter dem Türrahmen.
„Ach du. Was gibt’s denn? Braucht der Bibliothekar wieder Leder?“
Hina atmet einmal tief ein und aus, um die nächsten Wörter nicht zu stottern, was ihr leider nicht sonderlich gut gelingt.
„Meine Mutter … schickt mich. Ich … soll Fell bestellen.“
„Sag bloß, du hast Schiss.“
Sora stößt ihrem Bruder mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Ihr zwei geht schon mal rein und fangt an zu kochen.
Ich komme gleich nach.“
Die braunhaarigen Zwillinge gehen in die Holzhütte.
Erst, als die Tür ins Schloss fällt, hört Hina ihr Geflüster nicht mehr. Sie atmet noch einmal tief ein und aus.
„Was für ein Fell möchte deine Mutter denn bestellen?“
„Fuchsfell, sie will mir daraus Handschuhe nähen.“
Bei dem Gedanken lächelt sie ein bisschen.
„Verstehe. Du kannst ihr ausrichten, dass ich bis zur nächsten Woche das Fell bringen werde.“
Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet in der Hütte. Erleichtert, dass das erledigt ist, macht sich Hina wieder auf den Heimweg.
„Wie lange habe ich wohl geschlafen?“
Die Sonne geht bereits langsam unter, als Hina am Brunnen vorbeikommt. Sie kann nicht umhin, ihn wieder anzustarren. Das Zeichen, das in den Brunnenrand eingearbeitet wurde, ist dasselbe wie auf ihrem Lieblingsbuch. Ein rundes Emblem, das ein Auge zeigt, das auf die Wellen starrt. Vielleicht fasziniert sie der Brunnen deshalb so sehr. Seufzend geht sie weiter und macht sich schon darauf gefasst, wieder an den Ohren gepackt zu werden.
Zehn Jahre später
Vor dem großen Kamin, der das heilige Ende der Bibliothek darstellt, hat es sich Hina in einem roten Stoffsessel gemütlich gemacht.
Ihr graues Leinenkleid über ihre Knie gespannt, sitzt sie eingekuschelt da und spielt mit ihren roten Haaren, während sie mit der anderen Hand die Seiten eines Buches umblättert.
„Kleines? Ich muss mit dir reden.“
Der Bibliothekar hinkt gemächlich den Gang entlang.
Sein prächtiges Gewand, dunkelbraun mit goldenen Verschnörkelungen verziert, schleift am Boden nach.
Der hölzerne Gehstock hallt in der steinernen Halle wider. Hina liest die Seite fertig, bevor sie das Buch schließt und ihrem Vater zusieht, wie er sich auf den Sessel neben sie setzt.
„Kann ich etwas für dich tun?“
Seufzend nimmt er seine runde, hölzerne Brille ab und säubert sie mit seinem weißen Taschentuch, das er aus seiner Tasche zieht.
„Beantworte bitte meine Fragen. Wie viele Bücher hast du schon gelesen?“
Hina sieht sich in der Bibliothek um und geht im Kopf jedes einzelne Regal durch.
„Es fehlen nicht mehr viele. Natürlich kann ich sie nicht alle auswendig, die Fachbücher habe ich meistens überflogen. Aber ein oder zwei Dutzend fehlen sicher noch. Wieso? Gibt es eine neue Lieferung?“
Der Bibliothekar schüttelt den Kopf, während er ins Feuer starrt. Die Lichter des Feuers lassen sein faltiges Gesicht noch älter aussehen. Die braunen Haare, die einst aus seinem Haupt gekommen sind, sind mittlerweile nur noch spärlich vorhanden.
„Weißt du, warum wir dich nie aufgehalten haben, ständig irgendein Buch zu lesen?“
„Weil ich es so oder so getan hätte?“
Ihr Vater schmunzelt.
„Ja, deswegen auch. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Ich möchte, dass du irgendwann die Bibliothek an meiner Stelle führst.“
Er starrt weiterhin ins Feuer. Hina sieht ihren Vater an und wartet geduldig, bis er weiterspricht.
„Was interessiert dich so an fremden Geschichten?“
„Fremde Geschichten?“
„Nun, diese Geschichten, die in den Büchern geschrieben stehen, sind Leben, die andere geführt oder sich ausgedacht haben. Warum findest du sie so interessant?“
Hina weicht dem Blick ihres Vaters aus, um nun ihrerseits in die Flammen zu starren.
„Ich weiß es nicht. Aber wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass mich die fremden Welten faszinieren.“
„Dann ist deine, also unsere Welt langweilig? Wie oft warst du schon draußen?“
„Ehm, nun ich war oft genug draußen, um festzustellen, dass ich die Leute hier nicht mag. Und sie mögen mich auch nicht.“
„Und deswegen sperrst du dich hier ein und versinkst in den Büchern, um zu vergessen, was sich außerhalb dieser Mauern abspielt?“
„Und was ist daran so schlimm?“
„Du könntest es früher oder später bereuen, wenn du nichts von der Welt gesehen hast.“
„Durch die Bücher sehe ich genug von der Welt, weit mehr als sonst jemand.“
Der Bibliothekar steht seufzend auf und geht kopfschüttelnd den Gang entlang, zurück in den Wohnbereich. Seine Stimme hallt in der steinernen Halle wider.
„Dein Leben ist eine Geschichte, Kleines. Also sorg dafür, dass du sie gern lesen würdest.“
An diesem Tag bleibt Hina in ihrem Sessel sitzen. Sie starrt weiter ins Feuer, bis es erlischt.
Die Sonne scheint durch das Fenster, und das Gezwitscher der Vögel weckt Hina aus ihrem unruhigen Schlaf. Ihre Eltern sind beide bereits wach und haben das Schlafzimmer verlassen. Gerädert von der unruhigen Nacht macht sie sich daran, das Waschzimmer aufzusuchen und sich mit einem Lappen zu waschen. Ihre langen Haare bindet sie zu einem Zopf zusammen und das leinene Kleid, das sie am Vortag trug, ist noch sauber genug, um es nochmals anzuziehen. Müde sieht sie sich in dem kleinen ovalen Spiegel an. Weil sie an ihren dunklen Augenringen nichts ändern kann, wendet sie sich mit einem Schulterzucken von ihrem Spiegelbild ab und verlässt den Raum.
Als sie die Treppe runterkommt, sieht sie ihre Mutter am Herd.
„Guten Morgen, Prinzessin, hattest du Albträume? Du scheinst nicht gut geschlafen zu haben.“
Trotz ihres Alters findet Hina ihre Mutter immer noch unglaublich schön. Die grauen Haare machen sie noch hübscher, wenn auch ein wenig zerbrechlich.
„Hast du mich deshalb ausschlafen lassen?“
„Was geht dir durch den Kopf?“
Hina setzt sich an den Tisch und bekommt von ihrer Mutter einen Becher Milch und ein Stück Brot mit etwas Schafskäse.
„Hat Vater dir von unserem Gespräch erzählt?“
„Das hat er. Was hast du dir für Gedanken darüber gemacht?“
„Vielleicht hat er recht, und ich verstecke mich tatsächlich hinter all den Büchern.“
Sie sieht auf den Zettel, den sie vor Jahren geschrieben hat, der sie daran erinnern soll, nicht mehr die Nächte durchzumachen.
Ihre Mutter trinkt aus ihrem Becher und sieht Hina still an.
„Ich habe gar nicht mehr das Gefühl, groß und stark zu sein, sondern eher klein und ängstlich. Das gefällt mir nicht.“
Das Auflachen ihrer Mutter lässt Hina das Gesicht verziehen.
„Natürlich gefällt dir das nicht. Du bist eine sture kleine Kämpferin. Ich denke, dass alles, was du brauchst, ein kleiner Schubs in die richtige Richtung ist.“
„Und welche Richtung soll das sein?“
„Keine Ahnung, wie wäre es, wenn du dich mit den Zwillingen triffst und sie bittest, dass sie dich in den Wald mitnehmen?“
Hina blickt sie skeptisch an.
„Und warum ausgerechnet die? Gil ist ein unausstehliches Großmaul, und bei Sora habe ich keine Ahnung, wo ich stehe. Sie scheint ihre Meinung immer der Situation anzupassen. Ich mag weder den einen noch die andere.“
„Genau deshalb. Komm aus deiner Höhle heraus, und fordere dich heraus. Du solltest dich selbst mit anderen Dingen konfrontieren. Mit Personen, die du nicht magst zum Beispiel. Abgesehen davon könntest du noch etwas von ihnen lernen.“
Missmutig isst Hina ihr Brot und spült es mit der Milch hinunter.
„Ich werde es versuchen. Wenn ich aber mit unglaublich schlechter Laune wieder hier stehe, bist du daran schuld.“
Angespannt und mit schnellen Schritten eilt Hina durch die Stadt. Während sie vor sich her murmelt und die Leute um sich herum ignoriert, versucht sie, sich zu beruhigen und mehrere Sätze im Kopf zurechtzulegen.
Innerlich macht sie sich für jedes Szenario bereit. Bevor sie die Felder überquert, kommt ihr Gil entgegen.
„Was willst du Bücherwurm hier?”
„Ich, ehm, ich wollte euch fragen, ob ich euch auf die Jagd begleiten könnte?“
Sie wagt es nicht, ihm in die Augen zu sehen, und wartet auf eine Antwort.
Gil mustert sie von oben bis unten und kneift die Augen zusammen.
„Du willst mit auf die Jagd? In einem Kleid? Von den Schuhen ganz zu schweigen. Deine Sachen sind kaputt, bevor wir überhaupt richtig im Wald sind.“
„Ich bin nicht so ungeschickt wie du denkst.“
„Davon rede ich gar nicht. Egal, wie geschickt oder ungeschickt du auch sein magst, ohne richtige Kleider und Schuhwerk nehmen wir dich nicht mit.“
„Aber ihr würdet mich mitnehmen?“
Gil sieht sie lange an, bevor er an ihr vorbeigeht.
„Ich muss noch einige Dinge in der Stadt erledigen. In etwa einer halben Stunde gehen wir los. Ob du dabei bist oder nicht, interessiert mich nicht.“
Wie angewurzelt steht sie da. Das ist viel mehr, als sie erwartet hatte. Mit einem breiten Grinsen rennt sie zurück, um sich umzuziehen.
„Du willst also wirklich mitkommen?“
Gil und Sora warten vor ihrer Hütte.
„Ich find’s großartig, dass du mitkommst! Aber sagst du uns, warum du das plötzlich willst?“
Völlig außer Atem versucht Hina, sich zuerst zu beruhigen, um wieder normal sprechen zu können.
„Ich … ich möchte mehr von der Welt sehen, in der wir leben.“
Sora reißt überrascht ihre Augen auf.
„Dann ist es gut, dass du uns gefragt hast! Wir können dir jede Menge schöne Orte zeigen! Du hast doch den ganzen Tag Zeit, oder?“
Sie nimmt Hinas Hand und zieht sie mit in den Wald.
Gil geht gemütlich hinterher.
„Kommt euer Vater denn nicht mit?“
„Er kann nicht.“
„Vater hat sich letztes Jahr während der Jagd das Bein verletzt. Seitdem verlässt er kaum noch das Haus.“
„Sora! Du sollst doch nicht bei Fremden über Vater reden!“
Sora bleibt abrupt stehen, und Hina muss aufpassen, dass sie nicht mit ihr zusammenstößt.
„Aber Hina ist doch keine Fremde.“
„Ach, dann ist sie jetzt deine Freundin?“
Hina räuspert sich.
„Ich bin auch hier, falls ihr das vergessen habt. Und ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich mitnehmt, aber ihr müsst euch nicht um mich kümmern. Ich laufe euch einfach nach.“
„Genauso habe ich mir das auch vorgestellt. Und sei gefälligst leise, sonst verscheuchst du unsere Beute.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, geht Gil an den Frauen vorbei und nimmt seinen Bogen von der Schulter.
„Du musst ihn entschuldigen, er ist in letzter Zeit nicht sehr gut gelaunt.“
Sora lächelt sie an und geht ihrem Bruder hinterher, ebenfalls mit dem Bogen in der Hand.
Hina seufzt möglichst leise und versucht, den beiden zu folgen, was sich als schwieriger herausstellt als zu Beginn angenommen.
Während die Zwillinge beinahe lautlos und synchron durch die Büsche streifen, hat Hina die größte Mühe, nachzukommen. In der Zeit, in der Hina einen Schritt macht, machen die Zwillinge drei.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“
Sora hat angehalten und sieht Hina fragend an.
„Gil, lass uns etwas langsamer gehen.“
„Damit wir mit leeren Händen zurückkommen? Ich gehe vor.“
Er dreht sich um und verschwindet im Dickicht.
„Entschuldige, Hina, er hält nicht sehr viel von anderen Leuten.“
Erschöpft stützt Hina ihre Hände auf die Knie.
„Du schon? Es ist nicht nötig, mir Sympathie vorzuheucheln. Ich weiß, dass man mich nicht leiden kann. Und ich bin nicht hier, um mich mit euch anzufreunden.“
Sora sieht Hina prüfend an.
„Du willst etwas von der Welt sehen, das hast du schon gesagt. Aber allein kommst du nicht mehr aus dem Wald raus. Also bleibt dir nichts anderes übrig, als dich auf uns oder besser gesagt mich zu verlassen.“
Hina stockt einen Moment. Gerade eben ist ihr bewusst geworden, wie unhöflich sie ihr gegenüber war.
„Was meinst du denn damit?“
Ihre Worte kommen nur zaghaft aus ihrem Mund.
„Weißt du, wo wir sind? Würdest du allein zurückfinden?“