Väter unser ... - Ionka Senger - E-Book

Väter unser ... E-Book

Ionka Senger

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Beschreibung

Menschen mit jüdischem Vater und nichtjüdischer Mutter sind nach geltender Überzeugung fast aller jüdischen Gemeinden – nach der Halacha – keine Jüdinnen und Juden. Sie haben eine doppelte Identität, mit der sie mehr oder weniger zufrieden sind. Die vaterjüdischen Geschichten des Buches bringen das Dilemma oder das Glück einer hybriden Identität auf den Punkt. Es geht um Menschen mit jüdischen und nichtjüdischen Wurzeln, die sich mit Chuzpe, Selbstbewusstsein, Stolz, aber auch mit Bedauern und Zerrissenheit mit dieser Herkunft und ihren Folgen auseinandersetzen. Erzählt wird die subjektive Sicht der Autorinnen auf die eigene Doppeltheit – oder Halbheit –, meist anekdotisch, humorvoll, mit gewitzter Distanz. Es berichten Betroffene aus verschiedenen Generationen, deren Väter in Konzentrationslagern, Israel, England oder untergetaucht in Deutschland überlebt haben oder auch erst nach dem Krieg geboren sind.

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Ionka Senger/Regula Weil/Ruth Zeifert

Väter unser …

Vaterjüdische Geschichten

Mit 12 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Wir danken dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) für die finanzielle Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Slanapotam/Adobe Stock

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99429-1

Inhalt

Vorwort

Wir Doppelten

Zwischenspiel 1 | Gedicht von Max Czollek

Die Väter

Die Mütter

Die Mischpoke – sofern sie überlebt hat

Die Leute

Interviews mit Patrilinearen und ein paar anderen Menschen

Patrilineare Gruppen

Zwischenspiel 2 | Gedicht von Max Czollek

Hintergründe aufgerollt von Ruth

Glossar

Vorwort

Sind wir jüdisch? Nein! Die Halacha sagt Nein zu uns. Sind wir christlich? Auch das meistens nicht – höchstens manchmal als Sympathisantinnen. Sind wir konfessionslos? Das vielleicht am ehesten, jedenfalls sagen das unsere Papiere.

Aber wir sind mindestens doppelt und eigen!

War es bei unseren Eltern oft noch eine religiöse, kulturelle oder nationale Grenzüberschreitung, eine Ehe zwischen Jude und Nichtjüdin einzugehen, liegt Vielfalt heute gesamtgesellschaftlich in der Luft. Menschen mit doppelter und mehrfacher Herkunft sind die logische Folge aus solchen Beziehungen und eine Mischung klar der Trend. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus bleibt irgendwie jüdisch zu sein auch heute besonders prickelnd.

Ungefragt haben wir Patrilinearen »ein bisschen mehr« abbekommen. Wir haben dies und jenes – und ein wenig einen Knacks. Von uns wird oft eine eindeutige Kategorisierung als Jude oder Nichtjüdin verlangt.1 Nur langsam erobern wir die Hoheit über unsere patrilineare Identität und Zugehörigkeit. Unsere Geschichten sind spannend. Sie erzählen von vielfältigen historischen Rahmenhandlungen, kultureller Pluralität und starken Köpfen – also von mehrdeutigen Voraussetzungen und dem, was wir daraus machen. Die Zeit – Globalisierung, Säkularisierung, Pluralisierung und das Erstarken liberaler jüdischer Gemeinden – arbeitet für uns. Wir sind da. Wir beschreiten eigene Wege, wir verändern, wir sind viele – nicht mehr zu übersehen.

Dieses Buch spürt unseren Geschichten nach: dem Erbe unserer jüdischen Väter und dem ganz anderen unserer nichtjüdischen Mütter. Die Mischpoke und die Leute aus unserem Umfeld haben darin auch etwas zu sagen. Und auch einige »richtige« Juden.

In diesem Buch kommen neben uns drei Hauptautorinnen – Ionka Senger, Regula Weil und Ruth Zeifert – folgende Co-Autorinnen zu Wort: Stephanie Grossmann, Kirsten Heilbut, Esther Alexander-Ihme, Wilma Reinheimer, Neta-Paulina Wagner, Bella Wohl und Sarah Wohl. Zahlreiche weitere hätten sicher ebenfalls etwas beizusteuern.

 

1Im Folgenden verwenden wir in den meisten Fällen die männliche Form. Es mögen sich bitte alle mitgemeint fühlen.

Wir Doppelten

Ruth erzählt

»Rabbinerin? Du willst Rabbinerin werden? Wie klingt das denn, wenn ich jemandem erzähle, dass meine Schwester Rabbinerin ist?«

Ich sitze nach einem Arbeitstag im Strandcafé am Meer. Ich bin schon nicht mehr ganz so jung, habe ein Soziologiestudium hinter mir, knapp zwei Jahre in Zandvoort, Niederlande, gelebt und seit meiner Rückkehr nach Deutschland mehrere Jobs gehabt. Gute Jobs, aber letztendlich alles befristet und nicht nützlich genug. Jetzt überlege ich, was ich wirklich mit meinem Leben anfangen will. In Heidelberg hat die Hochschule für Jüdische Studien aufgemacht. Sie bilden Rabbiner aus, auch Rabbinerinnen. Ich werde mich bewerben. Rabbinerin ist der wichtigste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Das Judentum hatte die letzten 10 Jahre so gut wie keine Bedeutung in meinem Leben. Außerdem ist ja eigentlich nur mein Vater Jude, aber macht das was? Ich schreibe eine Bewerbung, begründe, warum ich Rabbinerin werden möchte, und beschreibe, dass meine Konversion am Ende des Studiums stehen kann. Ich werde abgelehnt. Natürlich. Aber das hätte mir gefallen. Die Thora lesen und diskutieren. Dabei zumindest fast perfekt in Hebräisch werden, die Weisheit erlangen, die ein Rabbiner hat. Danach sich auskennen, Rat geben können, Menschen begleiten, der Gemeinschaft helfen.

Mein Bruder ist der ältere von uns beiden. Er sieht toll aus, ist unheimlich klug und gebildet, natürlich auch total spannend und eigentlich zu arrogant, um viel zu reden. Mit um die 30 telefoniere ich mit ihm vom Strand in Zandvoort aus und frage ihn, was er von der Idee hält. David versteht sich als nicht jüdisch, aber er würde es mit Humor nehmen, ein »bissel verrikt« findet er mich eh und wäre vielleicht etwas stolz auf mich. Aber es wird ja nichts.

Wie so oft, wenn ich versucht habe, das Judentum in meinem Leben zu »legalisieren«. Aber so oft war es dann doch gar nicht. Als Kind war es einfach, wie es ist. Für die anderen kam man aus der jüdischen Familie und das Evangelische habe ich mitgenommen. Ich war nur etwas »mehr«. Mein Pfarrer im Religionsunterricht war wunderbar. Er erzählte die Geschichten des Alten Testaments und achtete mich, als wäre ich eine vom Volk Israel und deshalb etwas Besonderes. Das war ich ja auch mit meinem israelischen Vater in den 1970er-Jahren. Unter den Juden und Israelis, die wir kannten, war das kein Problem. Man gehörte dazu. Zumindest gaben sie einem das Gefühl. Ob in der Gemeinde der Amis oder bei den Verwandten in Israel. Und unter den Deutschen wurde es eigentlich nicht thematisiert.

Und trotzdem hat es mich oft beschäftigt. Vor allem, wenn in der Schule Juden thematisiert wurden und der Holocaust. Ich hatte, glaube ich, mehr Empathie als nichtjüdische Deutsche. Ich fühlte mit, wenn unsere Klassenlehrerin beim Probealarm beim Klang der Sirenen mucksmäuschenstill dasaß und kreidebleich wurde. Und als wir »Woyzeck« von Büchner durchnahmen, war es mir schließlich einmal zu viel, mit dem thematisierten Judenhass. Da stand: »Lasst uns noch über’s Kreuz pissen, damit ein Jud’ stirbt.« Das muss ich nicht nachlesen. So stand es da. Ich weiß nicht, ob die Deutschlehrerin es kommentierte, aber ich weiß, dass es mir dann genug war. Später, in der Oberstufe war es dann immer mal wieder wichtig, als der erste Golfkrieg war z. B. und meine Freunde an die amerikanische Base fahren wollten, um gegen den Einsatz zu demonstrieren. Zehntausende Cadaver Bags hatten sie bestellt. Aber mein Vater fand es falsch, weil die Amis Israel beschützen. Glücklicherweise konnten meine Freunde verstehen, dass ich doch nicht mitging. Obwohl ich natürlich für Frieden auf der Welt war, hatte ich einen anderen Blick.

Ich lebte ein ganz ruhiges Leben. Meine Herausforderungen musste ich mir selbst suchen. Sie wurden nicht gesetzt durch Hunger, Krieg, Wohnungsnot oder Sozialismus. Mir ist bewusst, dass ich wohl ausschließlich aus dieser bequemen Lage heraus der Bearbeitung meiner »jüdischen Identität« so viel Aufmerksamkeit schenken konnte.

Regula erzählt

Wir sind nicht doppelt, sondern gespalten. Wenn wir doppelt wären, hätten wir zwei gleichwertige Identitäten. Dem ist nicht so. Ich wechsle hin und her, je nach Situation, eine multiple Persönlichkeit sozusagen. Ich bin auch nicht konfessionslos. Konfessionslos ist die dümmste Bezeichnung für uns Gespaltenen, aber ich deklariere mich ständig so. Jedenfalls auf allen amtlichen Papieren. Im Privaten kann ich auslesen.

Als ich fünf Jahre alt war, hätte ich im Kindergarten die Maria beim Krippenspiel zu Weihnachten spielen sollen. Aber ich hatte den Text vergessen und sagte gar nichts. Als man mich fragte, weshalb ich denn nicht gesprochen hätte, gab ich zur Antwort: »Ich bin jüdisch.« (Ich wusste also in diesem zarten Alter bereits, dass die Weihnachtsgeschichte nicht für uns gedacht war, und ich deshalb nicht log, wenn ich mein Jüdischsein als Entschuldigung vorschob.) Weihnachten wurde bei uns auch gefeiert, mit Baum und Geschenken, aber ohne Lieder. Chanukka auch, mit Kerzen in der Chanukkia, ohne Geschenke aber mit Lied und Dreidel.

Als meine Schulkameradinnen konfirmiert wurden und ein großes Fest bekamen mit allem Drum und Dran, wurde mir bewusst, dass ich leer ausgehen würde. Bat Mitzwah hatte ich ja auch nicht dürfen … Ich war also für meine Eltern ein billiges Kind. Meine Tochter sollte es besser haben und als es an der Zeit war, organisierte ich für sie ein Fest. Weder Bat Mitzwah noch Konfirmation, nichts Religiöses, konfessionslos halt. Aber ein Fest mit allen Verwandten und Freundinnen.

Das doppelte Gefühl habe ich nur bei den Christen, umgekehrt nicht. Wenn ich mit meinem Cello in irgendeiner Kirche spiele und ein religiöser Anlass der Grund ist, denke ich immer, das geht mich eigentlich nichts an. Oder nur die Musik oder die Architektur, das schon, aber nicht das Christliche, denn ich bin ja Jüdin. Das weiß jedoch in diesem Moment nur ich, denn ich spiele ja mit, wie die anderen Christen. Bei den Juden denke ich das nicht. Als ich einmal in einer Synagoge spielte mit lauter Nichtjuden im Orchester, war es ganz deutlich, dass ich gemeint war und die anderen nicht. Seltsam. Nichts doppelt, eindeutig.

Im Alltag bin ich einfach ich. Höchst selten kommt es vor, dass ich meinen »jüdischen Hintergrund« preisgebe. Das ist mein Geheimnis. Das braucht niemand zu wissen. Das ist privat. Außer einzelne muslimische Kinder in der Schule nennt bei uns ja auch niemand seine Konfession. Ich passe aber auf, dass nichts Dummes passiert und bin eine genaue Beobachterin. Falls jemand etwas Antisemitisches sagt, ja, dann bin ich nicht mehr konfessionslos. Dann bin ich nicht doppelt, nicht gespalten, sondern jüdisch und sage es.

Als Lehrerin bin ich konfessionslos. Das passt gut zu unserem Schweizer Schulgesetz, das im Unterricht konfessionelle Neutralität verlangt. Religion hat in der Schule nichts zu suchen, wir unterrichten Religion eingebettet ins Fach »Natur – Mensch – Gesellschaft« und darin hat alles Platz, alle Religionen gleichwertig und ganz bestimmt ohne christliche Mission. Das ist gut so, denn wie sonst sollten wir all die verschiedenen Kulturen und Konfessionen unter einen Hut kriegen? An Weihnachten jedoch sind wir alle Christen. Dann werden Weihnachtslieder gesungen und der Advent wird gefeiert und alle machen mit, nur mit einigen Ausnahmen (Zeugen Jehovas, Muslime beispielsweise). Wenn ein muslimisches Kind nicht mitsingen will, verstehe ich es insgeheim ein wenig, obschon sich alle anderen Lehrer darüber aufregen. Weihnachten geht es nichts an, es ist gespalten, es ist Muslim.

Hebräisch/Iwrith

Schon als Kind lerne ich Hebräisch. In der Religionsschule, beim Rabbiner und beim Lehrer, dem sehr alten Lehrer, der uns das Tischgebet mit der Stoppuhr lesen ließ. Das Wort »Gott« darf nicht ausgesprochen werden und doch erscheint es immer wieder. Wie sollen wir Kinder des auserwählten Volkes in einer Sprache lesen lernen, mit uns vollkommen fremden Buchstaben und Wörtern, die zwar da stehen, aber nicht ausgesprochen werden dürfen? Ist es eine Art Geheimsprache? Nur für Auserwählte? Wie bin ich da hineingeraten? Meine Eltern wollten es so. Mein Vater wollte es so. Immer wenn ich wieder »Jöja« lese anstatt »HaSchem« oder »Adonai«, schäme ich mich, weil ich in die Falle getappt bin. Dabei ist dieses Gotteswort ja ganz klein und sofort zu erkennen. Aber nicht für ein Kind, das eben auch erst in seiner Muttersprache lesen lernt.

Einmal gehe ich sogar in ein Lager für jüdische Kinder, um eine ganze Woche lang zu lernen. Hiphil, Piel, Pual, fragt der Rabbiner … Wer kennt das?

Wir lernen die Gebete lesen, aber nicht verstehen. Absurd! Es geht nur darum, dem Gottesdienst folgen zu können. Daneben haben wir ein Buch für Iwrith, weil es ja doch auch wichtig ist, sich im Land, Haaretz, verständigen zu können. Denn dahin sollen wir ja dann einmal auswandern, Alijah machen. Daran zweifle ich die ganzen Jahre auch gar nicht und bin überzeugt davon, dass ich nach Israel auswandern werde.

Als ich langsam erwachsen werde, will ich, bevor ich Israelin werde, doch die Sprache ganz richtig können und besuche einen Ulpan, einen Sprachkurs für Neueinwanderer, in Jerusalem. Ich bin jung, erst 21 Jahre alt. In drei Monaten lerne ich tatsächlich so gut Iwrith, dass es für ein einfaches Alltagsgespräch reicht. Besonders stolz bin ich, dass ich diese Aufgabe lösen kann: einen Witz auf Iwrith aufschreiben. Ich kann es!

Aber mein damaliger Freund, mein jetziger Mann, besucht mich in Israel und will nicht auswandern. Er holt mich zurück in die Schweiz und da sind wir noch immer. Ich verlerne meine schöne Sprache wieder, sie wird vergraben und lange Zeit vergessen.

Jetzt, als ältere Frau, reise ich wieder regelmäßig allein nach Israel. Auch der Sprache wegen. Ich will es wieder können. Ich spreche Iwrith, wenn ich dort bin. Es fühlt sich an wie zu Hause sein. Zu Hause sein in einer Sprache, die ich doch nicht ganz verstehe.

Wenn ich in der Schweiz bin, schaue ich mir auf Netflix® israelische Serien an, nur um die Sprache hören zu können. Mit Untertiteln. Tatsächlich lerne ich so immer wieder mehr dazu. Eine perfekte Methode für mich! Ich höre aber auch israelische Musik und israelisches Radio. Weil es meine Kindersprache ist, die sich so vertraut anfühlt und die ich doch nicht beherrsche.

Ionka erzählt

Ein halb jüdisches Kind

Als ich ungefähr 10 Jahre alt war, nahm mich meine Tante Paula, die Schwester meines Vaters, mit zu einem Konzert. Meine Eltern waren gerade verreist. In dem kleinen Konzertsaal saßen nur ganz wenige Besucher, einige von ihnen tätschelten mir den Kopf: »a golitsches jiddisches Meydalach«. Die in Israel, das damals mir und anderen noch ziemlich unbekannt war, berühmte jiddisch singende Künstlerin hatte wohl zunächst überlegt, das Konzert vor geschätzten 20 bis 30 Gästen nicht durchzuziehen, sich dann aber – wie ich fand etwas gekränkt – doch dazu durchgerungen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, und wie alle anderen versuchte ich, den Publikumsmangel durch enthusiastisches Klatschen wettzumachen.

Auf dem Nachhauseweg fragte ich Paula, was die Leute denn gemeint hätten, die so freundlich und so komisch mit mir gesprochen hatten. Sie teilte mir mit, dass das jiddisch sei und dass Opa und Oma jüdisch waren. Häh? Das war wirklich kaum zu glauben: Ich war doch ungefähr halb deutsch – mit ein bisschen »Zigeuneranteil«, den ich super fand, auch wenn echte Beweise fehlten, eher Andeutungen über eine Urgroßmutter, die von einem fahrenden Händler schwanger geworden war und deren Kind mein Großvater mütterlicherseits war – auf jeden Fall aber halb russisch, was ja auch nicht schlecht war. Opa und Oma, also die vom Vater, kamen aus Russland, da war ich mir absolut sicher. Schließlich hatte Opa mir zählen auf Russisch beigebracht: adin, dwa, tri, tschitiri, pjat … bis 10! Und außerdem »do swidanja« und »strasdwudje« (»Auf Wiedersehen« und »Hallo«). Gerne hätte er gehabt, dass ich »djeduschka« (»Opa«) hinzufüge: »strasdwudje, djeduschka« oder seinetwegen auch »do swidanja, djeduschka« – das habe ich aber nicht gemacht. Keine Ahnung, warum die 3-jährige Ionka das nicht hinbekommen hat, obwohl doch alle mir gut zugeredet hatten. Als ich 4 wurde, starb mein Opa.

Aber jetzt stellte sich das irgendwie anders dar: Ich war also ein Drittel jüdisch, ein Drittel russisch, ein Drittel deutsch und ein kleines bisschen zigeunerisch. Da konnte was nicht stimmen. Aber natürlich war ich zum Platzen stolz, jetzt auch noch jüdisch zu sein; das war ja wohl das Allerbeste überhaupt. Ich war also viel mehr als meine Freundinnen in der Schule oder auf der Straße – ätsch!

Vali, mein Vati, redete nicht groß über Jüdischsein und so. Aber es war klar, dass auch er stolz darauf war, genauso wie Tante Paula. Überhaupt waren wir eine Familie, die hundert bis tausend Mal besser war als alle anderen: Da war ja nicht nur das Jüdische, Russische, Deutsche und Zigeunerische. Wir waren die Einzigen weit und breit, die ungeheuer viele Bücher hatten, die wussten, dass es Gott nicht gibt, die kommunistisch waren, na und so weiter. Natürlich war ich die Beste in der Schule (damals wusste ich noch nicht, dass sich das schlagartig ändern würde mit der Einschulung aufs Gymnasium), die Schwarzhaarigste (schwarze Haare waren natürlich viel schöner als blonde, braune oder so sauerkrautfarbene), die mit dem tollsten Namen (Ionka, Tamara – da war es doch wieder, das Russische). Ich konnte, obwohl ich die Kleinste war am höchsten springen, war am vorlautesten und vermutlich schon damals die mit Abstand Klugscheißerischste. Ich vermute mal, die Lehrerinnen meiner »Volksschule« in einem Arbeiterbezirk Frankfurts konnten nicht besonders viel mit mir anfangen. Aber das störte mich überhaupt nicht, weil die ja manchmal ein bisschen dumm waren, wie ich schon in der ersten Klasse bemerkte. Zum Beispiel die Religionslehrerin: Die behauptete doch tatsächlich, dass Menschen, die nicht an Gott glauben, in die Hölle kommen. Ein erwachsener Mensch und so kindisch! Dass sie damit mich meinte, weil ich ja während des Religionsunterrichts beaufsichtigt werden musste und bei den katholischen Kindern gelandet war, habe ich natürlich gewusst und echt ulkig gefunden. An den Teufel glaubte ich zu der Zeit allerdings: Mein Opa – der deutsch-zigeunerische – hatte nämlich erzählt, dass er ihn persönlich im Wald getroffen hatte – na dann! Als ich später auf dem Gymnasium war, wurde ich zum Beaufsichtigen zu den Evangelischen gesteckt. Die Lehrerin dort war auch nicht besonders angetan von mir – na ja, ich hatte nicht gewusst, dass ich aufstehen muss, wenn die anderen beten, hab’s dann aber natürlich gemacht. Das hat mich zwar Zeit für das Abschreiben der Hausaufgaben – für mich, aber auch für diverse Gläubige – gekostet, aber sei’s drum. Diese evangelische Religionslehrerin erwähnte mal, dass Hitler ja auch sein Gutes gehabt habe, Autobahnen, Leute von der Straße holen und so. Das habe ich empört zu Hause erzählt. Vali (oder Irmgard, meine Mutter?) ist sofort zur Direktorin gegangen – heute vermute ich, dass sie jüdisch war; der Name spricht dafür – und die Reli-Lehrerin ist dann ziemlich bald nicht mehr da gewesen.

Als ich irgendwann mal, ich war schon auf dem Gymnasium, mit meinem jüdischen Vater geprahlt habe, kam mein erstes antisemitisches Erlebnis: Eine Mitschülerin, die teilweise den selben Schulweg mit der Straßenbahn hatte, gab mir zu verstehen, dass ihr Vater – ein Jurist – bedauert habe, dass Hitler nicht alle Juden vergast habe. Viel später war ich dann dort eingeladen und musste wieder beim Beten aufstehen. Ich habe den starren, scheinwürdigen Kerl, der dieser Vater war, einfach nur verachtet. Das mit dem Hass habe ich schon damals nicht hinbekommen. Von der bürgerlichdüsteren Atmosphäre dort war ich allerdings eingeschüchtert. Die Mitschülerin hat sich Jahrzehnte später, als ich ihr von ihrer antisemitischen Bemerkung erzählt habe, sehr erschrocken und geschämt – aber für den eigenen Vater kann man ja erst mal nix. Ich selbst habe mit meinem einfach verdammtes Glück gehabt. Mein knallschwarzes Haar kommt übrigens nicht von meinem jüdischen Vater – Paula und er gehörten eher zur Sauerkrautfraktion –, sondern von dessen deutscher, ein bisschen zigeunerischer Frau.

Als meine Eltern 1966 nach Israel gereist sind, weil meine Mutter dort einen Film über Frankfurter Juden in Israel gedreht hat, wurde angeblich oft nur sie für die Jüdin gehalten, was sie bis ins hohe Alter immer wieder erfreut erzählt hat. Ob’s stimmt, weiß ich nicht, denn mein Vater sah wie der »gespeutze Ostjidd« aus, wie man in der Familie gesagt hat.

Hat mich damals beschäftigt, wer ich eigentlich bin? Nö! Ich war ich und ich war alles Mögliche gleichzeitig und das war – und ist – super!

Vom Glück, ein Mischling zu sein

Ach ihr anderen, ihr seid halt richtig deutsche Deutsche, müsst euch für Deutschlands Vergangenheit schämen, für die angebliche deutsche Arbeitswut, dafür, dass Deutschland wieder was ist in der Welt – natürlich auf Kosten anderer –, müsst jeden Juden besonders innig lieben, selbst wenn sie oder er Scheiße baut, denn es gibt was gutzumachen – ach, ihr armen Deutschen.

Ach ihr anderen, ihr seid halt richtig jüdische Juden, müsst euch beschneiden lassen, neuerdings die Thora auswendig kennen, euch ständig für Israels Politik und womöglich für seine Existenz rechtfertigen, traut euch in den orthodoxen, erzkonservativen – politisch und religiös! – Gemeinden nicht, das Mund aufzumachen und müsst außerdem den richtig deutschen Deutschen ständig euer Anders- und Bessersein beweisen.

Ich aber, ich kann immer auf die Seite gehen, die mir gerade passt. Ich nehme mir von den richtig deutschen Deutschen – natürlich nur von denen aus meiner links-akademischen Blase – die Selbstreflexion, die politische Korrektheit, die Sensibilität gegenüber populistischen Tendenzen; von den richtigen Juden – also von denen aus meiner links-akademischen Blase – die Ambiguitätstoleranz, die Debattierlust, das Auf-tausend-Hochzeiten-Tanzen, die Arroganz gegenüber allen außer mir selbst und meinen Allernächsten, das hemmungslose Kritisieren Israels (ja, ja, natürlich nur die Kritik an seiner beschissenen chauvinistischen, rassistischen Politik, denn sein Existenzrecht anzuzweifeln, konnte ich mir vor ein paar Jahrzehnten vor mir selbst und anderen noch erlauben, jetzt definitiv nicht mehr – will ich auch gar nicht mehr). Auf beiden Seiten gibt es natürlich noch viel mehr Schuhe, die ich mir mit Begeisterung von Zeit zu Zeit an- und dann wieder ausziehe. Ich bin nämlich ein Mischling, einfach nur ein Mischling. Keine der beiden Seiten erhebt Anspruch auf mich: die richtig jüdischen Juden nicht, denn ich habe »nur« einen jüdischen Vater; die richtig deutschen Deutschen nicht, denn die meinen sowieso, ich sei eine Jüdin.

Einerseits habe ich nicht die Wahl – nach der heutigen Auffassung der deutschen jüdischen Gemeinden bin ich eindeutig keine Jüdin. Ich muss also nicht einmal überlegen, ob es für mich ein »Wir« mit diesen immer frommer werdenden jüdischen Gemeinden gibt, denn die schließen das ja a priori aus: Halachisch bin ich eine Null (was zum Nachlesen – oh je!), zählt mein 50 %iges Jüdischsein überhaupt nicht. Also muss ich mich vor keinen Gemeindemitgliedern dafür rechtfertigen, nicht jüdisch genug zu leben, Israel nicht wirklich zu lieben und mich weder mit der Bibel noch mit gelebten Traditionen auszukennen.

Und ich muss mir andererseits nicht an die Brust schlagen, zu einem Volk von Mördern zu gehören, zu einer Nation, die den Zweiten – und nicht zu vergessen auch den Ersten – Weltkrieg angezettelt hat, muss kein »Wir« mit diesen so angestrengt-fleißigen, vergangenheitsbewältigenden und -verdrängenden, beschämend erfolgreichen richtigen Deutschen haben – hab’ ich auch nicht!

Ich habe nämlich doch die Wahl: Ich suche mir die Schokoladenseite von beidem aus. Ein Mischling ist nämlich durchaus nichts Halbes. Ein Mischling ist etwas Doppeltes – ob ihr es wahrhaben wollt oder nicht. Niemand kann mir absprechen, mich – mindestens – halb jüdisch zu fühlen; niemand kann mir verwehren, gelegentlich zufrieden zu sein, zu diesen angestrengt-fleißigen, vergangenheitsbewältigenden und überaus erfolgreichen Deutschen zu gehören.

Und jetzt ein bisschen familiärer: Von meinem Vater habe ich das Glück (und die Ehre), in eine jüdisch-kommunistische Familie der Nachkriegszeit hineingeboren zu sein. Ich durfte teilhaben an der Überlebensgeschichte, durfte ein »Wir« teilen, das nicht von Schuldgefühlen belastet war – und übrigens auch nicht von Rachegedanken! –, konnte unglaublich eindrucksvolle Menschen kennenlernen, die nicht nur Verfolgung und oft auch Lager überlebt hatten, sondern nach wie vor an eine gerechtere, menschlichere Zukunft glaubten, sich dafür engagierten und die mir das Vertrauen gaben, Teil dieser Zukunft zu sein.

Von meiner Mutter habe ich die kämpferische Zuversicht einer aus der Unterschicht Aufgestiegenen erfahren; sie zeichnete die Zähigkeit und die Schlitzohrigkeit aus, deren es dafür bedurfte, die Furchtlosigkeit vor Machtpersonen und vor ungewöhnlichen Situationen, das Glück zu ergreifen, wenn es sich zeigt, offen auf Menschen zuzugehen – und sich manchmal auch von ihnen wieder zurückzuziehen –, die intellektuelle Wendigkeit – nicht Windigkeit! –, und nicht zuletzt das stolze Selbstbewusstsein, eine schöne Frau zu sein – das alles brachte meine Mutter mit und es hat mich geprägt. Wenn das kein doppeltes Glück ist!

Sekundär traumatisiert

Etliche meiner Freundinnen und Freunde sind sekundär traumatisiert. Es ist unendlich viel schwerer, wenn der Vater – oder die Großeltern – ein oder mehrere Lager überlebt hat, wenn die genozierten Großeltern, Großtanten und Großonkel eine täglich spürbare Lücke in der Familie darstellen und man als Kind mit der Last des Überlebens konfrontiert war, als wenn man wie ich einen Vater hatte, der zwar 12 Jahre Angst erlebt hatte, aber nicht gequält, gefoltert und gedemütigt wurde, nicht mitansehen musste, wie neben ihm getötet wurde, der nicht die Selbstvorwürfe des Überlebenden mit sich herumtragen musste. Dessen Frau ihn einfach lieben konnte, ohne ständig seine Verletzungen heilen zu müssen, die sich doch niemals schließen würden. Selbst diejenigen, deren Vater zwei Mal ausgewandert ist – erst nach Palästina, England, China, die USA oder sonst wohin und dann wieder zurück ins Nachhitlerdeutschland –, haben schwerer zu nagen.

Durch die doppelte Gefährdung als Jude und als Kommunist konnten mein Vater und seine Schwester Paula ein Bewusstsein ihrer selbst entwickeln, dass sie nicht nur völlig überrollte Opfer waren, sondern mindestens ebenso sehr Kämpfende. Beide waren im Widerstand – sie selbst haben das nie so bezeichnet: Sie haben sich halt in geheimen Zellen getroffen, Freunden zur Flucht verholfen, Anti-Nazi-Plakate geklebt … Aber Widerstand verstanden sie als etwas viel Größeres, dessen Teil sie nicht waren. Das durften wir Geschwister in unserer Kindheit aufsaugen: ein stolzer Vater, stolz darauf, trotz großen Leids auf der richtigen Seite gestanden und gehandelt zu haben – na ja, viel Seitenauswahl hatte er auch nicht gerade und dass seine kommunistischen Ideale im real existierenden Sozialismus mit Füßen getreten wurden, glaubte er nicht mitverantworten zu müssen. Ein intellektueller, selbstreflektierter, kreativer, sinnenfroher Jude mit einem großen Freundes- und Genossenkreis, dessen Identität ein Kontinuum darstellte. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich habe verdammt viel Glück mit diesem jüdischen Vater gehabt – und mit seiner gojischen Frau. Und dankbar bin ich ihm und seiner tollen Schwester, der geliebten Tante Paula, dafür.

Sarah erzählt

Baruch ata Adonaj Elohejnu melech ha’olam

Als ich klein war, wollte ich Hebräisch lernen. Es war die Sprache des kleinen, geheimnisvollen, silbernen und wunderschönen Buchs, das mein Vater in der Vitrine mit den Familiensachen aufbewahrte. Dort lagen auch die alten Fotoapparate seines Vaters, den ich leider nie kennengelernt hatte, und in der Schreibtischschublade daneben ein alter Schlagring. Mein Großvater verdiente seinen Lebensunterhalt als staatenloser Ausländer in Deutschland, indem er Bars für amerikanische Besatzungssoldaten betrieb. Manchmal musste er die Einnahmen des Abends auf dem Heimweg verteidigen.

Jedenfalls, dieses wunderschöne silberne Buch faszinierte mich schon früh, ich war vielleicht sechs oder sieben, und wollte unbedingt wissen, was darin stand. Ich zog also aus, Hebräisch zu lernen. Für Grundschulkinder in der hessischen Provinz waren die Möglichkeiten beschränkt – fortan machten meine kleine Schwester und ich uns jeden Donnerstag auf den Weg in die Synagoge der nächsten Mittelstadt zum Hebräischunterricht. Aleph, Beth, Gimel, Daleth, He … weiter kamen wir in den zwei Jahren nicht, in denen wir jeden Donnerstag außer in den Ferien brav, per Elterntaxi oder mit der Straßenbahn, die Anreise in die Stadt auf uns nahmen, in das Gebäude mit dem hohen Zaun, dezent daneben geparkt der Polizeiwagen. Die Gruppe war heterogen, ich eine der Ältesten, die Kleinen wollten am liebsten malen und spielen. In meiner Verzweiflung bat ich darum, mit der älteren Gruppe lernen zu dürfen, musste mich aber mit Kopfschmerzen geschlagen geben – ich konnte erst wenige Buchstaben, die besten in der älteren Gruppe lasen schon fließend, da kam ich einfach nicht mit. Später dann, nach einigen Theateraufführungen in der Gemeinde an Feiertagen, zu denen wir mit braven Röcken, weißen Blusen und gekämmten Haaren gingen, endete unser Treck in die jüdische Gemeinde wieder. Wir durften nicht mit aufs Ferienlager nach Bad Sobernheim, weil wir nicht richtig jüdisch waren. Nicht in das Ferienlager, in dem mein Vater Klöße-Wett - essen bis zur Verzweiflung des Kochs betrieben hatte, nicht in das Ferienlager, zu dem oder von dem er oder seine Schwester unerlaubt mit Freunden getrampt waren, um das je andere Geschlecht zu besuchen, nicht zu dem Ferienlager, das den Grundstein gelegt hatte für Reisen nach Israel und das Engagement bei der Makkabiade, bei der mein Vater Deutschland vertreten hatte. Das ist alles lange her und ich war noch nicht mal mit der Grundschule fertig, aber ich war so tief verletzt, dass ich mich danach von allem ferngehalten habe, was irgendwie mit Juden und Judentum zu tun hatte. Dass ich nicht jüdisch genug bin, obwohl die Hälfte meiner Familie genau das ist, hatte ich gründlich gelernt.

Geblieben ist mir aus dieser Zeit, und aus den Treffen mit den israelischen Cousins und Cousinen, die auf ihren Weltreisen nach dem Militärdienst bei uns Zwischenstopps einlegten, eine tiefe Verbindung zur hebräischen Sprache. Sie ist so tief und emotional, dass ich es mir nicht mal selbst erklären kann. Trotz der immer wieder gehörten Hinweise, dass ich ohne jüdische Mutter nicht jüdisch sei, habe ich mich im Lauf des Studiums in Iwrith-Anfängerkurse getraut und dort das Alphabet und ein paar sprachliche Grundlagen gelernt, die mir geholfen haben, im Nachhinein das zu entschlüsseln, was ich als Kind in meinem Herzen abgelegt hatte: baruch ata Adonaj Elohejnu melech ha’olam – gesegnet bist (oder seist?) Du, unser Herr, König der Welt. Oder so ähnlich.

Inzwischen habe ich Schreibschrift und Konjugation, die meisten Verben, sogar die selteneren hebräischen Buchstaben wieder vergessen. Ich kann nur noch hier und dort Worte und Satzfetzen aufschnappen. Efo Ima? Lama Ima? Or. Chaver. Bejachad. Chamudi. Weit komme ich damit nicht, und am liebsten höre ich Hebräisch oder spreche es in meinem Kopf mit mir. Dann habe ich nicht diesen fiesen deutschen Akzent, den ich beim Sprechen nicht vermeiden kann.

Und ich liebe nicht nur die Sprache, ich liebe vor allem die liturgische Sprache, das gesungene Hebräisch, es trifft mich direkt ins Herz und berührt mich auf eine Art, wie es keine andere Sprache kann.

Ich habe das unpraktischerweise durch einen Zusammenbruch auf einer Konferenz festgestellt. Eigentlich sollte es um den Umgang mit patrilinear jüdischen Menschen in der Altenpflege gehen, aber als Teil des Konferenzprogramms trug 2009 in Berlin jemand gesungenes Hebräisch vor – vielleicht ein Gebet, oder ein traditionelles Lied. Ich erinnere mich nicht, was es genau war, aber ich weiß noch, dass ich haltlos schluchzend zusammengebrochen und dann in den Keller geflüchtet bin, weil mich die Sprache, der Klang, die Erinnerungen umgeworfen haben. Fast 20 Jahre war ich dem Hebräischen ferngeblieben, hatte ein Kind mit einem katholischen Deutschen bekommen, der meine Liebe nicht verstehen konnte, lebte ein Leben, in dem für meine eigentliche Liebe kein Platz war. Für die Sprache, die sich mir immer wieder entzog, für die Gemeinde, die mich nicht haben wollte.