Vatermord - Cui bono? - Gunnar Lade - E-Book

Vatermord - Cui bono? E-Book

Gunnar Lade

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Beschreibung

Während am Ostersonntag Millionen Menschen gebannt auf die Loggia des Petersdomes in Rom starren, lässt eine offensichtlich einflussreiche Person durch einen Scharfschützen den Papst ermorden. Der Killer hinterlässt deutliche Spuren, die auf ein über 50 Jahre zurückliegendes Attentat hindeuten. Drei Männer machen sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf den Weg, diesen Mord aufzuklären, den Auftraggeber zu finden und die Wahrheit zu ergründen.

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Inhalt

Prolog

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Nachwort

Herzlichen Dank …

Gunnar Lade
Vatermord — cui bono

1. Auflage 2017 Cover: Scandals under Cover Cover Images: GraphicStock Satz: André Piotrowski Lektorat: Michael Kracht © Fehnland-Verlag, Rhauderfehnwww.fehnland-verlag.de ISBN: 978-3-947220-00-7 (Print) ISBN: 978-3-947220-01-4 (EPUB)

Prolog

London, Kensington. Eine der besseren Wohngegenden dieser Millionenstadt. Hinter der ehrwürdigen Fassade einer Stadtvilla aus der viktorianischen Zeit betrat der einzige Bewohner dieses Hauses ein kleines, abgedunkeltes Büro. Der Lichtschein aus dem Flur reichte aus, um den kleinen Schreibtisch aus Nussbaumholz vor dem Fenster gefahrlos zu erreichen. Schwere Vorhänge hielten das Licht der Straße draußen. An der Wand rechts vom Schreibtisch stand ein Vertiko, die gegenüberliegende Wand schmückte ein großes Gemälde mit einem Motiv aus der Seeschlacht von Trafalgar. Das Parkett aus geölter Eiche war so gut poliert, dass sich bei diesen widrigen Lichtverhältnissen der Schreibtisch darin spiegelte. Die Person setzte sich an den Schreibtisch und betrachtete das Designer-Notebook, das aufgeklappt darauf stand. Ein leichter Druck auf die Leertaste erweckte das Betriebssystem umgehend zum Leben und auf dem Bildschirm erschien ein mit Schnee bedeckter Leopard, der sein Gegenüber grimmig anblickte.

Der Bewohner startete den Internetbrowser und die voreingestellte Startseite baute sich binnen Sekunden auf. Es war ein Videoportal und ein bestimmter Clip wurde geladen. Ein Standbild erschien und ein großer Pfeil in Bildmitte forderte: »Play.« Der Bewohner folgte der Aufforderung und startete die Wiedergabe. Hunderte Male hatte er dies schon gemacht, immer und immer wieder. Es war die digitalisierte Version eines alten 8-mm-Filmes aus dem Jahr 1963. Abraham Zapruder stand am 22. November an der Dealey Plaza in Dallas, Texas, und konnte nicht ahnen, dass er gleich eines der spektakulärsten Attentate der amerikanischen Geschichte dokumentieren würde: den Mord an Präsident John F. Kennedy.

Der Ablauf des Attentates in dem Film war dem Bewohner fest ins Gehirn gebrannt, so oft hatte er den Film bereits gesehen: Die Wagenkolonne biegt von der Houston Street in die Elm Street ab und fährt langsam auf die Unterführung der Bahngleise zu. Warum Oswald nicht geschossen hat, als der Wagen mit Kennedy auf der Houston Street direkt auf ihn zufuhr, bleibt ein Rätsel. Jetzt fährt der Wagen von Oswald weg, leicht bergab und der Weg ist aus Oswalds Position teilweise von Bäumen verdeckt. Da fällt plötzlich der erste Schuss! Kennedy sackt, gestützt von dem Korsett, das er heimlich trägt, nur leicht nach vorne über. Seine Frau Jackie hat den Schuss offensichtlich nicht bemerkt und wendet sich verwundert ihrem Mann zu. Ein zweiter Schuss, der offenbar niemanden trifft. Sekunden später fällt der vermeintlich dritte Schuss. Blut spritzt vorne rechts aus Kennedys Kopf. Kopf und Oberkörper werden nach hinten an die Rückenlehne geschleudert. Teile der Gehirnmasse und der Schädeldecke fliegen auf den Kofferraumdeckel der offenen Limousine. Jackie wendet sich von ihrem Mann ab und versucht, nach hinten aus dem Fahrzeug zu klettern. Es scheint so, als wolle sie etwas vom Kofferraumdeckel holen. Danach robbt sie zurück auf ihren Sitz. Ein Mann vom Secret Service hat sich auf die hintere Stoßstange gestellt und das Fahrzeug fährt aus dem Sichtbereich in die Unterführung hinab. Kennedy ist vermutlich bereits tot.

Der Rest ist fragwürdige Geschichte: In der schier unglaublich kurzen Zeit von zwei Stunden ermittelte das FBI Lee Harvey Oswald als einzig infrage kommenden Täter und nahm ihn kurz darauf fest. Zu einer Gerichtsverhandlung kam es nie, denn der vermeintliche Attentäter wurde nur zwei Tage später im Polizeihauptquartier von Dallas vor laufender Kamera erschossen. Die beauftragte Untersuchungskommission, unter der Leitung des ehemaligen Richters Warren, beglückte die Welt mit einem Bericht, der einem auch heute noch die Haare zu Berge stehen lässt. Die niedergeschriebenen Erklärungen für den ersten Schuss – ›The Magic Bullet‹ – und ebenso für den dritten Schuss in Kennedys Kopf widersprechen jeder ballistischen Erfahrung. Die Bilder auf Zapruders Film zeigen ein anderes Attentat. Ein einzelner Mann hätte dies nie so bewerkstelligen können. Oswalds Täterschaft ist zweifelhaft, bis heute. Der Film war zu Ende. Das Standbild vom Anfang war wieder zu sehen, und der große Pfeil in Bildmitte lockte mit den Worten: »Play again.« Der Bewohner starrte auf das Standbild. Oder besser, er starrte hindurch, als ob er versuchte, durch den Bildschirm bis nach Dallas zu schauen, um die Wahrheit zu sehen.

»Nein, nein, nein, das kann doch nicht sein …« Die kleine knochige Faust des Bewohners schlug auf den Tisch, sodass das Notebook ein wenig hochsprang. »Jemand hat meinen Vater ermordet! Die Wahrheit muss gefunden werden. Dieser Mord muss aufgeklärt werden, koste es, was es wolle!«

Ohne weiteren Kommentar schaltete das Betriebssystem des Notebooks den Bildschirm in den Energiesparmodus.

Dunkelheit.

— 1 —

Es war ein ungewöhnlich warmer Märztag, sogar für römische Verhältnisse. Bis auf den üblichen Smog schien die Sonne von einem blauen Himmel herab.

Der Petersplatz war brechend voll und immer noch strömten Dutzende Menschen durch die streng gesicherten Eingänge. Die ersten Gläubigen waren vor Stunden gekommen, um sich gute Plätze zu sichern, und hatten geduldig die Kontrollen des Gendarmeriekorps über sich ergehen lassen: Metalldetektoren, Leibesvisitationen, Durchsuchung der Taschen. Die Sicherheit des Papstes hat oberste Priorität. Und die öffentliche Ostermesse auf dem großen Platz vor dem Petersdom stellt immer besondere Anforderungen an die Sicherheitskräfte des Vatikans.

Das Fadenkreuz eines Zielfernrohres strich langsam über die Gesichter der Offiziere des Gendarmeriekorps, die unmittelbar vor den Gläubigen standen und die Reihen der Menschen nach verdächtigen Bewegungen absuchten.

Dieses Jahr wird es kein Urbi et Orbi geben, dachte der Killer, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Für ihn war es ein ganz normaler Auftrag. Man kontaktierte ihn über sein Prepaidhandy, alle weiteren Informationen wurden über verschlüsselte E-Mails ausgetauscht. Die Hälfte der Zahlung vorab, der Rest nach dem Job.

Aber so normal war es doch nicht. Die Zielperson, der Papst, war mehr als ungewöhnlich. Doch dies störte den Schützen kaum. Die Bezahlung war gut, sehr gut sogar. Er würde sich schneller zur Ruhe setzen können, als geplant. Auch die Vorgaben des Auftraggebers waren merkwürdig. So genau, wie der Job vorbereitet worden war, und die Wünsche, wie der Killer seinen Tatort hinterlassen sollte, das war schon bemerkenswert. Da hätte der Auftraggeber es auch gleich selbst machen können.

Es wurde ernst. Auf der Benediktionsloggia erschien der Papst. Der Lauf der Waffe war auf den Stuhl gerichtet, die Zielparameter auf die Waffe übertragen. Der Mörder wartete. Der Papst setzte sich und sah auf die erwartungsvolle Menge herab.

862 Meter entfernt machte sich ein Projektil vom Kaliber 7,62 mm auf seine circa einsekündige Reise. Das Gewehr, das der Killer verwendete, war ein Meisterstück deutscher Waffenbaukunst. Der Schalldämpfer entließ nur ein dezentes »Plopp«, als das Projektil schon den Tiber überquert hatte. Nicht einmal die Tauben, die einige Meter über dem Killer ruhig auf der Dachrinne saßen, verrieten den Standort des Schützen. Sie blieben sitzen und schauten teilnahmslos hinunter auf den Fluss.

Die Kugel traf den Papst in die Stirn oberhalb des rechten Auges. Deformiert vom Aufprall, trudelte sie durch das Gehirn und trat am Hinterkopf zusammen mit Blut, Gehirnmasse und Teilen des Schädels wieder aus. Sie schlug gegen das Mauerwerk und fiel zu Boden. Der Kopf des Papstes wurde von der Wucht des Aufpralls herumgerissen, seine Hände verkrampften sich schlagartig und umklammerten die Armlehnen. Zusammen mit dem Stuhl fiel der Papst nach hinten um und schlug mit dem Kopf hart auf den Steinfußboden. Das spürte er jedoch nicht mehr, denn da war er bereits tot.

Die Gäste auf dem Petersplatz brauchten einige Sekunden um das Gesehene zu verarbeiten. Einige standen verwundert da, und konnten es nicht verstehen. Andere, die sofort begriffen hatten, was passiert war, schrien in Panik los und rannten wild durcheinander. Die Sicherheitskräfte hatten sofort jegliche Kontrolle über die Menschen auf dem Platz verloren. Es dauerte einige Zeit, bis Gendarmeriekorps und Schweizergarde Ordnung in die Menge bekamen und damit begannen, den Platz zu räumen.

Der Killer brauchte dagegen nur kurz, um den Erfolg seines Schusses zu bewerten: Job erledigt.

Er zerlegte sein Gewehr mit wenigen Handgriffen und steckte die Einzelteile in einen einfachen, schwarzen Rucksack. Die mitgebrachten Gegenstände verteilte er wie von seinem Auftraggeber gewünscht am Tatort. Er drehte seine Wendejacke um, sodass aus dem auffälligen Rot ein mattes Schwarz wurde, holte eine Baseballmütze aus dem Rucksack und setzte sie verkehrt herum auf. Ruhig verließ er die fünfte Etage des Gebäudes, ging hinunter auf die Straße, stieg auf sein Fahrrad und fuhr in Richtung Hauptstraße davon.

Es wird Stunden dauern, bis sie wissen, von wo aus ich geschossen habe, dachte er bei sich.

Er bog nach rechts ab in Richtung Stadtmitte. Der erste Polizeiwagen mit Blaulicht raste an ihm vorbei.

— 2 —

Langley, Virginia. Tief in den Kellereingeweiden des Hauptgebäudes der CIA hatte ein Agent gerade seinen Dienst in einer Abteilung begonnen, die nicht einmal innerhalb der CIA wirklich bekannt war. Hier lagen die Akten, die nie veröffentlicht werden durften. Es gab diese Akten nur in Papierform und auf Mikrofilm. Die realen Akten und die Mikrofilme standen noch tiefer in einer geschlossenen Etage. Die regulären Aufzüge hatten dort keine Haltestation, sondern fuhren immer durch. Einziger Zugang in diese speziell klimatisierte Aktenetage war ein separates Treppenhaus mit dicken Stahltüren und dreifacher Sicherung. Die Mikrofilme waren für die Recherche vorgesehen. Wenn man eine spezielle Akte einsehen wollte, gab man die Bezeichnung anhand des Inhaltsverzeichnisses in einen Computer ein. Ein Roboterarm nahm aus einer Art Hochregallager die entsprechende Platte und legte sie in ein Lesegerät. Auf dem Computerbildschirm erschien daraufhin der gewünschte Text. Durch die räumliche Trennung waren die gesamten Daten vor Zugriffen geschützt. Diebstahl unmöglich.

Das Ambiente in der Abteilung erinnerte ein wenig an die Pathologie im Krankenhaus, nicht nur weil hier die Leichen lagen. Die Wände der gesamten Abteilung waren aus Beton und mit einer Spezialfarbe gestrichen. Es gab keine Bilder oder sonstige Accessoires, die die Räumlichkeiten schmückten, sondern lediglich nüchterne Hinweisschilder. Das Licht kam aus Neonröhren, die Luft aus der Klimaanlage. Kein Arbeitsplatz, den man sich wünscht.

Das Attentat auf den Papst in Europa war jetzt gut vier Stunden her, da klingelte in einem Nebenraum der Abteilung ein Telefon, das schon viele Jahre nicht mehr geklingelt hatte. »Na, das fängt ja gut an.« Der Mann legte seine Zeitung auf den Schreibtisch und ging nach nebenan. Eine kleine Lampe zeigte an, welches der vielen Telefone im Raum diesen ganzen Tag verändern sollte. Der Agent selber hatte dieses Telefon noch nie klingeln hören. Leicht verunsichert nahm er den Hörer ab.

Ein geheimes Aufnahmesystem, das dort eigentlich nichts zu suchen hatte, sprang an und zeichnete alles Weitere auf.

Der Mitarbeiter meldete sich mit einer Bezeichnung, die auf einem kleinen Schild über dem Telefon stand: »Büro für internationale Zusammenarbeit.«

Die Person am anderen Ende der Leitung wusste genau, wo sie angerufen hatte. Sie wartete gar nicht ab, meldete sich weder mit Namen noch mit einer Kennung, sondern redete sofort aufgeregt los: »Jemand hat den Papst erschossen!«, schrie sie. Der Agent im Kellergeschoss entspannte sich etwas. »Das wissen wir schon …« Weiter kam er nicht. Die Person hatte nur kurz Luft geholt und schrie jetzt wieder ins Telefon. Der Mitarbeiter nahm den Hörer vom Ohr weg. Die ankommende Nachricht war so laut, dass man sie noch in einigen Metern Abstand gut hätte verstehen können. Dem erstaunten Agenten dröhnten die Ohren und einige Worte seines unbekannten Telefonpartners trafen ihn ins Mark: »Fünfter Stock … Mannlicher Carcano … drei Hülsen … ich melde mich wieder …« Ende.

Die Leitung war tot und es war wieder still. Das geheime Aufnahmegerät schaltete sich ab. Der Agent sah den Telefonhörer ungläubig an.

Das ergibt doch alles keinen Sinn, Lee Harvey Oswald ist lange tot und niemand außer uns kennt die Wahrheit.

— 3 —

Commissario Francesco Farina war entsetzt und erstaunt. Das wollte schon was heißen, nach 25 Dienstjahren bei der Polizia di Stato in Rom. Er klappte sein Diensthandy zu und starrte sekundenlang durch die Windschutzscheibe seines Autos ins Nichts.

Der Papst erschossen, DAS hatte ihn entsetzt. Nicht nur, dass ein Attentat auf den Papst ein abscheuliches Verbrechen war, wie der Mord an jedem anderen Menschen, nein, der Mord fand auch mitten im Vatikan, mitten in Rom, mitten in Italien statt. Für einen Italiener trotz Erfahrungen mit der Mafia eine Ungeheuerlichkeit.

Der leitende Offizier des Gendarmeriekorps des Vatikans hatte ihn um Hilfe gebeten. DAS hatte Farina einigermaßen erstaunt.

Der Vatikan war rechtlich Ausland, er selber hatte dort keine Befugnisse und mit dem Gendarmeriekorps hatte er bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht.

Farina startete den Motor seines Alfa Romeo und fuhr los. Das Attentat auf den Papst war etwa zwei Stunden her, als er sich über die Via delle Conciliazione dem Petersplatz näherte. Die aufsteigende Fassade des Petersdoms wirkte abweisend und kalt, als wollte sie den tragischen Vorfall mit Verachtung strafen. Farina parkte sein Auto auf der Piazza Pio XII und ging auf den Petersplatz zu. Es war gespenstisch, der Platz war leer, so leer, wie man ihn zu Ostern noch nie gesehen hatte.

Gott hat einen merkwürdigen Humor, dachte Commissario Farina, am Tag der Wiederauferstehung ruft er seinen obersten Hirten zu sich.

An der Grenze des Petersplatzes standen noch die Absperrungen der Veranstaltung. Die Schweizergarde, die gewöhnlich die direkten Zugänge zum Petersdom und den anderen Gebäuden bewachte, stand jetzt hier vorne und ließ keinen durch. Der Commissario war umso überraschter, dass die Gardisten ihm, ohne zu zögern, den Weg frei machten, als er auf den Hauptdurchlass zuging. Etwas verdutzt ging er weiter und sah sich dabei nach hinten um. Er erschrak, als ein Offizier des Gendarmeriekorps direkt vor ihm stand. Fast hätte er diesen umgelaufen. »Commissario Farina, Sie werden erwartet, folgen Sie mir bitte.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der Mann um und ging strammen Schrittes direkt auf den Petersdom zu. Farina hatte Mühe, Schritt zu halten.

Sie betraten den Portikus durch das Nordportal, wandten sich nach rechts. Über das Treppenhaus ging es nach oben auf die Ebene der Benediktionsloggia. Der Offizier öffnete eine Tür und wies den Commissario ohne ein Wort hinein. Die Tür schloss sich und er befand sich in dem Raum direkt hinter der Loggia. Er war nicht allein. Der Raum war spärlich beleuchtet und ebenso möbliert. Auf der anderen Seite saß der Leiter des Gendarmeriekorps auf einem Schreibtisch, ein Bein auf dem Boden, den Kopf gesenkt.

Adriano Preti war ein gebrochener Mann.

Er blickte auf, als Farina auf ihn zuging. Der Commissario blieb in gebührendem Abstand stehen und sah in leere Augen. Der Offizier war innerlich mit seinem Dienstherrn gestorben.

»Danke, dass Sie gekommen sind. Ich habe ein Problem«, sagte Preti, der langsam einen Teil seiner Fassung wiedergefunden hatte.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Farina. Preti hielt ihm seine linke Faust hin, öffnete sie und ein transparentes Plastiksäckchen fiel heraus. Preti hielt den oberen Teil zwischen Zeigefinger und Mittelfinger fest. Der Commissario erkannte es sofort: ein Beutel für die Sicherstellung von Beweismitteln an einem Tatort. Im Beutel: ein deformiertes, blutverschmiertes Projektil. Farina nahm den Beutel aus Pretis Hand, betrachtete das Projektil in dem Lichtschein, der durch die Tür der Loggia fiel, und wusste Bescheid. »Gewehrkugel, Kaliber 7,62?« Der Offizier nickte. »Ich habe das Opfer in meiner Stadt und der Täter ist in Ihrer.« Farina begriff das Problem. Sie mussten zusammenarbeiten, wenn sie erfolgreich sein wollten. Der Leiter des Gendarmeriekorps machte nicht den Eindruck, als ob er bei der Aufklärung eine große Hilfe sein würde. Der Commissario blickte nachdenklich hinaus in die Stadt. Der Leichnam des Papstes war schon fortgebracht worden, sein Stuhl lag auf der Seite und eine große Blutlache auf dem Boden der Loggia zeigte, was der Schuss angerichtet hatte. Die Sonne schien hell und die Vögel zwitscherten.

Ein Klingeln durchbrach die bedrückende Stille im Raum. Farina klappte sein Handy auf und erkannte auf dem Display seinen Assistenten als den Ruhestörer. »Was gibt’s?«, wollte er ohne die übliche Begrüßung wissen. Der Assistent hatte einigermaßen erfreuliche Neuigkeiten. »Danke, wir kommen gleich zu Ihnen«. »Wir?«, fragte der Assistent. »Staatspolizei und Gendarmeriekorps arbeiten in diesem Fall zusammen«, hatte der Commissario soeben für sich entschieden und verkündet. Der Assistent fragte nicht weiter nach.

»Meine Leute haben den Standort des Schützen gefunden – und einige merkwürdige Dinge. Wir beide fahren jetzt in meine Stadt und schauen uns das an. Auf gute Zusammenarbeit«, mit diesen Worten reichte Farina dem Leiter des Gendarmeriekorps die Hand. Preti ergriff sie wie ein gläubiger Katholik die Hand des Papstes und seine Miene hellte sich ein wenig auf. Hoffnung. Hoffnung, vielleicht doch den feigen Attentäter finden zu können. Zügig verließen die beiden Männer den Raum. Die Jagd begann.

— 4 —

Corona, New York. Unweit des Geländes der Weltausstellungen von 1939 und 1964, stand etwas abseits der großen Einkaufsstraße ein unscheinbares dreistöckiges Wohn- und Geschäftshaus. Das Erdgeschoss beherbergte einen Fahrradladen, eine skurrile Idee im Land der Automobile. Doch der Laden war ein Geheimtipp bei Insidern.

›Bikes & Parts‹ stand über der Eingangstür, und dahinter standen in unerwartet noblem Ambiente Fahrräder aus der ganzen Welt. Zusätzlich befand sich im hinteren Teil des Hauses eine gut ausgestattete Werkstatt, in der alle Umrüstungen und Reparaturen an Fahrrädern durchgeführt werden konnten.

Die mittlere Etage war bewohnt. Gardinen vor den Fenstern und ein insgesamt guter äußerer Zustand sprachen für sich. Der Besitzer des Fahrradladens bewohnte diese Wohnung. Die obere Etage schien unbewohnt. Bretter vor einigen Fenstern und teilweise kaputte Scheiben ließen keinen anderen Schluss zu.

Thomas Houston, der Besitzer des Fahrradladens, öffnete an diesem Morgen seinen Laden. Ein Mann Anfang vierzig, noch kein einziges graues Haar und einen erstaunlich gut trainierten Körper, wahrscheinlich vom Radfahren.

Er konnte von innen über ein Treppenhaus direkt aus seiner Wohnung in den Laden gelangen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Die schweren Stahlgitter vor den Fenstern fuhren per Knopfdruck automatisch hoch, das Türgitter betätigte er manuell.

Öffnungszeiten gab es bei Houston nicht. Er war, was das betraf, ein komischer Kauz. Mal öffnete er von 9 bis 18 Uhr, mal nur am Vormittag und dann wieder machte er ohne Vorankündigung drei Stunden Mittagspause. Manchmal war er auch drei Wochen am Stück weg.

»Der ist in Europa und kauft neue Fahrräder …«, erklärten sich seine treuen Fans die langen Abwesenheiten. Und Houston war Single, obwohl er sehr attraktiv war.

Er stand in der geöffneten Eingangstür und betrachtete die kleine Welt vor seinem Laden. Ein Platz mit einem Park bildete die Mitte. An schmalen Straßen links und rechts lagen Wohnhäuser, drei bis vier Etagen hoch und meistens von mehreren Familien bewohnt. Die kleine Straße, an der sein Laden lag, bildete den südlichen Abschluss des Platzes. Sein Haus stand in der Mitte, in den beiden Gebäuden links und rechts neben ihm waren keine Geschäfte mehr. In dem einem sollte bald ein italienisches Restaurant eröffnen, das andere war schon längere Zeit nicht mehr vermietet worden und sah heruntergekommen aus. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine größere Straße am Platz vorbei, die direkt zum Grand Central Parkway ging. Von dort aus waren es nur zwei Minuten bis zum Flughafen LaGuardia. Wenn der Wind aus Westen kam, konnte man die Flugzeuge beobachten, die über Flushing hinweg auf dem Landeanflug waren. Und man hatte den Eindruck, sie würden dabei die Dächer der höheren Gebäude berühren. Außerdem hörte man gut den Lärm der älteren Flugzeuge, die noch mit den lauten Triebwerken ausgestattet waren. Der Wind kam häufig aus Westen. Die gerade aufgehende Morgensonne tauchte die Häuserzeile gegenüber in ein schönes warmes Licht, wodurch die schadhaften Fassaden einen Teil ihrer Hässlichkeit verloren.

Da geht jetzt tatsächlich die Sonne auf, dachte Houston, und musste an den Tag denken, an dem sie dort eingezogen war.

Vor etwa drei Wochen öffnete er unplanmäßig erst am Mittag den Laden und das Erste, was er sah, war eine junge Frau Ende zwanzig, die einen viel zu großen Schrank aus einem Transporter zog. Typ Lara Croft, dunkle Haare, Zopf, und obwohl sie mit Turnschuhen, Jeans und T-Shirt vollständig bekleidet war, konnte er die perfekten Proportionen ihres athletischen Körpers direkt vor sich sehen.

In diesem Augenblick konnte er zwei Dinge gleichzeitig: seinen Laden wieder schließen und pausenlos zu ihr hinübersehen. Houston half ihr beim Auspacken, erfuhr, dass sie Josie Roberts hieß, und bekam auch noch einen Kaffee, der ausgezeichnet war. Obwohl Josie ein ebenso unstetes Leben zu führen schien wie Houston, gelang es ihnen doch, sich regelmäßig zum Kaffee zu treffen.

Houston zuckte zusammen. Er war zurück im Hier und Jetzt. Josie war heute nicht da. Die Gardine vor dem Schlafzimmer war zugezogen, ein untrügliches Zeichen.

Für die Frau könnte ich mein Single-Leben aufgeben, dachte Houston beim Rückweg in den Laden, doch dafür müsste ich einiges ändern.

Er erreichte gerade den Tresen auf dem eine Registrierkasse aus den Dreißigerjahren stand, als sein Telefon klingelte. Er sah auf das Display und erkannte sofort die angezeigte Rufnummer. Er nahm den Hörer ab und wusste genau, dass am anderen Ende der Leitung kein Kunde war. »Bikes & Parts, was kann ich für Sie tun?«, meldete er sich standardmäßig. »Hör auf mit dem Scheiß, Houston. Wir haben ein Problem.«

— 5 —

Houston legte den Hörer sofort wieder auf, ohne ein Wort zu sagen, und ging zur Ladentür. Er verschloss die Tür, drehte das Schild auf »Sorry, we’re closed« und verschwand in der Werkstatt. Der Anruf war kein Reparaturauftrag gewesen, sondern ein neuer Auftrag in seinem zweiten Leben, obwohl Houston sich nicht mehr so sicher war, welches von beiden sein richtiges Leben war. In der Werkstatt stellte er sich vor einen Werkzeugschrank mit einer zweiflügeligen Tür, griff nach den beiden Türdrückern und drehte diese gegen jede Logik gleichzeitig nach oben. In den Türen gab es ein kurzes Klicken, beide schwenkten zusammen mit der jeweiligen Schrankhälfte nach außen und gaben den Weg in einen verborgenen Aufzug frei. Houston ging hinein und drückte auf den Knopf mit der Nummer 2. Lautlos und zügig fuhr die Kabine nach oben, wobei sich die Schranktüren in der Werkstatt automatisch wieder schlossen. Nach wenigen Sekunden war die obere Haltestelle erreicht. Die Rückwand der Kabine schwenkte zur Seite.

Der Raum war quadratisch und hatte keine Fenster. Stattdessen hingen an den weißen Wänden große Fotos mit traumhaften Stränden aus der ganzen Welt. An der Wand gegenüber dem Aufzug stand ein breiter Schreibtisch mit allerlei Hightech-Geräten. Links und rechts vom Schreibtisch war je eine Tür, ebenso in den beiden seitlichen Wänden. Der Schreibtisch war die Zentrale. Von hier aus hatte man Zugriff auf die Alarmanlage sowie auf das Überwachungssystem mit Kameras innerhalb und außerhalb des Hauses. Weiterhin gab es Internet, zwei Faxgeräte und mobile und kabelgebundene Telefone, die alle abhörsicher waren, ebenso wie der ganze Raum. Dafür war in den Wänden, dem Fußboden, der Decke und sogar in den Türen ein dichtes Geflecht aus Kupferdraht verlegt. Von außen konnte hier keiner rein, wie auch immer. Die vier Räume, die den Innenraum umgaben, dienten als zusätzlicher Schutz. Die zweite Etage war eigentlich eine Wohnung in einer Wohnung. Nur dass die Räume nicht zu Wohnzwecken dienten. Houston war ein spezieller Mitarbeiter der CIA. Sein Job bestand darin, anderen Agenten in Not zu helfen, missglückte Einsätze zu retten, undichte Stellen zu finden oder Spuren von Aktivitäten zu beseitigen. Er beseitigte dabei nicht nur Spuren oder Beweismaterial, manchmal beseitigte er auch den ganzen Tatort oder gleich Täter und Opfer mit. Er wurde immer dann eingesetzt, wenn nichts mehr ging, um zu verhindern, was eigentlich nicht mehr zu verhindern war.

Er setzte sich, nahm eines der schnurlosen Telefone vom Tisch, wählte eine Nummer in Langley und wartete. Er wusste, es würde ein paar Sekunden dauern, bis die Verschlüsselung stand und der Anruf endgültig durchgestellt wurde. Langsam dreht er sich auf seinem Bürostuhl um die eigene Achse und sah dabei auf die Türen, die in die anderen Räume führten. Als er einmal herum war, klickte es im Hörer, die Verbindung stand.

»Na, ist dein Aufzug langsamer geworden oder hast du dein Handy nicht gefunden?«

Harold Wood hatte wenig Ahnung von Technik, obwohl er der Vorgesetzte von Houston bei der CIA war.

Der überhörte die Stichelei, Wood hatte eben einen seltsamen Humor. »Was ist los, Harold, hat einer eurer verrückten Spezialagenten den Papst erschossen, um Krieg gegen den Vatikan zu führen?«

Auf der anderen Seite blieb es still, zu lange still. Houston merkte sofort, dass er etwas Falsches gesagt hatte, obwohl Wood noch schwieg. Aber genau das war es. Diese wenigen Sekunden, die Wood brauchte, um zu antworten. Und an der Antwort erkannte Houston, wie recht er hatte.

»Woher weißt du, dass es um das Papstattentat geht?«

Jetzt stockte Houston. Der Ton von Wood war anders als sonst. So hatte er ihn in all den Jahren noch nie fragen hören. Es war bedrohlich, unheilvoll.

»Hey, Harold, ich habe Radio, Fernsehen und eine Direktleitung nach Langley. Das Attentat war heute mein Frühstücksbegleiter. Und die Verbindung mit deinem Anruf war geraten.«

»Okay, ich stehe hier etwas unter Druck, Houston. Entschuldige. Es hat tatsächlich mit dem Attentat zu tun. Besser gesagt mit den Begleitumständen. Es scheint so, als habe jemand Informationen aus der Pathologie gestohlen.«

»Woher?« Houston war verwirrt. Von der Pathologie innerhalb der CIA hatte er noch nie gehört.

»Das ist so eine merkwürdige Abteilung hier im Haus. Die Mitarbeiter sind alle besondere Geheimniskrämer, noch viel schlimmer als wir, wie eine CIA innerhalb der CIA. Und die sitzen ganz unten im Keller, daher Pathologie.«

»Und wer hat dort was gestohlen?«

»Genau das ist deine Aufgabe. Wir wissen es nicht. In Rom sind Informationen aufgetaucht, die nur von hier stammen können. Und keiner weiß, wie Sie dort hingekommen sind. Ein Mitarbeiter von uns hat uns kurz nach dem Attentat angerufen und von dem Schlamassel erzählt. Obwohl ich nicht genau weiß, welche Informationen dies sind und warum sie so brisant sind, ist es so, als habe hier jemand in ein Wespennest gestochen. Wir haben von ganz oben den Auftrag herauszufinden, was genau passiert ist. Besser gesagt, du hast den Auftrag.«

Houston kannte Wood schon sehr lange und Wood hatte ihn eben angelogen. Dass er nichts über die angeblich gestohlenen Informationen wusste, war gelogen, da war sich Houston sicher, aber er fragte nicht nach.

»Und wie soll ich das machen, den Papst kann ich ja nicht mehr fragen.«

»In deinem Schließfach in LaGuardia liegt jetzt ein Umschlag mit allem, was wir wissen. Außerdem ein Flugticket nach Rom. Es kann nur ein Verräter sein, einer unserer eigenen Männer. Doch diese Möglichkeit ist schwer nachvollziehbar, da die Pathologie gesichert ist wie kein zweiter Bereich auf diesem Planeten, mal abgesehen von der Rezeptur von Coca-Cola. Du kannst also keinem trauen. Und wenn du tatsächlich etwas herausfindest, stehst du vielleicht auch schnell in der Schusslinie. Also, viel Glück!«

»Danke, da ist es wohl besser, ich bin diesmal erfolglos, oder?« Es kam keine Antwort mehr, Wood hatte bereits aufgelegt, das Gespräch war beendet. Du kannst keinem trauen … Die Worte von Wood sausten durch seinen Kopf. Was, zum Teufel, verheimlicht er mir?

Der Fahrradladen würde etwas länger geschlossen bleiben, das war ihm klar. Wann er wohl Josie wiedersehen würde? Jetzt hieß es erst einmal packen. Er sprang aus dem Stuhl und ging zu der Tür rechts vom Schreibtisch. Der Raum hinter dieser Tür war relativ klein. Er hatte einen gefliesten Fußboden und an den Wänden standen Regale und Schränke, die bis zur Decke reichten. In ihnen waren ausschließlich Aktenordner. Aber das war alles lediglich Show. Es sollte den Blick ablenken von den wichtigen Inhalten. In zehn Ordnern, die alle einzeln in unterschiedlichen Schränken und Regalen standen, waren seine kleinen Schätze: Urkunden, Dokumente, Pässe, Ausweise. Die besten Druckmaschinen der Welt kamen aus Heidelberg. Und solche Maschinen hatten die ganzen falschen Identitäten auf Spezialpapier gedruckt. Die Fälschungen, die hier versteckt lagen, waren von Originalen nicht zu unterscheiden. Keiner wusste, was hier lag, und das war auch besser so.

Mit einem Diplomatenpass und Geld würde er problemlos nach Rom kommen. Alles Weitere würde sich finden.

Im nächsten Raum lagerten seine Waffen. Pistolen und Gewehre für verschiedene Einsatzzwecke hingen an der Wand. Außerdem beherbergte dieser Raum noch weitere perfide Dinge, die sich Menschen erdacht hatten, um andere Menschen zu töten. Rauchen kann tödlich sein, stand auf der als Zigarettenschachtel getarnten Handgranate, die er neben anderem achtlos in eine Tasche warf. Eine Walther P99 und Munition vervollständigten die Ausrüstung. Jetzt fehlte nur noch Bekleidung und die war im dritten Raum gelagert. Pinnacle Armor residierte in Fresno und hatte viele unauffällige Kleidungsstücke im Sortiment, die alle kugelsicher waren. Aber natürlich waren in seinen Kleiderschränken auch normale Sachen, wer braucht schon kugelsichere Socken?!

Seitdem das merkwürdige Gespräch mit Woody beendet war, waren 30 Minuten vergangen. Houston hatte gepackt. Eine robuste Reisetasche und ein ebensolcher Rucksack waren das Ergebnis.

Er verließ das Haus durch den Hinterausgang, nicht ohne es vorher zu sichern, wie er es immer tat, wenn er in Europa neue Fahrräder kaufte. L.I.S.A. hatte jetzt das Kommando im Haus. Ein sehr spezielles Überwachungsprogramm, das Houston von einem sehr speziellen Freund bei der CIA hatte.

Er hieß Scott Miller, aber Houston nannte ihn nur Scotty, weil er für die gesamte Haustechnik im Hauptgebäude in Langley verantwortlich war und so ziemlich alles wieder in Fahrt brachte, was man ihm hinschmiss. Aber Scotty war eben viel mehr als nur ein besserer Hausmeister. Er war ein genialer Programmierer und ein exzellenter Hacker. Der Job in der Haustechnik brachte Geld, forderte ihn kaum und ließ ihm viel Freiraum für verrückte Dinge, wie eben L.I.S.A. Keine normale Alarmanlage! L.I.S.A. konnte das Haus aktiv gegen Eindringlinge verteidigen, Bereiche sperren oder freigeben, Einbrecher erschrecken, in die Irre leiten, betäuben oder auch einsperren. Das Alarmieren der Polizei und die Info-SMS an Houston waren nur nette Zugaben.

Houston stieg in seinen schwarzen 2005er Mustang GT und sie brabbelten in Richtung LaGuardia davon.

Ein kostenloser Dauerparkplatz in der Tiefgarage des Flugplatzes war schon was Tolles. Von hier aus war es nur ein kurzes Stück hinauf in das Hauptterminal mit den Schließfächern. Er ging zu seinem Schließfach, öffnete es nur kurz, nahm den Umschlag heraus, verschloss es sofort wieder und ging zur großen Anzeigetafel. Ein Blick auf das Ticket, ein Blick auf die Tafel: Alles passte. Noch eine Stunde bis zum Abflug direkt nach Rom. Woodys Planung war, wie immer, perfekt. Er suchte sich ein ruhiges Plätzchen in der Nähe von seinem Gate und begann die Informationen zu lesen, die Woody ihm geschickt hatte. Viel war es nicht, aber es würde reichen. Sein Flug wurde aufgerufen und er machte sich auf den Weg.

Plötzlich hatte er das unbestimmte Gefühl, jemand würde ihm folgen. Es war in seinem Job immer eine Gratwanderung zwischen gesunder Skepsis und krankhafter Paranoia. Das hatte er lernen müssen. Aber heute war er sich ganz sicher. Er hatte bisher erst einmal die Erfahrung gemacht, der Gejagte zu sein und nicht der Jäger, und das endete in der Wüste von New Mexico mit einem heftigen Knall. Aber dass es diesmal womöglich gleich so losging, erschreckte ihn dann doch.

Der vermeintliche Schatten gab sich keine Blöße und Houston ließ sich nichts anmerken. Er stieg in das Flugzeug, first class, und wusste, dass es frühestens in Rom eine Bestätigung für ein Bauchgefühl geben würde.

Houstons Bauchgefühl war richtig, was er aber nicht wusste, war, dass er auf diesem Flug von zwei Personen verfolgt wurde.

— 6 —

Farina peitschte seinen Alfa über die Straße, die entlang des Tiber flussabwärts führte. Der vermeintliche Tatort lag genau gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses. Durch die vorherrschende Einbahnstraßenregelung musste Farina jedoch einen Umweg fahren, um dorthin zu gelangen.

Preti hielt sich die ganze Fahrt über am Türgriff fest und sagte kein Wort. An der ersten Möglichkeit überquerten sie den Tiber, fuhren aber nicht direkt am Fluss zurück, sondern benutzten die Straße, die hinter den Häusern entlangführte. Das betreffende Haus war leicht zu erkennen, ein halbes Dutzend Polizeifahrzeuge standen davor, die Straße war komplett gesperrt. Der Transporter der Forensik war auch schon vor Ort. Die ersten Reporter und Schaulustigen bauten sich außerhalb der Absperrung auf und gafften auf die Häuserfront gegenüber, an der rein gar nichts zu sehen war. Farina fuhr so dicht wie möglich an das Haus heran. Sein Assistent hatte einen Platz frei gehalten. Farina hielt ihn für einen Schleimer, aber seine Arbeit machte er gut. Luca Toscano war immer pünktlich, höflich und unheimlich auf korrekte Kleidung bedacht. Manchmal passte es Farina nicht, dass Toscano in bestimmten Situationen widersprach, manchmal nahm er eine offensichtliche Provokation wortlos hin. Und manchmal hatte Farina den Eindruck, Toscano wusste mehr, als er sagte.

Farina und Preti gingen direkt in das Haus, gefolgt vom Assistenten, der ihnen den Weg wies. »Wir müssen ganz nach oben, fünfter Stock und es gibt keinen Aufzug.« »Sagen Sie mal, Toscano, wie haben Sie dieses Haus so schnell gefunden?«, wollte der Commissario wissen. Sie erreichten gerade den zweiten Stock. »Ein Kollege, der freihatte, war als Gast auf dem Petersplatz. Er hat das Attentat selber miterlebt, uns alarmiert und konnte einen sehr guten Hinweis auf die mögliche Schussrichtung geben. Ein herbeigerufener Polizeihubschrauber hat in der angegebenen Richtung gesucht und nur drei Häuser gefunden, die passen könnten. Der Rest war dann ganz leicht.« Schnaufend erreichte Toscano den vierten Stock. »Mein Name ist Preti.« Der Leiter des Gendarmeriekorps hatte seine Sprache wiedergefunden. »Ich bin der …« »Chef der Polizei des Vatikans«, beendete Toscano den Satz des Offiziers. »Ich kenne Sie.« Preti war etwas erstaunt, er schnaufte nicht so sehr wie die beiden anderen und hatte offenbar noch genügend Konzentration übrig, um ein gewisses Misstrauen zu überspielen. »Sagen Sie, Toscano«, setzte er erneut an, als sie fast den obersten Stock erreicht hatten, »haben Sie draußen vor dem Haus Spuren oder Hinweise gefunden?« Sie waren alle im fünften Stock angekommen und Toscano und Farina hatten einen roten Kopf. »Nein, nichts«, log Toscano und Preti merkte es. Nicht alle Wohnungen im Haus waren bewohnt und diese hier oben stand wohl schon länger leer. Trotzdem gab es erstaunlich wenig Staub und die noch arbeitenden Forensiker taten sich schwer damit, verwertbare Hinweise zu finden. »Nun meine Herren, was haben Sie für mich?«, wollte Farina wissen, nachdem er sich etwas erholt hatte. »Viel und nichts!«, lautete die unbefriedigende Antwort des älteren Spezialisten. »Wirklich weiterführende Spuren sind hier nicht zu finden, als ob jemand mit viel Sinn fürs Detail alles Belastende buchstäblich weggewischt hat. Allerdings hat dieser Jemand auch Sinn für Humor, denn er hat uns eindeutige Beweisstücke hinterlassen, die nichts mit dem tatsächlichen Attentat zu tun haben.« »Was meinen Sie damit?«, wollte Farina wissen, dessen Gehirn jetzt wieder genug Sauerstoff erhielt, um auf Hochtouren zu laufen. »Nun, Commissario, dort drüben am Fenster hat man uns eine Mannlicher Carcano und drei leere Patronenhülsen hinterlassen. Der Fundort ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Tatort, aber ganz sicher hat der Täter nicht mit der Carcano geschossen. Weder die Waffe noch die Hülsen verströmen den Geruch von frischem Schießpulver, so viel kann man auch ohne eingehende Untersuchung sagen. Wir werden im Labor bestimmt feststellen, dass die Waffe, wenn überhaupt, schon sehr lange nicht mehr benutzt worden ist. Diese Beweise sind ein schlecht gemachtes Täuschungsmanöver oder die reine Verarsche. Lee Harvey Oswald war mit Sicherheit nicht hier!« Farina und Preti, die sich beide während der Ausführung des Spurenermittlers in der Wohnung umgesehen hatten, drehten sich fast gleichzeitig um und hatten, wie Toscano amüsiert feststellte, den gleichen verdutzten Gesichtsausdruck. Preti war als Erster wieder in der Lage, etwas zu sagen. »Wollen Sie damit andeuten, hier hat jemand das Attentat auf Kennedy nachgestellt und dabei den Heiligen Vater erschossen?« »Das klingt, so wie Sie es sagen, total verrückt, aber so ist es wohl gewesen. Mehr kann ich erst sagen, wenn wir unsere Ermittlungen hier und später im Labor abgeschlossen haben. Eine Bestätigung würde auch eine Autopsie des Leichnams bringen. Wäre das möglich?« Die Frage traf Preti ins Herz. Den Tod seines Dienstherrn hatte er schon ein wenig verdrängt, aber das Unausweichliche war nicht aufzuhalten. Wenn er wirklich Ernst machen und mit der römischen Polizei zusammenarbeiten wollte, musste er dafür sorgen, dass der Papst obduziert werden konnte. Ein Vorgang, den es in der langen Zeit der Päpste noch nie gegeben hatte und der auch nicht vorgesehen war. Ein Sakrileg.

»Das müssen andere entscheiden«, sagte Preti. Und insgeheim hoffte er, dass es gelänge, den Täter zu finden, bevor er eine solche Entscheidung herbeiführen müsste. »Das Einzige, was ich ihnen jetzt geben kann, ist das hier«, sagte Preti und reichte dem Forensiker die Tüte mit dem deformierten Projektil. Der Forensiker reichte die Tüte wortlos an einen seiner Kollegen weiter. Der beklebte die Tüte umgehend mit einem weißen Aufkleber, schrieb die Nummer 15 darauf und fotografierte die auf dem Tisch liegende Tüte, um anschließend einen Eintrag in seiner Beweisliste zu machen. Farina war jetzt auf Drehzahl gekommen »Sagen Sie, Toscano, hier spaziert jemand mit zwei Gewehren ins Haus, macht es sich in dieser Wohnung gemütlich, erschießt von hier aus den Papst, spielt ein wenig ›Fang den Killer‹ mit uns und verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen und ohne dass auch nur ein einziger Zeuge etwas gehört oder gesehen hat?« »Ja, das hat mich auch irritiert«, sagte Toscano eingeschüchtert und wirkte wie Junge, den man beim Ladendiebstahl erwischt hatte. Farina war fassungslos. Er verließ die Wohnung. Hier oben gab es nichts mehr zu finden. Er rannte die Treppen herunter, dicht gefolgt von Preti und Toscano. Er kam unten an und hatte die beiden abgehängt. Er rannte auf die Straße und sah sich in beide Richtungen um. »Scheiße, Scheiße, Scheiße …!«, er drehte sich im Kreis wie Rumpelstilzchen und rang nach Fassung. Als Toscano an der Eingangstür erschien, wies er ihn an, alle Bewohner des Hauses und der Nachbarhäuser, auch der gegenüber, zu befragen. Toscano wusste, dass es keinen Sinn hatte zu widersprechen und begann sofort damit, alles Notwendige zu veranlassen. Preti kam zu Farina und sah ihn fragend an. »Nun sind wir erst am Anfang, Preti, und schon in der Sackgasse.« Beiden Männern war klar, dass die Befragung der Nachbarn nur wenig Aussicht auf Erfolg haben würde. Ein Glückstreffer vielleicht, mehr nicht. In dieser Straße gab es keine Kameras. Der Attentäter konnte auf verschiedene Arten und Weisen gekommen und verschwunden sein. Er hätte sich schon Stunden oder Tage vorher hineinschleichen können. Er hätte verschiedene Verkehrsmittel benutzen und in alle Richtungen verschwinden können. Der Attentäter war weg. Die Jagd, die Farina so erwartungsvoll begonnen hatte, schien zu Ende zu sein, noch bevor sie richtig losging. Aber Preti hatte ein komisches Bauchgefühl. Toscano war ihm nicht geheuer. Dies war, so absurd es klang, sein einziger Strohhalm und er war gewillt, daran zu ziehen.

— 7 —

Houston saß im Flugzeug. Eine Boeing 777 von Delta Airlines. 14 000 km weit sollte sie fliegen können. So jedenfalls stand es im Werbeflyer, den Houston während der Sicherheitsinfos in der vorderen Sitztasche fand.

So weit willst du heute ja gar nicht, dachte er bei sich, du sollst nur bis nach Rom kommen, das reicht dir schon.

Direkt nach dem Start flog die Maschine niedrig über Manhattan und drehte dabei auf Nordostkurs, Richtung Atlantik. Zuvor aber, kurz nach dem Start in LaGuardia, hatte Houston eine E-Mail über sein Smartphone abgesetzt und wartete gespannt auf die Antwort. Scotty war sehr amüsiert über den Inhalt der Mail, die Houston ihm gerade geschickt hatte. »Ich habe vergessen, die Katze zu füttern, kümmere Dich bitte darum, Gruß Thomas.« Angehängt war ein kleines Bild einer Katze. Scotty beachtete den belanglosen Text nicht weiter, sondern öffnete die angehängte Bilddatei mit einem von ihm entwickelten Programm. Dieses kleine Programm extrahierte aus den Bits und Bytes des Katzenfotos einen verschlüsselten Text, und wandelte ihn sofort in Klarschrift um. Das Lachen verging Scotty schlagartig, als er sich wieder seinem Bildschirm zuwandte, nachdem ein leises ›Bing‹ das erfolgreiche Ende der Dechiffrierung vermeldete und der kurze Klartext auf dem Bildschirm stand:

>>ich werde verfolgt; >>außer mir weiß nur langley, wo ich bin; >>finde heraus, woher der schatten kommt;

Scotty brauchte nur Sekunden, um seine Fassung wiederzufinden. Sofort machte er sich ans Werk.

Die Passagiere auf der linken Seite hatten einen mehr oder weniger schönen Blick auf die Lücke nahe der Inselspitze, wo einst das World Trade Center stand. Houston saß rechts am Gang. Am Fenster saß eine ältere Dame. Das Flugzeug war nicht ganz voll, das Wetter sollte gut bleiben und es hätte ein entspannter Trip werden können. Eigentlich. Denn jemand war ihm auf den Fersen.

Sie hatten ihre Flughöhe erreicht, näherten sich Neufundland und Houston begann, die Unterlagen zu lesen, die Woody ihm zusammengestellt hatte.

Neben einigen Pässen und verschiedenen Dienstausweisen fand Houston eine Mappe. Er blätterte durch die wenigen Seiten. Die Informationen waren dünn und wenig spektakulär. Jemand hatte den Papst erschossen. Von vorne. Besser gesagt, von vorne rechts, aus Sicht des Opfers. Der Täter hatte ein Gewehr und leere Patronenhülsen hinterlassen.

Woher wissen die das denn schon wieder?

Der direkte Hinweis auf das Kennedy-Attentat war unverkennbar. Der tödliche Schuss kam von vorne. Das war die direkte Anklage dieser ganzen Installation.

Okay, der Anschlag auf Kennedy ist immer noch rätselhaft und alles andere als zweifelsfrei aufgeklärt. Was soll denn damit erreicht werden?

Houston sah noch keinen Sinn in der ganzen Sache. Zwei Seiten mit Serienfotos erweckten seine vollständige Aufmerksamkeit. Die eine zeigte eine Bildfolge des berühmten Zapruder-Films. Die letzten Sekunden, der Treffer in den Kopf von Kennedy, das Blut, die davonfliegenden Teile der Schädeldecke. Auf dem zweiten Blatt, aus anderer Perspektive, der tödliche Schuss auf den Papst. Und die Ähnlichkeit! Obwohl der Kameramann auf dem Petersplatz, anders als Zapruder, auf der linken Seite stand, waren die Aufnahmen doch verblüffend gleich. Das ergab jetzt langsam einen Sinn. Der Anschlag auf den Papst, die »Beweisstücke«, die die Verbindung zu Kennedy herstellten, unmöglich, dies alles zu vertuschen. Die unterschwellige »Anklage«, dass Kennedy nicht von hinten erschossen worden war, würde durch die italienische und kurze Zeit später durch die Weltpresse rauschen. Spektakulärer konnte man den Fokus der Weltöffentlichkeit nicht auf einen bestimmten Vorfall richten. Aber was hatte die CIA damit zu tun,und was für Informationen waren angeblich verschwunden? Houston konnte es sich nicht erklären. Es wäre ihm fast unmöglich gewesen, einen vernünftigen Ansatz zu finden, wenn nach den Seiten mit den Bilderserien nicht noch ein einzelnes Blatt gewesen wäre. Hier stand auf Briefpapier unter dem offiziellen Logo der CIA ein kurzer Text, der vieles erklärte. »Die CIA verfügt über gesicherte Hinweise, die den Ablauf des Attentates auf John F. Kennedy anders darstellen, als ihn das amerikanische Volk und die Weltöffentlichkeit kennen. Diese Informationen, oder zumindest Teile davon, sind wahrscheinlich und auf unerklärliche Weise Dritten zugänglich gemacht geworden. Es besteht die Gefahr, dass die Person(en), die diese Informationen besitzen, versuchen, sie auf erpresserische Weise gegen den amerikanischen Staat einzusetzen. Dies stellt eine direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit dar und muss mit allen Mitteln unterbunden werden.«

Unterzeichnet war dieses Dokument von einem Abteilungsleiter namens ›H. Bishop‹, der die Abteilung 8 leitete, was immer das auch war.

An diesem Blatt Papier war ein kleiner Zettel angeheftet. Er enthielt den Hinweis auf die zuständige Polizeibehörde in Rom, die den Anschlag auf den Papst bearbeitete, und sogar den Namen des leitenden Beamten: Farina.