Vati - Monika Helfer - E-Book

Vati E-Book

Monika Helfer

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Beschreibung

Monika Helfer schreibt fort, was sie mit ihrem Bestseller „Die Bagage“ begonnen hat: ihre eigene Familiengeschichte. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021

Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. „Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.“

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Über das Buch

Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. »Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.«

Monika Helfer

Vati

Roman

Carl Hanser Verlag

für meine Bagage

Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen wäre. Untertags und auch nachts denk ich an ihn, wie er da in seinem Lehnstuhl sitzt unter der Stehlampe, rundum die eigenen Kinder und fremde, zum Beispiel die vom Erdgeschoss. Ihr Ball rollt um seine Füße, unter den Stuhl, ihn schreckt es nicht. Er liest.

Auf der Fotografie, die ich über meinen Schreibtisch an die Wand geheftet habe, steht er links, abseits. Er sieht aus, als gehöre er nicht dazu. Auf allen anderen Bildern, die mir meine Stiefmutter gezeigt hat, steht unser Vater mitten unter den Leuten, unsere richtige Mutter an seiner Seite, so gehörte es sich, er war der Verwalter des Kriegsopfererholungsheims auf der Tschengla, 1220 Meter über dem Meer, der Gastgeber, auf den meisten Bildern lächelt er. Auf dem Bild über meinem Schreibtisch nicht. Meine Schwester Gretel und ich stehen vorne bei unserer Mutter, sie hat ihre Hände auf unsere Schultern gelegt. Niemand würde vermuten, der links auf der Seite ist unser Vater. Er sieht aus wie ein Städter, der dazugetreten ist. Zu dem einer gesagt hat: Komm, stell dich mit her! Von den anderen sind einige tatsächlich Städter, wahrscheinlich sogar die meisten, aber sie haben sich angezogen, als wären sie von hier, Janker mit Hornknöpfen, derbe hohe Schuhe, obwohl Sommer ist. Sicher wären sie gern von hier gewesen. Hier nämlich war das Paradies. Die Wiesen, die voll sind mit den buntesten Blumen. Ich kannte sie alle.

In den neunziger Jahren, da hatte ich selbst schon vier Kinder, war ich zusammen mit ihm zu meiner Schwester Renate nach Berlin gefahren. Er wollte das. Ich nicht. Ich fürchtete mich vor Peinlichem. Ich fürchtete mich davor, er würde irgendwelche Rätsel auflösen, würde mir von sich selbst erzählen, alles wäre mir peinlich gewesen, die harmlosesten Geschichten. Wenn man einen Menschen ein Leben lang kennt, und erst spät erfährt man, wer er im Grunde ist, dann kann man das vielleicht schwer ertragen. Es war schon Mitternacht, als wir ankamen, die Züge hatten fast zweieinhalb Stunden Verspätung gehabt, der Speisewagen war ausgefallen, wir waren erledigt und hungrig. Renate hatte nichts eingekauft, weil sie damit rechnete, dass wir fein essen gehen. Nun hatten die meisten Restaurants in der Umgebung schon zu, bis auf eines vis-à-vis, ein Schwulenlokal, dort könne man sehr gut essen und es werde auch keine laute Musik gespielt, das konnte unser Vater nämlich gar nicht leiden. Wir bestellten Sauerkraut und von dem Fleisch, das weich war und ein wenig grau aussah, und da winkte er den Kellner zu sich und fragte: »Wo geht es hier für kleine Mädchen?« Schallendes Gelächter im Lokal. Das hat ihm gefallen. Als er von der Toilette zurückkam, mit gebeugtem Rücken, humpelnd, setzte er sich zu den Männern mit der Schminke im Gesicht und den ausgeschnittenen Unterhemden und den trainierten, tätowierten Oberarmen, und sie haben ihm Schnäpse bezahlt und ihn hochleben lassen, er war der Kleinste unter ihnen, ein Grauer unter bunten Vögeln. Sie lachten, und er lachte mit. Sie lachten ihn nicht aus, sie wollten einfach nur lachen, und auch er wollte einfach nur lachen nach diesem anstrengenden Tag. Um meine Schwester und mich kümmerte er sich nicht mehr. Wir hörten ihn reden in einem Ton, den wir an ihm nicht kannten, laut und deutlich, sonst murmelte er so vor sich hin, oft musste man nachfragen. Einer von den Männern kam an unseren Tisch und sagte: »Setzt euch doch zu uns. Euer Vater ist ein Guter, ein wirklich Guter, wir mögen ihn gern.« Ich habe mir das wörtlich gemerkt und Renate auch. Damit meinte er — so später unsere Interpretation —, unser Vater, der so grau aussah, eben wie ein Beamter, der er ja auch war, obendrein ein Finanzbeamter, unser Vater sei ein bunter Mann in Wahrheit. Wenn Renate und ich uns daran erinnern, müssen wir sehr lachen — und laut, wie er gelacht hat. Mein Mann sagt dann, jetzt lacht ihr wieder so, weil ihr euch euren Vater vorstellt, wie er in Berlin war. Ich sage: »Da hast du recht.«

Die Fotografie über meinem Schreibtisch habe ich von meiner Stiefmutter. Ich besuchte sie, da war unser Vater zehn Jahre schon tot und sie selbst über achtzig.

Ich sagte: »Hast du Zeit für mich?«

»Wie lang?«, fragte sie.

»Lang.«

»Es geht also um deinen Vater«, sagte sie. »Hab ich recht?«

»Ich möchte einen Roman über ihn schreiben.«

»Wahr oder erfunden?«

Ich sagte: »Beides, aber mehr wahr als erfunden. Wenn du etwas hättest?«

Sie: »Wart damit, bis ich tot bin. Dann muss ich mich nicht ärgern.«

Sie ging einen Stock höher und kam wieder mit einem großen Kuvert, darin waren etwa zehn Fotografien, jede auf Schulheftformat vergrößert. Sie schob ihren Aschenbecher und die Maggiflasche beiseite und legte die Bilder auf dem Küchentisch aus. Auf allen waren auch meine ältere Schwester Gretel und ich zu sehen.

»Die sind vom Erwin Thurnher«, sagte sie. »Er hat sie mir irgendwann zugeschickt.«

»Wer ist das?«, fragte ich.

»Den musst du doch kennen! Der Fotograf, der euch auf der Tschengla fotografiert hat. Nach jedem Turnus.«

Ich erinnerte mich an den Mann. Ein Geschäftiger. Es war jedes Mal aufregend gewesen, wenn er das Stativ aufbaute und seine Anweisungen gab.

»Was ist mit diesem Foto?«, fragte ich. »Das hier. Warum steht der Vati nicht bei uns?«

»Du musst es wissen«, sagte sie. »Ich war ja nicht dabei. Ich habe ihn damals noch gar nicht gekannt. Schau ihn an! Was denkt er in diesem Augenblick? Dass er vielleicht doch noch studieren wird? Oder doch nicht? Dass vielleicht doch noch etwas aus ihm wird? Oder dass nichts mehr aus ihm werden kann, nie? Oder dass vielleicht doch noch alles gut wird? Oder doch nicht? Dass alles davon ist, von dem er geträumt hat? Dass alles aus ist? Diesmal endgültig? Dass er euch ins Loch stoßen wird, seine Frau und seine Kinder? Dass er selber ins Loch kommt? Alles aus, vorbei? Dass er nicht mehr leben will? Weil er nicht dabei sein will, wenn es aus und vorbei ist auch mit euch …«

»Hör auf!«, rief ich. »Man kann nicht auf einem Foto sehen, was einer denkt!«

»Wenn man weiß, was einer denkt, kann man es sehen in seinem Gesicht«, sagte sie.

»Bei ihm nicht«, sagte ich. »Bei ihm hat nie einer etwas in seinem Gesicht sehen können.«

Er war kleiner gewesen als die anderen Buben, und keiner von den anderen Buben hat je gewusst, wie er mit ihm dran ist, und das war der Grund, warum sie ihn nicht haben mitspielen lassen. Die anderen waren auch klein, kleiner als die Lümmel aus der Stadt, aber doch größer als er waren sie und bulliger. Er war zart. Und weißhäutig. Keine roten Flecken auf den Backen. Überhaupt keine Flecken im Gesicht. Ein bisschen geschlitzte Augen. Und schwarzes Haar. Reine weiße Haut. Wie ein Mädchen. Ausgelacht hat ihn niemand. Schon als Kind war mein Vater eine Respektsperson gewesen. Ich vermute, das lag daran, weil er immer ruhig sprach. Wer ruhig spricht, dem unterstellt man, er sehe keine Veranlassung zur Aufregung. Das hat man gern. Deshalb hatten alle meinen Vater gern. Aber wenn die Buben einen Blödsinn vorgehabt haben, und am Land, wenn man nur spielen will, ist es immer ein Blödsinn, dann wollten sie ihn nicht dabeihaben. Weil sie fürchteten, er sagt ihnen, es sei ein Blödsinn, was sie machen. Alles kriegt seinen Namen erst hinterher — was Kindheit ist, was Kompliziertheit, Blödsinn, Ruhe, Undurchsichtigkeit …

Die Familie des Ärmsten war besser dran als mein Vater und seine Mutter. Sie war die Magd eines Bauern im Lungau. Und ledig. Sie hatte zwei Garderoben: eine tägliche — Kleid, Schürze, Strümpfe, Hemd, Untersachen — und eine sonntägliche. Wie die meisten anderen Leute auch. Das Sonntagsgewand aber gehörte nicht ihr. Das war geliehen von der Frau des Bauern. Zwar auf ewig geliehen, aber geliehen. Es gab einige auf ewig geliehene Sachen in ihrem Haushalt — Geschirr, einen Lampenschirm, eine Kupferpfanne, ich kann nicht alles aufzählen, weiß auch nicht alles. Geliehen hieß nichts anderes als: Es gehört nicht dir. Was ihr tatsächlich gehörte, war so viel wie nichts. Der Vater ihres Buben war der Bauer. Das wurde weder zugegeben noch abgestritten. Also gehörte ihr der Bub auch nur zur Hälfte. Darüber wurde bei uns nicht gesprochen. Mein Vater hätte sich gehütet. Er wollte von dieser Zeit nichts wissen. Wäre es amtlich gewesen, dass der Bauer sein Vater war, hätte er wahrscheinlich »Date« zu ihm gesagt. Das war ihm erspart geblieben. So konnte er ihm, ohne undankbar zu erscheinen, aus dem Weg gehen. Bei Vergnügungen wie Tanzen oder Singen oder Schwimmen oder Schauspielern sagte mein Vater: »Zum Glück ist mir das erspart geblieben.« Das lässt auf einen Misanthropen schließen. War er aber nicht.

Meine Schwester Gretel fuhr einmal nach Salzburg in den Lungau nach Mariapfarr, sie hat einen Sinn für Herkunft, Vergangenheit und Familie. Sie wollte sehen, wo unser Vater aufgewachsen ist. Nicht, dass sie groß Kontakt herstellen wollte mit wem auch immer. Man solle es nur wissen, war ihre Meinung. Damals lebte die Mutter unseres Vaters schon nicht mehr. Ihre blinde Schwester aber lebte noch, die gütige Tante Genoveva, genannt Vev. Unser Vater wusste nicht, dass Gretel seine Herkunft aufsuchte. Das hätte er nicht gemocht. Die Tante Vev wohnte inzwischen im Bauernhaus, sie war schon fast hundert. Der Sohn des Bauern, er vermietete an Fremde zur Sommerfrische, hatte ein gutes Herz, oder besser gesagt, er tat, was ein anständiger Mensch tut, das Haus war groß, er ließ oben unter dem Dach für Tante Vev eine Kammer herrichten. Eine große Porzellanschüssel stand auf einer Kommode, daneben im selben Design ein Krug und eine Seifenschale, damit war das Zimmerchen schon zur Hälfte ausgefüllt. Das Wasser trug sie selber hinauf. Ihr Körper roch nach Kernseife, auch die Haare. Gretel sagte, die Tante Vev sitze jeden Morgen auf ihrem Bett und kämme sich. Haare bis zum Hintern. Hundert Mal kämme sie die Haare, sie zähle mit. Sie werde von der Hausfrau und dem Hausherrn »unser guter Geist« genannt, sie sei immer überall, sie rutschte hinauf und hinunter, in ihre Kammer hinauf und hinunter in die Küche, mit der Hand am Geländer, das war der Pfad ihres Lebens, die Augen leere milchweiße Kugeln. Zu essen bekam sie am Tisch der Familie. Sie wurde gut behandelt.

Als mein Vater noch ein Schulkind war, wohnten Mutter und Tante und er nicht im Haus des Bauern. Sie hausten in einem Schopf daneben. Wenn man in einem Haus wohnt, einem guten Haus, dann sagt man nicht »hausen«, dann sagt man »wohnen«. Der Schopf hatte nur einen Raum, darin einen Fußboden aus getretenem Lehm. Zwei Fensterchen, jedes nicht größer als ein Schulatlas. Die Betten waren Pritschen und standen auf hohen Beinen, weil es nach einem starken Regen sein konnte, dass der Boden zu Matsch wurde. Von unten herauf. Die Bettfüße wurden in Schalen mit Wasser gestellt, das musste jeden Abend aufgegossen werden. Gegen Ungeziefer. Ob es nützte, weiß ich nicht. Die Wanzen, hieß es, können nicht schwimmen, und hüpfen wie die Flöhe können sie auch nicht. Aber die Flöhe können hüpfen.

Der reichste Mann in Mariapfarr war ein Baumeister. Sein Haus war aus Stein. Ein richtiges und großes Haus, das Erdgeschoss aus groben Monolithen gemauert, erster und zweiter Stock von Fachwerk durchzogen und verputzt, die Fensterläden dunkelrot, mittendrauf ein großer, weißer Diagonalstreifen wie bei einem Palais. Nach Süden hin eine Veranda, mehr Glas war an dem Haus als an allen anderen Häusern zusammen. Kein Stall war angebaut, keine Scheune. Schon von weitem roch es nach Zement. Das war eines der wenigen Dinge, von denen mein Vater gern erzählte: der Zementgeruch. Ein Stadtgeruch. Ich rieche Zement auch gern. Frisch angerührter Zement, mmmh! Der Baumeister hieß Brugger. Und er besaß: eine Bibliothek.

Ich fragte meinen Vater: »Ab wie viel Büchern ist es eine Bibliothek?«

Er fand die Frage sehr klug und lobte mich dafür. Weil er mich lobte, stellte ich ihm gern Fragen, die mit Büchern zu tun hatten. Wir waren in »unserer Bibliothek« — in der Bibliothek des Kriegsopfererholungsheims. Das ist der zweite Geruch, den ich seit meiner Kindheit liebe: Bücherstaub. Zement und Bücherstaub — was noch?

»Hier«, sagte er, »hier stehen 1324 Bücher. Das darf sich eine Bibliothek nennen.«

»Und bis wann ist es noch keine Bibliothek?«, fragte ich.

»Wenigstens ein Regal muss voll sein«, sagte er. »Aber eines vom Boden bis zur Decke, und wenigstens einen Meter breit muss es sein. Dann kann man es gelten lassen.«

»Und was für Bücher müssen es sein?«

»Das ist die klügste Frage«, sagte er. Dabei hatte ich mir die Frage gar nicht aus dem Nichts ausgedacht. Ich erinnerte mich, was er irgendwann gesagt hatte: Nicht jeder Dreck, den man lesen könne, sei hintereinandergereiht schon eine Bibliothek.

»Wenn du dir eine Bibliothek anschaust«, sagte er und humpelte an den Regalen entlang, strich mit den Fingernägeln der rechten Hand über die Buchrücken, »kannst du alles über den sagen, dem sie gehört.«

Die Bibliothek vom Baumeister Brugger aus Mariapfarr im Lungau wäre nach der Definition meines Vaters eigentlich keine gewesen. Der Mann besaß — daran erinnerte sich mein Vater genau, und auch wir wussten es genau, oft genug hatte er es ja wiederholt — dreiundachtzig Bände. Nur dreiundachtzig Bände. Aber der Raum, in dem die zwei Borde an die Wand geschraubt waren, mehr als zwei waren es nicht, diente zu nichts anderem. Nur zum Lesen. Da standen sonst nur noch ein Ledersessel, eine Stehlampe, ein kleines Tischchen und davor ein Stuhl. Der Baumeister Brugger hatte vorgehabt, irgendwann eine wirkliche Bibliothek aufzubauen und einzurichten, und hatte, als er sein Haus plante, einen Raum dafür vorgesehen. Später war so viel anderes zu tun gewesen, da hatte er die Bibliothek sozusagen vor sich hergeschoben, für bis nach der Pension — auch dieser Ausdruck kam von meinem Vater, »die Bibliothek vor sich herschieben«, er sagte es so, als zitiere er den Baumeister, voll Verachtung sagte er es. Jedenfalls sei von diesem Raum in der Familie des Baumeisters Brugger nur als der »Bibliothek« gesprochen worden oder dem »Herrenzimmer«. Mein Vater erinnerte sich an jedes einzelne Buch.

Der Sohn des Baumeisters ging mit meinem Vater in die Schule. Es war eine einklassige Volksschule. Mein Vater war das gescheiteste von allen Kindern. Und zwar mit Abstand. Mit einem so großen Abstand, dass er fast so etwas wie eine Sensation war. Er habe, so die Familiensage, sich selber das Lesen und das Schreiben beigebracht. Mit fünf Jahren bereits, zwei Jahre bevor er eingeschult wurde. Seine Mutter habe sich regelmäßig von der Bäuerin die Illustrierten ausgeliehen und daraus ihrer blinden Schwester vorgelesen. Der Bub saß daneben und hörte zu. Und fragte die Mutter, was Lesen sei, wie das, was sie vorlese, auf das Papier komme und wie dann in ihren Mund. Sie zeigte ihm die Buchstaben und erklärte ihm, dass es nur sechsundzwanzig davon gebe und dass die Satzzeichen — der Beistrich, der Doppelpunkt, der Punkt, das Ausrufezeichen, das Fragezeichen und so weiter — nicht zu den Buchstaben gehörten, sondern dazu da seien, um den Satz zu verstehen. Die Illustrierten waren allesamt alt, und nachdem die Mutter sie ausgelesen hatte, wurden sie verbrannt. Da behielt der Bub eines Tages ein Stück für sich. Er fragte nicht. Er versteckte es unter der Matratze. Auch wenn das Heft verbrannt werden sollte, er hatte es gestohlen, und das machte ihm ein schlechtes Gewissen. Es war Sommer, und ein Fünfjähriger hatte nichts zu tun, außer brav zu sein, das hieß, ruhig zu sein, nicht lästig zu sein, die Erwachsenen nicht zu stören. Nicht da zu sein. Das konnte der Bub gut. Er steckte das Heft in seine Hose, zog das Hemd darüber und ging hinauf zum Wald. Dort wusste er einen Platz, schattig, wo Farn wuchs und Moossteine waren, dorthin setzte er sich. Er scharrte mit dem Fuß die Erde um sich herum bloß, dass sie wie eine Tafel war, in die er mit dem Zeigefinger Zeichen ritzen konnte. Längst schon hatte er gelernt zu zählen, zwar nur auf dreißig, aber er ahnte, wie es weiterging, hatte es bisher nur immer wieder hinausgeschoben, weiter zu zählen. In welcher Reihenfolge die Buchstaben im Alphabet auftraten, wusste er nicht. Nur dass es sechsundzwanzig waren. Auch zwischen Großbuchstaben und Kleinbuchstaben konnte er nicht unterscheiden. Die Mutter hatte ihm nur die Großbuchstaben gezeigt. Die meisten Kleinbuchstaben sahen den Großbuchstaben in keiner Weise ähnlich. Das C war ähnlich, das K, das O, ein bisschen ähnlich das P, das S, das U, auch das V und das W und das Z. Das verwirrte ihn. Am Abend legte er das Heft auf den Tisch und gestand der Mutter, dass er es gestohlen hatte. Er war bereit, die Strafe auf sich zu nehmen, wenn sie dafür das Rätsel der kleinen Zeichen auflöste. Er rechnete mit Ohrfeigen. Die gab es selten. Er wusste nicht genau wann und wofür und wofür nicht. Einmal bei etwas, das er selbst als unbedeutend einschätzte, zum Beispiel, wenn er das Hemd verkehrt herum anzog. Dann wiederum bei etwas Schwerwiegendem nicht, wie dem Zerbrechen der Zuckerdose. Schmerz ließ er sich nicht anmerken. Er verzog das Gesicht nicht und gab keinen Laut von sich, wenn ihn die Mutter schlug. Als würde sie eine Puppe schlagen. Ein mit mir und meinem Mann befreundeter Psychiater, er ist Gutachter in Gerichtsangelegenheiten, sagte, solche Ausdruckslosigkeit des Opfers könne beim Täter verschiedene Reaktionen auslösen; entweder noch mehr Grausamkeit oder Entsetzen über die eigene Grausamkeit. Das Opfer, sagte er, gebe im Augenblick des Schmerzes den eigenen Körper auf, verlasse ihn sozusagen, weswegen die Muskeln zu keinen Bewegungen mehr fähig seien, also auch zu keinem Gesichtsausdruck. Diesmal lachte ihn seine Mutter aus. Stehlen sei etwas anderes, sagte sie, und zwar etwas ganz anderes. Und gab ihm weiter Unterricht. Viel brauchte es nicht. Er kapierte schnell.

Er hatte eine große Freude an den Zeichen, den Buchstaben wie den Ziffern. Bald las er der Tante Vev vor. Wenn ihm die Mutter einen Blaustift und ein Stück Pappendeckel gab und ein Messerchen zum Spitzen, war er still den ganzen Tag, als wäre er gar nicht. Als er schließlich zur Schule kam, konnte er lesen und schreiben, besser als die in der zweiten und besser als die in der dritten Klasse und besser als mancher Erwachsene, nicht wenige gab es, die konnten es gar nicht.

Mein Vater hieß Josef. Dass ich erst jetzt damit herausrücke, hat einen Grund. Es gibt Namen, die haben ein Gewicht. Sie können ein luftiges Gewicht haben oder ein schweres. Meine Schwester Renate hat ihren Sohn Josef genannt. Nach unserem Vater. Und nach unserem Großvater mütterlicherseits. Der hieß nämlich auch so. Und dann gab es auch noch den Onkel Josef. Es sei ein Schicksalsname in unserer Familie, sagte sie, er solle nicht aufhören. Ich weiß, was sie damit meint. Ich würde ein anderes Wort verwenden als »Schicksal«. Aber ich möchte nicht darüber nachdenken, was für eines, es macht mich müde.

Renate lebt im fernen weiten Berlin, schon lang lebt sie dort. Wenn ich mit ihr über unsere Kindheit spreche, über unseren Vater, dann scheint mir, mit den vielen Kilometern, die zwischen seinem Grab und ihrer Stadt liegen, hat sich auch die Zeit gedehnt und ist leicht geworden. Und mit der Zeit sind auch die Namen leicht geworden. Eine Erinnerung wie der Duft nach frisch gemähtem Gras oder Tannenwaldboden am Nachmittag im Sommer.

Den Josef-Großvater haben wir Kinder nicht gekannt, der ist früh gestorben. Nicht einmal eine Fotografie gibt es von ihm. Aber genug Geschichten. Er soll ein schöner Mann gewesen sein, den alle Männer im Dorf beneidet haben. Vor allem wegen seiner schönen Frau. Sie wollten haben, was er hat, diese Frau nämlich, aber sein wie er wollte niemand. Von den Ärmsten einer. Ich weiß nicht, ob er ein guter Mann war. Als seine Frau mit meiner zukünftigen Mutter schwanger ging, musste er in Italien unten für den Kaiser kämpfen. Er war der Meinung, meine Mutter sei keine von ihm. Ein anderer sei eingestiegen und bei seiner Frau gelegen, während er im Feld war. Darum hat er mit diesem Kind sein Leben lang kein Wort gesprochen. Den Schwüren seiner Frau glaubte er nicht. Und die anderen im Dorf glaubten ihr auch nicht.

Unsere Leute wurden »die Bagage« genannt. Sie waren gefürchtet. Sie hatten ihren Stolz und ein Gewehr, mit dem mein Onkel Lorenz, da war er noch nicht achtzehn, und mein Onkel Walter, der war noch ein Bub, auf die wilde Jagd gingen, weil sie sonst verhungert wären. Die Jäger warnten: Bleibt heute aus dem Wald draußen, heute schießt die Bagage. Mit seinen sechzehn Jahren war Lorenz bereits ein Mann, über den Geschichten erzählt wurden wie über einen anderen nach einem langen Leben nicht. Als sein Vater im Krieg war, hatte er mit dem Gewehr den Bürgermeister in Schach gehalten, weil sich der an die Mutter, die schöne Maria, heranmachen wollte. Alle in unserer Familie sind überzeugt, der Lorenz hätte geschossen, wenn der Bürgermeister nicht abgehauen wäre. Der Bürgermeister selbst hat es überall herumerzählt. Mit anderem Inhalt, das versteht sich.

Sieben Kinder hatte meine Großmutter zur Welt gebracht, bevor sie im Alter von zweiunddreißig Jahren starb, drei Töchter, Kathe, Grete, meine Mutter, und Irma, und vier Söhne: Heinrich, der älteste, Lorenz, Walter und der jüngste der Josef, genannt Sepp.

Und dann hieß der Mann, in den sich unsere zukünftige Mutter verliebte, ausgerechnet auch und noch einmal Josef, ein dritter. Wie ihr Vater, wie ihr jüngster Bruder, ihr Liebling. Dazu sagt meine Schwester Renate »Schicksal«. In gewisser Weise doppelt Schicksal, weil wieder ein Krieg war, der zweite diesmal, als sich unsere Eltern kennenlernten — sie war Krankenschwester in einem Lazarett, er ein Soldat, dem das Bein erfroren und amputiert worden war. Und deshalb, damit der Name in der Familie weitergetragen werde, habe sie ihren Sohn Josef genannt, sagte Renate. Der vierte.

Der Baumeister Brugger mochte den Josef. Er sah es gern, dass sich sein Sohn ihm anschloss. Er sprach aus, was er sich dachte. Einmal sagte er: »Wenn man tauschen könnte, ich würde.«

Zu Josefs Mutter sagte er das. Es war als Kompliment gemeint. Josefs Mutter lächelte. Zu widersprechen traute sie sich nicht.

Der Baumeister nahm den Josef unter seine Obhut. Er redete mit dem Pfarrer. Ob etwas zu machen wäre, dass der Bub eine richtige Schule besucht. Eine Schule, die mehr als nur Pflicht ist, sollte das heißen. Das Gymnasium. Das war von Josefs Mutter so weit entfernt, dass sie nicht einmal das Wort kannte. Sie sprach es auch immer falsch aus. »Günasion.« Aber sie sprach es in einem so würdigen Ton falsch aus, dass sie niemand dafür verlachte. Tante Vev erinnerte sich, durch das falsche, würdige Aussprechen sei die Schule sogar noch größer geworden, als sie war. Der Pfarrer jedenfalls sagte, es gehe. Aber nur, wenn aus dem Josef ein Geistlicher werde. Der Baumeister schlug ein. Die Kirche war ihm gut für Protektion, der liebe Gott bedeutete ihm nichts.

Wenn Josef den Baumeistersohn besuchte, dann richtete er es so ein, dass der Vater seines Freundes zu Hause war. Der erlaubte ihm nämlich, dass er sich in die Bibliothek setzte und las. Seinem eigenen Kind befahl er, den Josef in Ruhe zu lassen. Auch seiner Frau befahl er das.

Zu Josef sagte er: »Du kannst jedes Buch aus dem Regal nehmen. Ich sage dir nichts dazu. Zu keinem etwas. Alles, was es zu sagen gibt, musst du selber herausfinden. Noch Fragen?«

Josef schüttelte den Kopf.

Er brachte seine Schulsachen mit. Ich rechne, er war damals zehn. Also wird er schon ein Heft gehabt haben und nicht nur die Schiefertafel. Er drehte das Heft um und schrieb die Namen der Autoren und die Titel der Bücher untereinander hinten ins Heft. Er wollte alle Bücher lesen. In der Reihenfolge, wie sie in der Bibliothek des Baumeisters auf den beiden Borden standen. Aber lesen war ihm nicht genug. Lesen war ihm sein Leben lang nicht genug. Diesbezüglich bin ich sehr anders, als mein Vater war. Wenn ich ein Buch gelesen habe, lasse ich es herumliegen, und irgendwann versickert es in unserer Wohnung. Der Gegenstand interessiert mich nicht. Was drinsteht, habe ich nach der Lektüre im Kopf. Ich ziehe Taschenbücher vor. Weil sie billiger sind. Für den Preis eines gebundenen Buches kann man sich drei oder vier Taschenbücher leisten. Mein Vater verabscheute Taschenbücher. Ihm war durch sein ganzes Leben hindurch der Gegenstand ebenso wichtig wie der Inhalt. Das ist untertrieben. Heilig war ihm das Buch.

Zu meinem Mann sagte ich, bevor ich ihn meinem Vater vorstellte: »Er wird dir seine Bibliothek zeigen. Er wird dich auffordern, ein Buch in die Hand zu nehmen. Die Art, wie du das Buch hältst, wie du umblätterst, wie du den Schutzumschlag abnimmst, wie du daran riechst, das alles wird darüber entscheiden, ob er dich leiden kann oder nicht.«

»Wie mache ich es denn richtig?«, fragte mein Mann.

»Das weiß ich nicht«, sagte ich, »das habe ich nie herausgefunden.«

Er wollte ein Buch nicht nur lesen, er wollte es besitzen. Er hat sich selten Bücher aus Bibliotheken ausgeliehen, aus der Stadtbibliothek oder der Arbeiterkammerbibliothek oder der Landesbibliothek oder über Fernleihe aus der Nationalbibliothek. Er hat diese öffentlichen Anstalten oft besucht, hat hier einen Band aus dem Regal genommen, dort einen, hat darin geblättert, hat gestreichelt, daran gerochen und ein bisschen gelesen, hat sich manchmal Autor und Titel notiert und das Buch dann gekauft.

In der Bibliothek des Baumeisters Brugger hat er sich an das Tischchen gesetzt und begonnen, das erste Buch abzuschreiben. In sein Heft hinein. Bald jeden Nachmittag nach der Schule kam er. Wenn ihr Mann nicht da war, führte ihn die Frau ins Herrenzimmer. Sie sprach dabei leise. Sie brachte ihm ein Glas Waldmeisterlimonade. Und sagte zu ihrem Sohn, er solle den Josef ja nicht stören. Als das Heft voll war, hat er bei der Mutter oder der Tante Vev Geld gebettelt, oder er hat seinen Mitschülern Hefte aus den Schulranzen gestohlen, hat die bereits beschriebenen Seiten herausgerissen und im Wald vergraben und dann weiter das Buch abgeschrieben. Walter Scott, Ivanhoe, übersetzt von Richard Zoozmann, dreihundertzweiundfünfzig Seiten (es liegt neben mir auf dem Schreibtisch, in diesem Moment, ich schlage auf beim Beginn der Erzählung). Als die Mitschüler angaben, sie hätten ihr Heft verloren, sie wüssten selbst nicht wo, und der Lehrer sie ausschimpfte, weil sie so faule Hunde seien, und sie nachsitzen mussten oder eines mit dem Rohrstock übergebraten bekamen, saß der Josef in seiner Bank, und sein Gesicht war ausdruckslos, und wenn einer der Schüler mutmaßte, er habe das Heft gar nicht verloren, es sei ihm aus dem Ranzen geklaut worden, war jeder in der Klasse verdächtig, nur einer nicht: der Josef.

Jeden Tag saß er im Herrenzimmer vom Baumeister Brugger und schrieb ab.

In der anmutigen Provinz des glücklichen England, die der Don durchströmt, dehnte sich in alter Zeit ein großer Wald aus, der die lieblichen Hügel und Täler zwischen Sheffield und der freundlichen Stadt Doncuster bedeckt. Hier hauste einst der sagenhafte Drache von Wantley, hier wurde manche blutige Schlacht im Bürgerkrieg der weißen und roten Rose ausgefochten, hier trieben vor alten Zeiten die tollkühnen Räuberhorden ihr Wesen, deren Taten durch die englischen Volkslieder überall bekannt geworden sind. Und hier liegt auch der eigentliche Schauplatz dieser Erzählung …

Der Sohn des Baumeisters zupfte an ihm herum. Er sei doch zu ihm gekommen, zum Spielen, und jetzt hocke er nur im Herrenzimmer. Josef sah ihn an, direkt in seine Augen hinein schaute er und sagte: »Soll ich deinem Vater melden, dass du mich störst?«