Veränderungsgetümmel - Katharina Mosel - E-Book
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Veränderungsgetümmel E-Book

Katharina Mosel

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Beschreibung

Nach zwei gescheiterten Ehen ist die Familienanwältin Anne mutlos geworden. Sie hat sich in ihrem Alltag eingerichtet, geht Veränderungen aus dem Weg. Als sie den Weltenbummler Robert trifft, knistert es und sie kommen sich näher. Annes Exmann Johann taucht aus der Versenkung auf und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Eine turbulente Reise von Köln über Hamburg und Mallorca nach Sylt beginnt. Will Anne ihr altes Leben behalten oder sich in das Getümmel stürzen? Eine Geschichte über die Schwierigkeit sich zu verändern und das Wagnis, den eigenen Gefühlen zu vertrauen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Danke

Die Autorin

Über das Buch:

Kann man in der Mitte des Lebens noch die Richtung wechseln?

Nach zwei gescheiterten Ehen ist die Familienanwältin Anne mutlos geworden. Sie hat sich in ihrem Alltag eingerichtet, geht Veränderungen aus dem Weg.

Als sie den Weltenbummler Robert trifft, knistert es und sie kommen sich näher. Annes Exmann Johann taucht aus der Versenkung auf und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Eine turbulente Reise von Köln über Hamburg und Mallorca nach Sylt beginnt. Will Anne ihr altes Leben behalten oder sich in das Getümmel stürzen?

Eine Geschichte über die Schwierigkeit sich zu verändern und das Wagnis, den eigenen Gefühlen zu vertrauen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Katharina Mosel · katharina-mosel.de

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Katharina Mosel, Hohenstaufenring 63, 50674 Köln

© Cover- und Umschlaggestaltung: Laura Newman · lauranewman.de

© Entenlogo: Laura Newman · lauranewman.de

Bildquellen: Verwendung von Motiven von Freepik.com

Foto Autorin: Susanne Fern

Lektorat: Eva Maria Nielsen · lektoratderrotefaden.de

Korrektorat: Dorrit Bartel · dorritbartel.eu

Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

ISBN Tolino: 9783754688335

Kapitel 1

Wieso war sie auf die Idee gekommen, kurz vor dem Videotermin ein Update einzuspielen? Anne versuchte, den Bildschirm zu hypnotisieren. Fünf Minuten vor zehn und es waren erst zwanzig Prozent geladen. Sie trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Warum hatte sie sich auf das Interview eingelassen? Arbeit hatte sie wahrhaftig genug, auf dem Boden stapelten sich die Akten. Ihre Unlust stieg, als sie an all die Dinge dachte, die erledigt werden mussten. Manchmal ging ihr das Leben als Anwältin gewaltig auf den Wecker. Was war schiefgelaufen, dass sie an diesem warmen Sommertag im Büro saß, um die Probleme ihrer Mitmenschen zu lösen? Warum war sie nicht draußen in der Eisdiele und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen? »Weil du auf deine Figur achtest und diszipliniert bist. Abgesehen von der Gefahr, Hautkrebs zu bekommen«, sagte sie laut. Nun auch noch Selbstgespräche. War sie zu oft allein oder gehörten diese Überlegungen zwangsläufig zu den Begleiterscheinungen der Wechseljahre?

Ob sie sich die Lippen nachziehen sollte? Hastig kramte Anne im Schminkbeutel und förderte einen kaum benutzten knallroten Stift zutage. Unter der Maske war Lippenstift sinnlos, bei einem Videokontakt nicht verkehrt. Mittlerweile besaß sie sogar ein Ringlicht, dank der Intervention von Noah. Ringlicht, Videobesprechungen, OP-Masken. Sachen, die vor einem Jahr undenkbar waren. Inzwischen war das Bestandteil ihres Alltags. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Geübt trug sie die Farbe auf und behielt den Bildschirm im Auge. Fünfzig Prozent. Sie würde sich verspäten. Davon ging die Welt nicht unter. War nicht Gelassenheit das, was sie sich in den letzten Monaten erarbeitet hatte? Bildete sie sich zumindest ein. Zehn Minuten vor der Zeit ist des Beamten Pünktlichkeit, Lieblingsworte ihres Vaters. Als Kind erschien ihr das als Ausbund von Spießigkeit, heutzutage war sie diejenige, die überpünktlich zu Terminen auftauchte.

Anne sah auf die geschlossene Bürotür. Sollte sie ihre Mitarbeiterin um Hilfe bitten? Deren Computer nutzen? Ihr fiel ein, dass Frau Vosswinkel heute im Homeoffice war. Auch etwas, woran sich alle gewöhnt hatten. Bevor sie den Zugangscode herausgefunden hatte, wäre es zu spät für das Interview. Sie verwuschelte die Haare, um sie im nächsten Moment erneut zu glätten. In ihrem Bauch grummelte es. Langsam wurde es Zeit. Geduld gehörte nicht zu ihren Stärken. Wo war die Entspanntheit, wenn man sie brauchte?

Der Bildschirm wurde dunkel, das Gerät fuhr sich wieder hoch. Anne drehte sich um und musterte das Regal hinter ihr. Fachliteratur, sorgfältig geordnet. Der richtige Hintergrund für eine Anwältin. Die Quietscheenten, die sonst auf den Büchern standen, hatte sie weggeräumt. Immerhin arbeitete der Journalist bei einem renommierten Nachrichtenmagazin. Sie gab ihr Passwort ein und klickte sich zu dem Link, den der Reporter geschickt hatte. Das Fenster öffnete sich und gab den Blick auf einen Mann frei, der gebeugt an einem Tisch saß.

»Können Sie mich hören?«

Anne lockerte ihre Schultern und lachte. Jeder Videokontakt begann mit diesem Spruch. Sie aktivierte das Mikrofon und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Guten Morgen Herr Ludwig. Ich kann Sie sehen und hören.«

»Wunderbar.« Ihr Gegenüber lächelte sie an. »Moin aus Hamburg. Ich freue mich, dass Sie sich die Zeit für ein Interview nehmen.«

Anne neigte den Kopf nach vorn und verzog ihren Mund zu einem Lächeln. »Sehr gern.« Die erste Lüge heute. Weitere würden folgen.

»Ich hatte Ihnen in meiner Mail geschrieben, worum es sich handelt. Wir bereiten in der Redaktion ein Special zum Thema »Erben und Vererben« vor, und wollen eine Praktikerin wie Sie zu Wort kommen lassen.«

»Ja. Worüber möchten Sie sprechen?«

Anne verfolgte, wie der Mann eine bunte Lesebrille aufsetzte und anfing, in einem Hefter zu blättern. Hoffentlich war er vorbereitet. Mehr als dreißig Minuten standen nicht zur Verfügung, danach hatte sie einen anderen Videotermin.

»Also ich …, mich …, äh würde interessieren, ob es stimmt, dass nur etwa fünfunddreißig Prozent der Deutschen ein Testament haben?« Er sah sie über den Rand der Brille an.

Sie versuchte, Blickkontakt herzustellen. »Ich kenne die genauen Zahlen nicht. Das werden Sie sicher besser wissen. Nach meiner Erfahrung verdrängen viele Menschen die Tatsache, dass sie sterben müssen.«

»Erstaunlich, nicht wahr?« Herr Ludwig neigte den Kopf zur Seite. Anne fiel auf, dass er seine Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Hinter ihm befand sich ein Regal, in dem sich Teller und Gläser mit Nudelpaketen abwechselten. Er saß offenbar in einer Küche.

»Finde ich nicht. Wer denkt schon gern über den eigenen Tod nach?«

»Haben Sie ein Testament?«

Anne stutzte. »Denken Sie nicht, dass das eine sehr persönliche Frage ist?«

»Sorry, wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«

»In eigenen Sachen ist man meistens nicht so gut. Tatsächlich habe ich aber ein Testament errichtet.«

»Gut, gut. Glauben Sie nicht, dass es einem eigentlich ganz egal sein kann, was nach dem Tod mit dem Vermögen passiert? Machen wir nicht zu viel Bohei um die materiellen Dinge?«

»Ist das ernst gemeint?«

Der Mann schob seine Lesebrille über seinen Haaransatz. »Natürlich. Was denken Sie denn?«

»Okay.« Irgendetwas stimmte nicht. Diese Fragestellung besprach man mit einer Psychologin und nicht mit einer Erbrechtsanwältin. Schließlich sollte das Interview in der Wirtschaftsrubrik erscheinen. »Nach meiner Erfahrung gibt es grundsätzlich zwei unterschiedliche Typen Mensch. Den einen ist es völlig gleichgültig, was nach dem Tod mit dem eigenen Vermögen passiert. Den anderen ist es wichtig, zu Lebzeiten alles zu klären. Sie fühlen sich beruhigter, wenn ihr Erbe geordnet ist.«

»Sie sind eher der ordnungsliebende Typ, oder?«

Was war das? Anne zwang sich, nicht in das Mikrofon zu seufzen. Wollte der Journalist sie provozieren? Es ging nicht um eine Homestory.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was das hier soll. Ich dachte, wir sprechen über den Sinn von letztwilligen Verfügungen. Ob ich ordnungsliebend bin oder nicht, geht Sie gar nichts an.« Anne sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Eine Cartier, die ihr Johann zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. Bevor er mit seiner blutjungen Affäre nach Andalusien ausgewandert war.

»Sie haben recht«, sagte Herr Ludwig und schob mit einer hastigen Handbewegung den Hefter zur Seite. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, sorry. Lassen Sie uns bitte nochmals von vorn anfangen.«

Anne fixierte den Bildschirm. Der Typ grinste sie an. Obwohl sie sich nicht persönlich gegenübersaßen, befiel sie das Gefühl, dass der Mann sie nicht ernst nahm. Das Thema auch nicht.

»Warum denke ich, dass Sie das alles in Wirklichkeit gar nicht interessiert?«

»Weil es stimmt.« Herr Ludwig stützte die Ellenbogen auf und hob die Hände zum Himmel. »Ich bin normalerweise unterwegs und berichte von den schönen Plätzen dieser Welt. Was derzeit naturgemäß nicht funktioniert.«

»Und da haben Sie mal eben schnell die Materie gewechselt.« Wider Erwarten fing Anne an, das Geplänkel unterhaltsam zu finden. Eine Abwechslung vom täglichen Einerlei.

»Wenn Sie es genau wissen wollen: Meine Miete muss gezahlt werden.« Er zuckte mit den Schultern. Dieselbe Geste, die Noah machte, wenn er keine Lust auf Diskussionen hatte.

»Okay. Und nun?«

»Ich würde Sie gern auf einen Drink einladen. Leider sind vierhundert Kilometer ein wenig weit weg.« Herr Ludwig rückte näher an den Bildschirm heran. Anne bemerkte seinen Dreitagebart.

»Hach. Wenn Sie es ernst meinten, wäre das kein Hindernis.« Sie rollte mit dem Stuhl ein Stück zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Ein Videoflirt. Wie lange war es her, dass sie mit einem männlichen Wesen rumgealbert hatte? Besser nicht darüber nachdenken.

»Wenn ich das nächste Mal in Köln bin, melde ich mich. Ehrenwort.«

»Hmm. Und auf dieses leere Versprechen hin soll ich Ihnen nun das Interview schreiben.«

»Ertappt.« Herr Ludwig klatschte in die Hände. »Ist für Sie doch auch Publicity.«

»Ich brauche keine Werbung. Abgesehen davon: Wie vereinbaren Sie das mit Ihren journalistischen Prinzipien?«

Ihr Gegenüber zuckte erneut mit den Schultern. »Ich lese es mir vorher durch.«

»So einfach mache ich es Ihnen nicht. Schicken Sie mir Ihre Fragen zu. Ein paar werden Sie sich doch überlegt haben.«

»Sie sind eine harte Verhandlungspartnerin.«

»Haha.«

»Na gut, gewonnen.« Der Mann lachte lauthals los. »Ich brauche die Antworten aber bis Montag.«

»Das ist mir schon klar. Bei der Presse muss es immer schnell gehen.«

»So ist es.« Herr Ludwig sah sie auffordernd an. Seine Haltung hatte sich verändert, er wirkte auf einmal angespannt.

»Ich will das Interview lesen, bevor es in Druck geht.«

»Sie haben Angst, dass ich meine Beobachtungen hineinschreibe.«

»Angst ist das falsche Wort. Ich will sicherstellen, dass alles stimmt.« Anne wich dem Blick des Journalisten aus und fixierte stattdessen die Nudelpakete. Dieselbe Marke, die sie einkaufte.

»Sie sind ein Kontrollfreak.«

»Ich bin Rechtsanwältin.«

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht beendete sie das Meeting. Kaum hatte sie das Browserfenster geschlossen, googelte sie den Namen ihres Gesprächspartners. Robert Ludwig. Es gab zahlreiche Einträge im Netz. Der Mann betrieb einen Reiseblog und lebte, wenn er zu Hause war, in Hamburg. Auf einem Foto sah man ihn mit einem Mops. Ob das seiner war? Vermutlich würde sie von ihm nach Erscheinen des Artikels nichts mehr hören. Egal. Er hatte ihr trotz anfänglichem Unbehagen einige vergnügliche Augenblicke geschenkt. Ihre missmutige Laune war verschwunden. Sie beugte sich zu den am Boden befindlichen Akten und wuchtete sie auf die Schreibtischplatte. Ein paar Minuten bis zur nächsten Besprechung. Wenigstens durfte sie einer Arbeit nachgehen, die sie sich ausgesucht hatte. Moment. Ein Gedanke schob sich durch ihre Gehirnwindungen. Hatte sie sich nicht soeben eine neue Aufgabe aufgehalst? Neben den Fristsachen, die aktuell ihre Aufmerksamkeit forderten, musste sie nun auch noch bis spätestens Sonntag ein Interview über sich schreiben. Der Journalist hatte sie ausgetrickst.

***

Kurz vor sieben. Anne zückte ihr Handy und scrollte durch die E-Mails. Nichts dabei, was nicht bis Montag warten konnte. Noah hatte sich nicht gemeldet. Definitiv ein gutes Zeichen. Der Kühlschrank war allem Anschein nach genügend gefüllt. Sie seufzte und stopfte das Smartphone in ihre Tasche. Feierabend für heute. Vom Büro war es nicht weit bis zum Rhein. Der Biergarten war gut besucht, wie immer um diese Uhrzeit. Nach den heftigen Regenfällen der vergangenen Tage war jeder froh, draußen sitzen zu können. Anne beobachtete, wie sich Fahrradfahrer durch die Fußgänger an der Rheinpromenade schlängelten, dazwischen E-Roller. Von diesen Teilen lagen Dutzende auf dem Grund des Flusses. Mutwillig weggeworfen von ihren Benutzern. Sie schüttelte den Kopf und rief sich zur Ordnung. Feierabend.

»Juhu.«

Die vertraute Stimme der Freundin riss sie aus ihren Gedanken. Linda stand vor dem Tisch, ihr Fahrrad am Lenkrad haltend. Auf dem Kopf trug sie einen roten Fahrradhelm mit einem Kranz aus Kunstblumen. Sie strahlte Anne an.

»Bestell mir bitte ein Kölsch. Schließe nur schnell das Rad an.«

»Hi. Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich diesen Helm liebe?« Anne kicherte. »Eine andere Getränkewahl hätte mich übrigens wirklich überrascht.«

»Keine Überraschungen mehr, die hatte ich zu Genüge. Außerdem ist heute Freitag. Das Wochenende steht vor der Tür.« Linda stieg auf das Rad und verschwand in Richtung des Parkhauses.

Anne winkte nach der Bedienung und orderte Getränke. Für sich Wasser und ein Glas Riesling. Kölsch kam ihr lediglich im Ausnahmefall über die Lippen. Bloß, weil sie in Köln geboren war, musste sie das Zeug nicht mögen. Linda war Düsseldorferin und lebte seit Studienzeiten in der Domstadt. Die Ironie dahinter verstanden nur die Einheimischen.

Sekunden später umarmte Linda sie von hinten und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange. Danach ließ sie sich ihr gegenüber in den Stuhl fallen.

»Wie wunderbar, dass wir hier den Abend genießen können. Es sind die kleinen Dinge, die den Unterschied machen.«

»Stimmt. Wer hätte noch vor anderthalb Jahren gedacht, dass wir solche Gespräche führen würden.«

»Ja. Themenwechsel. Wie war deine Woche?«

»Themenwechsel. Lass uns über unseren Urlaub sprechen.«

»So schlimm?« Linda umfasste die zu Fäusten geballten Finger von Anne.

»Nee, alles so wie immer. Ich bin einfach nur urlaubsreif und zähle die Tage.«

»Die eine Woche halten wir auch noch durch.«

»Bei mir ist es in der Zeit vorher jedes Mal hektisch. Obwohl ich mir immer vornehme, es nicht soweit kommen zu lassen.«

Eine junge Frau erschien mit den Getränken und Anne zog die Hände zurück.

»Nimm dir doch einfach nichts mehr vor.«

»Haha. Ist das der Rat einer Psychologin?«

»Ich bin nicht mehr im Dienst.«

Sie stießen die Gläser aneinander und Anne schnupperte am Wein. Ein leichter Pfirsichduft. Sie nahm einen Schluck und ließ die Flüssigkeit sekundenlang im Mund, bevor sie schluckte. Der mineralische Säuregeschmack war perfekt.

»Du siehst aus, als hättest du im Lotto gewonnen. Oder alternativ deinen Traummann gefunden«, sagte Linda, die die Hälfte ihres Kölsch geleert hatte.

»Es geht nichts über einen exzellenten Riesling. Das verstehst du Banausin natürlich nicht.«

»Ich bin halt bodenständig.« Linda winkte der Kellnerin zu und zeigte auf ihr Glas.

»Sicher. Lass uns gleich etwas zum Essen bestellen, ich hatte heute Mittag nur einen Joghurt. Du nimmst die Rippchen und ich das Auberginensandwich.«

Linda brach in schallendes Gelächter aus. »Schon blöd, wenn man sich so lange kennt. Rippchen für dich, Auberginen für mich.«

Anne zwinkerte ihr zu. Linda war Vegetarierin und versuchte seit Jahren, sie zum Verzicht auf Fleisch zu überreden.

»Von was für Überraschungen hast du gerade gesprochen? Beruflich oder privat?«

»Beruflich gab es nur die üblichen Tragödien.« Linda trank den Rest des Kölsch. »Nee, das war zu pessimistisch. Bei einigen meiner Patientinnen geht es aufwärts. Die allgemeine Nachrichtenlage trägt allerdings nicht zur Heiterkeit bei. Überspitzt ausgedrückt.«

»Ist so was wie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.«

»Psychologen brauchen die nicht. Es gibt mehr Anfragen als Plätze.«

»Ich weiß.«

»Ich weiß, dass du das weißt. Es ist manchmal nur so frustrierend.«

»Du brauchst auch Urlaub.«

»Ja.«

Die Kellnerin tauschte das leere Kölschglas gegen ein volles aus und sie bestellten ihr Essen.

»Und die private Überraschung?«

»Du vergisst nichts.«

»Ich bin Anwältin und kann unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.«

»Haha.«

Anne musterte die Freundin, die sich umgedreht hatte und ihrerseits auf den Rhein blickte. Sie kannten sich seit ihrer Studienzeit. Linda hatte als Bedienung in einer Kneipe im Belgischen Viertel gejobbt, in der Anne häufig zu Gast war. Aus den mitternächtlichen Thekengesprächen war eine tiefe Freundschaft entstanden, die schon über dreißig Jahre hielt. Anders als meine zwei Ehen, dachte sie und lachte bitter auf.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Sicher. Ich warte immer noch auf deine Neuigkeit?«

Linda trank von dem Bier und blinzelte. »Lennart ist wiederaufgetaucht.«

»Du hast ihn hoffentlich nicht über deine Schwelle gelassen.«

»Nein, was denkst du von mir?«

»Du bist der gutmütigste Mensch, den ich kenne. Du brauchst jemanden wie mich, der dich vor dir beschützt. Sonst sitzt du irgendwann unter der Rheinbrücke und ich darf dir warme Suppen bringen.«

»Wie? Du würdest mich nicht bei dir aufnehmen?«

Anne winkte ab. »Lenk nicht ab. Was ist mit Lennart? Ist er wieder pleite?«

»Dazu hat er nichts gesagt. Wir sind uns zufällig am Chlodwigplatz über den Weg gelaufen. Er kam aus Erftstadt, wo er einem Freund beim Ausräumen des Kellers geholfen hat.«

»Hmm.«

»Er ist kein schlechter Mensch, hat es nicht so leicht gehabt wie wir.«

»Hmm.«

Das Essen kam und Anne wickelte das Besteck aus der Serviette. Die frittierten Rippchen verströmten einen leichten Knoblauch-Apfelgeruch. Zusammen mit den Pommes und dem Krautsalat ein perfektes Freitagabendmenü. Keine Kalorienzählerei vor dem Wochenende. Hungrig schnappte sie sich eine Fritte. Sie schob den Teller nach vorn. »Hier, nimm eine. Damit du auch was Ungesundes isst. Nicht, dass du mich überlebst.«

»So viel Ungesundes kann ich gar nicht zu mir nehmen«, sagte Linda und lachte. Sie spießte ein Stück Pommes frites auf.

Die nächsten Minuten vergingen schweigend, nur unterbrochen von Kaugeräuschen. Anne knabberte an jedem Rippenstück so lange, bis sie das letzte Fitzelchen heruntergenagt hatte. »In meinem vorherigen Leben war ich ein Hund«, sagte sie schließlich und leckte sich die Finger ab, bevor sie die Serviette benutzte.

»Hunde bekommen heutzutage Trockenfutter.«

»Da siehst du mal, die Vegetarier machen selbst vor den Tieren nicht halt.«

»Wie sollen wir die Welt retten, wenn du nicht vom Fleisch lassen kannst?«

»Die Welt ist ohne uns Menschen besser dran. Das diskutieren wir jetzt aber nicht zum wiederholten Male. Mir reichen schon die Vorwürfe von Noah. Was ist mit Lennart? Spucks aus. Ich kenn dich doch, es ist sicher nicht bei dem zufälligen Treffen geblieben.«

»Inquisition, dein Name ist Anne«, sagte Linda und legte ihr Besteck zur Seite. »Bin ja selbst schuld, warum habe ich davon angefangen.«

»Weil ich es sowieso aus dir rausbekommen hätte.«

»Stimmt.« Linda seufzte theatralisch. »Ich habe ihm angeboten, dass er während unseres Urlaubs bei mir wohnen kann.«

»Aber …«

»Moment, lass mich ausreden. Er hat hoch und heilig versprochen, dass er danach wieder auszieht. Momentan schläft er bei einem Freund auf der Couch.«

»Wo hat er denn vorher gelebt? Hat seine letzte Freundin ihn rausgeschmissen?«

»In einer Wohnung in Erftstadt. Die ist völlig zerstört. Er braucht eine neue Bleibe. Er …«

»Aber …«

Linda hob die Hand, um Anne zu stoppen. »Lennart arbeitet inzwischen regelmäßig als Hörbuchsprecher und kann sich selbst unterhalten. Er ist zuversichtlich, kurzfristig ein Appartement zu finden.«

»In Köln? Hat er inzwischen auch magische Kräfte?«

»Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst.«

»Darum geht es nicht. Er nutzt dich aus und tut dir weh.«

Linda langte über den Tisch und strich über Annes Arm. »Dieses Mal nicht. Versprochen. Unser Aufeinandertreffen war wirklich ein Zufall. Ich meine, er hat mir nicht vor der Praxis aufgelauert.«

»Nee, dazu ist er zu clever.«

Linda zog ihre Finger zurück. »Jetzt ist genug. Verdirb uns nicht den Abend.«

»Ich hör schon auf.« Anne stopfte sich die letzte Pommes in den Mund. Sie schwor sich, sich nicht mehr einzumischen. Dieser Mann hatte Linda bislang nur Unglück gebracht. Die beiden führten seit Jahren eine Art Hop-On-Hop-Off-Beziehung. Lennart tauchte immer dann bei Linda auf, wenn er finanziell abgebrannt war, um sich von ihr durchfüttern zu lassen. Nach ein paar Monaten wurde ihm das bürgerliche Leben zu langweilig und er suchte das Weite. In der Regel mit einer deutlich jüngeren Affäre.

»Auf Dauer hältst du das sowieso nicht aus«, sagte Linda und kicherte.

»Was meinst du?«

»Du kannst nicht aus deiner Anwältinnenhaut und musst dich einmischen.«

»Dieses Mal nicht. Ich bin lernfähig.«

»Haha. Darauf trinke ich.« Linda stieß mit dem Kölschglas an das Weinglas. »Außerdem bist du doch die Erste, die jemandem hilft, dem es schlecht geht. Wie viele Leute berätst du für kleines Geld?«

»Das ist was ganz anderes.«

»Ach so. Und was ist mit Noah? Wie lange lässt du den noch bei dir wohnen?«

Treffer und versenkt.

Kapitel 2

Anne ließ ihre Tasche zu Boden gleiten. Sie schlüpfte aus den Sandalen und schlich barfuß in die Küche. Mitternacht war durch. Die Erschöpfung einer intensiven Arbeitswoche machte sich in ihr breit. Getoppt mit drei Gläsern Riesling. Ein Schluck Wasser vor dem Schlafengehen, damit sich der Alkohol besser verteilte. Der Krimi, den sie vor ein paar Tagen begonnen hatte, würde warten müssen. Darauf konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Sie freute sich auf ihr Bett.

In der Spüle stapelten sich eingeweichte Teller, ein Topf und eine Pfanne neben Besteckteilen. Lebensmittelreste schwammen an der Oberfläche. Anne zwang sich, nicht genauer hinzusehen, und hielt einen Trinkbecher unter den Hahn. Wieso war es so schwer, Geschirr in die Maschine zu befördern?

Mit dem Glas ging sie zu ihrem Schlafzimmer, das am Ende lag. Die Tür zu Noahs Zimmer war geschlossen. Bestimmt war er unterwegs in irgendeinem Club. Sie würde mit ihm reden. An diesem Wochenende. Länger konnte sie es unmöglich aufschieben.

***

Ein ohrenbetäubendes Knattern riss Anne am nächsten Morgen aus den Träumen. Wie immer war sie gegen sechs Uhr wach gewesen und hatte dem Gesang der Vögel gelauscht. Ehrlicherweise nicht bloß wohltönenden Lauten: Das Schimpfen der Elstern ersetzte jeden Wecker.

Sie sah auf ihr Smartphone. Acht Uhr. Seufzend krabbelte sie aus dem Bett und schloss das Fenster. Laubbläser sollten verboten werden. Auf der anderen Seite des Doppelbetts stapelten sich Bücher. Krimis neben Biografien und einigen Werken aus der aktuellen Bestsellerliste. Außerdem Zeitschriften, in denen sie mit Klebezetteln Artikel markiert hatte. Anne räkelte sich und überlegte kurz, erneut unter die Decke zu schlüpfen. Außer einem Besuch im Supermarkt stand heute nichts auf ihrem Programm. Den konnte sie am späten Nachmittag erledigen. Erst einmal Kaffee.

Barfuß tapste sie ins Bad, den Spiegel bewusst ignorierend. Über dem Rand der Badewanne lag die Jogginghose. Zusammen mit dem geringelten Schlaf-T-Shirt eine absolute Wohlfühlklamotte. Das Badezimmerfenster klapperte. Anne lugte hinaus. Die Bäume bogen sich im Wind hin und zurück. Was war aus dem sonnigen Wetter von gestern geworden? Milchkaffee und ein Marmeladentoast im Bett, vielleicht würde sie danach wieder einschlafen. Oder den Krimi zu Ende lesen.

In der Küche stellte sie die Kaffeemaschine an. Sie holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank. Das Geschirr in der Spüle übersah sie, genauso wie die Pizzakartons auf dem Tisch. Dieses Mal räumte sie nicht auf. Sie würde mit Noah sprechen. So konnte es nicht weitergehen.

Wenig später beherrschte der würzige Kaffeeduft den Raum. Anne schäumte die Milch in einem Becher auf und goss den Espresso hinein. Sie schnupperte, inhalierte den Kaffeegeruch und schloss die Augen. Nach dem missglückten Start in den neuen Tag ein echtes Highlight.

»Bekomme ich auch einen?«, erscholl hinter ihrem Rücken eine ihr unbekannte männliche Stimme. Sie zuckte zusammen, die Flüssigkeit schwappte über. Ihr Handrücken fing an zu brennen und verfärbte sich.

»Sorry, wollte dich nicht erschrecken.«

Anne stellte den Kaffee mit zittrigen Händen auf die Ablagefläche neben der Spüle. Sie drehte den Hahn auf und ließ das kalte Wasser über die gerötete Haut laufen. Wer war das? Vorsichtig wandte sie sich um. Vor ihr stand ein junger Mann in Boxershorts. Blonde Locken verbargen den Großteil des Gesichts. Sein muskulöser Körper war braungebrannt, auf der Brust kräuselten sich ein paar Haare.

»Wer sind Sie und was machen Sie in meiner Küche?«, stieß sie heiser hervor. Anne befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge, ihr Mund war auf einmal staubtrocken.

Der Typ trat einen Schritt auf sie zu. Anne wich zurück, bis sich die Kante des Spülbeckens in ihren Rücken bohrte.

»Sorry nochmals«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Null Stress. Ich bin der Anton, ein Freund von Noah. Wir waren gestern Abend im Club. Ist spät geworden, es fuhr keine Bahn mehr. Noah hat gesagt, dass ich bei ihm pennen kann. Von einer Frau hat er nichts erzählt. Noch dazu von einer so attraktiven.« Anton zog seine Shorts nach oben. Anne verschränkte die Hände vor ihrem Bauch.

»Und vorher gabs Pizza?«

»Hä?«

Anne drehte sich um und ließ erneut kaltes Wasser über ihre Hand laufen. Na super. Ein gutaussehendes männliches Subjekt in ihrer Küche und sie sah so sexy aus wie ein altes Gespenst nach durchfeierter Nacht. Betont langsam griff sie zu ihrem Kaffeebecher und trank. Danach holte sie tief Luft und musterte den Knaben mit zusammengekniffenen Augen. »In der Spüle stapelt sich ungewaschenes Geschirr, auf dem Tisch liegen Pizzakartons.«

»Kein großes Problem, oder? Verglichen mit der Klimakatastrophe.« Anton schob mit den Händen seine Locken hinter die Ohren und feixte. Ihm war sein Auftritt nicht peinlich. Woher hatten die Jungs dieses Selbstbewusstsein?

Auf diese platte Art der Kommunikation konnte sie verzichten. Jedweder Sexappeal war verpufft. »Für mich schon.«

Bewaffnet mit ihrem Getränk stolzierte sie mit eingezogenem Bauch an dem Typen vorbei, zurück in ihr Schlafzimmer. Ihr Herzschlag dröhnte bis in die Ohren, sie hätte am liebsten gebrüllt. Bislang hatte Noah ab und zu weiblichen Besuch mit in die Wohnung gebracht. Junge Frauen waren am Frühstückstisch erschienen, nur mit Strings und T-Shirts bekleidet. T-Shirts, die Anne für Noah gekauft hatte. Das war schwierig genug. Ein Mann in Boxershorts am frühen Morgen in ihrer Küche ging eindeutig über ihre Toleranzgrenze hinaus. Zumindest, wenn er unverhofft auftauchte. Mit den Wechseljahren hatte das nichts zu tun. Anne zog die Tür unsanft zu und platzierte den Espresso auf dem Nachttisch. Als sie ins Bett krabbelte, bemerkte sie, dass sie den Marmeladentoast vergessen hatte.

***

Zum dritten Mal wurde sie um kurz nach elf Uhr davon wach, dass die Wohnungstür ins Schloss fiel. Ihr Magen knurrte. Das Setting in der Küche hatte sich geringfügig verändert. Auf dem Tisch standen nun Butter, Marmelade und Käse, dazwischen benutzte Teller, Tassen und Besteck. Die Pizzakartons waren zur Seite geschoben worden.

Die Kaffeemaschine blinkte, der Behälter für die Bohnen war leer. Anne zog die Schublade unter dem Herd auf und starrte hinein. Keine Kaffeebohnenpackung. Das konnte nicht sein. Sie hatte erst vor wenigen Tagen im Café neben dem Büro für teures Geld eine Packung ihrer Lieblingssorte gekauft. In ihrem Innersten brodelte es und sie stürmte zurück ins Schlafzimmer, wo ihr Handy lag. Die Nummer von Noah war eingespeichert. Sekunden später ertönte seine Stimme: »Muss nur noch schnell die Welt retten und bin nicht erreichbar, sprich mir auf die Mailbox, ich melde mich bei dir.«

Anne räusperte sich und brüllte los. »Hier ist deine Mutter. Ich erwarte dich heute um Punkt 18.00 Uhr. Allein. Und vergiss ja nicht, den Kaffee wieder mitzubringen, den du weggenommen hast.«

Sie schmiss das Telefon aufs Bett und stampfte mit dem Fuß auf. Noah konnte dankbar sein, dass er nicht da war. Ihr Magen knurrte. Sie schmierte sich ein Marmeladenbrot und schlang es hinunter. Duschen, anziehen und raus. Im »Filos« würde es sicher ein Plätzchen für sie geben.

***

Anne hatte Glück, ein Tisch am Fenster war frei. Sie orderte das Veedels Frühstück und einen Milchkaffee. Um sie herum tobte das Südstadtleben. Menschen schoben sich am Lokal vorbei, Einkaufstaschen in der Hand. Am Nebentisch saßen zwei Männer, die sich gegenseitig mit Käse fütterten, rechts von ihr tippten drei junge Frauen auf dem Handy herum. Jede hatte vor sich ein Glas Sekt stehen. Alle paar Sekunden kicherte eine von ihnen und zeigte das Display den Freundinnen. Vertraute Bilder, wie sehr hatte sie das vermisst. Der Milchkaffee kam, zeitgleich blinkte ihr Smartphone auf. Milan. Was wollte der von ihr? Hatte sich Noah bereits beschwert? Zuerst der Kaffee. Sie trank einen Schluck und spürte dem leicht bitteren Geschmack nach, das Telefon im Auge behaltend. Ihr erster Ex war hartnäckig. Anne nahm das Gespräch an und meldete sich.

»Schläfst du noch oder warum dauerte das so lange?«, brummte er am anderen Ende.

»Dir auch einen guten Morgen. Soweit ich mich erinnern kann, warst du der Langschläfer in unserer Beziehung.«

»Dein Gedächtnis täuscht dich immer dann, wenn es um mich geht. Moin. Hast du ein paar Minuten?«

»Ich sitze im ›Filos‹ und warte auf mein Rührei. Wenn es kommt, muss ich aufhören. Also fass dich kurz.«

»So charmant wie eh und je. Es geht um unseren Sohn.«

»Aha, du erinnerst dich an ihn.«

»Sehr witzig. Er hat mich angerufen und mir sein Leid geklagt. Du gängelst ihn, engst ihn ein. So, wie du es mit mir auch gemacht hast.«

Anne ließ den Blick durch das Lokal schweifen und schwieg. Nicht provozieren lassen. Die Ehe mit Milan war eine Jugendsünde. Noah war das einzig Positive, was aus der Verbindung hervorgegangen war. Sein Vater hatte sie ein Jahr nach der Geburt mit dem Kleinkind im Stich gelassen, um sich selbst zu verwirklichen. Kindesunterhalt zahlte er, wenn überhaupt, lediglich sporadisch. Trotzdem bemühte sich Anne darum, ihn vor Noah nicht schlecht zu reden. Damit war nun endgültig Schluss. Noah musste endlich erwachsen werden und auf eigenen Füßen stehen. Mit knapp fünfundzwanzig und einer abgeschlossenen Ausbildung lebte er, abgesehen von einer Unterbrechung während eines Auslandssemesters, schon viel zu lange im Hotel Mama. Linda hatte völlig recht. Es war allerhöchste Zeit für ihn, auszuziehen. Für sie auch.

Anne holte Luft und zählte innerlich bis drei. Ein Trick, den sie bei unverschämten Kollegen auf der Gegenseite anwandte. »Um es kurz zu machen: Ich will Noah nicht weiter quälen, er muss bis spätestens Ende August meine Wohnung verlassen. Ich wollte es ihm heute Abend persönlich sagen. Wenn du ihn sprichst, kannst du ihn darauf vorbereiten.«

»Wie stellst du dir das vor? Wo soll er denn leben?«

Anne ballte die linke Hand zu einer Faust und klopfte auf die Tischplatte. »Das ist mir egal. Er kann zu seinen Umweltaktivistenfreunden ziehen oder sich ein Zimmer in einer WG suchen. Ich werde ihm einen monatlichen Betrag zur Verfügung stellen, solange er studiert und mir das nachweist. Ansonsten gibt es in der Gastronomie jede Menge freie Jobs. Abgesehen davon, dass er einen Vater hat.«

»Wie meinst du das?«

»Du bist unterhaltspflichtig, schon vergessen?«

»Du weißt, dass es mir finanziell nicht gut geht. Corona hat mich hart getroffen und …

»Dir ging es noch nie finanziell gut, wenn es um die Zahlung von Kindesunterhalt ging«, unterbrach Anne ihn. »Abgesehen davon kann Noah zur Abwechslung ja mal zu dir ziehen.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich hab keinen Platz und …«

»Du wiederholst dich. Nicht meine Baustelle.«

Ein junger Mann erschien mit einem Tablett, auf dem Schalen mit Rührei, Käse, Marmelade und Obst standen, die er auf die Tischplatte platzierte.

»Mein Frühstück kommt, ich muss aufhören.« Sie drückte das Gespräch weg und lächelte dem Kellner zu. »Das sieht großartig aus, vielen Dank.«

Anne belegte eine Brötchenhälfte mit der Eierspeise und biss hinein. Lecker. Den Gedanken an Milan schob sie in den hintersten Winkel ihres Gehirns und hoffte, das er bis heute Abend da bleiben würde. Sie würde ab sofort mehr an sich denken. Dazu gehörte der Auszug von Noah. Linda hatte recht. Mit ihrer übertriebenen Fürsorge und dem Abnehmen aller Verpflichtungen schadete sie dem Sohn. Nur noch schnell die Welt retten. Ich glaube, es hackt.

***

Vom Sommerwetter war nichts zu spüren. Im Gegenteil. Ungemütlich blies der Wind von hinten in ihren Nacken. Anne bedauerte, keinen Schal mitgenommen zu haben. Sie ging zügig an der Comedia vorbei in Richtung Volksgarten. Eine Runde durch den Park würde sicher nicht schaden, obwohl sie es sich lieber mit ihrem Krimi im Bett gemütlich gemacht hätte. Sie bewegte sich zu wenig. Auch das würde sich ändern. Sie brauchte dringend neue Impulse in ihrem Leben. Die Fitnessstudios hatten längst wieder geöffnet und warteten auf Kundinnen wie sie. Eine Mandantin hatte einen Personal Trainer engagiert, der sie für teures Geld dreimal die Woche in Form brachte. Die Kosten dafür wollte sie ihrem Ex als Unterhalt in Rechnung stellen. Anne schmunzelte, als sie sich die Reaktion der Richterin vorstellte, die über den Fall entscheiden würde. Ein Fitnesstrainer als ehebedingte Belastung? Wollen Sie mich veralbern? Der verlassenen Frau tat der Sport jedenfalls gut, sie wirkte nicht mehr so angespannt. Der verhärmte Zug um den Mund war verschwunden. Abgesehen davon, dass sie aufrechter ging, verzehrte sie sich nicht weiter nach ihrem Ehemann. Ein echter Fortschritt.

Anne stellte sich vor, wie sie vor Anton, Noahs Kumpel, Liegestütze absolvierte und lachte laut auf. Sie war wirklich urlaubsreif.

Auf dem Rückweg unternahm sie einen Abstecher in den Supermarkt und schleppte sich danach in den zweiten Stock des Hauses, in dem ihre Wohnung lag. Der Fahrstuhl war ab heute eine Tabuzone. Auch mit einundfünfzig konnte frau sich verwandeln. Wenn sie die Hälfte der Ratschläge befolgte, die sie den Mandantinnen erteilte, wäre ihr Dasein glücklicher. Sie wäre entspannter. Vielleicht sollte sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und sich ebenfalls räumlich verändern? Raus aus Köln? Aufs Land ziehen, wie viele ihrer Bekannten? Die schwärmten vom Landleben und der Selbstversorgung in Krisenzeiten. Anne schnaufte. Was für eine bescheuerte Idee. Allein, ohne Mann und Kind, auf dem Dorf? Sie wuchtete die Einkaufstasche auf einen Küchenstuhl und stöhnte. War sie überhaupt unglücklich? Nicht zufrieden mit ihrem Leben?

***

Nach einem heißen Bad in der Wanne hatte sie den Krimi ausgelesen, der Mörder war gefasst. Was nun? Es fiel ihr schwer, die Unordnung in der Küche nicht zu beseitigen. Noah würde das Chaos nicht stören, Ordnung nicht bemerken. Sie musste hart bleiben. Frau wächst an den Aufgaben, die frau sich stellt. Der Lieblingsspruch von Linda, deren Achillesferse eindeutig Lennart war.

Das Smartphone läutete, Lindas Foto ploppte auf. Gedankenübertragung.

»Hallo meine Liebe, hab gerade an dich gedacht.«

»Hoffentlich war es ein schöner Impuls.«

»Klar. Ich werde Noah vor die Tür setzen.«

»Das glaub ich erst, wenn es passiert ist.«

»Du schätzt mich völlig falsch ein. Dieses Mal ist es ernst.«

»Was hat er angestellt?«

»Die Küche in einem Saustall hinterlassen, den Kaffee verbraucht, ohne neuen zu besorgen und …« Anne räusperte sich.

»Das ist doch nicht außergewöhnlich, oder? Ähnliches bejammerst du seit Jahren.«

»Er lässt fremde Männer in die Wohnung.«

»Oha. War der wenigstens sexy?«

»Das ist nicht witzig. Stell dir vor, du kommst aus dem Bett in deinem Schlafanzug und begegnest einem heißen Typen in der Küche.«

»Sei doch froh, dass du einen Schlafanzug anhattest. Nur mit Höschen wäre es peinlicher gewesen. Oder spannender. Je nachdem.«

»Klar, du hättest dich ihm sofort an den Hals geworfen.«

»Nee. Erst, nachdem ich mich ins Bad geflüchtet und präsentabel hergerichtet hätte.«

Anne kicherte. »Klar. Du hättest ›einen Moment bitte gerufen‹ und dich zum Schminken zurückgezogen.«

Linda lachte herzhaft auf. »Genau. Und das, wo ich mich doch so häufig schminke. Außer einem eingetrockneten Lippenstift und Mascara ist bei mir nichts zu holen.«

»Du vergisst die rote Spitzenunterwäsche, die ich dir geschenkt habe.«

»Ja. Weiß gar nicht, wo ich die hab.«

»Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

»Genau wie du.«

»Ich ändere mich ab heute. Deshalb hab ich auch an dich gedacht. Du erinnerst dich: Frau wächst an den Aufgaben, die frau sich stellt.«

»Alles wegen eines Typen in der Küche?«

»Nein, wegen Noah. Ich muss ihn loslassen. Sonst erwürge ich ihn.«

»Okay. Verstehe.«

»Er soll zu Milan ziehen. Oder sich ein Zimmer nehmen. Oder … Egal, er muss hier weg. Ich muss was verändern.«

»Milan? Eine hervorragende Idee. Da hält er es keine zwei Wochen aus.«

»Das ist mir egal. Kannst du dir vorstellen, dass der mich heute angerufen hat? Sich bei mir beschwert hat? Weil ich Noah einengen würde. Ich?«

»Ups, du hattest echt keinen guten Tag.«

»Ganz genau. Der wird sich nur entscheidend verbessern, wenn ich heute Abend mit Noah spreche und ihm das Ultimatum stelle.«

»Warum hab ich das Gefühl, dass du dich gerade für das Gespräch in Rage redest? So wird das nicht funktionieren, du musst ganz cool sein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

»Du meinst, weil du Lennart schon einige Male aus deiner Wohnung verwiesen hast und …«

»Er wird nicht wieder fest bei mir einziehen«, unterbrach Linda sie. »Außerdem ist das was anderes. Noah ist dein Sohn, du musst ihn zu seinem Glück zwingen. Ihn anschubsen, damit er sein Leben in die Hand nimmt.«

»Er wird mir vorwerfen, dass ich eine kapitalistische Umweltsünderin bin, die zusieht, wie die Welt zugrunde geht.«

»Sicher wird er das. Das tut er doch immer, wenn du ihn antreibst. Aber du bist Anwältin und kannst damit umgehen.«

»Ich bin nicht nur Anwältin, sondern auch Mutter.«

»Jetzt keinen Rückzieher, du schaffst das. Nächste Woche um diese Zeit sitzen wir im Strandkorb und trinken Champagner.«

»Du magst überhaupt keinen Champagner, trinkst lieber Sekt.«

»Wenn du es hinbekommst, dass Noah auszieht, trinke ich welchen mit dir.«

»Danke für das Mut machen. Äh … Warum hast du eigentlich angerufen?«

»Nichts Weltbewegendes. Packe gerade meinen Koffer und wollte fragen, ob ich etwas Vornehmes mitnehmen muss.«

»Du packst? Wir fahren doch erst nächsten Freitag.«

»Ich nehme mir Zeit und Ruhe dafür. Die habe ich in der Woche nicht. Muss noch einiges waschen und bügeln. Steigert außerdem die Vorfreude.«

Anne überlegte. Keine blöde Idee. Sie würde nachher ihre Tasche aus dem Keller holen und morgen die Waschmaschine aktivieren. Besser, als das am Tag vor der Abreise zu tun.

»Wir fahren ans Meer, um die Füße in den Sand zu stecken und uns zu erholen. Du weißt schon, lange Spaziergänge und Gespräche, leckeres Essen und Schlaf. Ganz viel Schlaf. Wüsste nicht, wofür wir etwas Vornehmes brauchen. Wenn ich den Wettervorhersagen Glauben schenke, sollten wir Gummistiefel und Regenjacken mitnehmen. Zur Not kaufen wir was.«

»Du weißt, dass ich shoppen hasse.«

»Ja. Manchmal muss man über seine innere Schweinehündin springen. Ich zitiere dich nur.«

»Oh Gott, überhäufe ich dich wirklich mit diesen Sprüchen?« Linda kicherte.

»Ab und zu. Ist wohl eine Berufskrankheit.«

»Oh, es klingelt bei mir. Lass uns morgen telefonieren. Bin so gespannt, wie Noah reagiert. Toi, toi, toi.«

Anne sah zum Fenster hinaus. Es regnete stärker als vorhin. Dieser Sommer war bislang keine Offenbarung. Der Rest auch nicht.

***

Um Viertel nach sechs hörte Anne, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Etwas knallte auf den Boden und die Tür fiel zu. Noah war da. Anne wartete auf ihn im Wohnzimmer, aufrecht im Sessel sitzend. Sie verschränkte die Finger ineinander und presste sie zusammen. Versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu ignorieren. Neben ihr lag ein brandneuer Krimi, in dem sie gelesen hatte. Hängengeblieben war nichts, sie würde später erneut von vorn beginnen müssen.

»Hi Mum. Hast du dich wieder eingekriegt?« Noah stand vor ihr und lächelte mild.

Anne musterte ihn wortlos. Den frisch geschnittenen Undercut. Dunkle Haare, durchzogen von ersten weißen Strähnen. Die hatte er Milan zu verdanken, der mit dreißig angefangen hatte, die seinen zu färben. Verwaschenes T-Shirt mit einem Panda, Jeans mit Löchern und Chucks. Dunkelblaue Augen, die sie anstrahlten. Er war der geborene Charmeur, genau wie sein Vater. Ihr gegenüber verhielten sich die Männer uncharmant. Sie würde das ab sofort nicht mehr hinnehmen.

»Ich habe mich wieder eingekriegt, wie du es ausdrückst«, begann sie und wies mit der Hand auf das Sofa. »Nimm Platz, wir müssen reden.«

»Oh Mum, wenn du Anton meinst, der …«

»Lass mich bitte zuerst. Du ziehst aus. Spätestens zum Ende nächsten Monats.« So, nun hatte sie es gesagt.

Noah schwieg, streckte seine langen Beine aus.

Anne lockerte ihre Hände. »Es geht nicht mehr mit uns beiden hier. Du bist längst alt genug, um dir eine eigene Unterkunft zu suchen.«

»Du schmeißt mich raus?« Noah hob die Augenbrauen.

»Nein, so schlimm ist es noch nicht. Ich bitte dich höflich, bis Ende August auszuziehen.«

»Anwaltssprech.« Er richtete den Zeigefinger auf sie. Seine Stimme wurde lauter. »Du weißt ganz genau, dass man in dieser Stadt keine bezahlbare Wohnung findet. Dieses verdammte kapitalistische System hat dafür gesorgt. Wovon soll ich tausend Euro für Miete aufbringen?«

Anne erinnerte sich an ihre lang zurückliegende Mediationsausbildung und antwortete nicht. Bewusst legte sie die Finger auf die Lehnen des Ohrensessels und sah ihren Sohn weiter an. Der hatte die Stirn in Falten gelegt und kaute an seinen Fingernägeln.

»Es wird nicht wieder vorkommen, versprochen. Ich räum morgen früh auch die Küche auf. Muss leider los, bin verabredet. Die Demo für nächsten Freitag vorbereiten.« Noah erhob sich langsam, wandte sich der Tür zu.

»Bleib sitzen, ich bin noch nicht fertig«, sagte sie in schneidendem Ton.

Fassungslos starrte er sie an, bevor er sich mit einer heftigen Bewegung zurück ins Sofa fallen ließ.

»Du hast mich offensichtlich nicht verstanden«, sagte Anne und fixierte ihn. »Ich zahle dir den dir zustehenden Unterhalt, solange du studierst. Ich gehe dabei davon aus, dass du spätestens in einem Jahr deinen Abschluss hast. Wenn du das nicht willst, versuche es zur Abwechslung mit einer bezahlten Tätigkeit. Als gelernter Tischler dürfte es nicht schwer sein, einen Job zu finden. Eine andere Möglichkeit ist die Gastronomie. Da werden händeringend Leute gesucht. Es muss auch nicht gleich eine Wohnung zu tausend Euro sein. Versuch es auf der anderen Rheinseite oder außerhalb der Stadt.«

»Du willst allen Ernstes, dass ich jobbe?«, schrie Noah entgeistert los.

---ENDE DER LESEPROBE---