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Stieg Larsson

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Beschreibung

Wie alles begann. Der erste Band von Stieg Larssons Trilogie in moderner Neuausstattung

Was geschah mit Harriet Vanger? Die junge Frau verschwand spurlos während eines Familientreffens auf der Privatinsel des mächtigen Industriellenclans. Auch Jahrzehnte später bleibt ihr Schicksal ungeklärt. Bis der in Ungnade gefallene Journalist Mikael Blomkvist und die rebellische, geniale Hackerin Lisbeth Salander im Auftrag des Onkels recherchieren. Was sie über die Familie Vanger zutage fördern, lässt alle Beteiligten wünschen, sie hätten sich nie mit diesem Fall beschäftigt.

"Die Millennium-Trilogie hat die Krimiwelt aus den Angeln gehoben." Brigitte

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Seitenzahl: 847

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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
Prolog
 
Teil I – Reizmittel
1. Kapitel – Freitag, 20. Dezember
Kapitel 2 – Freitag, 20. Dezember
3. Kapitel – Freitag, 20. Dezember – Samstag, 21. Dezember
4. Kapitel – Montag, 23. Dezember – Donnerstag, 26. Dezember
5. Kapitel – Donnerstag, 26. Dezember
6. Kapitel – Donnerstag, 26. Dezember
7. Kapitel – Freitag, 3. Januar
 
Teil II – Konsequenzanalyse
8. Kapitel – Freitag, 3. Januar – Sonntag, 5. Januar
9. Kapitel – Montag, 6. Januar – Mittwoch, 8. Januar
10. Kapitel – Donnerstag, 9. Januar – Freitag, 31. Januar
11. Kapitel – Samstag, 1. Februar – Dienstag, 18. Februar
12. Kapitel – Mittwoch, 19. Februar
13. Kapitel – Donnerstag, 20. Februar – Freitag, 7. März
14. Kapitel – Samstag, 8. März – Montag, 17. März
 
Teil III – Fusionen
15. Kapitel – Freitag, 16. Mai – Samstag, 31. Mai
16. Kapitel – Sonntag, 1. Juni – Dienstag, 10. Juni
17. Kapitel – Mittwoch, 11. Juni – Samstag, 14. Juni
18. Kapitel – Mittwoch, 18. Juni
19. Kapitel – Donnerstag, 19. Juni – Sonntag, 29. Juni
20. Kapitel – Dienstag, 1. Juli – Mittwoch, 2. Juli
21. Kapitel – Donnerstag, 3. Juli – Donnerstag, 10. Juli
22. Kapitel – Donnerstag, 10. Juli
23. Kapitel – Freitag, 11. Juli
 
Teil IV – Feindliche Übernahme
24. Kapitel – Freitag, 11. Juli – Samstag, 12. Juli
25. Kapitel – Samstag, 12. Juli – Montag, 14. Juli
26. Kapitel – Dienstag, 15. Juli – Donnerstag, 17. Juli
27. Kapitel – Samstag, 26. Juli – Montag, 28. Juli
28. Kapitel – Dienstag, 29. Juli – Freitag, 24. Oktober
29. Kapitel – Samstag, 1. November – Dienstag, 25. November
 
EPILOG: REVISION
Vorschau
Copyright
Das Buch
An seinem 82. Geburtstag erhält der einflussreiche Industrielle Henrik Vanger per Post anonym ein Geschenk. Das Paket enthält eine gepresste Blüte hinter Glas, genau wie in den 43 Jahren zuvor. Vangers Lieblingsnichte Harriet hatte ihm 1958 zum ersten Mal dieses Geschenk gemacht, doch dann verschwand sie spurlos. Ihr Leichnam wurde nie gefunden.
In einer letzten Anstrengung beschließt Vanger herauszufinden, was dem geliebten Mädchen tatsächlich zustieß. Er engagiert den Journalisten Mikael Blomkvist, der, getarnt als Biograf, bald auf erste Spuren stößt. Unterstützt wird er von der jungen Ermittlerin Lisbeth Salander, einem virtuosen Computergenie mit messerscharfem Verstand. Je tiefer Blomkvist und Salander in der Vangerschen Familiengeschichte graben, desto grauenvoller sind die Enthüllungen.
 
»Brillante Unterhaltung für anspruchsvolle Krimifans.« Münchner Merkur
 
»Stieg Larsson verquickt raffiniert die Erzählstränge, dass man der Auflösung förmlich entgegenfiebert.« TV Spielfilm
 
»Einer der spannendsten Skandinavien-Krimis, die derzeit auf dem Markt sind.« Westfalenpost
Der Autor
Stieg Larsson, 1954 in Umeå, Schweden, geboren, war Journalist und Herausgeber des Magazins EXPO. 2004 starb er an den Folgen eines Herzinfarkts. Er galt als einer der weltweit führenden Experten für Rechtsextremismus und Neonazismus. 2006 wurde er postum mit dem Skandinavischen Krimipreis als bester Krimiautor Skandinaviens geehrt. Sein Debütroman Verblendung wurde vom schwedischen Buchhandel zum besten Buch des Jahres 2005 gewählt. Es ist der erste Band einer Trilogie, die der Autor vor seinem Tod vollenden konnte und die bei Heyne erscheint.
Prolog
Freitag, 1. November
 
Es wiederholte sich alljährlich. Der Empfänger der Blume feierte seinen zweiundachtzigsten Geburtstag. Sowie die Blume bei ihm angekommen war, öffnete er das Paket und entfernte das Geschenkpapier. Danach griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer eines ehemaligen Kriminalkommissars, der sich nach seiner Pensionierung am Siljan-See niedergelassen hatte. Die beiden Männer waren nicht nur gleich alt, sie waren sogar am selben Tag geboren, was in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Der Kommissar wusste, dass der Anruf um elf Uhr morgens nach der Postzustellung eingehen würde, und trank Kaffee, während er wartete. Dieses Jahr klingelte das Telefon bereits um halb elf. Er nahm den Hörer ab und sagte hallo, ohne sich mit Namen zu melden.
»Sie ist angekommen.«
»Was für eine ist es dieses Jahr?«
»Keine Ahnung, was das für eine Blume ist. Ich werde sie bestimmen lassen. Weiß ist sie.«
»Kein Brief, nehme ich mal an?«
»Nein. Nur die Blume, sonst nichts. Der Rahmen ist derselbe wie letztes Jahr. So ein Billigrahmen zum Selberzusammenbauen.«
»Poststempel?«
»Stockholm.«
»Handschrift?«
»Wie immer, alles in Großbuchstaben. Gerade, ordentliche Buchstaben.«
Damit war das Thema erschöpft, und ein paar Minuten saßen die beiden schweigend am jeweiligen Ende der Leitung. Der pensionierte Kommissar lehnte sich am Küchentisch zurück und zog an seiner Pfeife. Er wusste jedoch, dass von ihm keine erlösende oder bestechend intelligente Frage mehr erwartet wurde, die ein neues Licht auf diese Angelegenheit hätte werfen können. Diese Zeiten waren seit vielen Jahren vorbei, und das Gespräch der beiden alternden Männer hatte beinahe schon den Charakter eines Rituals – eines Rituals um ein Mysterium, dessen Lösung keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt interessierte.
 
Ihr lateinischer Name lautete Leptosperum (Myrtyceae) Rubinette. Ein wenig imposantes Strauchgewächs mit kleinen, heidekrautähnlichen Blättern und einer zwei Zentimeter großen weißen Blüte mit fünf Kronenblättern. Sie war ungefähr zwölf Zentimeter hoch.
Das Gewächs stammte ursprünglich aus den australischen Busch- und Gebirgsgegenden, wo es in kräftigen Büscheln wuchs. In Australien nannte man es desert snow. Später sollte eine Expertin von einem botanischen Garten in Uppsala feststellen, dass es sich um eine ungewöhnliche Pflanze handelte, die nur selten in Schweden gezogen wurde. In ihrem Gutachten schrieb die Botanikerin, dass die Rubinette mit der Rosenmyrte verwandt war und oft mit ihrer viel häufiger auftretenden Cousine, Leptospermum Scoparium, verwechselt wurde, die in Neuseeland sehr verbreitet war. Wie sie erklärte, bestand der Unterschied darin, dass die Rubinette ein paar mikroskopisch kleine rosa Punkte an der Spitze der Kronenblätter aufwies, was ihnen einen leichten Rosaschimmer verlieh.
Die Rubinette war im Großen und Ganzen eine verblüffend anspruchslose Blume. Wirtschaftlichen Wert hatte sie überhaupt nicht. Soviel man wusste, besaß sie keine Heilkräfte und enthielt auch keine halluzinogenen Substanzen. Man konnte sie weder essen noch als Gewürz verwenden, und für die Erzeugung pflanzlicher Farbstoffe war sie ebenfalls wertlos. Für die australischen Ureinwohner, die Aborigines, hatte sie hingegen eine gewisse Bedeutung, da diese das Gebiet und die Flora rund um den Ayers Rock traditionell als heilig betrachteten. Der einzige Daseinszweck dieser Blume schien also darin zu bestehen, ihre Umgebung mit ihrer unbeständigen Schönheit zu erfreuen.
In ihrem Gutachten schrieb die Botanikerin, dass der desert snow in Australien schon ungewöhnlich war, in Skandinavien aber geradezu eine Rarität. Sie selbst hatte noch nie ein Exemplar zu Gesicht bekommen, doch als sie Kollegen zurate zog, erfuhr sie, dass man versucht hatte, diese Pflanze in einem Garten in Göteborg einzuführen, und dass es denkbar war, dass sie hie und da privat angepflanzt wurde, von Blumenliebhabern und Amateurbotanikern in ihren eigenen kleinen Gewächshäusern. Die Blume war in Schweden nur schwer zu ziehen, weil sie ein mildes und trockenes Klima benötigte und während des Winterhalbjahres in einem geschlossenen Raum stehen musste. Für kalkhaltigen Boden war sie ungeeignet. Das Wasser musste ihr von unten her zugeführt werden, direkt an die Wurzeln. Man musste schon ein Händchen für sie haben.
 
Dass diese Blume in Schweden derart selten war, hätte die Suche nach ihrer Herkunft theoretisch erleichtern müssen, aber praktisch gesehen war das eine unlösbare Aufgabe. Man konnte weder in Registern nachschlagen noch Lizenzen überprüfen. Niemand wusste, wie viele private Blumenzüchter sich überhaupt darum bemüht hatten, eine so schwer zu kultivierende Blume zu ziehen – alles war möglich, von einem einzelnen bis hin zu mehreren hundert Blumenfans, die Zugang zu Samen oder Pflanzen hatten. Die konnten entweder privat gekauft oder über den Postweg von einem anderen Züchter oder jedem beliebigen botanischen Garten in Europa bestellt werden. Man konnte sie sogar direkt von einer Australienreise mitbringen. Mit anderen Worten: Unter den Millionen von Schweden, die ein kleines Gewächshaus oder auch nur einen Blumentopf im Wohnzimmerfenster hatten, ausgerechnet diesen einen Züchter herauszufinden, war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Diese Blume war nur eines der vielen rätselhaften Exemplare, die jedes Jahr am 1. November in einem gefütterten Umschlag eintrafen. Jedes Jahr war es eine andere Art, aber es waren stets schöne und meistens relativ seltene Blumen. Wie immer war die Blume gepresst, sorgfältig auf Aquarellpapier gelegt und hinter Glas in einem einfachen Rahmen mit dem Format 29 x 16 Zentimeter befestigt worden.
 
Das Geheimnis um die Blumen war den Massenmedien oder der Allgemeinheit nie bekannt geworden, sondern nur einem ausgewählten Kreis. Vor drei Jahrzehnten war das jährliche Eintreffen der Blume Gegenstand von Analysen des Staatlichen Kriminaltechnischen Laboratoriums gewesen; Experten für Fingerabdrücke und Grafologen, Ermittler und ein paar Verwandte und Freunde des Empfängers hatten sich mit dem Rätsel beschäftigt. Nun bestand der Kreis der Akteure nur mehr aus drei Personen: dem alternden Geburtstagskind, dem pensionierten Polizisten und natürlich dem Unbekannten, der das Geschenk geschickt hatte. Da sich zumindest die beiden Erstgenannten bereits in einem so respektablen Alter befanden, dass es Zeit wurde, sich auf das Unausweichliche vorzubereiten, würde sich der Kreis der Interessierten bald noch verkleinern.
Der pensionierte Polizist war ein mit allen Wassern gewaschener Veteran. Er würde niemals seinen ersten Einsatz vergessen, bei dem er einen gewalttätigen und schwer betrunkenen Anlagenmechaniker festgenommen hatte, bevor dieser sich selbst oder anderen weiteren Schaden zufügen konnte. Im Laufe seiner Karriere hatte er Wilderer, prügelnde Ehemänner, Betrüger, Autodiebe und angesäuselte Autofahrer eingesperrt. Er war Einbrechern, Räubern, Dealern, Sexualverbrechern und mindestens einem mehr oder weniger geisteskranken Sprengstoffattentäter begegnet. An neun Ermittlungen in Mord- beziehungsweise Totschlagsfällen war er beteiligt gewesen. Davon waren fünf so verlaufen, dass der Täter selbst die Polizei angerufen und voller Reue gestanden hatte, er habe seine Frau oder seinen Bruder oder einen anderen ihm nahe stehenden Menschen getötet. Von den Morden wurden zwei nach ein paar Tagen aufgeklärt und einer nach zwei Jahren mit Hilfe der Reichskrimininalbehörde.
Der neunte Fall war aus polizeilicher Sicht gelöst, sprich, die Ermittler kannten den Mörder, aber die Beweislage war so unsicher, dass der Staatsanwalt beschlossen hatte, den Fall ruhen zu lassen. Die Angelegenheit wurde dann zur Erbitterung des Kommissars für verjährt erklärt. Aber im Großen und Ganzen konnte er auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken und hätte mit seiner Arbeit zufrieden sein können.
Doch er war alles andere als zufrieden.
Für den Kommissar steckte Der Fall mit den Gepressten Blumen in seinem Berufsleben wie ein kleiner Stachel, den er einfach nie hatte entfernen können – ein frustrierender Fall, dessen Lösung immer noch ausstand, obwohl er ihm, verglichen mit anderen Fällen, doch am meisten Zeit gewidmet hatte.
Die Situation war umso komplizierter, da er nach buchstäblich Tausenden von durchgrübelten Stunden während und außerhalb seiner Dienstzeiten nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war.
Wie die beiden Männer wussten, hatte die Person, die die Blumen gepresst und gerahmt hatte, Handschuhe getragen, denn weder auf dem Rahmen noch auf dem Glas waren Fingerabdrücke zu finden. Sie wussten, dass es unmöglich war, den Absender aufzuspüren. Sie wussten, dass man solche Rahmen in Fotoläden oder Schreibwarengeschäften auf der ganzen Welt kaufen konnte. Es gab einfach keine Spur, der die Ermittler hätten folgen können. Und die Poststempel wechselten ständig: Meistens kamen sie aus Stockholm, je zweimal aus Paris und Kopenhagen, je einmal aus Madrid, Bonn sowie – was sicherlich das größte Rätsel war – aus Pensacola, USA. Im Gegensatz zu den anderen Namen war Pensacola so unbekannt, dass der Kommissar die Stadt in einem Atlas nachschlagen musste.
 
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb der zweiundachtzigjährige Jubilar eine Weile ganz still sitzen und betrachtete die schöne, aber bedeutungslose Blume, von der er noch nicht einmal den Namen kannte. Dann hob er den Blick zur Wand über seinem Schreibtisch. Dort hingen dreiundvierzig gepresste Blumen hinter Glas in ihren Rahmen; vier Reihen mit jeweils zehn Blumen und eine noch nicht abgeschlossene Reihe mit fünf. In der obersten Reihe fehlte eine. Platz Nummer zehn war ebenfalls leer. Desert Snow würde die Nummer vierundvierzig werden.
Zum ersten Mal geschah aber etwas, was das Muster der früheren Jahre durchbrach. Ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung begann er zu weinen. Er wunderte sich selbst über diesen jähen Gefühlsausbruch nach fast vierzig Jahren.
Teil I
Reizmittel
20. Dezember bis 3. Januar
 
 
 
 
 
 
18% aller schwedischen Frauen über fünfzehn sind schon einmal von einem Mann bedroht worden.
1. Kapitel
Freitag, 20. Dezember
Der Prozess war unbestreitbar vorüber, und alles, was es zu sagen gab, war bereits gesagt worden. Er hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass er verurteilt werden würde. Das schriftliche Urteil war am Freitagmorgen um zehn Uhr ergangen, und nun stand nur noch der abschließende Bericht der Reporter aus, die im Korridor vor dem Gerichtssaal warteten.
Mikael Blomkvist sah sie durch die geöffnete Tür und zögerte kurz. Er wollte den Urteilsspruch, der gerade über ihn verhängt worden war, nicht diskutieren, aber die Fragen waren unvermeidlich, und wenn irgendjemand wusste, dass sie gestellt und beantwortet werden mussten, dann er. So fühlt es sich also an, ein Verbrecher zu sein, dachte er. Auf der falschen Seite des Mikrofons zu stehen. Er streckte sich verlegen und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. Die Reporter lächelten zurück und nickten ihm freundlich, fast ein wenig verschämt zu.
»Mal sehen … Aftonbladet, Expressen, TT, TV4 und … wo bist du denn her … ach ja, Dagens Industri. Ich muss berühmt geworden sein«, stellte Mikael Blomkvist fest.
»Geben Sie uns ein Statement, Kalle Blomkvist«, sagte der Reporter der einen Abendzeitung.
Mikael Blomkvist, dessen vollständiger Name Carl Mikael Blomkvist lautete, unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen, wie immer, wenn er seinen Spitznamen hörte. Vor zwanzig Jahren, als er im Alter von dreiundzwanzig gerade seine Journalistenkarriere mit einer ersten Vertretung begann, hatte Mikael Blomkvist – eigentlich ohne eigenes Verdienst – eine Bankräuberbande hochgehen lassen, die innerhalb von zwei Jahren fünf aufsehenerregende Dinger gedreht hatte. Dass es in allen Fällen dieselbe Bande war, stand völlig außer Zweifel; ihre Spezialität bestand nämlich darin, in kleinen Gemeinden aufzutauchen und dort mit militärischer Präzision eine oder zwei Banken auf einmal zu überfallen. Sämtliche Beteiligte trugen Walt-Disney-Masken aus Gummi und wurden mit nicht ganz abwegiger Polizeilogik auf den Namen »Donald Duck-Bande« getauft. Die Zeitungen änderten diesen Namen in »Die Panzerknacker«, was ein bisschen ernsthafter klang und dem Umstand Rechnung trug, dass die Bande bei zwei Überfällen planlos und ohne jede Rücksicht Warnschüsse abgefeuert und Passanten oder neugierige Gaffer mit der Waffe bedroht hatte.
Den siebten Coup landete sie in Östergötland mitten im Hochsommer. Ein Reporter vom Lokalradio hatte sich rein zufällig in der Bank aufgehalten, als der Überfall stattfand, und zeigte eine Reaktion wie aus dem Diensthandbuch für Journalisten. Sowie die Täter die Bank verlassen hatten, ging er zu einer Telefonzelle vor der Bank, rief seinen Sender an und gab die Nachricht live durch.
Mikael Blomkvist hatte damals eine Weile als Vertretung bei einer Lokalzeitung gearbeitet und verbrachte gerade mehrere Tage mit einer weiblichen Bekannten im Sommerhäuschen ihrer Eltern in der Nähe von Katrineholm. Wie er eigentlich auf die Querverbindung zwischen seinen Beobachtungen und dem Fall gekommen war, konnte er selbst nicht sagen, als ihn die Polizei befragte. Aber als er die Nachrichten hörte, fielen ihm sofort die vier Typen ein, die in einem zirka hundert Meter entfernten Sommerhäuschen wohnten. Ein paar Tage zuvor, als er auf dem Weg zum Eis-Kiosk mit seiner Freundin bei ihnen vorbeigegangen war, hatte er sie im Garten Federball spielen sehen.
Alles, was er gesehen hatte, waren vier blonde, durchtrainierte junge Männer in Shorts mit nacktem Oberkörper gewesen. Ganz offensichtlich betrieben sie Bodybuilding, und irgendetwas an diesem Bild mit den vier Federball spielenden jungen Männern hatte ihn ein zweites Mal hinsehen lassen – vielleicht, weil sie sich ihr Match in gnadenloser Sonnenglut lieferten, mit einer gewaltsam konzentrierten Energie, wie er fand. Irgendwie sah das Ganze nicht nach harmlosem Zeitvertreib aus.
Es gab keinen rationalen Grund, sie für Bankräuber zu halten, aber trotzdem war er zu einen Spaziergang aufgebrochen und hatte sich auf einen Hügel gekauert, von dem aus er ihre Hütte im Blick hatte. Nach ungefähr vierzig Minuten kam die Clique in einem Volvo angefahren und parkte den Wagen auf dem Grundstück. Sie schienen es eilig zu haben, und jeder von ihnen schleppte eine Sporttasche, was an und für sich nichts bedeuten musste, denn sie konnten ja genauso gut irgendwo beim Baden gewesen sein. Aber einer von ihnen ging noch einmal zum Auto zurück und holte einen Gegenstand heraus, den er schnell mit einer Sportjacke verhüllte. Sogar von seinem relativ weit entfernten Beobachtungsposten aus konnte Mikael feststellen, dass es sich um eine ziemlich alte AK4 handelte, genau den Typ Gewehr, der vor nicht allzu langer Zeit während des einjährigen Wehrdienstes sein ständiger Begleiter gewesen war. Er rief also die Polizei an und erzählte ihnen von seiner Beobachtung. Das war der Auftakt zu einer drei Tage dauernden, von den Medien intensiv verfolgten Belagerung des Sommerhäuschens gewesen. Mikael stand im Rampenlicht und erhielt ein großzügig bemessenes Freelancer-Honorar von einer der beiden Abendzeitungen. Die Polizei richtete ihr Hauptquartier nämlich in einem Wohnwagen ein, der auf dem Grundstück des Sommerhäuschens stand, in dem Mikael wohnte.
Der Fall mit den »Panzerknackern« verschaffte Mikael genau den Starstatus, den er als junger Journalist in der Branche benötigte. Die Kehrseite des Ruhmes war, dass die andere Abendzeitung es sich nicht verkneifen konnte, mit »Kalle Blomkvist hat den Fall gelöst« zu titeln. Der spöttische Text stammte von einer ältlichen Kolumnistin und enthielt ein Dutzend Verweise auf Astrid Lindgrens kleinen Detektiv. Obendrein hatten sie noch ein grobkörniges Foto abgedruckt, auf dem es so aussah, als würde Mikael einem uniformierten Polizisten mit erhobenem Zeigefinger irgendwelche Anweisungen erteilen. Dabei hatte er ihm nur den Weg zum Plumpsklo beschrieben.
 
Es spielte keine Rolle, dass Mikael Blomkvist seinen ersten Namen, Carl, niemals verwendet und auch keinen Artikel jemals mit Carl Blomkvist unterzeichnet hatte. Von diesem Moment an war er zu seiner Verzweiflung bei den Kollegen als Kalle Blomkvist bekannt – ein Spitzname, den man spöttisch stichelnd benutzte, nicht unfreundlich, aber auch nicht wirklich freundlich. Nichts gegen Astrid Lindgren – er liebte ihre Bücher, aber er hasste seinen Spitznamen. Es brauchte mehrere Jahre und weitaus gewichtigere journalistische Verdienste, bis sein Spitzname langsam in Vergessenheit geriet. Trotzdem zuckte er immer noch zusammen, wenn dieser Name in seiner Anwesenheit fiel. So wie in diesem Moment.
Er zwang sich zu einem Lächeln und sah dem Reporter der Abendzeitung in die Augen, der sagte: »Ach, komm, denk dir doch einfach was aus. Du dichtest dir deine Texte doch immer zusammen.«
Der Ton war nicht unfreundlich. Sie waren ja alle mehr oder weniger miteinander bekannt, und außerdem waren Mikaels schlimmste Kritiker gar nicht erst aufgetaucht. Mit einem von ihnen hatte er früher zusammengearbeitet, und auf einem Fest vor ein paar Jahren wäre es ihm beinahe gelungen, eine andere aufzureißen – eine Mitarbeiterin von TV4.
»Sie haben ja ganz schön was auf die Nase bekommen da drinnen«, kam es von Dagens Industri – ganz offensichtlich hatten sie eine junge Sommeraushilfe geschickt.
»Tja, das muss man wohl so sagen«, gab Mikael zu. Etwas anderes konnte er schlecht behaupten.
»Wie fühlt sich das an?«
Trotz der ernsten Lage konnten es sich weder Mikael noch die älteren Journalisten verkneifen, bei dieser Frage den Mund zu verziehen. Mikael tauschte einen Blick mit TV4. Wie fühlt sich das an? Das war nach der einhelligen Meinung aller seriöser Journalisten die Standardfrage, die bescheuerte Sportreporter hinter der Ziellinie atemlosen Sportlern stellten. Aber dann wurde er gleich wieder ernst.
»Ich kann natürlich nur bedauern, dass das Gericht nicht zu einem anderen Urteil gekommen ist«, antwortete er förmlich.
»Drei Monate Haft und 150 000 Kronen Schadenersatz sind eine empfindliche Strafe«, sagte die Journalistin von TV4.
»Ich werd’s überleben.«
»Werden Sie Wennerström um Entschuldigung bitten? Ihm die Hand geben?«
»Nein, das glaube ich kaum. Meine Meinung zu Herrn Wennerströms Geschäftsmoral hat sich nicht nennenswert geändert.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie ihn immer noch für einen Schurken halten?«, fragte Dagens Industri schnell.
Diese Frage legte eine Antwort nahe, die leicht in eine verheerende Schlagzeile münden konnte, und Mikael hätte nur zu leicht auf dieser Bananenschale ausrutschen können, wenn ihm der Reporter sein Mikrofon nicht gar so übereifrig vors Gesicht geschoben hätte. Er überlegte sich seine Antwort ein paar Sekunden.
Das Gericht hatte gerade festgestellt, dass Mikael Blomkvist den Industriellen Hans-Erik Wennerström in seiner Ehre verletzt hatte. Mikael war wegen übler Nachrede verurteilt worden. Die Verhandlung war abgeschlossen, und er hatte auch nicht vor, Berufung einzulegen. Aber was würde passieren, wenn er seine Behauptungen unvorsichtigerweise schon auf der Treppe vor dem Gericht wiederholte? Er beschloss, die entsprechende Antwort zu umgehen.
»Ich fand, dass ich gute Gründe hatte, meine Angaben zu veröffentlichen. Das Gericht hat das anders gesehen, und ich muss selbstverständlich akzeptieren, dass der Prozess der Rechtsfindung damit abgeschlossen ist. Jetzt werden wir in der Redaktion das Urteil gründlich diskutieren, bevor wir beschließen, wie wir weiter verfahren. Mehr kann ich dazu momentan nicht sagen.«
»Aber Sie haben außer Acht gelassen, dass man als Journalist seine Behauptungen auch beweisen können muss«, sagte die Mitarbeiterin von TV4 mit einem scharfen Unterton in der Stimme. Dieser Bemerkung konnte er nichts entgegensetzen. Sie waren gute Freunde gewesen. Ihr Gesichtsausdruck war neutral, aber Mikael glaubte einen Hauch von Enttäuschung und Missbilligung in ihren Augen auszumachen.
Mikael Blomkvist blieb stehen und beantwortete noch ein paar quälende Minuten lang weitere Fragen. Die Frage, die unausgesprochen in der Luft lag und die kein Reporter zu stellen wagte – vielleicht wegen der Peinlichkeit und Unverständlichkeit der gesamten Situation -, war die, wie Mikael nur einen Text hatte schreiben können, der jeder Substanz entbehrte. Die Reporter vor Ort, die Urlaubsvertretung von Dagens Industri mal ausgenommen, waren allesamt gestandene Journalisten. Die Antwort auf diese Frage lag für sie jenseits der Grenzen des Begreiflichen.
Die Kollegin von TV4 bat ihn, sich vor die Tür des Amtsgerichts zu stellen, und interviewte ihn separat vor der Kamera. Sie war freundlicher, als er es verdient hatte, und er gab genügend brauchbare Statements ab, um alle Reporter zufriedenzustellen. Die Story würde in die Schlagzeilen kommen – das war unvermeidbar -, aber er rief sich in Erinnerung, dass es sich hier nicht wirklich um ein spektakuläres Medienereignis handelte. Die Reporter waren bald zufrieden und zogen sich in ihre Redaktionen zurück.
 
Zunächst hatte er nur vorgehabt, spazieren zu gehen, aber es war ein windiger Dezembertag, und nach dem Interview war ihm schon kalt genug. Erst als er alleine auf der Treppe vorm Amtsgericht stand, hob er den Blick und sah William Borg aus einem Auto steigen, in dem er während des Interviews gesessen hatte. Borg lächelte, als ihre Blicke sich trafen.
»Allein, um dich mit diesem Zettel in der Hand da stehen zu sehen, hätte sich das Herkommen schon gelohnt.«
Mikael antwortete nicht. William Borg und Mikael Blomkvist kannten sich seit fünfzehn Jahren. Sie hatten früher gemeinsam als Vertretung für den Wirtschaftsteil einer Morgenzeitung gearbeitet. Vielleicht hätte man einfach sagen können, dass die Chemie zwischen den beiden nicht stimmte. Auf jeden Fall war damals der Grundstein zu einer lebenslangen Feindschaft gelegt worden. Borg war in Mikaels Augen ein erbärmlicher Reporter und ein unangenehmer, kleinlicher, rachsüchtiger Mensch, der seine Umwelt mit dämlichen Witzen drangsalierte und sich abfällig über ältere und erfahrenere Reporter äußerte. Gegen ältere Journalistinnen schien er eine ganz besondere Abneigung zu hegen. Mikael und er hatten einen ersten Streit gehabt, gefolgt von weiterem unerfreulichem Hin und Her, bis ihre Gegnerschaft schließlich zu einer persönlichen Angelegenheit geworden war.
Über die Jahre hinweg waren Mikael und William Borg regelmäßig aneinandergeraten, aber erst gegen Ende der neunziger Jahre richtige Feinde geworden. Mikael hatte ein Buch über Wirtschaftsjournalismus verfasst und fleißig aus einer Anzahl dümmlicher Artikel zitiert, für die Borg verantwortlich zeichnete. Mikael stellte Borg als Wichtigtuer dar, der die meisten Fakten in den falschen Hals kriegte und Lobeshymnen auf Dotcom-Firmen schrieb, mit denen es dann schnurstracks den Bach runterging. Borg hatte keinen Gefallen an Mikaels Analyse gefunden, und bei einem zufälligen Zusammentreffen in einer Kneipe in Söder war es beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Ungefähr zur gleichen Zeit kehrte Borg dem Journalismus den Rücken und arbeitete nun zu wesentlich höherem Lohn als Pressesprecher für ein Unternehmen, das obendrein zu Hans-Erik Wennerströms geschäftlichem Interessengebiet gehörte.
Sie musterten sich eine Weile, bevor Mikael auf dem Absatz kehrtmachte und davonging. Typisch Borg, zum Amtsgericht fahren, bloß um sich hinzustellen und ihn auszulachen.
Der 40er-Bus hielt gerade, und Mikael stieg zu, um von diesem Ort zu verschwinden. Am Fridhelmsplan stieg er aus und blieb unentschlossen an der Haltestelle stehen, sein schriftliches Urteil immer noch in der Hand. Zu guter Letzt beschloss er, zum Café Anna hinüberzugehen, das in der Nähe der Garageneinfahrt des Polizeigebäudes lag.
Keine dreißig Sekunden nachdem er sich einen Café latte und ein belegtes Brötchen bestellt hatte, begannen die Zwölf-Uhr-Nachrichten im Radio. Die Story kam an dritter Stelle, nach dem Selbstmordattentäter in Jerusalem und der Meldung, dass die Regierung eine Kommission eingesetzt hatte, um eine neue angebliche Kartellbildung in der Bauindustrie zu untersuchen.
»Der Journalist Mikael Blomkvist von der Zeitschrift Millennium wurde am Donnerstagmorgen zu drei Monaten Haft wegen böswilliger Verleumdung des Industriellen Hans-Erik Wennerström verurteilt. In einem viel beachteten Artikel über die sogenannte Minos-Affäre hatte Blomkvist behauptet, dass Wennerström staatliche Mittel, die für Investitionen in Polen genehmigt worden waren, stattdessen für Waffengeschäfte veruntreut habe. Mikael Blomkvist wurde zu Schadenersatzzahlungen in Höhe von 150 000 Kronen verurteilt. In einem Kommentar sagte Wennerströms Anwalt, Bertil Camnermarker, sein Mandant sei mit dem Urteil zufrieden. Seiner Meinung nach handele es sich in diesem Fall um eine außerordentlich böswillige Verleumdung.«
Auf dem Papier war das Urteil sechsundzwanzig Seiten lang. Es erläuterte den sachlichen Grund, warum er in fünfzehn Punkten der böswilligen Verleumdung des Geschäftsmannes Hans-Erik Wennerström für schuldig befunden worden war. Mikael stellte fest, dass ihn jeder dieser Punkte 10 000 Kronen und sechs Tage Gefängnis kostete. Abgesehen von den Kosten des Verfahrens und dem Honorar für seinen eigenen Anwalt. Er konnte sich nicht ansatzweise ausmalen, wie die Gesamtrechnung aussehen würde, musste jedoch zugeben, dass es auch schlimmer hätte kommen können; immerhin hatte sich das Gericht in sieben Punkten entschlossen, ihn freizusprechen.
Je länger er die Formulierungen des Urteils las, umso deutlicher braute sich in seiner Magengegend ein unangenehmes Gefühl zusammen. Dieses Gefühl überraschte ihn. Bereits zu Beginn der Verhandlung war ihm klar gewesen, dass er verurteilt werden würde, wenn nicht ein Wunder geschah. Er hatte die zwei Verhandlungstage relativ unbekümmert abgesessen und anschließend noch elf Tage gewartet, bis das hohe Gericht zu Ende überlegt und den Text formuliert hatte, den er jetzt in Händen hielt, ohne das Geringste dabei zu empfinden. Erst jetzt, da der Prozess vorbei war, befiel ihn Unbehagen.
Als er ein Stück von seinem Brötchen abgebissen hatte, schien der Bissen in seinem Mund plötzlich aufzuquellen. Er konnte kaum noch schlucken und schob das Brötchen schließlich beiseite.
Es war das erste Mal, dass Mikael Blomkvist verurteilt worden war – überhaupt das erste Mal, dass man ihn eines Vergehens verdächtigt und angeklagt hatte. Eigentlich handelte es sich um eine vergleichsweise harmlose Verfehlung. Es ging ja nicht um bewaffneten Raubüberfall, Mord oder Vergewaltigung. Finanziell gesehen traf ihn das Urteil freilich empfindlich. Millennium war nicht gerade das Flaggschiff der Medienwelt – das Magazin lebte mehr schlecht als recht von seiner Gewinnspanne -, aber das hier war auch nicht wirklich eine Katastrophe. Dummerweise war Mikael gleichzeitig Teilhaber, Journalist und verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift. Die Schadenersatzforderung, 150 000 Kronen, gedachte er aus eigener Tasche zu begleichen, was seine Ersparnisse nahezu vollständig aufzehren würde. Die Zeitschrift übernahm die Gerichtskosten. Wenn man klug mit dem Geld wirtschaftete, würde es schon wieder in Ordnung kommen.
Er überlegte, sein Wohnrecht zu verkaufen, aber das würde ihm ganz schön wehtun. Gegen Ende der unbekümmerten achtziger Jahre, in einer Phase, als er über eine feste Anstellung und ein relativ gutes Einkommen verfügte, hatte er sich nach einer Eigentumswohnung umgesehen. Er war zu zahlreichen Wohnungsbesichtigungen gerannt und hatte das meiste abgelehnt, bis er über eine Mansardenwohnung mit fünfundsechzig Quadratmetern stolperte, die genau an der Ecke zur Bellmansgata lag. Der vorherige Besitzer hatte bereits angefangen, sie gemütlich auszubauen, dann jedoch plötzlich einen Job in einer Dotcom-Firma im Ausland bekommen, und so konnte Mikael das Renovierungsobjekt spottbillig kaufen.
Michael hatte die Skizzen des Innenarchitekten verworfen und den Ausbau selbst übernommen. Er steckte einiges an Geld in die Renovierung des Badezimmers und der Küche und pfiff auf den Rest. Statt Parkett zu verlegen und Zwischenwände einzuziehen, um die geplante Zweizimmerwohnung zu schaffen, schliff er die Dachbalken ab und strich Kalkfarbe direkt auf die Originalwände. Über die schlimmsten Schadstellen hängte er ein paar Aquarelle von Emanuel Bernstone. Das Ergebnis war ein völlig offener Raum mit einer Schlafnische hinter einem Bücherregal und einem kombinierten Ess- und Wohnzimmer mit einer kleinen Küche, wie in einer Bar. Die Wohnung hatte zwei Mansarden- und ein Giebelfenster mit Ausblick über die Dächer in Richtung Riddarfjärden und der Altstadt Gamla Stan. Er konnte einen schmalen Streifen Wasser und das Rathaus sehen. Heutzutage würde er sich eine solche Wohnung nicht mehr leisten können, und er wollte sie gerne behalten.
Aber er riskierte ja nicht nur den Verlust seiner Wohnung. Viel schlimmer war, dass sein berufliches Ansehen gelitten hatte. Es würde lange dauern, bis es wiederhergestellt war. Falls dies überhaupt je der Fall sein würde.
Es ging um Vertrauen. In der nächsten Zeit würden viele Redakteure erst mal zögern, einen Artikel von ihm zu drucken. Er hatte immer noch genügend Freunde in der Branche, die akzeptieren würden, dass er einfach Opfer unglücklicher Zufälle gewesen war, aber ab jetzt konnte er sich keinen Fehler mehr leisten.
Am meisten schmerzte allerdings die Demütigung.
Er hatte alle Trümpfe in der Hand gehabt und dann doch verloren, gegen einen Gangster im Armani-Anzug. Einen Schweinehund von einem Börsenhai. Einen Yuppie mit einem Promi-Anwalt, der sich durch den ganzen Prozess gegrinst hatte.
Wie zum Teufel hatte alles nur so schiefgehen können?
Die Wennerström-Affäre hatte so vielversprechend begonnen, hinter dem Steuer seines Bootes, einer gelben Mälar-30, an einem Mittsommerabend vor achtzehn Monaten. Ein ehemaliger Journalistenkollege, mittlerweile Pressebeauftragter beim Provinziallandtag, hatte seiner neuen Freundin imponieren wollen und unbedachterweise ein Boot gemietet, eine Scampi, mit der sie ein paar Tage ebenso planlos wie romantisch durch die Schären segeln wollten. Seine Freundin, die für ihr Studium gerade erst von Hallstahammar nach Stockholm gezogen war, hatte zunächst ein bisschen Widerstand geleistet, sich dann aber überreden lassen, allerdings unter der Bedingung, dass ihre Schwester und deren Freund mitkommen durften. Das Problem war nur, dass der Angestellte des Landtags mehr Enthusiasmus als Segelerfahrung vorweisen konnte. Drei Tage bevor sie ablegen wollten, hatte er Mikael verzweifelt angerufen und ihn überredet, sich ihnen als fünftes und navigationskundiges Besatzungsmitglied anzuschließen.
Mikael hatte zuerst rundheraus abgelehnt, sich dann aber von dem Versprechen verführen lassen, dass man sich in den Schären ein paar Tage bei gutem Essen in guter Gesellschaft entspannen würde. Aus diesem Versprechen wurde allerdings überhaupt nichts, und der Segeltörn hatte sich zu einer weit größeren Katastrophe ausgewachsen, als er sich hätte träumen lassen. Obwohl sie die schöne, aber wenig dramatische Strecke ab Bullandö über die Furusund-Route eingeschlagen hatten, war die neue Freundin sofort seekrank geworden. Ihre Schwester hatte angefangen, mit ihrem Freund zu streiten, und keiner von ihnen zeigte auch nur das geringste Interesse daran, ein paar Segelkenntnisse zu erwerben. Wie sich bald herausstellte, erwartete man von Mikael, dass er sich um das Boot kümmerte, während ihm die anderen gute, aber größtenteils nutzlose Ratschläge gaben. Nach der ersten Übernachtung auf Ängsö war er so weit, dass er in Furusund anlegen und den ersten Bus nach Hause nehmen wollte. Nur das verzweifelte Flehen seines Freundes hatte ihn bewogen, an Bord zu bleiben.
Am nächsten Tag gegen zwölf Uhr, früh genug, um noch ein paar freie Plätze zu finden, hatten sie das Boot auf Arholma an der Anlegestelle für Besucher festgemacht. Sie hatten gerade zu Mittag gegessen, als Mikael eine gelbe M-30 bemerkte, die nur das Großsegel gesetzt hatte und langsam in die Bucht glitt. Das Boot machte eine ruhige Drehung nach Luv, während der Skipper nach einem Platz an der Landungsbrücke Ausschau hielt. Mikael sah sich um und stellte fest, dass der Platz zwischen ihrer Scampi und einem H-Boot auf der Steuerbordseite vermutlich die einzige verbliebene Lücke war. Die schmale M-30 würde dort gerade noch hineinpassen. Er stand auf und gab ein Zeichen; der Skipper der M-30 hob die Hand, um sich bei ihm zu bedanken, und hielt auf die Landungsbrücke zu. Ein Einhandsegler, der sich nicht die Mühe machen wollte, den Motor anzuwerfen, sagte sich Mikael. Er hörte das Rasseln der Ankerkette, und wenige Sekunden später wurde das Großsegel eingeholt, während der Skipper nur so hin und her flitzte, um gleichzeitig das Ruder gerade zu richten und am Vordersteven ein Tau für das Anlegemanöver vorzubereiten.
Mikael kletterte auf die Reling und streckte eine Hand aus, um zu signalisieren, dass er das Tau entgegennehmen konnte. Der Neuankömmling nahm eine letzte Kursänderung vor und glitt perfekt, in ganz langsamer Fahrt, ans Heck der Scampi heran. Erst als der Skipper Mikael den Tampen zuwarf, erkannten sie einander und brachen in lautes Gelächter aus.
»Hallo, Robban!«, rief Mikael. »Warum schmeißt du nicht den Motor an, dann schrammst du nicht allen Booten im Hafen den Lack ab.«
»Hallo, Micke! Dachte ich mir doch, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst. Und den Motor würde ich ja gerne anmachen, wenn ich ihn in Gang kriegen könnte. Das Biest ist mir vor zwei Tagen bei Rödlöga endgültig abgestorben.«
Sie schüttelten sich über die Reling hinweg die Hand.
Vor ewigen Zeiten, in den siebziger Jahren, waren Mikael Blomkvist und Robert Lindberg am Kungsholmer Gymnasium Freunde gewesen, sogar sehr gute Freunde. Doch wie es so oft mit alten Schulkameraden geht, war die Freundschaft nach den Abschlussprüfungen zu Ende. Sie waren getrennte Wege gegangen und hatten sich in den letzten zwanzig Jahren höchstens fünf oder sechs Mal getroffen. Als sie sich unerwartet auf der Landungsbrücke von Arholma begegneten, hatten sie sich schon mindestens sieben oder acht Jahre nicht mehr gesehen. Jetzt musterten sie einander neugierig. Robert war braun gebrannt, sein Haar war verfilzt, und wie man an den Bartstoppeln sehen konnte, hatte er sich seit Wochen nicht mehr rasiert.
Mikaels Laune hellte sich plötzlich bedeutend auf. Als der Pressetyp und sein einfältiges Gefolge aufbrachen, um beim Kaufladen auf der anderen Seite der Insel um den Maibaum zu tanzen, war er bei Hering und Schnaps auf der M-30 geblieben, um mit seinem Schulkameraden über Gott und die Welt zu quatschen.
 
Irgendwann im Laufe des Abends, als sie den Kampf gegen die berüchtigten Mücken von Arholma aufgegeben hatten und in die Kajüte gegangen waren, hatte sich das Gespräch nach einer beträchtlichen Anzahl von Schnäpsen in eine freundschaftliche Kabbelei über Moral und Ethik in der Geschäftswelt verwandelt. Beide hatten sich für Karrieren entschieden, die irgendwie mit der schwedischen Finanzwelt zu tun hatten. Robert Lindberg war nach dem Abitur auf die Handelshochschule gegangen und danach ins Bankgeschäft eingestiegen. Mikael Blomkvist war auf der Journalistenschule gelandet und hatte einen Großteil seines Berufslebens darauf verwandt, dubiose Geschäfte in der Finanzwelt aufzuklären. Das Gespräch begann um die Frage nach der moralischen Korrektheit gewisser Abfindungspraktiken zu kreisen, die in den neunziger Jahren bekannt geworden waren. Nachdem er so manchen Manager verteidigt hatte, stellte Lindberg sein Glas ab und räumte widerwillig ein, dass sich in der Geschäftswelt trotz allem der eine oder andere Schweinehund versteckte. Plötzlich hatte er Mikael ganz ernst angesehen.
»Du gehörst doch zu den Journalisten, die in Sachen Wirtschaftskriminalität recherchieren – warum schreibst du nicht über Hans-Erik Wennerström?«
»Ich wusste nicht, dass es über den was zu schreiben gibt.«
»Dann fang an zu wühlen. Fang in Dreiteufelsnamen an zu wühlen. Wie viel weißt du über das SIB-Programm?«
»Tja, das war eine Art Förderprogramm in den neunziger Jahren, mit dem man der Industrie in den ehemaligen Ostblockstaaten auf die Füße helfen wollte. Vor ein paar Jahren wurde es dann eingestellt. Ich hab nie irgendetwas darüber geschrieben.«
»SIB, das Industrieförderungsprogramm – das war ein von der Regierung gefördertes Projekt unter der Leitung von Repräsentanten einiger großer schwedischer Unternehmen. SIB bekam staatliche Garantien für eine ganze Reihe von Projekten zugesichert, die in Abstimmung mit den Regierungen von Polen und den baltischen Staaten verabschiedet wurden. Der Schwedische Gewerkschaftsbund war ebenfalls mit von der Partie, um sicherzustellen, dass auch die Gewerkschaften im Osten nach schwedischem Modell gestärkt würden. Offiziell war das Ganze ein Förderprogramm nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe, das den Regierungen im Osten eine Möglichkeit eröffnen wollte, ihre Wirtschaft zu sanieren. In der Praxis ging es aber darum, dass schwedische Unternehmen staatliche Subventionen einstrichen, um sich damit als Teilhaber in osteuropäische Unternehmen einzukaufen. Dieser verdammte heuchlerische Minister war ein treuer Anhänger des SIB. Man wollte eine Papierfabrik in Krakau bauen, die Metallindustrie in Riga auf Vordermann bringen, eine Zementfabrik in Tallinn errichten und so weiter. Die Gelder wurden von den Vorständen des SIB verteilt, lauter einflussreichen Persönlichkeiten aus der Welt der Banken und der Großindustrie.«
»Steuergelder also?«
»Ungefähr 50 % staatliche Zuschüsse, den Rest steuerten die Banken und die Unternehmen selbst bei. Aber weniger aus ideellen Gründen. Sie rechneten damit, eine ordentliche Stange Geld einzustreichen. Sonst hätten sie keinen Pfifferling dafür gegeben.«
»Von wie viel Geld sprechen wir denn da?«
»Beim SIB ging es hauptsächlich um schwedische Unternehmen, die sich auf dem osteuropäischen Markt etablieren wollten. Hochkarätige Unternehmen wie ABB und Skanska und so. Mit anderen Worten also, keine Spekulanten.«
»Willst du etwa behaupten, dass Skanska nicht spekuliert? Deren Geschäftsführer war es doch, der gefeuert wurde, als er einen von seinen Jungs eine halbe Milliarde mit irgendwelchen Day Tradings versenken ließ? Und was ist mit ihren Immobiliengeschäften in London und Oslo?«
»Sicher, Idioten gibt es in jedem Unternehmen dieser Welt, aber du weißt schon, was ich meine. Das sind auf jeden Fall Firmen, die etwas produzieren. Das Rückgrat der schwedischen Industrie.«
»Und was hat Wennerström jetzt damit zu tun?«
»Wennerström ist der Joker in diesem Spiel. Also, da kommt ein Typ von irgendwoher, er hat keinen großartigen industriellen Hintergrund und auf dieser Bühne eigentlich überhaupt nichts zu suchen. Aber er hat sich an der Börse ein enormes Vermögen erworben und es in sichere Unternehmen investiert. Er ist sozusagen durch die Hintertür dazugestoßen.«
Mikael Blomkvist hatte sein Glas mit »Reimersholmer Schnaps« aufgefüllt, sich in der Kajüte zurückgelehnt und nachgedacht, was er alles über Wennerström wusste. Und das war eigentlich nicht besonders viel. Geboren irgendwo in Norrland, wo er irgendwann in den siebziger Jahren ein Investmentunternehmen gründete. Er verdiente gutes Geld und ging nach Stockholm, um in den goldenen achtziger Jahren eine kometenhafte Karriere hinzulegen. Er hatte die Wennerström-Gruppe gegründet, später umbenannt in The Wennerstroem Group, als in London und New York Dependancen eröffnet wurden, die in den Zeitungen bald in einem Atemzug mit Beijer genannt wurden. Er handelte mit Aktien und Optionen und steckte Geld in Day Tradings. Er kam in die Klatschpresse als einer unserer zahlreichen neuen Milliardäre – ein Penthouse am Strandvägen, ein großartiges Sommerhaus auf Värmdö und eine dreiundzwanzig Meter lange Motoryacht, die er einem ehemaligen, Pleite gegangenen Tennisstar abkaufte. Eigentlich hatte er immer nur gut rechnen können, aber die achtziger Jahre waren nun mal das Jahrzehnt der Rechner und Immobilienspekulanten, und Wennerström hatte sich nicht mehr hervorgetan als die anderen. Eher im Gegenteil, unter all den Big Boys hielt er sich ein bisschen im Hintergrund. Mit Immobilien wollte er nichts zu tun haben; stattdessen investierte er in großem Stil im ehemaligen Ostblock. Als in den neunziger Jahren langsam die Luft raus war und ein Manager nach dem anderen zwangsweise seine Abfindung einforderte, war Wennerströms Unternehmen überraschend gut davongekommen. Nicht einmal die Spur eines Skandals. Eine schwedische Erfolgsstory, so hatte die Financial Times es zusammengefasst.
»Es geschah 1992. Wennerström meldete sich plötzlich beim SIB und teilte mit, dass er Geld wollte. Offenbar unterstützt von in Polen ansässigen Interessenten, legte er einen Plan vor, wie man eine Fabrik aufbauen könnte, die Verpackungsmaterial für die Lebensmittelindustrie produzierte.«
»Eine Fabrik für Konservendosen?«
»Nicht ganz, aber so was in der Art. Ich habe keine Ahnung, wen er beim SIB kannte, aber er konnte ohne Weiteres sechzig Millionen Kronen abstauben.«
»Das klingt ja langsam spannend. Lass mich raten: Danach hat man von diesem Geld nichts mehr gesehen.«
»Falsch«, sagte Robert Lindberg. Er lachte, bevor er sich mit einem weiteren Schnaps stärkte.
»Was dann geschah, ist ein klassisches Beispiel für betriebswirtschaftliche Rechenkünste. Wennerström baute wirklich eine Verpackungsindustrie in Polen auf, in Lodz, um genau zu sein. Das Unternehmen hieß Minos. 1993 erhielt das SIB ein paar enthusiastische Geschäftsberichte, danach Schweigen. 1994 brach Minos plötzlich zusammen.«
 
Robert Lindberg hatte das leere Schnapsglas mit einem kräftigen Rums auf dem Tisch abgestellt, um zu illustrieren, wie die Firma zusammengebrochen war.
»Das Problem mit dem SIB war, dass es keine festen Regeln dafür gab, wie die Rechenschaftsberichte für die Projekte auszusehen hatten. Du weißt, wie das in diesen Zeiten war. Alle waren derart optimistisch, als die Mauer fiel. Die Demokratie wurde eingeführt, die Gefahr eines Atomkrieges war gebannt, und die Bolschewiken sollten über Nacht Kapitalisten werden. Die Regierungen wollten die Demokratie im Osten stärken. Jeder Unternehmer wollte dabei sein und beim Aufbau des neuen Europa mithelfen.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass Unternehmer so eine Schwäche für wohltätige Werke haben.«
»Glaub mir, das war der feuchte Traum eines jeden Unternehmers. Russland und die ehemaligen Ostblockstaaten sind so ungefähr der größte noch zu erschließende Markt nach China. Die Industrie hatte kein Problem damit, der Regierung beizuspringen, vor allem, weil die Unternehmen nur für einen Bruchteil der Ausgaben einstehen mussten. Insgesamt verschlang das SIB knapp dreißig Millionen Kronen an Steuergeldern. Das Geld sollte in Form zukünftiger Gewinne zurückfließen. Offiziell war das SIB eine Initiative der Regierung gewesen, aber der Einfluss der Industrie war so groß, dass der Vorstand praktisch selbstständig arbeitete.«
»Verstehe. Steckt dahinter auch noch irgendeine Story?«
»Gedulde dich. Als das Projekt anlief, gab es keinerlei Probleme mit der Finanzierung. Schweden war noch nicht vom Rentenschock heimgesucht worden. Die Regierung war zufrieden, weil sie mit dem SIB zeigen konnte, wie groß das schwedische Engagement im Osten war.«
»Das geschah alles unter der bürgerlichen Regierung?«
»Die politische Richtung spielt doch keine Rolle. Es geht um Geld, und da ist es scheißegal, ob die Sozis oder die Konservativen die Minister stellen. Also volle Kraft voraus, aber dann kam das Valutaproblem, und danach meldeten sich ein paar dämliche Neue Demokraten – erinnerst du dich noch an die Neuen Demokraten, diese Populistenpartei? – und fingen an zu nörgeln, dass man nicht genügend Einblick in die Tätigkeiten des SIB habe. Einer von diesen Wichteln hatte SIB mit SIDA verwechselt und glaubte, es handele sich um irgendein Entwicklungshilfe-Programm, wie das in Tansania. Im Frühjahr 1994 wurde eine Untersuchungskommission gegründet, die das SIB unter die Lupe nehmen sollte. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Beanstandungen bei mehreren Projekten, aber eines der ersten, das man sich vornahm, war Minos.«
»Und Wennerström konnte nicht nachweisen, wofür die Gelder verwendet worden waren.«
»Im Gegenteil. Wennerström konnte einen ganz ausgezeichneten Rechenschaftsbericht vorlegen, der nachwies, dass knapp vierundfünfzig Millionen Kronen in Minos investiert worden waren. Dann hätten sich aber die strukturellen Probleme im zurückgebliebenen Polen als zu groß herausgestellt, als dass eine moderne Verpackungsindustrie hätte funktionieren können. Ihre Fabrik sei von einem ähnlichen deutschen Projekt praktisch verdrängt worden. Die Deutschen waren gerade dabei, den ganzen Ostblock aufzukaufen.«
»Du hast gesagt, er habe sechzig Millionen Kronen bekommen.«
»Stimmt genau. Die SIB-Gelder waren quasi ein zinsfreies Darlehen. Der Hintergedanke war natürlich der, dass die Unternehmen einen Teil der Gelder nach ein paar Jahren zurückzahlen sollten. Aber Minos war baden gegangen und das Projekt missglückt, wofür man Wennerström schlecht verantwortlich machen konnte. Hier traten die staatlichen Garantien in Kraft, und Wennerström musste die Gelder, die mit dem Konkurs von Minos verloren gegangen waren, einfach nicht zurückzahlen. Er konnte nachweisen, dass er eine entsprechende Summe eigenen Geldes verloren hatte.«
»Warte mal, ich will sichergehen, dass ich das alles richtig verstanden habe. Die Regierung hielt die Steuermillionen bereit und stellte die Diplomaten, die die entsprechenden Türen öffneten. Die Industrie bekam das Geld und verwendete es für Investitionen in Joint Ventures, mit denen dann Rekordgewinne erzielt wurden. Also das übliche Spiel. Die einen gewinnen, und die anderen bezahlen die Rechnungen, und wir wissen, wer welche Rolle spielt.«
»Du bist ein Zyniker. Das Darlehen sollte dem Staat zurückgezahlt werden.«
»Die Darlehen waren zinslos, hast du gesagt. Das bedeutet, die Steuerzahler bekamen keine Zinsen dafür, dass sie ihre Kohle zur Verfügung stellten. Wennerström hat sechzig Millionen eingesackt, von denen vierundfünfzig investiert wurden. Was ist mit den restlichen sechs Millionen passiert?«
»Als klar wurde, dass sein SIB-Projekt genauer untersucht werden würde, schickte Wennerström einen Scheck über sechs Millionen ans SIB, mit dem er den Differenzbetrag beglich. Damit war die Sache, rein juristisch betrachtet, aus der Welt.« Robert Lindberg verstummte und warf Mikael einen herausfordernden Blick zu.
»Klingt ganz so, als hätte Wennerström SIB-Gelder in den Sand gesetzt, aber verglichen mit der halben Milliarde, die bei Skanska verschwunden ist, oder mit der Story von diesem ABB-Manager, der eine knappe Milliarde Abfindung bekam – das hat die Leute wirklich aufgebracht! -, scheint das hier nicht gerade viel Stoff zu bieten«, meinte Mikael. »Die Leser haben die Artikel über unfähige Spekulanten mittlerweile satt, auch wenn dabei Steuergelder im Spiel sind. Steckt noch mehr hinter dieser Story?«
»Sie wird noch besser.«
»Woher weißt du all diese Dinge über Wennerströms Geschäfte in Polen?«
»In den neunziger Jahren habe ich in der Handelsbank gearbeitet. Rate mal, wer die Berichte für den Vertreter unserer Bank im SIB erstellt hat?«
»Alles klar. Erzähl weiter.«
»Also … um das Ganze jetzt mal zusammenzufassen: Das SIB erhielt eine Erklärung von Wennerström. Papier ging hin und her. Ausstehende Gelder wurden zurückgezahlt. Dass er die sechs Millionen zurückzahlte, war ziemlich schlau. Wenn dir jemand freiwillig eine Tasche voller Geld geben will, dann bist du doch geneigt zu glauben, dass er eine reine Weste hat.«
»Komm zur Sache.«
»Aber mein lieber Blomkvist, das hier ist bereits die Sache. Das SIB war mit Wennerströms Bericht zufrieden. Die Investition war zum Teufel gegangen, aber an der Durchführung des Projekts fand man nichts auszusetzen. Wir haben jede Fakturierung, jeden Transfer und sämtliche Papiere durchgesehen. Alles war penibel abgerechnet. Ich habe es geglaubt. Mein Chef hat es geglaubt. Das SIB hat es geglaubt, und die Regierung hatte dem nichts hinzuzufügen.«
»Wo ist der Haken?«
»Tja, jetzt wird die Geschichte langsam brisant«, sagte Lindberg und sah auf einmal verblüffend nüchtern aus. »Du bist Journalist, also betrachte alles, was jetzt kommt, als off the record.«

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Män som hatar kvinnorbei Norstedts Förlag, Stockholm
 
 
 
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 06/2007
Copyright © 2005 by Stieg Larsson
Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Statistik auf den Kapitelstartseiten aus: Eva Lundgren, Gun Heimer, Jenny Westerstrand, Anne-Marie Kalliokoski: Slagen dam – Mäns våld mot kvinnor i jämställda Sverige, en omfångsundersökning/ Die geschlagene Frau – Männergewalt gegen Frauen im gleichberechtigten Schweden (Dienststelle für Verbrechensopfer an der Universität von Umeå und Uppsala, 2001) Umschlaggestaltung und Artwork: Eisele Grafik•Design, München, unter Verwendung einer Vorlage von Marrius/Shutterstock
eISBN : 978-3-641-20334-4
 
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