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Stieg Larsson

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Beschreibung

Die Millennium-Trilogie in moderner Neuausstattung

Die Ermittlerin Lisbeth Salander steht unter Mordverdacht. Ihr Partner, der Journalist Mikael Blomkvist, schwört, ihre Unschuld zu beweisen. Um jeden Preis. Blomkvist weiß, dass es diesmal um Salanders Leben geht. Gegen alle Widerstände bringt er die Wahrheit ans Licht. Als seine Ermittlungen die schwedische Regierung in ihren Grundfesten zu erschüttern drohen, setzt er alles auf eine Karte.

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Teil I
Intermezzo in einem Korridor8.-12. April
Im amerikanischen Bürgerkrieg haben ungefähr sechshundert Frauen gekämpft. Als Männer verkleidet, ließen sie sich fürs Heer anwerben. Hier hat sich Hollywood ein schönes Stückchen Kulturgeschichte entgehen lassen – oder ist diese Geschichte vielleicht ideologisch ein bisschen zu heikel? Mit Frauen, die die Geschlechtergrenzen nicht respektieren, haben sich die Geschichtsbücher schon immer schwergetan, und nirgendwo werden diese Grenzen so scharf gezogen wie bei Krieg und Waffengebrauch.
 
 
Jedoch legt die Geschichte, von der Antike bis zur Moderne, immer wieder Zeugnis von weiblichen Kriegern ab – den Amazonen. Die bekanntesten Beispiele haben Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden, weil sie als »Königinnen« gelten, also als Repräsentanten der herrschenden Klasse. Die politische Thronfolge befördert nämlich, so unangenehm es klingen mag, mit Regelmäßigkeit immer wieder mal eine Frau auf den Thron. Da Kriege sich vom Geschlecht wenig beeindrucken lassen, finden auch welche statt, wenn gerade eine Frau über das Land herrscht. Und so verzeichnen die Geschichtsbücher zwangsläufig eine Reihe von Kriegerköniginnen, die genauso erwähnt werden müssen wie jeder Churchill, Stalin oder Roosevelt auch. Semiramis aus Ninive, die das assyrische Reich gründete, und Boadicea, die einen der blutigsten englischen Aufstände gegen das Römische Reich anführte, sind nur zwei Beispiele. Letztgenannte steht übrigens als Statue an der Themse-Brücke gegenüber von Big Ben. Falls Sie dort vorbeikommen sollten, grüßen Sie sie schön von mir.
 
 
Doch im Allgemeinen schweigen sich die Geschichtsbücher über weibliche Kriegerinnen aus, die als gewöhnliche Soldaten den Umgang mit der Waffe erlernten, in ein Regiment eintraten und unter denselben Bedingungen wie die Männer an Schlachten gegen feindliche Heere teilnahmen. Dennoch hat es sie immer gegeben. Kaum ein Krieg hat sich ohne weibliche Beteiligung abgespielt.
1. Kapitel
Freitag, 8. April
Dr. Anders Jonasson wurde von Schwester Hanna Nicander geweckt. Es war kurz vor halb zwei Uhr morgens.
»Was ist los?«, fragte er benommen.
»Draußen landet gerade ein Rettungshubschrauber. Zwei Patienten. Ein älterer Mann und eine junge Frau. Sie hat eine Schussverletzung.«
»Aha«, sagte Anders Jonasson müde.
Er hatte nur ungefähr eine halbe Stunde geschlafen. Heute hatte er Nachtdienst in der Notaufnahme im Sahlgrenska-Krankenhaus von Göteborg. Es war ein furchtbar anstrengender Abend gewesen. Seit er um 18 Uhr seinen Dienst angetreten hatte, waren vier Patienten hinzugekommen, die bei einem Frontalzusammenstoß bei Lindome verletzt worden waren. Eine Frau war schwer verletzt, eine andere war kurz nach der Einlieferung für tot erklärt worden. Außerdem hatte er eine Kellnerin behandelt, die sich bei einem Unfall in einer Restaurantküche auf der Avenyn die Beine verbrüht hatte, und danach einem Vierjährigen das Leben gerettet, der mit Atemstillstand ins Krankenhaus eingeliefert worden war, nachdem er das Rad eines Spielzeugautos verschluckt hatte. Dann hatte er ein Mädchen im Teenageralter verbunden, das mit dem Fahrrad in eine Grube gefahren war. Passenderweise hatte das Bauamt die Grube direkt an der Abfahrt von einem Fahrradweg aufgerissen, und irgendjemand hatte auch noch prompt die Absperrgitter umgeworfen. Sie war mit vierzehn Stichen im Gesicht genäht worden und würde Ersatz für zwei Schneidezähne brauchen. Außerdem hatte Jonasson noch ein Stück Daumen wieder angenäht, das sich ein enthusiastischer Hobbyschreiner abgehobelt hatte.
Gegen elf war die Zahl der Patienten in der Notaufnahme deutlich gesunken. Er drehte eine Runde und überprüfte den Zustand der Neuzugänge. Danach zog er sich in den Ruheraum zurück und versuchte ein Weilchen zu entspannen. Seine Schicht ging bis sechs Uhr, und normalerweise schlief er nicht, wenn er Dienst hatte, auch wenn keine Notfälle eingeliefert wurden. Doch ausgerechnet heute Nacht war er sofort eingenickt.
Schwester Hanna Nicander reichte ihm eine Teetasse. Details zu den neuen Patienten hatte sie noch nicht.
Anders Jonasson spähte aus dem Fenster und sah, dass es über dem Meer heftig blitzte. Der Hubschrauber kam gerade noch rechtzeitig zurück. Von einer Sekunde auf die andere fing der Regen an zu prasseln. Das Gewitter hatte Göteborg erreicht.
Während er am Fenster stand, hörte er das Motorengeräusch und sah, wie der Helikopter in den Sturmböen über dem Landeplatz schwankte. Atemlos verfolgte er, wie der Hubschrauberpilot versuchte, das heikle Landemanöver unter Kontrolle zu behalten. Dann verschwand der Helikopter aus seinem Blickfeld, und man hörte, wie der Motor langsamer wurde. Er nahm einen Schluck, bevor er seine Teetasse abstellte.
 
Anders Jonasson ging den Bahren in der Notaufnahme entgegen. Seine Kollegin Katarina Holm kümmerte sich um den ersten Patienten, der hereingefahren wurde – ein älterer Mann mit schweren Gesichtsverletzungen. Dr. Jonasson fiel es zu, sich um die andere Patientin zu kümmern, die Frau mit der Schussverletzung. Er untersuchte sie kurz und stellte fest, dass es sich anscheinend um einen Teenager handelte, lehmverkrustet, blutverschmiert und schwer verletzt. Als er die Decke anhob, die die Sanitäter über sie gebreitet hatten, merkte er, dass jemand die Schusswunden an der Hüfte und der Schulter mit breitem silbernem Tape zugeklebt hatte, eine Maßnahme, die er ungewöhnlich klug fand. Das Klebeband hielt die Bakterien draußen und das Blut drinnen. Eine Kugel war außen an der Hüfte eingeschlagen und direkt durchs Muskelgewebe gedrungen. Dann hob er ihre Schulter an und sah das Einschussloch im Rücken. Es gab keine Austrittswunde, was bedeutete, dass die Kugel immer noch irgendwo in der Schulter stecken musste. Er hoffte, dass sie nicht die Lunge penetriert hatte, aber dass er in der Mundhöhle des Mädchens kein Blut entdecken konnte, war schon einmal ein gutes Zeichen.
»Röntgen«, sagte er zur Krankenschwester. Mehr musste er nicht erklären.
Schließlich schnitt er den Verband auf, den die Sanitäter ihr um den Kopf gewickelt hatten. Ihm wurde eiskalt, als er mit den Fingern das Einschussloch ertastete und begriff, dass das Mädchen in den Kopf geschossen worden war. Und hier fehlte die Austrittswunde ebenfalls.
Anders Jonasson richtete sich kurz auf und betrachtete seine Patientin. Plötzlich überkam ihn eine gewisse Abscheu. Er hatte seine Arbeit oft mit der eines Torwarts verglichen. Jeden Tag wurden Menschen in verschiedenstem Zustand bei ihm eingeliefert. 74-jährige Damen, die mit Herzstillstand in Nordstans Galleria zusammengebrochen waren, 14-jährige Jungen, deren Lungenflügel von einem Schraubenzieher durchbohrt worden waren, und 16-jährige Mädchen, die ein paar Ecstasy-Tabletten geknabbert und achtzehn Stunden durchgetanzt hatten, um dann blau anzulaufen und zusammenzubrechen. Einige waren Opfer von Arbeitsunfällen oder Misshandlungen. Manche waren Kleinkinder, die auf dem Vasaplatsen von Kampfhunden angefallen worden waren. Bei anderen handelte es sich um praktisch veranlagte Männer, die mit ihrer Black&Decker ein paar Bretter zurechtsägen wollten und sich dann bis aufs Mark in die Handgelenke schnitten.
Anders Jonasson war der Torwart, der zwischen den Patienten und dem Bestattungsunternehmen stand. Seine Arbeit bestand darin, über die erforderlichen Maßnahmen zu entscheiden. Wenn er die falsche Entscheidung traf, würde der Patient sterben oder vielleicht wieder aufwachen, aber lebenslang Invalide bleiben. Meistens traf er die richtige Entscheidung, was darauf zurückzuführen war, dass die Mehrzahl der Verletzten ein ganz offensichtliches und spezifisches Problem hatte. Ein Messerstich in der Lunge oder eine Quetschung nach einem Autounfall war begreiflich und übersichtlich. Ob der Patient überlebte, hing von der Schwere der Verletzung und Jonassons Kompetenz ab.
Es gab zwei Arten von Verletzungen, die Anders Jonasson verabscheute. Das eine waren schwere Brandverletzungen, die ungeachtet seiner Behandlung fast immer lebenslange Leiden nach sich zogen. Das andere waren Kopfverletzungen.
Das Mädchen vor ihm konnte mit einer Kugel in der Hüfte leben und auch mit einer Kugel in der Schulter. Aber eine Kugel irgendwo in ihrem Gehirn war ein Problem ganz anderer Größenordnung. Plötzlich hörte er Schwester Hanna etwas sagen.
»Entschuldigung?«
»Das ist sie.«
»Was meinen Sie?«
»Lisbeth Salander. Das Mädchen, hinter dem sie in Stockholm seit Wochen wegen dreifachen Mordes her sind.«
Anders Jonasson warf einen Blick auf das Gesicht der Patientin. Schwester Hanna hatte völlig recht. Das Passfoto dieses Mädchens hatten er und alle anderen Schweden seit den Osterfeiertagen auf den Schlagzeilenplakaten vor jedem Zeitschriftenladen gesehen. Und jetzt war die Mörderin selbst angeschossen worden, was wohl eine Art poetische Gerechtigkeit darstellte.
Aber das ging ihn nichts an. Seine Arbeit bestand darin, das Leben seiner Patientin zu retten, ganz gleich ob sie eine dreifache Mörderin oder eine Nobelpreisträgerin war. Oder sogar beides.
 
Danach brach das effektive Chaos aus, das eine Notaufnahme prägt. Das Personal von Jonassons Schicht machte sich routiniert ans Werk. Die Reste von Lisbeth Salanders Kleidung wurden aufgeschnitten. Eine Schwester verkündete den Blutdruck – 100 zu 70 -, während er selbst der Patientin das Stethoskop an die Brust legte und einen verhältnismäßig regelmäßigen Herzschlag und eine nicht ganz so regelmäßige Atmung feststellte.
Dr. Jonasson zögerte nicht, Lisbeth Salanders Zustand als kritisch einzustufen. Die Verletzungen an Schulter und Hüfte mussten warten. Fürs Erste konnte er einfach das Klebeband drauflassen, das jemand geistesgegenwärtig angebracht hatte. Das Wichtigste war der Kopf. Dr. Jonasson ordnete sogleich eine Computertomografie an.
Anders Jonasson war blond und blauäugig und kam ursprünglich aus Umeå. Seit zwanzig Jahren arbeitete er abwechselnd als Forscher, Pathologe und Notarzt im Sahlgrenskaund im Östra-Krankenhaus. Er hatte eine Eigenheit, die seine Kollegen verblüffte und das Personal stolz machte, mit ihm zusammenzuarbeiten: Er hatte die Einstellung, dass während seiner Schicht kein Patient sterben durfte, und wundersamerweise war es ihm bis jetzt gelungen, den Zähler tatsächlich auf null zu halten. Ein paar von seinen Patienten waren freilich gestorben, aber erst während der Folgebehandlung oder aus ganz anderen Ursachen.
Außerdem vertrat Jonasson eine etwas unorthodoxe Berufsauffassung. Er fand, dass Ärzte manchmal dazu neigten, unbegründete Schlüsse zu ziehen, und daher viel zu schnell aufgaben – sie verbrachten einfach zu viel Zeit damit, ganz exakt herauszufinden, was dem Patienten fehlte, um ihn korrekt behandeln zu können. Sicherlich stand es so im Lehrbuch; das Problem war nur, dass der Patient Gefahr lief zu sterben, während der Arzt noch überlegte. Schlimmstenfalls würde der Arzt zu dem Schluss kommen, dass der Fall hoffnungslos war, und die Behandlung abbrechen.
Anders Jonasson hatte jedoch noch nie einen Patienten mit einer Kugel im Schädel vor sich gehabt. Hier brauchte man wahrscheinlich einen Neurochirurgen. Er fühlte sich unzulänglich, aber dann ging ihm auf, dass er vielleicht mehr Glück hatte, als er verdiente. Bevor er sich wusch und die OP-Kleidung anzog, rief er Hanna Nicander.
»Es gibt da einen amerikanischen Professor namens Frank Ellis, der im Karolinska-Krankenhaus in Stockholm arbeitet, im Moment aber in Göteborg ist. Er ist ein bekannter Hirnforscher und außerdem ein guter Freund von mir. Er wohnt im Hotel Radisson auf der Avenyn. Können Sie mir bitte die Telefonnummer raussuchen?«
Während Anders Jonasson immer noch auf die Röntgenbilder wartete, kam Hanna Nicander mit der Telefonnummer des Hotels zurück. Jonasson warf einen Blick auf die Uhr – 1 Uhr 42 – und griff zum Hörer. Der Nachtportier zeigte sich äußerst unwillig, um diese Zeit überhaupt einen Anruf durchzustellen, und Doktor Jonasson musste ein paar äußerst scharfe Worte über die Patientin in Lebensgefahr fallen lassen, bevor er verbunden wurde.
»Guten Morgen, Frank«, sagte Anders Jonasson, als der Hörer schließlich abgenommen wurde. »Hier ist Anders. Ich habe gehört, dass du grade in Göteborg bist. Hast du Lust, ins Sahlgrenska rüberzukommen und mir bei einer Gehirnoperation zu assistieren?«
»Are you bullshitting me?«, hörte man eine zweifelnde Stimme am anderen Ende der Leitung. Obwohl Frank Ellis seit vielen Jahren in Schweden wohnte und fließend Schwedisch sprach – wenn auch mit amerikanischem Akzent -, blieb Englisch seine Leib- und Magensprache. Anders Jonasson sprach Schwedisch, und Ellis antwortete ihm auf Englisch.
»Frank, tut mir leid, dass ich deinen Vortrag verpasst habe, aber ich dachte, du könntest mir Privatstunden geben. Ich habe hier eine junge Frau, die in den Kopf geschossen wurde. Einschussloch direkt über dem linken Ohr. Ich würde dich nicht anrufen, wenn ich nicht eine zweite Meinung bräuchte. Und ich kann mir kaum eine geeignetere Person dafür vorstellen als dich.«
»Meinst du das im Ernst?«, erkundigte sich Frank Ellis.
»Es handelt sich um ein 25-jähriges Mädchen.«
»Und sie ist in den Kopf geschossen worden?«
»Einschussloch, keine Austrittswunde.«
»Aber sie lebt noch?«
»Puls schwach, aber regelmäßig, Atmung weniger regelmäßig, Blutdruck 100 zu 70. Außerdem hat sie eine Kugel in der Schulter und eine Schusswunde in der Hüfte. Das sind also zwei Probleme, mit denen ich selbst klarkomme.«
»Das klingt ja schon mal vielversprechend«, meinte Ellis.
»Vielversprechend?«
»Wenn einem Menschen ein Loch in den Kopf geschossen wird und er immer noch lebt, dann muss die Situation als hoffnungsvoll angesehen werden.«
»Kannst du mir helfen?«
»Ich muss zugeben, dass ich den Abend mit ein paar guten Freunden verbracht habe. Ich bin erst um eins ins Bett gekommen und dürfte einen ziemlich beeindruckenden Promillewert haben …«
»Ich werde die Entscheidungen treffen und den Eingriff durchführen. Aber ich brauche jemand, der mir assistiert und mir sagt, ob ich irgendeinen Blödsinn mache. Und ehrlich gesagt ist ein stockbesoffener Professor Ellis vermutlich noch um einige Klassen besser als ich, wenn es darum geht, Gehirnverletzungen einzuschätzen.«
»Okay. Ich komme. Aber du schuldest mir einen Gefallen.«
»Vor dem Hotel wartet ein Taxi auf dich.«
 
Professor Frank Ellis schob sich die Brille auf die Stirn und kratzte sich im Genick. Er blickte konzentriert auf den Computerbildschirm, der jeden Winkel von Lisbeth Salanders Gehirn zeigte. Ellis war 53 Jahre alt, hatte pechschwarzes Haar mit grauen Strähnen, dunkle Bartstoppeln und sah aus wie jemand, der eine Nebenrolle in Emergency Room spielt. Sein Körper verriet, dass er jede Woche ein paar Stunden im Fitnessstudio verbrachte.
Frank Ellis fühlte sich in Schweden sehr wohl. Als junger Forscher war er im Rahmen eines Austauschprogramms Ende der 70er-Jahre gekommen und zwei Jahre geblieben. Danach war er noch ein paarmal zurückgekehrt, bis man ihm eine Professur am Karolinska anbot. Mittlerweile genoss er auf seinem Fachgebiet internationales Ansehen.
Anders Jonasson kannte Frank Ellis schon seit vierzehn Jahren. In einem Seminar in Stockholm waren sie sich zum ersten Mal begegnet und hatten entdeckt, dass sie beide begeisterte Fliegenfischer waren, woraufhin Anders ihn zu einem Angelausflug nach Norwegen eingeladen hatte. Über all die Jahre waren sie immer in Kontakt geblieben und hatten noch mehr Angeltouren zusammen unternommen. Zusammen gearbeitet hatten sie jedoch noch nie.
»Gehirne sind ein Mysterium«, sagte Professor Ellis. »Ich widme mich der Hirnforschung nun schon seit zwanzig Jahren. Sogar schon länger.«
»Ich weiß. Tut mir leid, dass ich dich so hochgescheucht habe, aber …«
»Ach was.« Ellis winkte ab. »Das kostet dich eine Flasche Cragganmore, wenn wir das nächste Mal zum Angeln fahren.«
»Okay. Da komm ich ja günstig weg.«
»Vor vielen Jahren, als ich in Boston arbeitete, hatte ich eine Patientin – über den Fall habe ich dann im New England Journal of Medicine berichtet. Es war ein Mädchen im Alter deiner Patientin. Sie war gerade auf dem Weg in die Uni, da schoss jemand mit einer Armbrust auf sie. Der Pfeil trat links unterhalb der Augenbraue ein, ging direkt durch den Kopf und kam mitten im Nacken wieder heraus.«
»Und das hat sie überlebt?«, fragte Jonasson verblüfft.
»Als sie in die Notaufnahme kam, sah es richtig übel aus. Wir haben den Pfeil abgeschnitten und ihren Kopf in den Computertomografen geschoben. Der Pfeil ging mitten durchs Gehirn. Jeder realistischen Einschätzung nach hätte sie tot sein oder zumindest ein so massives Trauma haben müssen, dass sie ins Koma gefallen wäre.«
»Wie war ihr Zustand?«
»Sie war die ganze Zeit bei Bewusstsein. Und nicht nur das. Natürlich hatte sie schreckliche Angst, aber sie war bei ganz klarem Verstand. Ihr einziges Problem war, dass in ihrem Schädel ein Pfeilschaft steckte.«
»Was hast du gemacht?«
»Tja, ich hab mir eine Zange besorgt, den Pfeil rausgezogen und die Wunde versorgt. So ungefähr.«
»Kam sie durch?«
»Selbstverständlich war ihr Zustand kritisch, wir haben eine ganze Weile gewartet, bis wir sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen haben. Aber ehrlich gesagt – sie hätte genauso gut schon am selben Tag wieder nach Hause gehen können. Ich habe nie eine gesündere Patientin gehabt.«
Anders Jonasson überlegte, ob Professor Ellis ihn gerade auf den Arm nehmen wollte.
»Andererseits«, fuhr Ellis fort, »hatte ich vor ein paar Jahren mal einen 42-jährigen männlichen Patienten in Stockholm, der sich den Kopf am Fensterrahmen gestoßen hatte. Ihm wurde übel, und dann verschlechterte sich sein Zustand so schnell, dass man ihn mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme fuhr. Als er zu mir gebracht wurde, war er schon bewusstlos. Er hatte eine kleine Beule und eine minimale Blutung. Aber er wachte nicht wieder auf, und nach neun Tagen auf der Intensivstation starb er. Bis heute weiß ich nicht, warum er gestorben ist. Im Obduktionsprotokoll haben wir geschrieben: ›Gehirnblutung infolge eines Unfalls‹, aber mit dieser Diagnose war keiner von uns richtig zufrieden. Die Blutung an sich war so unbedeutend, dass sie überhaupt keine Auswirkung hätte haben dürfen. Trotzdem stellten Leber, Nieren, Herz und Lungen nach und nach ihre Tätigkeit ein. Je älter ich werde, desto mehr kommt mir das Ganze wie eine Art Roulette vor. Persönlich glaube ich ja, dass wir niemals so richtig ergründen werden, wie das Gehirn genau funktioniert. Wie willst du vorgehen?«
Er klopfte mit einem Stift auf das Röntgenbild.
»Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen würdest.«
»Erzähl erst mal, wie du die Sache einschätzt.«
»Tja, erst mal scheint das ja eine Kugel kleineren Kalibers zu sein. Sie ist in der Schläfe eingetreten und ungefähr vier Zentimeter tief ins Gehirn eingedrungen. Sie liegt am lateralen Ventrikel, und dort haben wir auch die Blutung.«
»Maßnahmen?«
»Um deine Terminologie zu verwenden – eine Zange besorgen und die Kugel auf demselben Weg rausholen, wie sie reingekommen ist.«
»Großartiger Vorschlag. Aber ich würde lieber die dünnste Pinzette benutzen, die du hast.«
»So einfach ist das?«
»Was können wir in diesem Fall sonst schon tun? Wir können die Kugel da lassen, wo sie ist, und vielleicht wird sie damit hundert Jahre alt, aber das bedeutet auch ein gewisses Risiko. Sie könnte Epilepsie, Migräne, allen möglichen Unfug bekommen. Und man will ihr ja auch nicht gerne den Schädel aufbohren und sie operieren, ein Jahr nachdem die Wunde verheilt ist. Die Kugel liegt ein Stück von den großen Blutgefäßen entfernt. In diesem Fall würde ich einfach empfehlen, dass du sie entfernst, aber …«
»Aber was?«
»Die Kugel macht mir nicht so viel Kummer. Das ist das Faszinierende an Hirnverletzungen – wenn sie es überlebt hat, dass sie eine Kugel ins Hirn bekommt, ist das ein Zeichen dafür, dass sie es auch überlebt, wenn man diese Kugel wieder herausholt. Das Problem ist eher das hier.« Er zeigte auf den Schirm. »Rund um die Einschusswunde hast du jede Menge Knochensplitter. Ich kann mindestens ein Dutzend Fragmente sehen, die mehrere Millimeter lang sind. Ein paar davon haben sich in die Hirnmasse gebohrt. Und daran wird sie sterben, wenn du nicht vorsichtig bist.«
»Dieser Bereich des Gehirns wird mit Zahlen und numerischen Fähigkeiten in Verbindung gebracht.«
Ellis zuckte die Achseln.
»Ich habe keine Ahnung, wozu genau die grauen Zellen an dieser Stelle gut sind. Du kannst nur dein Bestes tun. Du operierst sie. Ich schau dir dabei über die Schulter. Kann ich mir irgendwo OP-Kleidung leihen und mir die Hände waschen?«
 
Mikael Blomkvist warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz nach drei Uhr morgens war. Er trug Handschellen. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er war todmüde, aber das Adrenalin hielt ihn wach. Als er die Augen wieder aufschlug, musterte er wütend den sichtlich schockierten Kommissar Thomas Paulsson, der seinen Blick erwiderte. Sie saßen am Küchentisch eines weißen Bauernhofs, an einem Ort namens Gosseberga in der Nähe von Nossebro, von dem Mikael vor zwölf Stunden zum ersten Mal in seinem Leben gehört hatte.
Die Katastrophe war bereits eingetreten.
»Idiot«, sagte Mikael.
»Hören Sie mal zu …«
»Idiot«, wiederholte Mikael. »Verdammt noch mal, ich hab Ihnen gesagt, dass er höchst gefährlich ist. Ich hab Ihnen gesagt, dass Sie mit ihm umgehen müssen wie mit einer entsicherten Handgranate. Er hat mindestens drei Menschen umgebracht, ist gebaut wie ein Panzer und kann mit bloßen Händen töten. Und Sie schicken zwei Bürohengste, die ihn in Gewahrsam nehmen sollen, als hätte er am Wochenende einen über den Durst getrunken.«
Mikael schloss wieder die Augen. Er fragte sich, was in dieser Nacht noch so alles schiefgehen würde.
Er hatte Lisbeth Salander kurz nach Mitternacht schwer verletzt aufgefunden. Er hatte die Polizei alarmiert und den Rettungsdienst überredet, sofort einen Hubschrauber zu schicken, um Lisbeth ins Sahlgrenska-Krankenhaus zu bringen.
Dennoch hatte es über eine Stunde gedauert, bis der Rettungshubschrauber gekommen war. Mikael war hinausgegangen und hatte zwei Autos aus dem Kuhstall geholt, der auch als Garage genutzt wurde. Dann hatte er die Scheinwerfer angemacht, um dem Hubschrauber die Landung auf dem Acker vorm Haus zu erleichtern.
Die Besatzung des Helikopters und die zwei Sanitäter hatten routiniert und professionell gehandelt. Einer von ihnen leistete Lisbeth Salander Erste Hilfe, während der andere sich um Alexander Zalatschenko kümmerte, auch bekannt unter dem Namen Karl Axel Bodin. Zalatschenko war Lisbeths Vater und ihr schlimmster Feind. Sein Versuch, sie umzubringen, war jedoch misslungen. Mikael hatte ihn schwer verletzt im
Holzschuppen des abgelegenen Bauernhofs gefunden, mit einer üblen Verletzung im Gesicht, die von einem Axthieb herrührte, sowie einer schweren Verletzung am Bein.
 
Während Mikael auf den Hubschrauber wartete, tat er für Lisbeth alles, was in seiner Macht stand. Er holte ein sauberes Laken aus einem Wäscheschrank, schnitt es in Streifen und legte provisorische Verbände an. Er hatte festgestellt, dass das Blut in dem Einschussloch am Kopf bereits zu einem Pfropf geronnen war, und wusste nicht recht, ob er es wagen sollte, die Wunde zu verbinden oder nicht. Schließlich knotete er das Laken locker um ihren Kopf, um Bakterien und Schmutz von der Wunde fernzuhalten. Hingegen brachte er die Blutung aus den Einschusswunden in Hüfte und Schulter auf die denkbar einfachste Art zum Stillstand. In einem Schrank hatte er eine Rolle mit breitem silbernem Klebeband gefunden, mit dem er die Wunden einfach zuklebte. Dann tupfte er ihr Gesicht mit einem feuchten Handtuch ab, um den schlimmsten Schmutz zu entfernen.
Doch er ging nicht in den Holzschuppen, um Zalatschenko zu helfen. Insgeheim stellte er fest, dass ihm Zalatschenkos Schicksal herzlich egal war.
Während er auf den Rettungsdienst wartete, rief er Erika Berger an und setzte ihr die Situation auseinander.
»Bist du unverletzt?«, fragte Erika.
»Ich bin okay«, antwortete Mikael. »Lisbeth ist verletzt.«
»Das arme Mädchen«, sagte Erika Berger. »Ich habe heute Abend Björcks Bericht von der Sicherheitspolizei gelesen. Was willst du in der Sache unternehmen?«
»Ich mag jetzt kaum drüber nachdenken«, erwiderte Mikael.
Während er mit Erika redete, saß er auf dem Boden neben dem Sofa und behielt Lisbeth Salander im Auge. Schuhe und Hose hatte er ihr ausgezogen, um ihre Hüfte leichter verbinden zu können. Plötzlich legte er die Hand auf den Kleiderhaufen, den er auf den Boden geworfen hatte, und ertastete dabei einen Gegenstand: Er zog einen Palm Tungsten T3 aus Lisbeths Hosentasche.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Palm nachdenklich. Als er das Geräusch der Rotorblätter hörte, steckte er den Taschencomputer schnell in die Innentasche seiner Jacke. Danach, solange er immer noch unbeobachtet war, beugte er sich vor und durchsuchte sämtliche Taschen. Er fand noch einen Satz Schlüssel zu ihrer Wohnung bei Mosebacke und einen Pass, der auf den Namen Irene Nesser ausgestellt war. Rasch stopfte er alles in ein Fach seiner Laptoptasche.
 
Das erste Polizeiauto mit Fredrik Torstensson und Gunnar Andersson vom Revier Trollhättan war wenige Minuten nach dem Rettungshubschrauber eingetroffen. Ihnen folgte Kommissar Thomas Paulsson, der sofort das Kommando vor Ort übernahm. Mikael ging zu ihm und begann zu erklären, was vorgefallen war. Paulsson kam ihm vor wie ein aufgeblasener und vierschrötiger Hauptfeldwebel. Als er am Schauplatz erschien, begann alles schiefzulaufen.
Paulsson schien nicht im Entferntesten zu begreifen, wovon Mikael eigentlich redete. Er schien ziemlich aufgeregt, und das Einzige, was er wirklich wahrnahm, war die Tatsache, dass das schwer verletzte Mädchen auf dem Boden vor der Küchenbank die polizeilich gesuchte dreifache Mörderin Lisbeth Salander war – ein ganz schön dicker Fisch! Paulsson fragte den unter Hochdruck arbeitenden Sanitäter dreimal, ob das Mädchen nicht sofort festgenommen werden könne. Schließlich stand der Sanitäter auf und brüllte Paulsson an, er solle gefälligst eine Armlänge Abstand von ihm halten.
Daraufhin konzentrierte Paulsson sich auf den ebenfalls schwer verletzten Zalatschenko im Holzschuppen, und Mikael hörte mit, wie Paulsson über Funk durchgab, dass Salander offenbar versucht hatte, eine weitere Person zu ermorden.
Zu diesem Zeitpunkt war Mikael schon so sauer auf Paulsson, der anscheinend gar nicht auf das hörte, was er ihm erzählen wollte, dass er die Stimme hob und ihn aufforderte, sofort Kriminalinspektor Jan Bublanski in Stockholm anzurufen. Er zückte sein Handy und bot ihm an, die Nummer für ihn zu wählen. Doch Paulsson hatte kein Interesse.
Woraufhin Mikael einen großen Fehler beging.
Entschlossen erklärte er, dass der wahre dreifache Mörder ein Mann namens Ronald Niedermann war, der den Körperbau eines Panzers hatte, an angeborener Analgesie litt und derzeit gefesselt in einem Graben an der Straße nach Nossebro saß. Mikael beschrieb, wo man Niedermann finden könne, und empfahl, ein Sondereinsatzkommando einzusetzen, um ihn von dort zu holen. Paulsson fragte nach, wie Niedermann denn in diesen Straßengraben gekommen sei, und Mikael gab offen zu, dass er diese Situation selbst mit vorgehaltener Waffe herbeigeführt habe.
»Mit vorgehaltener Waffe?«, vergewisserte sich Kommissar Paulsson.
In diesem Moment hätte Mikael endgültig begreifen müssen, dass Paulsson ein Volltrottel war. Er hätte zum Handy greifen, Jan Bublanski selbst anrufen und diesen bitten sollen, einzugreifen, um die dichten Nebel zu lichten, in denen dieser Paulsson offensichtlich herumtappte. Stattdessen beging Mikael Fehler Nummer zwei, indem er versuchte, die Waffe in seiner Jackentasche zu übergeben – den Colt 1911 Government, den er an diesem Tag in Lisbeth Salanders Stockholmer Wohnung gefunden hatte und mit dessen Hilfe er Ronald Niedermann überwältigt hatte.
Dies veranlasste Paulsson jedoch, Mikael sofort wegen illegalen Waffenbesitzes festzunehmen. Anschließend beauftragte er die Polizisten Torstensson und Andersson, Mikaels Angaben zu überprüfen. Sollte an der von ihm beschriebenen Stelle tatsächlich ein Mensch an ein Elchwarnschild gefesselt im Straßengraben sitzen, sollten sie ihm Handschellen anlegen und ihn zum Bauernhof nach Gosseberga bringen.
Mikael protestierte sofort und erklärte, dass Niedermann niemand war, den man einfach festnehmen und fesseln könne – er sei ein höchst gefährlicher Mörder. Als Paulsson dies ignorierte, forderte Mikaels Müdigkeit ihren Tribut. Mikael nannte Paulsson einen inkompetenten Trottel und brüllte, Torstensson und Andersson sollten Niedermann um Himmels willen nicht losbinden, bevor sie nicht Verstärkung angefordert hätten.
Das Resultat dieses Ausbruchs sah so aus, dass man Mikael Handschellen anlegte und ihn auf die Rückbank von Paulssons Wagen verfrachtete, woraufhin er fluchend mit ansehen musste, wie Torstensson und Andersson mit ihrem Polizeiauto verschwanden. Der einzige Lichtblick in diesem Dunkel war die Tatsache, dass man Lisbeth Salander zum Hubschrauber gebracht hatte, der nun über die Baumwipfel Richtung Sahlgrenska-Krankenhaus verschwand. Mikael fühlte sich völlig hilflos und vom Informationsfluss abgeschnitten. Er konnte nur hoffen, dass Lisbeth in kompetente Hände kam.
 
Dr. Anders Jonasson legte zwei tiefe Schnitte bis zum Schädelknochen an und klappte die Haut rund um die Einschusswunde zurück. Die Öffnung fixierte er mit Klammern. Eine OP-Schwester saugte vorsichtig das Blut ab. Dann kam der ungemütliche Teil, bei dem Dr. Jonasson mit einem Bohrer das Loch im Schädelknochen erweitern musste. Die Prozedur ging nervenzermürbend langsam voran.
Schließlich war das Loch so groß, dass er Zugang zu Lisbeth Salanders Gehirn hatte. Behutsam führte er eine Sonde ins Hirn ein und weitete den Wundkanal um einige Millimeter. Danach führte er eine dünnere Sonde ein und lokalisierte die Kugel. Auf dem Röntgenbild hatte er feststellen können, dass die Kugel eine Kurve beschrieben hatte und jetzt in einem Winkel von 45 Grad zum Wundkanal lag. Vorsichtig tastete er mit der Sonde am Rand der Kugel entlang, bis er sie nach einer Reihe missglückter Versuche richtig platzieren konnte.
Schließlich führte er eine dünne chirurgische Pinzette ein. Dann schloss er die Pinzette fest um die Kugelbasis und zog sie gerade nach oben zurück. Die Kugel ließ sich fast ohne Widerstand herausziehen. Er hielt sie kurz gegen das Licht, stellte fest, dass sie intakt schien, und legte sie in eine Schale.
»Tupfen«, sagte er, und der Befehl wurde sofort ausgeführt.
Er warf einen Blick aufs EKG, dem man entnehmen konnte, dass die Herztätigkeit seiner Patientin normal war.
»Pinzette.«
Er zog sich ein starkes Vergrößerungsglas von einem Hängestativ heran und konzentrierte sich auf die entblößte Wunde.
»Vorsichtig«, mahnte Professor Ellis.
In den nächsten fünfundvierzig Minuten entfernte Anders Jonasson nicht weniger als zweiunddreißig kleine Knochensplitter aus der Wunde rund um das Einschussloch. Der kleinste dieser Splitter war mit bloßem Auge kaum zu erkennen.
 
Während Mikael Blomkvist frustriert versuchte, sich das Handy aus der Brusttasche seiner Jacke zu angeln – was sich mit gefesselten Händen als unmöglich herausstellte -, trafen mehrere Autos mit Polizisten und Kriminalisten in Gosseberga ein. Kommissar Paulsson schickte sie in den Holzschuppen, wo sie kriminaltechnische Beweise sichern sollten, und ins Haus, wo mehrere Waffen beschlagnahmt worden waren. Resigniert sah Mikael ihnen vom Rücksitz des Polizeiautos aus zu.
Erst nach einer knappen Stunde schien Paulsson zu bemerken, dass Torstensson und Andersson immer noch nicht zurückgekehrt waren. Auf einmal wirkte er sehr bekümmert und führte Mikael Blomkvist in die Küche, wo er um eine nochmalige Wegbeschreibung bat.
Mikael schloss die Augen.
Er saß immer noch mit Paulsson in der Küche, als der Einsatzwagen zurückkam, der Torstensson und Andersson hatte finden sollen. Gunnar Andersson hatte man mit gebrochenem Genick gefunden, er war tot. Sein Kollege Fredrik Torstensson lebte zwar noch, war aber schwer misshandelt worden. Beide lagen im Straßengraben neben dem Elchwarnschild. Ihre Dienstwaffen und das Polizeiauto fehlten.
Nachdem er es zunächst mit einer einigermaßen übersichtlichen Situation zu tun gehabt hatte, sah sich Kommissar Paulsson nun plötzlich mit einem Polizistenmord und einem bewaffneten Schwerverbrecher auf der Flucht konfrontiert.
»Idiot«, wiederholte Mikael Blomkvist.
»Es hilft Ihnen auch nicht weiter, wenn Sie mich beleidigen.«
»In dem Punkt sind wir uns einig. Aber ich werde Sie wegen Ihrer Dienstvergehen drankriegen, dass es nur so brummt. Noch bevor ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie auf jedem Zeitungsplakat des Landes als der blödeste Polizist Schwedens dastehen.«
Die Drohung, öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, war offensichtlich das Einzige, was bei Paulsson zog. Er wirkte beunruhigt.
»Was schlagen Sie vor?«
»Ich verlange, dass Sie Kriminalinspektor Jan Bublanski in Stockholm anrufen. Jetzt gleich.«
 
Kriminalinspektorin Sonja Modig schreckte aus dem Schlaf hoch, als ihr Handy klingelte, das am anderen Ende des Schlafzimmers gerade den Akku auflud. Sie sah auf die Uhr auf ihrem Nachttisch und stellte zu ihrer Verzweiflung fest, dass es kurz nach vier Uhr morgens war. Danach blickte sie zu ihrem Mann hinüber, der friedlich weiterschnarchte. Nicht mal ein plötzlicher Artillerieangriff hätte ihn aus dem Schlaf reißen können. Sie torkelte aus dem Bett und drückte auf die Gesprächstaste.
Jan Bublanski, dachte sie, wer sonst.
»Im Bezirk Trollhättan ist die Hölle los«, sagte ihr Chef, ohne sich mit Begrüßungsformeln aufzuhalten. »Der X2000 nach Göteborg geht um zehn nach fünf.«
»Was ist passiert?«
»Blomkvist hat Salander, Niedermann und Zalatschenko gefunden. Er wurde wegen Beleidigung und Widerstand gegen einen Vollstreckungsbeamten sowie illegalem Waffenbesitz verhaftet. Salander wird gerade mit einer Kugel im Kopf ins Sahlgrenska-Krankenhaus transportiert. Zalatschenko liegt schon dort mit einer Axt im Schädel. Niedermann ist auf freiem Fuß. Er hat in der Nacht einen Polizisten ermordet.«
Sonja Modig blinzelte zweimal und spürte, wie müde sie war. Mehr als alles andere wünschte sie sich, ins Bett zurückkriechen und sich einen Monat Urlaub nehmen zu können.
»Der X2000 um zehn nach fünf. Okay. Was soll ich tun?«
»Nimm dir ein Taxi zum Hauptbahnhof. Dort triffst du Jerker Holmberg. Du musst dich mit einem Kommissar Thomas Paulsson von der Polizei in Trollhättan in Verbindung setzen, der gestern Nacht offenbar einige Verwirrung gestiftet hat und laut Blomkvist ein, Zitat, Vollidiot erster Güte ist, Zitat Ende.«
»Sie haben mit Blomkvist gesprochen?«
»Ich konnte Paulsson überreden, ihn mir kurz ans Telefon zu holen. Ich bin gerade auf dem Weg nach Kungsholmen und versuche rauszukriegen, was da überhaupt los ist. Wir halten per Handy Kontakt.«
Sonja Modig blickte noch einmal auf die Uhr. Dann rief sie sich ein Taxi und stellte sich für eine Minute unter die Dusche. Sie putzte sich die Zähne, kämmte sich flüchtig die Haare und zog sich eine schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und eine graue Jacke an. Ihre Dienstwaffe steckte sie in ihre Umhängetasche und nahm sich noch eine dunkelrote Lederjacke zum Überziehen mit. Anschließend rüttelte sie ihren Mann wach und erklärte ihm, dass er sich an diesem Morgen um die Kinder kümmern musste. Als sie aus der Tür trat, hielt auch schon das Taxi vor dem Haus.
Ihren Kollegen, Kriminalinspektor Jerker Holmberg, musste sie im Zug nicht lange suchen. Sie nahm an, dass sie ihn im Speisewagen finden würde, und so war es auch. Schweigend saßen sie fünf Minuten beisammen und frühstückten. Schließlich schob Holmberg die Kaffeetasse beiseite.
»Vielleicht sollte man einfach umschulen«, sagte er.
 
Um vier Uhr morgens war auch Kriminalinspektor Marcus Erlander vom Dezernat für Gewaltverbrechen endlich in Gosseberga eingetroffen und hatte dem überforderten Paulsson die Leitung der Ermittlung abgenommen. Erlander war ein vollschlanker, grauhaariger Mann um die 50. Eine seiner ersten Maßnahmen hatte darin bestanden, Mikael Blomkvist die Handschellen abzunehmen und ihm Kaffee aus der Thermoskanne und Gebäck anzubieten. Sie setzten sich für ein Gespräch unter vier Augen ins Wohnzimmer.
»Ich habe mit Bublanski in Stockholm gesprochen«, sagte Erlander. »Wir kennen uns schon seit Jahren. Wir bedauern beide sehr, wie Paulsson Sie behandelt hat.«
»Ihm ist es zu verdanken, dass heute Nacht ein Polizist sterben musste«, sagte Mikael.
Erlander nickte. »Ich kannte Gunnar Andersson persönlich. Er hat in Göteborg gearbeitet, bevor er nach Trollhättan zog. Er hat eine dreijährige Tochter.«
»Das tut mir leid. Ich habe versucht, Paulsson zu warnen …« Erlander nickte.
»Ich hab schon davon gehört. Sie sind laut geworden, und deswegen hat man Ihnen Handschellen angelegt. Sie haben Wennerström zur Strecke gebracht. Bublanski sagt, dass Sie ein aufdringlicher Journalist und ein verrückter Privatdetektiv sind, aber dass Sie höchstwahrscheinlich wissen, wovon Sie hier reden. Können Sie mir in ein paar verständlichen Sätzen erklären, was passiert ist?«
»Jetzt steht fest, wer meine Freunde Dag Svensson und Mia Bergman in Enskede ermordet hat und außerdem noch eine Person, mit der ich nicht befreundet war … Rechtsanwalt Nils Bjurman, der Lisbeth Salanders rechtlicher Betreuer war.«
Erlander nickte.
»Wie Sie wissen, ist die Polizei schon seit Ostern hinter Lisbeth Salander her, die man des dreifachen Mordes verdächtigt. Vor allem müssen Sie wissen, dass Lisbeth Salander an diesen Morden unschuldig ist. Wenn sie überhaupt etwas mit dieser ganzen Geschichte zu tun hat, dann ist auch sie ein Opfer.«
»Nach allem, was in den Medien so geschrieben wurde, fällt es mir nicht ganz leicht, zu glauben, dass sie völlig unschuldig sein soll.«
»Ist sie aber. Punktum. Der wirkliche Mörder ist Ronald Niedermann, der heute Nacht auch Ihren Kollegen Gunnar Andersson ermordet hat. Er arbeitet für Karl Axel Bodin.«
»Den Bodin, der jetzt mit einer Axt im Schädel im Sahlgrenska-Krankenhaus liegt?«
»Ja. Ich gehe davon aus, dass Lisbeth ihn niedergestreckt hat. Sein echter Name ist Alexander Zalatschenko. Er ist Lisbeths Vater und ein ehemaliger Profikiller des russischen Nachrichtendienstes. Er ist in den 70er-Jahren ausgestiegen und hat danach bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion für die SiPo gearbeitet. Danach hat er sich als freier Gangster verdingt.«
Nachdenklich musterte Erlander die Person, die vor ihm auf dem Sofa saß. Mikael Blomkvist war völlig verschwitzt und sah gleichzeitig durchgefroren und todmüde aus. Bis jetzt hatte er seine Erklärungen rational und zusammenhängend vorgebracht, aber Kommissar Paulsson – auch wenn Erlander auf dessen Wort nicht mehr allzu viel gab – hatte ihn schon gewarnt, dass Blomkvist irgendwas von russischen Agenten und deutschen Auftragskillern faseln würde. Aber im Straßengraben auf dem Weg nach Nossebro lagen eben doch ein toter und ein schwer verletzter Polizist, und daher war Erlander bereit, ihm weiter zuzuhören. Dennoch konnte er den skeptischen Unterton in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken.
»Okay. Ein russischer Agent.«
Blomkvist lächelte schwach, weil ihm offensichtlich klar war, wie verrückt seine Geschichte sich anhören musste.
»Ein ehemaliger russischer Agent. Ich kann all meine Behauptungen dokumentieren.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Zalatschenko gehörte in den 70er-Jahren zu den Topspionen. Er wurde von der SiPo mit einer neuen Identität ausgestattet. Soweit ich weiß, ist das kein Einzelfall im Kielwasser des Zusammenbruchs der Sowjetunion.«
»Okay.«
»Wie gesagt, ich weiß nicht, was genau hier heute Nacht passiert ist, aber Lisbeth hatte ihren Vater aufgespürt, nachdem sie ihn fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hatte. Er hat ihre Mutter damals so schwer misshandelt, dass sie an den Folgen starb. Er hat auch versucht, Lisbeth umzubringen, und steckt letztlich hinter Niedermanns Mord an Dag Svensson und Mia Bergman. Außerdem war er verantwortlich für die Entführung von Lisbeths Freundin Miriam Wu.«
»Wenn Lisbeth Salander ihrem Vater eine Axt in den Schädel gerammt hat, ist sie aber nicht völlig unschuldig.«
»Lisbeth Salander hat selbst drei Kugeln im Körper. Ich glaube, man könnte sich hier auf ein gewisses Maß an Notwehr berufen. Ich frage mich sogar …«
»Ja?«
»Lisbeth war so über und über mit Erde bedeckt, auch ihre Haare waren nur noch eine einzige Lehmkruste. Überall in ihren Kleidern war Sand. Es sah aus, als wäre sie begraben gewesen. Und Niedermann hat ja ganz offensichtlich die Angewohnheit, Leute zu vergraben. Die Polizei in Södertälje hat zwei Gräber neben diesem Lager bei Nykvarn gefunden, das dem Bikerklub Svavelsjö MC gehört.«
»Es sind in der Tat schon drei. Gestern Abend ist man noch auf ein weiteres Grab gestoßen. Aber wenn Lisbeth Salander erschossen und vergraben wurde – wie kann sie dann plötzlich wieder mit einer Axt in der Hand auftauchen?«
»Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber Lisbeth ist so schnell nicht kleinzukriegen. Ich habe versucht, Paulsson zu überreden, dass er ein paar Polizeihunde holen lässt …«
»Schon auf dem Weg.«
»Gut.«
»Paulsson hat Sie wegen Beleidigung festgenommen.«
»Ich habe ihn als inkompetenten Idioten und Volltrottel bezeichnet. Keine dieser Bezeichnungen könnte in diesem Zusammenhang als Beleidigung gewertet werden.«
»Hmm. Aber Sie wurden auch wegen unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen.«
»Ich habe den Fehler gemacht, ihm eine Waffe übergeben zu wollen. Im Übrigen will ich mich zu dieser Sache nicht weiter äußern, bevor ich mit meinem Anwalt gesprochen habe.«
»Okay. Dann lassen wir das vorerst beiseite. Wir haben ja auch ernstere Dinge zu besprechen. Was wissen Sie noch über diesen Niedermann?«
»Er ist ein Mörder. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, er ist über zwei Meter groß und gebaut wie ein Panzer. Fragen Sie Paolo Roberto, der mit ihm geboxt hat. Der Mann leidet an angeborener Analgesie. Das ist eine Krankheit, bei der die Transmittersubstanzen im Nervensystem nicht mehr funktionieren, sodass er keinen Schmerz mehr empfinden kann. Er ist Deutscher, geboren in Hamburg, und war als Jugendlicher Skinhead. Er ist äußerst gefährlich und auf freiem Fuß.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin er geflohen sein könnte?«
»Nein. Ich weiß nur, dass ich ihn unschädlich gemacht hatte, bis dieser Volltrottel aus Trollhättan das Kommando übernahm.«
 
Um kurz vor fünf Uhr morgens zog Dr. Anders Jonasson seine blutverschmierten Latexhandschuhe aus und warf sie in den Abfalleimer. Eine OP-Schwester legte Kompressen auf die Schusswunde an der Hüfte. Die Operation hatte drei Stunden lang gedauert. Er musterte Lisbeth Salanders übel mitgenommenen rasierten Schädel, der jetzt dick einbandagiert war.
Er verspürte eine plötzliche Zärtlichkeit, wie er sie oft für Patienten empfand, die er gerade operiert hatte. Den Zeitungen zufolge war Lisbeth Salander eine psychopathische Massenmörderin, aber in seinen Augen sah sie eher aus wie ein angeschossener Spatz. Er schüttelte den Kopf und sah dann zu Professor Frank Ellis hinüber, der ihn amüsiert betrachtete.
»Du bist ein außergewöhnlich guter Chirurg«, bemerkte Ellis.
»Darf ich dich zum Frühstück einladen?«
»Kann man hier irgendwo Pfannkuchen mit Marmelade kriegen?«
»Waffeln«, bot Anders Jonasson an. »Bei mir. Lass mich nur kurz zu Hause anrufen und meine Frau warnen, dann steigen wir ins Taxi.« Er hielt inne und sah auf seine Uhr. »Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann sollten wir das mit dem Anruf vielleicht doch lieber sein lassen.«
 
Die Rechtsanwältin Annika Giannini fuhr aus dem Schlaf hoch. Als sie den Kopf nach rechts wandte, stellte sie fest, dass es zwei Minuten vor sechs war. Sie hatte schon um acht den ersten Termin mit einem Mandanten. Sie drehte den Kopf nach links und musterte ihren Mann Enrico, der friedlich schlummerte und frühestens gegen acht aufwachen würde. Annika blinzelte ein paarmal, bevor sie aufstand, die Kaffeemaschine einschaltete und sich unter die Dusche stellte. Sie ließ sich Zeit im Badezimmer und zog dann eine schwarze Hose, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine rote Jacke an. Anschließend toastete sie sich zwei Scheiben Brot, belegte sie mit Käse, Avocadoscheiben und Orangenmarmelade und frühstückte im Wohnzimmer, während sie im Frühstücksfernsehen die Nachrichten um halb sieben verfolgte. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und wollte gerade den Mund aufmachen, um von ihrem Brot abzubeißen, da hörte sie die Meldung:
Ein Polizist getötet und einer schwer verletzt. Dramatische Ereignisse in der Nacht, als die dreifache Mörderin Lisbeth Salander gefasst wurde.
Zunächst verstand sie die Zusammenhänge nicht ganz, weil sie annahm, Lisbeth Salander habe einen Polizisten umgebracht, aber dann verstand sie so langsam, dass man wegen des Polizistenmordes einen Mann suchte. Es wurde landesweit nach einem namentlich nicht genannten 37-jährigen Mann gefahndet. Lisbeth Salander lag anscheinend schwer verletzt im Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg.
Annika wechselte den Nachrichtensender, wurde dadurch aber auch nicht schlauer. Schließlich griff sie zu ihrem Handy und wählte die Nummer ihres Bruders Mikael Blomkvist. Als sie hörte, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei, spürte sie einen Stich in der Magengrube. Mikael hatte sie am Abend zuvor angerufen, als er gerade auf dem Weg nach Göteborg war. Er hatte sich an die Fersen von Lisbeth Salander geheftet. Und an die eines Mörders namens Ronald Niedermann.
 
Als es hell wurde, entdeckte ein aufmerksamer Polizist Blutspuren auf dem Boden hinter dem Holzschuppen. Ein Polizeihund verfolgte die Spur bis zu einer Grube auf einer Waldlichtung, ungefähr vierhundert Meter nordöstlich des Bauernhofs in Gosseberga.
Mikael begleitete Kriminalinspektor Erlander. Nachdenklich betrachteten sie die Stelle. Problemlos konnte man eine große Menge Blut in der und rund um die Grube ausmachen.
Sie fanden sogar ein abgestoßenes Zigarettenetui, das offensichtlich als Handschaufel gedient hatte. Erlander legte das Etui in eine durchsichtige Plastiktüte für Beweisstücke und beschriftete den Fund. Dazu nahm er noch Proben von blutdurchtränkten Erdklumpen. Ein Polizist in Uniform machte ihn auf eine Zigarettenkippe der Marke Pall Mall aufmerksam, die ein paar Meter von der Grube entfernt lag. Auch diese wanderte in eine Plastiktüte und wurde etikettiert. Mikael erinnerte sich, dass er auf der Spüle in Zalatschenkos Haus eine Schachtel Pall Mall gesehen hatte.
Als Erlander in den Himmel blickte, sah er dicke Regenwolken. Der Sturm, der in der Nacht in Göteborg gewütet hatte, war abgezogen, doch war es nur noch eine Frage der Zeit, bevor es anfangen würde zu regnen. Er wandte sich an einen Polizisten und bat ihn, eine Plane zu besorgen, mit der man die Grube abdecken könnte.
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte Erlander schließlich zu Mikael. »Eine Blutanalyse wird wahrscheinlich ergeben, dass Lisbeth Salander in dieser Grube gelegen hat, und schätzungsweise werden wir auch ihre Fingerabdrücke auf dem Etui finden. Sie wurde angeschossen und begraben, muss aber irgendwie überlebt und es fertiggebracht haben, sich zu befreien und …«
»… und dann ist sie zum Hof zurückgegangen und hat Zalatschenko eine Axt in den Schädel gehauen«, beendete Mikael den Satz. »Sie ist schon ein Teufelskerl.«
»Aber wie zur Hölle ist sie mit Niedermann fertiggeworden?«
Mikael zuckte die Schultern. In dieser Hinsicht staunte er genauso wie Erlander.
2. Kapitel
Freitag, 8. April
Sonja Modig und Jerker Holmberg kamen kurz nach acht Uhr morgens am Hauptbahnhof in Göteborg an. Bublanski hatte sie angerufen und ihnen neue Anweisungen gegeben: Sie sollten nicht nach Gosseberga fahren, sondern stattdessen ein Taxi zur Polizeistation in der Nähe des Sportstadions Nya Ullevi am Ernst Fontells Plats nehmen, wo die Bezirkskriminalpolizei von Västra Götaland ihre Zentrale hatte. Dort warteten sie fast eine Stunde, bis Kriminalinspektor Erlander in Begleitung von Mikael Blomkvist aus Gosseberga eintraf. Dieser begrüßte Sonja Modig, die er schon früher kennengelernt hatte, und gab Jerker Holmberg die Hand. Danach teilte ihnen ein Kollege von Erlander erst einmal den neuesten Stand hinsichtlich der Jagd auf Ronald Niedermann mit. Ein ziemlich kurzer Bericht.
»Wir haben eine Fahndungsgruppe unter Leitung der Bezirkspolizei. Selbstverständlich ist landesweiter Alarm ausgerufen worden. Das Polizeiauto wurde um sechs Uhr in Alingsås gefunden. Dort löst sich die Spur erst mal in Luft auf. Wir vermuten, dass er das Fluchtfahrzeug gewechselt hat, bis jetzt ist aber keine Anzeige wegen Autodiebstahls eingegangen.«
»Die Medien?«, fragte Modig und warf Mikael einen entschuldigenden Blick zu.
»Das war ein Polizistenmord, wir ziehen hier alle Register. Für zehn Uhr ist eine Pressekonferenz angesetzt.«
»Weiß irgendjemand, wie es um Lisbeth Salanders Zustand bestellt ist?«, erkundigte sich Mikael. Er war seltsam uninteressiert an allem, was mit der Jagd auf Ronald Niedermann zu tun hatte.
»Sie ist in der Nacht operiert worden. Man hat ihr eine Kugel aus dem Kopf entfernt. Bis jetzt hat sie das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.«
»Gibt es eine Prognose?«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, müssen wir abwarten, bis sie aufgewacht ist. Aber der Arzt, der sie operiert hat, meinte, sie habe eine Chance, wenn keine weiteren Komplikationen dazukommen.«
»Und Zalatschenko?«, wollte Mikael wissen.
»Wer?«, fragte Erlanders Kollege, der in die Details der ganzen Geschichte noch nicht eingeweiht war.
»Karl Axel Bodin.«
»Ach so, ja, der ist in der Nacht auch operiert worden. Er ist mit der Axt im Gesicht und unterhalb der Kniescheibe getroffen worden. Sieht übel aus, aber die Verletzungen sind nicht lebensgefährlich.«
Mikael nickte.
»Sie wirken müde«, stellte Sonja Modig fest.
»Tja. Ich mache jetzt schon den dritten Tag beinahe durch.«
»Auf dem Weg von Nossebro ist er im Auto eingeschlafen«, erklärte Erlander.
»Schaffen Sie es, die ganze Geschichte noch mal von vorn zu erzählen?«, bat Holmberg. »Sieht ja ganz so aus, als stünde es ungefähr drei zu null für die Privatdetektive.«
Mikael lächelte schwach.
»Diese Aussage würde ich zu gerne von Bublanski hören«, meinte er.
Sie setzten sich in die Cafeteria der Polizeistation, um zu frühstücken. Mikael brauchte eine halbe Stunde, um Schritt für Schritt zu erklären, wie er sich die Story mit Zalatschenko zusammengebastelt hatte. Als er fertig war, schwiegen die Polizisten nachdenklich.
»In Ihrer Geschichte gibt es aber schon noch ein paar Löcher«, brach Jerker Holmberg schließlich das Schweigen.
»Vermutlich schon«, räumte Mikael ein.
»Sie erklären nicht, wie Sie in den Besitz dieses geheimen Berichts der SiPo über Zalatschenko gekommen sind.«
Mikael nickte.
»Den hab ich gestern zu Hause bei Lisbeth Salander gefunden, nachdem ich endlich herausgekriegt hatte, wo sie sich versteckt hielt. Sie hat den Bericht vermutlich in Nils Bjurmans Sommerhäuschen entdeckt.«
»Sie haben also Salanders Versteck gefunden«, sagte Sonja Modig.
Mikael nickte.
»Und?«
»Die Adresse müssen Sie schon selbst herausfinden. Lisbeth hat sich große Mühe gegeben, sich eine geheime Adresse zuzulegen, und ich möchte nicht derjenige sein, der sie preisgibt.«
Die Gesichter von Modig und Holmberg verfinsterten sich ein wenig.
»Mikael … das ist hier immerhin eine Morduntersuchung«, gab Sonja Modig zu bedenken.
»Und Sie haben immer noch nicht so richtig kapiert, dass Lisbeth Salander unschuldig ist und dass die Polizei ihre Privatsphäre in einer Art verletzt hat, die völlig beispiellos ist. Lesbische Satanistenbande, wie zum Teufel kommen Sie bloß auf so was? Wenn sie Ihnen sagen will, wo sie wohnt, dann wird sie das bestimmt auch tun.«
»Aber da ist noch etwas, was ich nicht verstehe.« Holmberg ließ nicht locker. »Was hat Bjurman mit dieser Geschichte zu tun? Sie behaupten, dass er die ganze Sache in Gang gebracht hat, indem er Kontakt mit Zalatschenko aufnahm und ihn bat, Salander zu töten … aber warum sollte er das tun?«
Mikael zögerte eine Weile.
»Ich tippe darauf, dass er Zalatschenko angeheuert hat, um Lisbeth Salander aus dem Weg zu räumen. Nicht Miriam Wu, sondern Lisbeth hätte eigentlich in diesem Lager in Nykvarn landen sollen.«
»Er war ihr rechtlicher Betreuer. Was sollte er für ein Motiv haben, sie aus dem Weg zu räumen?«
»Das ist ziemlich kompliziert.«
»Erklären Sie es.«
»Er hatte ein verdammt gutes Motiv. Er hatte etwas getan, was Lisbeth wusste. Sie stellte eine Bedrohung für seine Zukunft und seinen Wohlstand dar.«
»Was hat er denn getan?«
»Ich glaube, das erzählt Ihnen Lisbeth am besten selbst.« Er fing Holmbergs Blick auf.
»Lassen Sie mich raten«, mischte sich Sonja Modig ein. »Bjurman hatte seinem Schützling etwas angetan.«
Mikael nickte.
»Soll ich weiterraten, dass er sie in irgendeiner Form sexuell belästigt hat?«
Mikael zuckte die Achseln und enthielt sich jedes weiteren Kommentars.
»Sie wissen also nichts von dem Tattoo auf Bjurmans Bauch?«
»Tattoo?«
»Eine amateurhaft durchgeführte Tätowierung quer über den ganzen Bauch mit folgendem Text: Ich bin ein sadistisches Schwein, ein Widerling und ein Vergewaltiger. Wir haben uns die Köpfe darüber zerbrochen, worum es da eigentlich ging.«
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Luftslottet som sprängdes bei Norstedts Förlag, Stockholm
 
 
 
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Redaktion: Knut Krüger Herstellung: Helga Schörnig Gesetzt aus der Sabon 10,8/14,27 ptUmschlaggestaltung und Artwork: Eisele Grafik•Design, München
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