Verdammnis - Stieg Larsson - E-Book + Hörbuch

Verdammnis E-Book

Stieg Larsson

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Beschreibung

Die Millennium-Trilogie in moderner Neuausstattung

Der Journalist Mikael Blomkvist recherchiert in einem besonders brisanten Fall von Mädchenhandel. Junge russische Frauen werden gewaltsam zur Prostitution gezwungen. Die Hintermänner bekleiden hohe Regierungsämter. Als Blomkvists Informant tot aufgefunden wird, fällt der Verdacht auf die Ermittlerin Lisbeth Salander. Nur Blomkvist glaubt an ihre Unschuld. Eine mörderische Hetzjagd beginnt.

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Inhaltsverzeichnis
 
Zum Buch
Zum Autor
Prolog
 
Teil I – Unregelmäßige Gleichungen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
 
Teil II – From Russia with Love
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
 
Teil III – Absurde Gleichungen
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
GESUCHT WEGEN – DREIFACHEN MORDES
Polizei jagt – PSYCHOTISCHE MASSENMÖRDERIN
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
JAGD AUF – LISBETH SALANDER
EXTRA – PSYCHOPATHIN GESUCHT WEGEN DREIFACHEN MORDES
20. Kapitel
Polizei untersucht – LESBISCHE SATANISTENGANG
 
Teil IV – Terminator-Modus
21. Kapitel
WEGEN KÖRPERVERLETZUNG IN GAMLA STAN FESTGENOMMEN
22. Kapitel
Gesuchte Frau schon im Ausland?
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
 
Vorschau
Copyright
Zum Buch
Ein ehrgeiziger junger Journalist bietet Mikael Blomkvist für sein Magazin Millennium eine Story an, die skandalöser nicht sein könnte. Amts- und Würdenträger der schwedischen Gesellschaft vergehen sich an jungen russischen Frauen, die gewaltsam ins Land geschafft und zur Prostitution gezwungen werden. Als sich Lisbeth Salander in die Recherchen einschaltet, stößt sie auf ein pikantes Detail: Nils Bjurman, ihr ehemaliger Betreuer, scheint in den Mädchenhandel involviert zu sein. Wenig später werden der Journalist und Bjurman tot aufgefunden. Die Tatwaffe trägt Lisbeths Fingerabdrücke. Sie wird an den Pranger gestellt und flüchtet. Nur Mikael Blomkvist glaubt an ihre Unschuld und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Seine Nachforschungen führen in Lisbeths Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ihn bald das Fürchten lehrt.
 
Pressestimmen
»Stieg Larssons Romane sind so mitreißend, dass sie eine Gefahr für das öffentliche Leben darstellen. Lesende Menschen werden Fußgängerzonen und Parks besetzen, die Arbeitswelt wird lahmgelegt – alles wegen Larssons Romanen, die man nicht aus der Hand legen kann.« Bild am Sonntag
 
»Einmal zur Hand genommen, liest man ›Verdammnis‹ in einem Rutsch durch – andere Dinge werden einfach nebensächlich.« Bremer
 
»Selten hat es in skandinavischer Krimiliteratur eine so originelle, widersprüchliche und packende Hauptfigur gegeben wie die gegen den Strich lebende Lisbeth Salander.« Hamburger Abendblatt
Zum Autor
Stieg Larsson, 1954 in Umeå, Schweden, geboren, war Journalist und Herausgeber des Magazins EXPO. 2004 starb er an den Folgen eines Herzinfarkts. Er galt als einer der weltweit führenden Experten für Rechtsextremismus und Neonazismus. 2006 wurde er postum mit dem Skandinavischen Krimipreis als bester Krimiautor Skandinaviens geehrt. Sein Debütroman Verblendung wurde vom schwedischen Buchhandel zum besten Buch des Jahres 2005 gewählt. Verdammnis ist der zweite Band einer Trilogie, die der Autor vor seinem Tod vollendete und die bei Heyne erscheint.
 
Lieferbare Titel
Verblendung
Prolog
Er hatte sie mit Lederriemen auf einer schmalen, stählernen Pritsche gefesselt. Ein straff gespannter Riemen verlief über ihren Brustkorb. Sie lag auf dem Rücken. Die Hände hatte er zu beiden Seiten auf Hüfthöhe an das Stahlgestell gebunden.
Den Versuch, sich loszumachen, hatte sie schon lange aufgegeben. Obwohl sie wach war, hielt sie die Augen geschlossen, denn um sie herum war es dunkel. Nur ein schmaler Streifen Licht drang durch den Spalt über der Tür. Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund und sehnte sich danach, sich die Zähne putzen zu dürfen.
Unbewusst horchte sie immer mit einem Ohr nach dem Geräusch von Schritten, mit dem er sich ankündigte. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es schon war; es kam ihr allerdings so vor, als ob es langsam schon zu spät für seinen Besuch wäre. Als ihre Liege plötzlich leicht vibrierte, öffnete sie die Augen. Es war, als hätte man irgendwo im Haus eine Maschine angeworfen. Doch nach ein paar Sekunden war sie schon nicht mehr sicher, ob sie sich das Ganze einbildete oder ob das Geräusch tatsächlich existierte.
Im Geiste hakte sie einen weiteren Tag ab.
Heute war der dreiundvierzigste Tag ihrer Gefangenschaft.
Ihre Nase juckte, und sie drehte den Kopf zur Seite, um sich am Kissen reiben zu können. Sie schwitzte. Im Zimmer herrschte schwüle Wärme. Sie trug ein schlichtes Nachthemd, das unter ihrem Körper Falten schlug. Wenn sie die Hüften hob, konnte sie mit Zeigefinger und Mittelfinger gerade eben den Stoff zu fassen bekommen und das Hemd einen Zentimeter hinunterziehen. Dann wiederholte sie die Prozedur mit der anderen Hand. Trotzdem blieb im Kreuz eine hartnäckige Falte.
Ihre Matratze war durchgelegen und unbequem. Durch die völlige Isolation steigerte sich jeder geringfügige Reiz, den sie sonst kaum wahrgenommen hätte, um ein Vielfaches. Immerhin waren ihre Lederfesseln so locker, dass sie ab und zu ihre Stellung ändern und sich auf die Seite drehen konnte, aber das war auf die Dauer auch nicht sonderlich bequem, denn dann blieb eine Hand hinter ihrem Rücken, und der Arm schlief ihr ständig ein.
Trotz ihrer allgegenwärtigen Angst spürte sie, wie sich von Tag zu Tag mehr Wut in ihr aufstaute.
Gleichzeitig wurde sie von ihren Gedanken gequält, von unschönen Fantasien, was mit ihr geschehen würde. Sie hasste die Hilflosigkeit, in die er sie gezwungen hatte. So sehr sie auch versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, um sich die Zeit zu vertreiben und ihre Situation zu verdrängen, so hing die Angst doch über ihr wie eine Gaswolke und drohte jeden Moment durch ihre Poren zu dringen und ihr Dasein völlig zu vergiften. Mittlerweile hatte sie jedoch eine Methode entdeckt, mit der sie ihre Angst in Schach halten konnte: Sie fantasierte sich ein Szenario zusammen, das ihr ein Gefühl von Kraft einflößte. Sie schloss die Augen und beschwor den Geruch von Benzin herauf.
Er saß in seinem Auto, das Fenster war heruntergelassen. Sie rannte zum Auto, goss das Benzin durchs Fenster und riss ein Streichholz an. Das dauerte nur einen Augenblick. Im nächsten Moment loderten auch schon die Flammen auf. Er wand sich in Todesqualen, und sie hörte seine erschrockenen, schmerzerfüllten Schreie. Der Geruch von verbranntem Fleisch drang ihr in die Nase, und dazwischen der stechende Gestank von verkohltem Plastik und der versengten Polsterung des Autositzes.
 
Sie musste eingenickt sein, denn sie hatte gar keine Schritte gehört. Als die Tür aufging, war sie jedoch sofort hellwach. Das Licht, das durch die Türöffnung hereinfiel, blendete sie.
Er war also gekommen.
Er war groß. Sie wusste nicht, wie alt er war, aber er war auf jeden Fall schon erwachsen. Er hatte rotbraunes, zotteliges Haar, trug eine Brille mit schwarzem Gestell und ein dünnes Kinnbärtchen. Und er roch nach Rasierwasser.
Sie hasste seinen Geruch.
Schweigend blieb er am Fußende ihrer Pritsche stehen und betrachtete sie eine geraume Weile.
Sie hasste sein Schweigen.
Im Gegenlicht sah sie nur seine Silhouette und konnte sein Gesicht nicht erkennen. Plötzlich sprach er mit ihr. Er hatte eine tiefe, klare Stimme, mit der er jedes Wort pedantisch betonte.
Sie hasste seine Stimme.
Er erzählte, dass heute ihr Geburtstag sei und er ihr gratulieren wolle. Dabei war seine Stimme weder unfreundlich noch ironisch, sondern völlig neutral. Sie konnte sein Lächeln ahnen.
Sie hasste ihn.
Er kam näher und trat ans Kopfende. Dann legte er ihr seine feuchte Hand auf die Stirn und strich ihr mit den Fingern über den Haaransatz. Wahrscheinlich sollte diese Geste freundlich wirken. Das war sein Geburtstagsgeschenk für sie.
Sie hasste seine Berührung.
Er sprach mit ihr. Sie sah, wie sich sein Mund bewegte, blendete den Ton seiner Stimme jedoch aus. Sie wollte nicht zuhören. Sie wollte nicht antworten. Sie hörte, wie er die Stimme hob. Eine Spur von Gereiztheit über ihre mangelnde Reaktion hatte sich in seine Stimme geschlichen. Er sprach von gegenseitigem Vertrauen. Nach ein paar Minuten verstummte er endlich. Sie ignorierte seinen Blick. Schließlich zuckte er die Achseln und überprüfte ihre Fesseln. Nachdem er den Lederriemen über ihrer Brust ein wenig enger geschnallt hatte, beugte er sich über sie.
In der nächsten Sekunde warf sie sich, so schnell sie konnte, nach links, so weit wie möglich von ihm weg, so weit, wie es die Riemen zuließen. Sie zog die Knie unters Kinn und stieß ihm dann mit aller Kraft ihre Füße gegen den Kopf. Eigentlich hatte sie auf seinen Adamsapfel gezielt, aber sie traf ihn nur mit der Zehenspitze irgendwo unterm Kinn. Er hatte schnell reagiert und war ausgewichen, sodass sie ihn nur ganz leicht streifte. Als sie einen zweiten Tritt versuchte, war er bereits außer Reichweite.
Sie ließ die Beine wieder auf die Liege sinken.
Ihre Decke hing auf den Boden, ihr Nachthemd war ihr bis weit über die Hüften hochgerutscht.
Eine ganze Weile blieb er wortlos stehen. Dann ging er zum Fußende und nahm die Fesseln, die dort an der Pritsche hingen. Sie versuchte, die Beine anzuziehen, doch er packte sie beim Knöchel, drückte mit der anderen Hand ihr Knie auf die Matratze und fesselte ihren Fuß mit dem Lederriemen. Dasselbe wiederholte er auf der anderen Seite mit ihrem zweiten Fuß.
Nun war sie völlig hilflos.
Er hob die Decke auf und deckte sie zu. Schweigend betrachtete er sie zwei Minuten. Auch im Dunkeln konnte sie seine Erregung spüren, obwohl er sie nicht zeigte. Ganz bestimmt hatte er eine Erektion. Sie wusste, dass er eine Hand ausstrecken und sie berühren wollte.
Doch dann drehte er sich um, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie hörte, wie er den Riegel vorlegte, was gänzlich sinnlos war, da sie ja sowieso keine Möglichkeit hatte, sich von ihrer Liege loszumachen.
Mehrere Minuten blieb sie liegen und fixierte den schmalen Lichtstreifen über der Tür. Schließlich bewegte sie sich ein wenig, um festzustellen, wie fest die Riemen saßen. Sie konnte die Knie noch leicht anziehen, doch dann setzten die Fesseln jeder Bewegung ein Ende. Sie entspannte sich, blieb ganz still liegen, starrte ins Nichts und wartete.
Fantasierte von einem Benzinkanister und einem Streichholz.
Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, völlig benzingetränkt. Sie konnte die Streichholzschachtel in ihrer Hand geradezu physisch wahrnehmen. Sie schüttelte sie. Es rasselte. Sie öffnete die Schachtel und nahm ein Streichholz heraus. Sie hörte ihn etwas sagen, ohne auf seine Worte zu achten. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, als sie das Streichholz entzündete. Sie hörte, wie der Schwefelkopf mit einem ratschenden Geräusch über die raue Fläche rieb. Es klang wie ein lang gezogener Donnerschlag. Sie sah die Flamme auflodern.
Sie lächelte und machte sich innerlich hart.
In dieser Nacht wurde sie 13 Jahre alt.
Teil I
Unregelmäßige Gleichungen
16.-20. Dezember
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Eine Gleichung wird nach der höchsten Potenz (dem Wert des Exponenten) der in ihr vorkommenden Unbekannten benannt. Ist dieser Exponent 1, handelt es sich um eine Gleichung ersten Grades, ist der Exponent 2, ist es eine Gleichung zweiten Grades etc. Bei Gleichungen zweiten oder höheren Grades ergeben sich für die Unbekannten mehrere Lösungen. Die Werte nennt man Wurzeln.
 
 
Gleichung ersten Grades
1.Kapitel
Donnerstag, 16. Dezember – Freitag, 17. Dezember
 
 
 
 
Lisbeth Salander schob sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und blinzelte unter der Krempe ihres Sonnenhutes hervor. Sie sah die Dame aus Zimmer 32 aus dem Seiteneingang des Hotels treten und auf eine der grün-weiß gestreiften Liegen am Pool zusteuern. Konzentriert heftete sie ihre Blicke auf den Boden, und es wirkte, als wäre sie etwas wackelig auf den Beinen.
Salander hatte sie zuvor nur aus der Entfernung gesehen. Sie schätzte sie auf ungefähr 35, aber bei ihrem Aussehen hätte sie jedes Alter zwischen 25 und 50 haben können. Ihr braunes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, ihr Gesicht war etwas länglich, und ihr reifer Körper sah aus, als wäre er einem Versandkatalog für Damenunterwäsche entstiegen. Sie trug Sandalen, einen schwarzen Bikini und eine lila getönte Sonnenbrille. Ihr Amerikanisch hatte einen Südstaatenakzent. Nachdem sie ihren gelben Sonnenhut neben ihrer Liege auf den Boden hatte fallen lassen, gab sie dem Barkeeper an Ella Carmichaels Bar ein Zeichen.
Lisbeth Salander legte ihr Buch in den Schoß und nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie ihre Hand nach den Zigaretten ausstreckte. Ohne den Kopf zu drehen, warf sie einen Blick auf den Horizont. Von ihrem Platz auf der Poolterrasse aus konnte sie durch ein paar Palmen und Rhododendronsträucher an der Hotelmauer einen Blick auf das Karibische Meer erhaschen. Weit draußen war ein Segelboot mit Wind von achtern unterwegs nach Saint Lucia oder Dominica. In noch größerer Entfernung konnte sie die Konturen eines grauen Frachters ausmachen, der Richtung Süden nach Guyana oder in ein Nachbarland fuhr. Eine schwache Brise milderte die Vormittagshitze ein wenig, dennoch spürte sie, wie ihr ein Schweißtropfen langsam über die Stirn zur Augenbraue rann. Lisbeth Salander briet nicht gern in der Sonne und verbrachte die Tage weitgehend im Schatten, indem sie sich beständig unter dem Sonnendach aufhielt. Sie trug Kaki-Shorts und ein schwarzes Top.
Sie lauschte den merkwürdigen Klängen der steel pans, die aus dem Lautsprecher an der Bar drangen. Für Musik hatte sie sich noch nie im Geringsten interessiert und konnte Sven-Ingvars nicht von Nick Cave unterscheiden, aber die steel pans faszinierten sie irgendwie. Es schien so abwegig, ein Ölfass zu stimmen, und noch abwegiger, dass man das Fass dazu bringen konnte, kontrollierbare Töne von sich zu geben, die mit nichts anderem zu vergleichen waren. Sie fand diese Klänge geradezu magisch.
Plötzlich irritierte sie irgendetwas. Sie wandte ihren Blick wieder der Frau zu, die gerade ein Glas mit einem orangefarbenen Drink bekommen hatte.
Mit dem Drink hatte Lisbeth Salander freilich kein Problem. Aber sie konnte sich nicht erklären, warum die Frau plötzlich zur Salzsäule erstarrte. Seit das Paar vor vier Nächten angekommen war, hatte Lisbeth Salander dem Terror gelauscht, der sich in ihrem Nachbarzimmer abspielte. Sie hatte Schluchzen gehört, leise, aber erregte Stimmen und zeitweilig sogar Ohrfeigen. Der Mann, der diese Schläge austeilte – Lisbeth vermutete, dass es der Ehemann war -, mochte Mitte 40 sein. Er hatte sein dunkles, glattes Haar zu etwas so Unmodischem wie einem Mittelscheitel gekämmt und schien sich aus beruflichen Gründen in Grenada aufzuhalten. Was das für ein Beruf sein könnte, hatte sich Lisbeth Salander noch nicht erschlossen, aber bis jetzt war er jeden Morgen sorgfältig gekleidet erschienen, mit Schlips und Jackett, und hatte an der Hotelbar einen Kaffee getrunken, bevor er sich seine Aktentasche griff und hinausging, um in ein Taxi zu steigen.
Lisbeth kam immer spätnachmittags ins Hotel zurück, wenn er gerade mit seiner Frau am Pool war. Das Paar aß meistens zusammen zu Abend und machte dabei einen zurückhaltenden und liebevollen Eindruck. Vielleicht trank die Frau ein, zwei Gläschen zu viel, aber ihr kleiner Schwips wirkte nicht weiter störend oder auffällig.
Der Streit im Nachbarzimmer begann routinemäßig zwischen zehn und elf Uhr abends, ungefähr um die Zeit, wenn Lisbeth gerade mit einem Buch über die Geheimnisse der Mathematik ins Bett ging. Soweit Lisbeth das durch die Wand mitverfolgen konnte, kam es zu keinen gröberen Misshandlungen, aber die beiden stritten sich mit zermürbender Ausdauer. Die Nacht zuvor hatte Lisbeth ihre Neugier nicht mehr zügeln können und war auf den Balkon gegangen, um durch die offene Balkontür ihrer Nachbarn mitzuhören, worum es eigentlich ging. Er lief über eine Stunde im Zimmer auf und ab und gab zu, dass er ein mieser Schuft war, der sie überhaupt nicht verdiente. Immer wieder hatte er wiederholt, sie müsse ihn doch für einen Betrüger halten. Und jedes Mal hatte sie geantwortet, dass sie nicht so von ihm dachte, und versucht, ihn zu beruhigen. Er wurde immer eindringlicher, und zum Schluss packte und schüttelte er sie. Schließlich antwortete sie, wie er wollte … ja, du bist ein Betrüger. Kaum hatte er ihr diese Worte abgepresst, nahm er sie zum Vorwand, nun seine Frau anzugreifen, ihren Lebenswandel und ihren Charakter. Er bezeichnete sie als Hure, ein Ausdruck, gegen den Lisbeth sich zweifellos wirkungsvoll zur Wehr gesetzt hätte, wäre sie so genannt worden. Das war zwar nicht der Fall und somit war das Ganze auch nicht ihr persönliches Problem, aber sie konnte sich nicht recht entschließen, ob sie in irgendeiner Form eingreifen sollte oder nicht.
Erstaunt hatte Lisbeth seiner ständig wiederkehrenden Leier gelauscht, aber dann hörte sie plötzlich eine Ohrfeige. Als sie gerade beschlossen hatte, auf den Flur zu gehen und die Tür zum Nachbarzimmer einzutreten, wurde es nebenan still.
Während sie jetzt die Frau am Pool gründlich musterte, konnte sie einen leichten Bluterguss an der Schulter und eine Abschürfung an der Hüfte feststellen, sonst jedoch keine auffälligeren Verletzungen.
 
Neun Monate zuvor hatte Lisbeth einen Artikel in der Zeitschrift Popular Science gelesen, die jemand auf dem Leonardo-da-Vinci-Flughafen in Rom liegen gelassen hatte, und auf einmal eine vage Faszination für das obskure Fach der sphärischen Astronomie verspürt. Dem ersten Impuls folgend, ging sie in eine Universitätsbuchhandlung in Rom und kaufte sich die wichtigsten Abhandlungen zu diesem Thema. Um die sphärische Astronomie zu begreifen, musste sie sich jedoch mit einigen der heikleren Mysterien der Mathematik vertraut machen. Während ihrer Reisen in den letzten Monaten hatte sie oft Universitätsbuchhandlungen besucht, um weitere Bücher zu diesem Thema ausfindig zu machen.
Meistens lagen diese Bücher nun in ihrer Reisetasche, und ihre Studien blieben unsystematisch und relativ ziellos. Schließlich marschierte sie in die Universitätsbuchhandlung in Miami und kam mit Dimensions in Mathematics von Dr. L. C. Parnault (Harvard University, 1999) wieder heraus. Sie hatte das Buch kurz vor ihrer Weiterreise nach Florida Keys gefunden und nahm es nun mit zum Inselhüpfen durch die Karibik.
Sie hatte Guadeloupe abgehakt (zwei Tage in einem unfassbaren Loch), Dominica (schön und relaxed, fünf Tage), Barbados (ein Tag in einem amerikanischen Hotel, in dem sie sich schrecklich unwillkommen fühlte) und Saint Lucia (neun Tage).
Sie hätte sich durchaus vorstellen können, etwas länger in Saint Lucia zu bleiben, wäre sie nicht mit einem einheimischen Tunichtgut aneinandergeraten, der in der Bar ihres Hinterhofhotels hauste. Schließlich hatte sie die Geduld verloren und ihm mit einem Ziegelstein eins über den Schädel gezogen, hatte aus ihrem Hotel ausgecheckt und eine Fähre Richtung Saint George’s bestiegen, der Hauptstadt von Grenada. Von diesem Land hatte sie vorher noch nie gehört.
Eines Novembermorgens gegen zehn Uhr ging sie bei tropischem Platzregen in Grenada an Land. Ihrem Reiseführer The Caribbean Traveller hatte sie entnommen, dass Grenada als »Spice Island« bekannt war und weltweit zu den größten Muskatnussproduzenten gehörte. Die Insel hatte 120 000 Einwohner, aber weitere 200 000 Grenader wohnten in den USA, Kanada oder England, was ahnen ließ, wie es auf dem Arbeitsmarkt in ihrer Heimat aussah. Die Landschaft war hügelig, und in der Mitte lag der erloschene Vulkan Grand Etang.
Historisch betrachtet war Grenada nichts weiter als eine der vielen unansehnlichen ehemaligen Kolonien Großbritanniens. 1795 hatte Grenada politisch für einiges Aufsehen gesorgt, als sich ein freigelassener Sklave namens Julian Fedon von der Französischen Revolution inspirieren ließ und einen Aufstand anzettelte. Daraufhin entsandte die Krone Truppen, die eine große Zahl der Rebellen erschoss, aufhängte und verstümmelte. Was das Kolonialregime erschütterte, war die Tatsache, dass sich sogar ein paar arme Weiße Fedons Bewegung angeschlossen hatten, ohne die geringsten Rücksichten auf Etikette oder Rassengrenzen. Der Aufstand wurde zerschlagen, aber Fedon wurde nie gefangen genommen und verschwand im Massiv des Grand Etang, woraufhin die Legende ihn zu einer Art Robin Hood machte.
Knapp zweihundert Jahre später, 1979, brach der Anwalt Maurice Bishop eine neue Revolution vom Zaun, laut Reiseführer »inspired by the communist dictatorships in Cuba and Nicaragua«, aber Lisbeth bekam ein ganz anderes Bild von dieser Revolution, als sie Philip Campbell kennenlernte – Lehrer, Bibliothekar und Baptistenprediger -, in dessen Gästehaus sie während der ersten Tage wohnte. Die Geschichte ließ sich so zusammenfassen, dass Bishop, ein populärer Anführer aus dem Volk, einen verrückten Diktator stürzte, der obendrein UFO-Fantast war und einen guten Teil des Staatshaushalts für die Jagd nach fliegenden Untertassen ausgab. Bishop hatte für eine ökonomische Demokratie plädiert und das erste Gesetz zur Gleichstellung von Mann und Frau eingeführt, bevor er 1983 ermordet wurde.
Nach dem Mord, einem Massaker an 120 Personen, darunter der Außenminister, der Frauenminister und einige wichtige Gewerkschaftsführer, waren die USA einmarschiert und hatten die Demokratie eingeführt. Was Grenada anging, bedeutete das, dass die Arbeitslosenrate von 6 auf fast 50 Prozent anstieg und der Kokainhandel wieder zur weitaus wichtigsten Einkommensquelle wurde. Philip Campbell hatte den Kopf geschüttelt, als er die Beschreibung in Lisbeths Reiseführer las, und gab ihr dann ein paar gute Ratschläge, von welchen Personen und Vierteln sie sich nach Einbruch der Dunkelheit besser fernhalten sollte.
In Lisbeth Salanders Fall hätte er sich seinen Rat genauso gut schenken können. Sie bekam nämlich gar keine Gelegenheit, mit Grenadas krimineller Seite Bekanntschaft zu machen, da sie sich in Grand Anse Beach verliebt hatte, einen kilometerlangen und spärlich besuchten Sandstrand südlich von Saint George’s, den sie stundenlang entlangwandern konnte, ohne mit einem anderen Menschen zu reden oder auch nur einen zu treffen. Sie zog ins Keys, eines der wenigen amerikanischen Hotels am Grand Anse, und verbrachte dort sieben Wochen, ohne viel mehr zu tun, als am Strand herumzustapfen und die einheimische Frucht Chinups zu essen, die im Geschmack an Lisbeths heiß geliebte, herbe schwedische Stachelbeeren erinnerten.
Es war Nebensaison, sodass nicht einmal ein Drittel der Zimmer im Keys Hotel belegt war. Das Einzige, was Lisbeths Frieden und ihre zerstreuten Mathematikstudien störte, war der hartnäckige Terror im Nachbarzimmer.
 
Mikael Blomkvist drückte mit dem Zeigefinger auf den Klingelknopf von Lisbeth Salanders Wohnung in der Lundagatan. Er erwartete nicht, dass sie öffnen würde, aber er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ein paarmal im Monat bei ihrer Wohnung vorbeizufahren, um nachzusehen, ob sich irgendetwas verändert hatte. Wenn er durch ihren Briefschlitz spähte, konnte er einen Stapel Werbesendungen sehen. Es war kurz nach zehn Uhr abends und schon zu dunkel, um zu erkennen, ob der Stapel seit seinem letzten Besuch angewachsen war.
Ein Weilchen blieb er noch unschlüssig im Treppenhaus stehen, dann machte er frustriert auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus. In gemütlichem Tempo spazierte er weiter zu seiner Wohnung in der Bellmansgatan, setzte Kaffee auf und blätterte die Abendzeitungen durch, bevor er die Spätausgabe der Nachrichten ansah. Seine Stimmung war düster, er war ein wenig besorgt. Er fragte sich zum tausendsten Mal, wo sich Lisbeth Salander aufhalten mochte und was hier eigentlich passiert war.
Letztes Jahr während der Weihnachtsferien hatte er Lisbeth Salander in seine Hütte in Sandhamn eingeladen. Sie unternahmen lange Spaziergänge und diskutierten die Nachwirkungen der dramatischen Ereignisse, in die sie im Laufe des Jahres verwickelt worden waren. Mikael hatte eine Phase durchgemacht, die er im Nachhinein als eine Lebenskrise betrachtete. Nach seiner Verurteilung zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wegen Verleumdung hatte der ehemals so erfolgreiche Journalist beruflich bis zum Hals im Sumpf gesteckt. Seinen Posten als verantwortlicher Herausgeber bei Millennium hatte er mit eingezogenem Schwanz geräumt. Doch plötzlich änderte sich alles. Er erhielt den Auftrag, die Biografie des Großindustriellen Henrik Vanger zu schreiben, was ihm zunächst wie eine gut bezahlte Schnapsidee vorkam, sich dann aber in die desperate Jagd nach einem unbekannten, gerissenen Serienmörder verwandelte.
Während dieser Jagd hatte er Lisbeth Salander kennengelernt. Mikael tastete zerstreut nach der dünnen Narbe, die die Würgeschlinge unter seinem linken Ohr hinterlassen hatte. Lisbeth hatte ihm nicht nur bei der Jagd nach dem Mörder geholfen, sondern ihm auch im letzten Moment das Leben gerettet.
Immer wieder hatte sie ihn mit ihren seltsamen Fähigkeiten in größtes Erstaunen versetzt – ein fotografisches Gedächtnis und dazu phänomenale Computerkenntnisse. Mikael Blomkvist hätte jederzeit behauptet, sich ganz gut mit Computern auszukennen, aber Lisbeth Salander bediente Computer, als stünde sie mit dem Teufel im Bunde. Allmählich war ihm aufgegangen, dass sie eine Weltklassehackerin war. In dem exklusiven internationalen Kreis, der sich der Datenkriminalität auf höchstem Niveau widmete, war sie eine Legende. Man kannte sie dort nur unter dem Pseudonym »Wasp«.
Ihre Fähigkeit, völlig problemlos in die Computer anderer Menschen einzudringen, hatte Mikael das Material verschafft, mit dem er seine journalistische Niederlage in der Wennerström-Affäre in einen Sieg verwandeln konnte – eine Riesenstory, die auch nach einem Jahr noch internationale Ermittlungen auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität in Gang hielt und Mikael mit regelmäßigem Abstand einen Platz auf den Talkshow-Sofas verschaffte.
Vor einem Jahr hatte er die Story noch mit der allergrößten Zufriedenheit betrachtet – als Rache und Rehabilitation, nachdem er schon im journalistischen Abseits gelandet war. Doch mit dieser Zufriedenheit war es schnell vorbei. Schon nach wenigen Wochen war er es leid, immer wieder auf dieselben Fragen der Journalisten und der Steuerpolizei zu antworten. Tut mir leid, aber ich kann mit Ihnen nicht über meine Quellen sprechen. Als sich eines Tages ein Journalist der englischsprachigen Azerbaijan Times die Mühe machte, nach Stockholm zu kommen, nur um ihm abermals die gleichen einfältigen Fragen zu stellen, war das Maß voll. Mikael hatte die Zahl der Interviews auf ein Minimum herabgeschraubt, und in den letzten Monaten hatte er sich nur noch zu einem Auftritt bequemt, wenn Sie von TV4 anrief und ihn überredete, und das war immer nur dann der Fall, wenn die Ermittlungen gerade in eine neue Phase eintraten.
Mikaels Zusammenarbeit mit Ihr von TV4 hatte jedoch eine ganz andere Dimension. Sie war die erste Journalistin gewesen, die bei seinen Enthüllungen angebissen hatte. Ohne ihren Einsatz an jenem Abend, als Millennium seine Riesenstory publik machte, hätte der Artikel nicht unbedingt eine solche Durchschlagskraft erreicht. Erst später erfuhr Mikael, dass Sie mit Zähnen und Klauen darum gekämpft hatte, mit dieser Story auf Sendung zu gehen. Sie stieß auf massiven Widerstand, weil man den »Schwindler von Millennium« nicht rehabilitieren wollte, und bis kurz vor der Sendung blieb es unsicher, ob das Heer der redaktionseigenen Anwälte grünes Licht geben würde. Mehrere ihrer älteren Kollegen gaben Ihr zu verstehen, dass ihre Karriere vorbei sei, wenn sich das Ganze als Fehlalarm herausstellen würde. Aber Sie war hartnäckig geblieben, und plötzlich war es die Story des Jahres.
Während der ersten Woche blieb Sie an der Story dran – Sie war ja die Einzige, die sich tatsächlich in das Thema eingearbeitet hatte -, aber irgendwann kurz vor Weihnachten bemerkte Mikael, dass sämtliche Kommentare plötzlich in die Hände ihrer männlichen Kollegen gewandert waren. Um Neujahr erfuhr Mikael über Umwege, dass man Sie hinausgedrängt hatte, mit der müden Begründung, dass eine so wichtige Story von seriösen Wirtschaftsjournalisten betreut werden müsse und nicht von irgendeinem unerfahrenen kleinen Mädchen. Als TV4 das nächste Mal anrief und um einen Kommentar bat, erklärte Mikael ihnen rundheraus, dass er sich nur von Ihr von TV4 interviewen lassen würde. Nach ein paar Tagen mürrischen Schweigens kapitulierten die Leute von TV4.
Mikaels Interesse an der Wennerström-Affäre verflüchtigte sich zum selben Zeitpunkt, als Lisbeth Salander aus seinem Leben verschwand. Ihm war immer noch nicht klar, was eigentlich geschehen war.
Sie waren am zweiten Weihnachtsfeiertag auseinandergegangen, und in der folgenden Woche hatte er sie nicht mehr gesehen. Einen Tag vor Silvester rief er sie spätabends an, aber sie ging nicht ans Telefon.
An Silvester ging er zweimal bei ihr vorbei und klingelte. Beim ersten Mal brannte Licht in ihrer Wohnung, aber sie machte nicht auf. Beim zweiten Mal waren ihre Fenster alle dunkel. Am Neujahrstag versuchte er erneut, sie anzurufen, aber niemand nahm ab. Bei späteren Versuchen wurde ihm nur noch mitgeteilt, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei.
In den zwei Tagen danach hatte er sie zweimal gesehen. Nachdem er sie telefonisch nicht erreicht hatte, war er Anfang Januar noch einmal zu ihr gegangen und hatte sich vor ihrer Wohnung auf die Treppe gesetzt. Er hatte ein Buch dabei und blieb hartnäckig vier Stunden lesend dort sitzen, bis sie kurz vor elf Uhr abends das Haus betrat. Sie trug einen braunen Karton und stutzte, als sie ihn sah.
»Hallo, Lisbeth«, begrüßte er sie und schlug sein Buch zu.
Sie musterte ihn mit ausdrucksloser Miene, weder Wärme noch Freundschaft im Blick. Dann ging sie an ihm vorbei und steckte den Schlüssel in ihr Türschloss.
»Lädst du mich auf eine Tasse Kaffee ein?«, fragte Mikael.
Sie drehte sich zu ihm um und sagte leise:
»Geh weg. Ich will dich nie wieder sehen.«
Dann schlug sie einem völlig verblüfften Mikael Blomkvist die Tür vor der Nase zu, und er hörte, wie sie von innen abschloss.
Nur drei Tage später sah er sie noch einmal. Er hatte die U-Bahn von Slussen bis T-Centralen genommen, und als der Zug gerade in Gamla Stan hielt, sah er aus dem Fenster und entdeckte sie auf dem Bahnsteig, nicht einmal zwei Meter von ihm entfernt. Er erkannte sie im selben Augenblick, in dem die Türen zugingen. Fünf Sekunden lang blickte sie direkt durch ihn hindurch, als wäre er aus Luft. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand aus seinem Blickfeld, während sein Zug wieder anfuhr.
Die Botschaft war eindeutig. Lisbeth Salander wollte nichts mehr mit Mikael Blomkvist zu tun haben. Sie hatte ihn genauso effektiv aus ihrem Leben gelöscht wie eine Datei von ihrem Computer, ohne weitere Erklärungen. Sie änderte ihre Handynummer und beantwortete auch keine Mails mehr.
Mikael seufzte, schaltete den Fernseher aus, trat ans Fenster und betrachtete das Rathaus.
Er fragte sich, ob er einen Fehler machte, wenn er weiterhin in regelmäßigen Abständen stur bei ihr vorbeiging. Eigentlich gehörte Mikael zu den Männern, die ihrer Wege gehen, wenn ihnen eine Frau deutlich zu verstehen gibt, dass sie nichts mehr von ihnen wissen will. Eine solche Botschaft nicht zu respektieren war für ihn gleichbedeutend mit einem Mangel an Respekt.
Mikael und Lisbeth hatten miteinander geschlafen. Aber die Initiative war von ihr ausgegangen, und ihr Verhältnis hatte nur ein halbes Jahr gedauert. Wenn sie diese Geschichte also genauso abrupt beenden wollte, wie sie sie angefangen hatte, war das für ihn völlig okay. Das war ihre Entscheidung. Er hatte kein Problem damit, mit der Rolle des Exfreunds klarzukommen – wenn er es denn war -, aber Lisbeth Salanders totale Distanz verwirrte ihn.
Verliebt war er nicht in sie – sie waren ungefähr so verschieden, wie zwei Menschen nur irgend sein können -, doch er mochte sie, und diese furchtbar anstrengende Person Lisbeth Salander fehlte ihm tatsächlich. Irgendwie hatte er geglaubt, ihre Freundschaft beruhe auf Gegenseitigkeit. Kurz und gut, er kam sich vor wie der letzte Idiot.
Er blieb eine ganze Weile am Fenster stehen.
Schließlich fasste er einen Entschluss.
Wenn Lisbeth ihn wirklich auf den Tod nicht mehr ausstehen konnte und es sogar zu viel verlangt war, dass sie sich bei einer Begegnung in der U-Bahn grüßten, dann war ihre Freundschaft höchstwahrscheinlich vorbei und der Schaden nicht wiedergutzumachen. Ab jetzt würde er keinen Versuch mehr starten, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen.
 
Lisbeth Salander sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie völlig durchgeschwitzt war, obwohl sie die ganze Zeit nur im Schatten gesessen hatte. Es war halb elf Uhr morgens.
Sie memorierte eine dreizeilige mathematische Formel und schlug wieder ihr Buch Dimensions in Mathematics auf. Dann nahm sie ihren Zimmerschlüssel und die Zigarettenschachtel vom Tisch.
Ihr Zimmer war im zweiten Stock, mehr Etagen hatte das Hotel nicht. Sie zog sich aus und ging unter die Dusche. Eine zwanzig Zentimeter lange grüne Eidechse, die direkt unter der Decke an der Wand saß, glotzte auf sie herunter. Lisbeth glotzte zurück, machte aber keine Anstalten, das Tier zu verscheuchen. Diese Eidechsen waren überall auf der Insel. Sie schlüpften durch die Jalousien der offenen Fenster, krabbelten unter der Tür hindurch oder gelangten über den Lüftungsschacht vom Bad ins Zimmer. Sie fühlte sich ganz wohl mit dieser Gesellschaft, die sie im Großen und Ganzen nicht weiter belästigte. Das Wasser war kalt, aber nicht eisig, und sie blieb fünf Minuten unter der Dusche, um sich abzukühlen.
Als sie wieder ins Zimmer kam, blieb sie nackt vor dem Garderobenspiegel stehen und musterte staunend ihren Körper. Sie wog immer noch gerade mal vierzig Kilo bei einer Größe von knapp 1 Meter 50. Dagegen konnte sie nicht allzu viel ausrichten. Sie hatte puppenartig dünne Gliedmaßen, kleine Hände und schmale Hüften.
Aber jetzt hatte sie Brüste.
Sie war ihr Leben lang flachbrüstig gewesen, so wie vor ihrer Pubertät. Es sah einfach lächerlich aus, und sie war immer ein wenig befangen gewesen, wenn sie sich nackt zeigen sollte.
Aber dann hatte sie ganz plötzlich Brüste bekommen. Keine Riesenballons (die sie gar nicht haben wollte und die an ihrem ansonsten spindeldürren Körper noch lächerlicher gewirkt hätten), sondern zwei feste runde Brüste mittlerer Größe. Die Vergrößerung war vorsichtig durchgeführt worden, und die Proportionen stimmten. Aber der Unterschied war dramatisch, sowohl für ihr Aussehen als auch für ihr ganz persönliches Wohlbefinden.
Sie hatte fünf Wochen in einer Klinik in der Nähe von Genua verbracht, um sich die Implantate für ihre neue Brust auszusuchen. Sie hatte die Klinik und die Ärzte ausgewählt, die in Europa den besten und seriösesten Ruf hatten. Ihre Ärztin, eine charmante, hartgesottene Frau namens Alessandra Perrini, hatte festgestellt, dass Lisbeths Brust in der Tat unterentwickelt und eine Brustvergrößerung daher medizinisch begründbar war.
Der Eingriff war freilich nicht schmerzfrei gewesen, aber der Busen sah ganz natürlich aus und fühlte sich auch so an, und die Narbe war mittlerweile fast nicht mehr sichtbar. Sie hatte ihren Entschluss keine Sekunde bereut. Sie war zufrieden. Noch ein halbes Jahr danach konnte sie nie mit nacktem Oberkörper an einem Spiegel vorbeigehen, ohne zu stutzen und mit Freuden festzustellen, dass sich ihre Lebensqualität um einiges verbessert hatte.
Während ihrer Zeit in der Klinik in Genua hatte sie sich auch eine ihrer Tätowierungen entfernen lassen – eine zwei Zentimeter lange Wespe auf der rechten Halsseite. Sie mochte ihre Tattoos immer noch, vor allem den großen Drachen, der ihr vom Schulterblatt bis über den Po reichte, hatte aber trotzdem beschlossen, sich die Wespe entfernen zu lassen. Aus dem einfachen Grund, weil sie so gut sichtbar und auffällig war, dass man sich leicht an Lisbeth erinnern und sie identifizieren konnte. Und Lisbeth wollte nicht, dass man sich leicht an sie erinnern und sie identifizieren konnte. Die Wespe wurde mit einem Laser entfernt, und wenn sie sich jetzt mit dem Zeigefinger über den Hals fuhr, spürte sie noch eine ganz kleine Narbe. Bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass ihre sonnengebräunte Haut an dieser Stelle einen Tick heller war, aber auf den ersten Blick sah man gar nichts. Insgesamt hatte ihr Besuch in Genua sie umgerechnet 190 000 Kronen gekostet.
Was sie sich durchaus leisten konnte.
Sie riss sich aus ihren Träumen vorm Spiegel los und zog Slip und BH an. Zwei Tage nachdem sie die Klinik in Genua verlassen hatte, besuchte sie zum ersten Mal in ihrem 25-jährigen Leben eine Boutique für Damenunterwäsche und kaufte sich Kleidung, die sie bis dahin nie gebraucht hatte. Inzwischen war sie 26 und trug ihren BH mit einer gewissen Befriedigung.
Darüber zog sie eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift Consider this a fair warning. Nachdem sie ihre Sandalen und den Sonnenhut gefunden hatte, hängte sie sich noch eine schwarze Nylontasche über die Schulter.
Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte sie an der Rezeption aufgeregtes Gemurmel einer kleinen Gruppe von Gästen. Sie ging etwas langsamer und spitzte die Ohren.
»Just how dangerous is she?«, fragte eine Schwarze mit hoher Stimme und europäischem Akzent. Lisbeth erkannte sie wieder: Sie gehörte zu einer Chartergruppe aus London, die vor zehn Tagen angekommen war.
Freddie McBain, der grau melierte Empfangschef, der Lisbeth Salander sonst immer mit einem freundlichen Lächeln grüßte, wirkte bekümmert. Er erklärte, dass alle Hotelgäste Anweisungen bekommen würden und kein Grund zur Beunruhigung bestehe, wenn sie diese Anweisungen haargenau befolgten. Nach dieser Antwort wurde er neuerlich mit Fragen bestürmt.
Lisbeth Salander runzelte die Stirn und ging an die Bar, wo sie Ella Carmichael hinter der Theke fand.
»Worum geht es denn da?«, erkundigte sie sich und zeigte mit dem Daumen auf das Knäuel vor der Rezeption.
»Mathilda hat uns einen Besuch angedroht.«
»Mathilda?«
»Mathilda ist ein Wirbelsturm, der sich vor ein paar Wochen vor Brasilien gebildet hat und heute Morgen durch Paramaribo gezogen ist, die Hauptstadt von Surinam. Es ist nicht sicher, in welche Richtung der Sturm weiterzieht – wahrscheinlich nach Norden in Richtung USA. Aber wenn er der Küste in westlicher Richtung folgt, dann liegen Trinidad und Grenada mitten auf seiner Route. Könnte eine ziemlich stürmische Angelegenheit werden.«
»Ich dachte, die Saison der Wirbelstürme ist vorbei.«
»Ist sie eigentlich auch. Meistens haben wir im September und Oktober Orkanwarnungen. Aber mittlerweile spielt das Klima so verrückt, wegen des Treibhauseffekts und so weiter, da weiß man nie so genau.«
»Und wann wird Mathilda erwartet?«
»Bald.«
»Muss ich irgendwas tun?«
»Lisbeth, mit Wirbelstürmen ist nicht zu spaßen. In den Siebzigern hatten wir einen, der verheerende Schäden in Grenada angerichtet hat. Ich war damals elf Jahre alt und wohnte in einem Dorf oben am Grand Etang, an der Straße nach Grenville, und die Nacht werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen.«
»Hmm.«
»Aber du musst dir keine Sorgen machen. Bleib am Samstag einfach in der Nähe des Hotels. Pack dir eine Tasche mit den Dingen, die du nicht entbehren kannst – zum Beispiel diesen Computer, an dem du immer rumspielst -, und halt sie bereit, für den Fall, dass die Gäste aufgefordert werden, sich in den sturmsicheren Keller zu begeben. Das ist alles.«
»Okay.«
»Möchtest du was trinken?«
»Nein.«
Lisbeth Salander ging, ohne sich zu verabschieden. Ella Carmichael lächelte ihr kopfschüttelnd hinterher. Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis sie sich an die seltsame Art dieses komischen Mädchens gewöhnt hatte, und sie wusste mittlerweile, dass Lisbeth nicht schnoddrig war – sie war einfach nur sehr, sehr anders. Aber sie bezahlte ihre Drinks ohne Umstände, blieb einigermaßen nüchtern und machte keinen Ärger.
 
Grenadas Lokalverkehr bestand vor allem aus fantasievoll dekorierten Minibussen, die sich nicht um Fahrpläne oder andere Formalitäten scherten. Tagsüber verkehrten sie regelmäßig, aber nach Einbruch der Dunkelheit war es unmöglich, sich ohne eigenes Auto fortzubewegen.
Lisbeth Salander brauchte nur ein paar Minuten an der Straße nach Saint George’s zu warten, als schon ein Bus neben ihr bremste. Der Fahrer war ein Rastaman mit Dreadlocks, und aus den Lautsprechern im Bus dröhnte in voller Lautstärke »No woman, no cry«. Sie bezahlte ihren Dollar und zwängte sich in den Bus zwischen eine stattliche, grauhaarige Dame und zwei Jungen in Schuluniform.
Saint George’s lag an einer u-förmigen Bucht, die The Carenage bildete, den Hafen. Rundherum ragten steile Hügel auf, auf denen Wohnhäuser, alte Kolonialbauten und eine Festung standen, Fort Rupert, weit draußen auf einer steilen Klippe am Ende der Landzunge.
Saint George’s war eine kompakte, dicht gebaute Stadt mit schmalen Straßen und vielen kleinen Gassen. Die Häuser kletterten förmlich die Hügel hinauf, und abgesehen von einer Kombination aus Cricketplatz und Pferderennbahn, gab es im Norden der Stadt kaum eine horizontale Fläche.
Sie stieg am Hafen aus und spazierte zu MacIntyre’s Electronics, die ihren Laden auf dem Gipfel eines kleinen, steilen Hügels hatten. So gut wie alle Produkte, die in Grenada verkauft wurden, waren aus den USA oder England importiert und kosteten daher doppelt so viel wie anderswo, aber dafür hatte das Geschäft eine Klimaanlage.
Die Ersatzbatterien, die sie für ihr Apple PowerBook (G4 Titanium, mit 17-Zoll-Bildschirm) bestellt hatte, waren endlich eingetroffen. In Miami hatte sie sich einen Palm mit faltbarer Tastatur zugelegt, aber das war freilich nur ein jämmerlicher Ersatz für einen 17-Zoll-Bildschirm. Die Originalbatterien waren schwächer geworden und reichten mittlerweile nur noch eine halbe Stunde, bevor man sie wieder aufladen musste. Das war übel, wenn sie mit ihrem Computer auf der Poolterrasse sitzen wollte, und außerdem ließ die Stromversorgung in Grenada einiges zu wünschen übrig – im Laufe ihres Aufenthalts hatte es zwei längere Stromausfälle gegeben.
Lisbeth zahlte mit einer Kreditkarte, die auf den Namen Wasp Enterprises ausgestellt war, stopfte die Batterien in ihre Nylontasche und ging wieder hinaus in die Mittagshitze.
Dann stattete sie Barclays Bank einen Besuch ab und hob 300 Dollar ab. Sie ging auf den Markt, kaufte sich einen Bund Karotten, ein halbes Dutzend Mangos und eine 1,5-Liter-Flasche Mineralwasser. Als sie wieder zum Hafen kam, hatte sie Hunger und Durst. Sie überlegte erst, ob sie ins »Nutmeg« gehen sollte, aber dort belagerten bereits andere Gäste den Eingang. Also ging sie weiter zum stilleren »Turtleback«, setzte sich auf die Veranda und bestellte sich einen Teller Calamares mit roh gebratenen Kartoffeln und eine Flasche Carib, die örtliche Biermarke. Dann blätterte sie zwei Minuten ein herrenloses Exemplar der Lokalzeitung Grenadian Voice durch. Der einzig interessante Artikel war eine dramatische Warnung vor Mathildas möglichem Besuch. Eine Illustration zeigte ein verwüstetes Haus, und man erinnerte an die Spur der Zerstörung, die der damalige große Wirbelsturm hinterlassen hatte.
Sie faltete die Zeitung wieder zusammen, nahm einen Schluck aus der Flasche und lehnte sich zurück, als sie plötzlich den Mann von Zimmer 32 von der Bar auf die Veranda treten sah. In der einen Hand trug er seine braune Aktentasche, in der anderen ein großes Glas Coca-Cola. Sein Blick streifte Lisbeth, ohne dass er sie wiedererkannt hätte, dann setzte er sich auf die andere Seite der Veranda und sah aufs Meer hinaus.
Lisbeth Salander musterte ihn im Profil. Er schien völlig geistesabwesend und blieb sieben Minuten unbeweglich sitzen, bevor er auf einmal sein Glas an den Mund hob und drei tiefe Schlucke nahm. Er stellte die Cola wieder ab und starrte weiter aufs Wasser. Nach einer Weile öffnete Lisbeth ihre Tasche und holte Dimensions in Mathematics heraus.
 
Lisbeth war ihr Leben lang von Puzzles und Rätseln fasziniert gewesen. Als sie neun war, kaufte ihre Mutter ihr einen Zauberwürfel. Daran hatte sie fast vierzig frustrierende Minuten lang ihre logischen Fähigkeiten erprobt, bis sie schließlich verstand, wie das Ganze funktionierte. Danach hatte sie keine Probleme mehr, sechs gleiche Seiten zu erzeugen. In den Intelligenztests der Zeitungen kreuzte sie niemals eine falsche Antwort an: fünf seltsam geformte Figuren mit der Frage, wie die sechste aussehen müsse – die Antwort lag für sie jedes Mal auf der Hand.
In der Grundschule hatte sie Plus und Minus kennengelernt. Multiplikation, Division und Geometrie waren nur die natürlichen Fortsetzungen davon. Sie konnte die Restaurantrechnung im Kopf addieren und die Bahn eines Artilleriegeschosses berechnen, das mit einer bestimmten Geschwindigkeit in einem bestimmten Winkel abgefeuert wurde. Das waren Selbstverständlichkeiten. Bevor sie den Artikel in Popular Science las, war sie jedoch niemals auch nur eine Sekunde lang von Mathematik fasziniert gewesen und hatte nie darüber nachgedacht, dass auch das Einmaleins Mathematik war. Das Einmaleins war etwas, was sie an einem Nachmittag auswendig gelernt hatte, und es ging ihr nicht in den Kopf, warum ihr Lehrer noch ein ganzes Jahr darauf herumreiten musste.
Aber dann war ihr mit einem Schlag die unbeirrbare Logik aufgegangen, die hinter den Gedankengängen und Formeln stecken musste, und sie war in der Mathematikabteilung der Universitätsbuchhandlung gelandet. Doch erst als sie Dimensions in Mathematics aufschlug, hatte sich eine ganz neue Welt vor ihr aufgetan. Eigentlich war die Mathematik nichts anderes als ein logisches Puzzle mit unendlichen Variationen – Rätsel, die man lösen konnte. Der Trick war nicht der, Rechenaufgaben zu lösen. Fünf mal fünf machte immer fünfundzwanzig. Der Trick lag vielmehr in der Kombination der verschiedenen Rätsel, die es ermöglichte, jedes beliebige mathematische Problem zu lösen.
Dimensions in Mathematics war genau genommen kein Lehrbuch, sondern ein 1 200 Seiten dicker Wälzer über die Geschichte der Mathematik von den alten Griechen bis zum gegenwärtigen Versuch, die sphärische Astronomie zu beherrschen. Es galt als Bibel und bedeutete nicht weniger, als die Arithmetica von Diophantos damals (und auch heute noch) für seriöse Mathematiker bedeutete. Als sie auf der Terrasse des Hotels am Grand Anse Beach zum ersten Mal die Dimensions aufschlug, war sie auf einmal in einer verhexten Welt aus Zahlen gelandet, im Buch eines Verfassers, der ebenso pädagogisch wie unterhaltsam war. Lisbeth konnte die Mathematik von Archimedes bis hin zum heutigen Jet Propulsion Laboratory in Kalifornien verfolgen. Sie begriff, wie die Methoden aussahen, mit denen sie ihre mathematischen Probleme lösten.
Potenz und 1. Damit hatte er den Satz des Pythagoras verfeinert, und Lisbeth begriff, dass die Zahl der Kombinationen unendlich groß war.
So konnte man ewig weitermachen, ohne eine Zahl zu finden, die diese Regel brach. Diese Art von Logik kam Lisbeth Salanders Gefühl für das Absolute entgegen. Mit dem größten Vergnügen arbeitete sie sich durch Archimedes, Newton, Martin Gardner und ein Dutzend andere klassische Mathematiker hindurch.
Danach kam sie zum Kapitel über Pierre de Fermat, dessen mathematisches Rätsel, »Fermats Satz«, sie sieben Wochen lang verblüfft hatte. Immerhin ein relativ bescheidener Zeitraum, verglichen mit den fast vierhundert Jahren, in denen Fermat die Mathematiker zum Wahnsinn getrieben hatte, bis es 1993 endlich einem Engländer namens Andrew Wiles gelungen war, sein Rätsel zu lösen.
Fermats Theorem war eigentlich eine verlockend leichte Aufgabe.
Pierre de Fermat wurde 1601 in Beaumont-de-Lomagne im Südwesten Frankreichs geboren. Er war nicht einmal Mathematiker, sondern stand in Staatsdiensten und widmete sich nur in seiner Freizeit der Mathematik, als wäre sie eine Art bizarres Hobby. Dennoch galt er unter den Mathematikern als einer der begabtesten Autodidakten aller Zeiten. Wie Lisbeth Salander war auch er von kniffligen Fragen und Rätseln begeistert. Besonderen Spaß machte es ihm, andere Mathematiker zu ärgern, indem er sich eine Problemstellung ausdachte, sich dann aber nicht weiter um deren Lösung kümmerte. Der Philosoph René Descartes belegte Fermat mit einer ganzen Reihe verächtlicher Beinamen, während sein englischer Kollege John Wallis ihn nur noch als »diesen verdammten Franzosen« bezeichnete.
Das Problem war nur, dass es für die neue Gleichung keine ganzzahlige Lösung gab. Durch eine kleine gelehrte Veränderung hatte Fermat eine Formel, für die es eine unendliche Anzahl perfekter Lösungen gab, in eine Sackgasse verwandelt, für die es keine einzige Lösung gab. Sein Theorem bestand in genau dieser Feststellung: Fermat behauptete, dass es im unendlichen Universum der Zahlen nirgendwo eine ganze Zahl gab, deren dritte Potenz durch die Summe zweier anderer dritter Potenzen ausgedrückt werden konnte, und dies gelte darüber hinaus für alle Zahlen, die eine höhere Potenz als 2 haben.
Die anderen Mathematiker waren sich schnell einig, dass diese Behauptung ganz richtig war. Mit der »trial and error«-Methode fanden sie heraus, dass sich keine Zahl finden ließ, die Fermats Satz widerlegt hätte. Aber selbst wenn sie bis in alle Ewigkeit weitergerechnet hätten, so hätten sie niemals alle existierenden Zahlen durchprobieren können – ihre Menge ist unendlich groß -, und so konnten die Mathematiker nie hundertprozentig sicher sein, dass nicht doch die nächste Zahl Fermats Satz über den Haufen werfen würde. In der Mathematik müssen Behauptungen mathematisch bewiesen werden und sich durch eine allgemeingültige und wissenschaftlich korrekte Formel ausdrücken lassen. Ein Mathematiker muss sich auf ein Podium stellen und verkünden können: »Es verhält sich so, weil …«
Wie üblich führte Fermat seine Kollegen an der Nase herum. An den Rand seines Exemplars der Arithmetica kritzelte das Genie seine Problemstellung und schloss mit folgenden Zeilen: Cuius rei demonstrationem mirabilem sane detexi hanc marginis exiguitas non caperet. Diese Zeilen erlangten in der Geschichte der Mathematik Unsterblichkeit: Ich habe einen wahrhaft wunderbaren Beweis für diese Behauptung, aber der Rand ist allzu schmal, um ihn zu fassen.
Sollte er vorgehabt haben, seine Kollegen in den Wahnsinn zu treiben, war ihm dies außerordentlich gut gelungen. Seit 1637 hat im Großen und Ganzen jeder Mathematiker mit einiger Selbstachtung eine gewisse Zeit, zuweilen sogar beträchtlich viel Zeit darauf verwendet, Fermats Beweis zu finden. Generationen von Denkern scheiterten, bis Andrew Wiles 1993 endlich mit dem erlösenden Beweis kam. Bis dahin hatte er fünfundzwanzig Jahre über das Rätsel nachgedacht, die letzten zehn Jahre mehr oder weniger von morgens bis abends.
Lisbeth Salander war völlig perplex.
Eigentlich interessierte sie die Antwort gar nicht. Es ging nur um die Problemlösung selbst. Wenn ihr jemand ein Rätsel vorsetzte, dann löste sie es. Bevor sie die Prinzipien verstanden hatte, dauerte es recht lange, bis sie die Zahlenrätsel lösen konnte, aber sie kam immer zur richtigen Antwort, bevor sie im Anhang mit den Lösungen nachsah.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe FLICKAN SOM LEKTE MED ELDEN erschien bei Norstedts Förlag, Stockholm
 
 
 
 
 
 
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