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Ein verlassenes Krankenhaus im Wald, von der Bevölkerung längst vergessen, doch noch immer streng bewacht durch Elite-Soldaten der US Army. Eines Tages verschwindet ein Wachmann spurlos während des Dienstes, doch niemand scheint ernsthaft interessiert an der Aufklärung des Vorfalls. Donald Galloway, Münchner Privatermittler mit amerikanischen Wurzeln, stößt bei seiner Suche nach dem Vermissten auf ein jahrzehntelang bestens gehütetes Geheimnis. Und gerät selbst in Lebensgefahr. - Ein Mystery-Thriller mit konstantem Spannungsbogen und Gänsehautgarantie!
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Ein Mystery-Thriller von Thomas Bosch
Nur weil Du etwas nicht siehst
oder noch nie gesehen hast,
bedeutet das nicht,
dass es nicht existiert.
Deutschland, Oberpfalz, Gemarkung Höhenberg
Als der durchdringende schrille Ton den kleinen Raum flutete, schreckte Brian Mills hoch. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er wieder ganz bei sich war, dann stemmte er sich mit einem leisen Stöhnen aus dem Bürostuhl hoch. Verdammte Bandscheibe. Der Vorfall im vergangenen Jahr war zwar ganz gut überstanden, aber manchmal spürte er noch immer einen schmerzhaften Stich – vor allem beim Aufstehen kurz nach dem Aufwachen.
Brian rieb sich die Augen, während der schrille Ton weiter an Lautstärke zunahm. „Jaaaaa, ist ja schon gut“, brummte Mills, erhob sich vollständig, ging zum Schaltpult rüber und drückte gleichzeitig die beiden blauen Knöpfe. Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Bis auf das leise Rauschen der Lüfter in den Computern und Serverracks herrschte in dem alles in allem etwa 30 Quadratmeter umfassenden Raum absolute Stille.
Das laut Dienstanweisung natürlich strikt verbotene Nickerchen hatte gutgetan, auch wenn es nicht mehr als ein paar Minuten gewesen sein konnten, als ihn die anschlagende Totmann-Einrichtung aus den Träumen zurück in die Realität holte. Alle 600 Sekunden, sprich alle zehn Minuten, musste Brian die beiden blauen Knöpfe drücken. Insgesamt also 72 Mal während seiner Zwölf-Stunden-Schicht. Sonst „beept es Dir die Birne weg“, wie sein Ausbilder während der Einweisung damals erklärt hatte. „Die Birne weg beepen“ fand Brian ein bisschen übertrieben, aber wirklich angenehm war dieser schrille Signalton tatsächlich nicht. Vor allem wenn man gerade eingenickt war. Aber genau das war wahrscheinlich auch der Sinn des Totmann-Schalters.
Während er sich reckte und streckte, ließ Mills den Blick über die große Monitorwand schweifen. 40 Flachbildschirme waren im leichten Halbrund in vier Reihen übereinander angeordnet. Und zeigten alle weitgehend dasselbe Bild: einen in der Wirklichkeit etwa acht Meter breiten Sandstreifen, eingegrenzt links von einer hohen Backsteinmauer und rechts von einem Stacheldrahtzaun. Dasselbe Programm auf allen Kanälen, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, zwölf Monate im Jahr. Besagter Sandstreifen samt Mauer und Stacheldrahtzaun begrenzten ein gut 40 Hektar großes Gelände, zu dem es nur einen einzigen Zugang gab – und der führte am Pförtnerhäuschen von Brian Mills vorbei. Das heißt, eigentlich endete der Zugang dort bereits, denn nach der Wache gab es ein doppeltes Zufahrtstor, gut vier Meter hoch, mit vertikalen engstehenden Stahlstreben und einer Ladung NATO-Draht oben drauf. Das Tor war noch nie geöffnet worden, zumindest nicht solange Brian Mills hier Dienst schob. Und das waren schon einige Jahre.
Im nächsten Herbst würde er sein 25jähriges Dienstjubiläum bei der US Army feiern. Gute sieben Jahre davon saß Mills schon hier im „Bunker“, wie die Soldaten den Posten nannten. Bunker deshalb, weil das Wachgebäude keinerlei Fenster hatte. Brian und seine Kollegen hockten hier drinnen vollklimatisiert hinter einem Meter Stahlbeton, über sich ein Flachdach mit einer Satellitenschüssel und drei Funkantennen drauf, unter sich einen nur über eine Bodenklappe zugänglichen Kellerraum, in dem ein Notstromaggregat modernster Bauart stand, das den Bunker sowie die Sicherheits- und Kameraeinrichtungen entlang der Backsteinmauer im Falle eines Stromausfalls für gut eine Woche mit Elektrizität versorgen konnte. Zumindest hatten das die Ingenieure damals behauptet, als vor drei Jahren die Technik letztmals auf den neuesten Stand gebracht worden war.
Zwei Türen führten ins Freie. Die erste bestand aus Stahl, war mehrfach elektronisch verriegelt, videoüberwacht und stellte den Eingang in den Bunker dar. Die zweite Tür, nicht minder widerstandsfähig konstruiert und zudem von innen durch zusätzliche Querriegel gesichert, führte aufs Innengelände, war als Notausgang gekennzeichnet und musste laut US Army sozusagen unter Androhung der Todesstrafe ständig geschlossen bleiben.
Dass sich nicht alle Kollegen darum scherten, hatte Brian eines Tages anhand zahlreicher Zigarettenstummel auf dem moosigen Waldboden registriert, als er selbst mal in einem Anflug grenzenloser Langeweile die Tür geöffnet hatte. Großartiges zu sehen gab es da draußen sowieso nicht. Hinter dem ständig verschlossenen Zufahrtstor führte ein etwa vier Meter breiter Kiesweg, der fast vollständig mit Unkraut zugewuchert war, in den Wald hinein. Und sonst… Bäume, Bäume, Bäume. Wald eben.
Brian drückte wieder auf die blauen Knöpfe, dann schlurfte er in den hinteren Teil des Pförtnerhauses, wo sich eine recht modern ausgestattete kleine Küche befand. Die Army hatte sich bei der letzten Renovierung nicht lumpen lassen: Ein moderner Kaffeevollautomat, der auf Knopfdruck verschiedene Spezialitäten zubereitete, war ebenso vorhanden wie eine Hochleistungsmikrowelle, mit der man ein mitgebrachtes Essen innerhalb von zehn Sekunden erhitzen konnte.
Brian holte eine frische Tasse aus dem Hängeschrank, gab einen Löffel Zucker hinein, stellte sie in den Kaffeeautomaten und wählte einen Cappuccino. Dann setzte er sich wieder an den Arbeitstisch vor der Monitorwand, auf dem sich rechts ein umfangreiches Schaltpult und links ein Desktop-PC mit freiem Zugang zum Internet befand. Es war den Soldaten sogar ausdrücklich erlaubt, hier privat im World Wide Web zu surfen. Nur illegale Inhalte und Pornographie waren untersagt. Eine ziemlich effektive Filterung verhinderte den Zugriff auf verbotene Inhalte. Mills war das egal. Er surfte ohnehin recht wenig, stattdessen las er gerne richtige Bücher, aus Papier, nicht auf so einem modernen Reader-Quatsch. Manchmal nutzte er allerdings das auf dem PC installierte Skype, um mit seiner Mutter in seiner Heimat Kalifornien zu sprechen.
Ja, Brian konnte wahrlich nicht behaupten, in seinem Job sonderlich viel Stress ausgesetzt zu sein. Die Monitore beobachten, alle zehn Minuten den Totmann betätigen, Kaffee trinken, lesen… Und die US Army entlohnte diesen Knochenjob auch noch geradezu fürstlich. Mills und seine sieben Kollegen, mit denen er sich die Besetzung des Bunkers im Schichtdienst teilte, waren vor dem Ersteinsatz lediglich einer ungewöhnlich intensiven Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden. Und man hatte ihnen eindringlich klargemacht, dass Verschwiegenheit oberstes Gebot war. Schmerzhafte Sanktionen waren ihnen im Fall des Verstoßes angedroht worden, wie genau diese aussehen könnten, darüber hatte sich die Army allerdings ausgeschwiegen.
Was sollte Brian auch großartig erzählen über seinen Job? Er wusste ja selbst nicht viel. Seiner Mutter in den Staaten hatte er berichtet, er sei im Objektschutz eingesetzt – und genau das war es ja auch. Im Gegensatz zu seinen an anderen Objekten Dienst schiebenden Kollegen wusste Mills allerdings nicht genau, was er eigentlich schützte – und vor wem.
Das gewaltige Areal, an dessen ständig verschlossenem Zugang der Bunker stand, befand sich in einem weitläufigen, überwiegend bewaldeten Landstreifen bei Höhenberg in der Oberpfalz, Süddeutschland. Angeblich – ganz genau wusste Brian es ja nicht – standen mehrere alte Gebäude auf dem Grundstück, errichtet irgendwann in den 1930er Jahren und inzwischen wahrscheinlich allesamt längst verfallen und eingewachsen.
Ursprünglich, hatte ihm sein Ausbilder während der zweiwöchigen Einweisung damals erzählt, handelte es sich um ein Sanatorium der Nazis, in dem sich im Krieg verletzte höhere Offiziere auf Kosten des Reichs erholen konnten. Nur wichtige Personen, versteht sich, keine gewöhnlichen Soldaten.
Nach dem Krieg übernahmen die Amerikaner das idyllisch gelegene Krankenhausgelände und richteten eine Art Erholungsheim für Veteranen der US Army und ihre Familien ein. „Irgendwann Anfang der Sechziger muss dann was passiert sein“, hatte der Ausbilder gesagt. Brian hatte natürlich nachgefragt, aber sein Kollege wusste selbst nichts Genaues. Eine ansteckende Krankheit, so habe man gemunkelt, sei ausgebrochen und habe mehrere Menschen getötet. Weil man die Viren nicht unter Kontrolle habe bringen können – die Medizin war damals längst nicht so weit wie heute – sei Höhenberg sicherheitshalber geschlossen worden. Es habe zwar in den 1990er Jahren konkrete Pläne gegeben, das Erholungsheim zu sanieren. Aber, erinnerte sich der Ausbilder, der beginnende Rückzug der Amerikaner aus Deutschland habe diese Planungen schließlich zunichtegemacht.
Brian Mills war kein dummer Mann. Mit seinen 48 Jahren war er belesen, interessiert an Kunst und Kultur sowie an der Geschichte seines Heimatlandes und jenes Staates, in dem er seit gut 20 Jahren stationiert war. Natürlich hatte er sich gefragt, warum die Army das Areal nicht längst aufgegeben oder abgestoßen hatte, zumal ja offenbar eh niemand je hierherkam. Angeblich, so beschied man ihm bei einer offiziellen Anfrage vor einigen Jahren, sei angedacht, in Höhenberg eine Art Truppenübungsplatz einzurichten. Aber Mills hatte das nie geglaubt. Nun, eine bessere Idee hatte er allerdings auch nicht. Und inzwischen war es ihm egal geworden – wenngleich er die gigantische Sicherheitsmaschinerie rund um ein verlassenes Krankenhausgelände ein bisschen übertrieben fand. Aber darüber sollten sich andere den Kopf zerbrechen.
Brian genoss seine entspannten Dienste und das damit verbundene, äußerst komfortable Schichtmodell: Er und seine Kollegen arbeiteten immer vier Tage Tagschicht, dann vier Nachtdienste, und danach hatten sie zehn Tage am Stück frei. Es gab wahrlich schlimmeres, vor allem angesichts des praktisch nicht vorhandenen Arbeitsaufwands. Um nichts in der Welt hätte er diesen Posten aufgegeben.
Die Digitaluhr an der Wand mit den roten Leuchtziffern zeigte 5.12 Uhr, als Brian Mills seine leere Kaffeetasse in die Spülmaschine gab. In einer knappen halben Stunde würde seine Ablösung kommen. Laut Dienstplan hatte sein bester Freund und Kollege Thomas Stephens den Tagdienst. Er kam immer eine gute Viertelstunde vor Schichtwechsel. Brian packte sein Buch weg, wischte mit einem feuchten Lappen über den Schreibtisch und drückte nochmal auf die blauen Knöpfe. Er wollte gerade die Toilette aufsuchen, als aus dem Desktop-PC ein lauter Summton erklang. Gleichzeitig wurde der Raum automatisch leicht abgedunkelt, und das Kamerabild auf einem der Monitore erhielt eine rote Umrandung.
„Na super, kurz vor Schluss“, dachte Brian und blieb entspannt. Wahrscheinlich war wieder mal ein Vogel auf dem Sandstreifen gelandet und hatte den Alarm ausgelöst. Der eingeblendete Schriftzug auf dem entsprechenden Bildschirm verriet Brian, dass der betroffene Bereich ganz in der Nähe des Bunkers war, in westlicher Richtung, nur etwa 100 Meter entfernt. Für das Wachpersonal bedeutete so ein Fehlalarm, auf dem Computer einen kurzen Bericht in eine vorgegebene Maske einzusetzen. Das kam manchmal mehrmals am Tag vor und war nichts Besonderes, vor allem nicht am frühen Morgen, wenn es hell wurde und die Natur erwachte.
Mills quittierte und löschte routinemäßig den Alarm, wollte die Sache schon abhaken, trat aber dann doch näher an die Monitorwand heran, zoomte mit dem Joystick auf dem Schreibtisch ins Bild hinein und suchte die Ursache der Auslösung. Aber er sah keinen Vogel. Brian drückte ein paar Tasten, um sich die letzten 30 Sekunden der Einstellung nochmals anzusehen. Dann sah er es.
„Was zum…“, sprach Brian Mills mehr zu sich selbst. Das, was der Soldat vor sich auf dem Monitor sah, konnte eigentlich gar nicht sein. Vollkommen unmöglich. Ob ihm da jemand einen Streich spielen wollte? Aber auch das konnte praktisch nicht sein – zumal die US Army ja nicht wirklich für Scherze dieser Art zu haben war. Was also war hier los?
Brian sah zu dem Telefon, das auf dem Schreibtisch stand und nur eine einzige Taste hatte, über die per Glasfaserleitung in Sekundenbruchteilen eine Verbindung zur Militärpolizei am Truppenübungsplatz Grafenwöhr hergestellt wurde. Er überlegte gerade, ob er sich mit so einem Anruf jetzt lächerlich machen würde, als er draußen an der Tür ein Geräusch vernahm. Es klopfte. An der Notausgangstür.
Montag, 16. März 2014, 08.30 Uhr
US Army Stützpunkt Grafenwöhr
Als Colonel Frank L. Hobbits, Kommandeur der US Army Garrison Bavaria Grafenwöhr, wie jeden Morgen auf die Sekunde pünktlich um 8.30 Uhr sein Büro im Gebäude A1 des Stützpunkts betrat, wurde er bereits erwartet. Hobbits gab seinem Besucher die Hand und bot ihm einen Kaffee an, doch Oberst John Hammond winkte dankend ab. Er steuerte einen der beiden Sessel an, die vor dem ausladenden Schreibtisch des Colonels standen, und wartete stehend, bis sein Vorgesetzter Platz genommen und ihm bedeutet hatte, dasselbe zu tun. „Was gibt’s, John“, fragte Hobbits, „wir waren doch erst für heute Nachmittag verabredet.“
„Es gab heute früh einen Zwischenfall in Höhenberg“, kam Hammond ohne Umschweife zur Sache. Hobbits breitete fragend die Arme aus: „Höhenberg? Ist etwa einer der Wachleute eingeschlafen“, scherzte er. Was sonst sollte dort droben im Wald schon großartig geschehen sein. Das ehemalige Sanatorium gehörte zu den angenehmen Teilen seines Aufgabengebiets. Wenig Schreibarbeit, nie Probleme, dafür allerdings auch hohe laufende Kosten für Technik und Personal. Der Kommandeur gab etwas Milch und Zucker in seinen Kaffee. Als sein Oberst nicht weitersprach, blickte er auf und sah in ein ernstes Gesicht. „John? Was ist passiert?“
Oberst Hammond holte ein kleines blaues Notizbuch aus seiner linken Brusttasche hervor, schlug eine Seite etwa in der Mitte auf, überflog kurz die dort niedergeschriebenen Worte und Zahlen. „Heute um 05.45 Uhr erschien Sergeant Thomas Stephens vor dem Wachgebäude Höhenberg, um seine Tagschicht, beginnend um 0600, anzutreten“, berichtete Hammond mit fester Stimme. „Als der diensthabende Sergeant Brian Mills auch nach wiederholtem Läuten nicht öffnete, verständigte Stephens gemäß Vorschrift die Military Police in Grafenwöhr. Eine Doppelstreife der MP war zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Höhenberg, weil die Totmann-Sicherheitsschaltung seit 05.13 Uhr nicht mehr betätigt worden war, Alarm ausgelöst hatte und auch ein direkter Anruf im Wachgebäude unbeantwortet geblieben war. Die MP traf um 06.02 Uhr in Höhenberg ein. Das Gebäude und seine Tür waren augenscheinlich unversehrt. Die MP verschaffte sich mittels Eingabe des doppelten Notfallcodes ins Tastenfeld außen am Eingang Zugang, begleitet von Sergeant Stephens. Im Wachgebäude wurde niemand angetroffen.“
Colonel Frank L. Hobbits bekam ein flaues Gefühl im Magen. Konnte es sein, dass der diensthabende Sergeant der Nachtschicht seinen Posten selbständig verlassen hatte? Allerdings war Brian Mills als äußerst zuverlässig, dienstbeflissen und psychisch stabil bekannt - Hobbits selbst hatte ihn vor sieben Jahren ausgesucht, als ein anderer Sergeant der Wachmannschaft aus privaten Gründen zurück in die Vereinigten Staaten ging. Der Colonel forderte Hammond mit einer Geste auf, fortzufahren.
Der Oberst blickte erneut kurz in seine Notizen, dann berichtete er weiter: „Eine sofortige Überprüfung der Sicherheitstechnik ergab, dass um 05.17 Uhr die Notausgangstür geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen worden war. Die Eingangstür war seit dem Schichtwechsel gestern um 17.55 Uhr, als Mills zum Dienst kam, und kurz darauf um 18.00 Uhr, als die Tagschicht nach Hause ging, nicht mehr geöffnet worden. Es scheint, als habe der diensthabende Sergeant das Wachgebäude tatsächlich durch den Notausgang verlassen.“
„Könnte es ein Versehen gewesen sein“, fragte Hobbits. „Könnte es sein, dass er sich ausgesperrt hat und jetzt“ – der Gedanke erfüllte den Colonel sogleich mit Grausen – „da draußen auf dem Gelände im Wald herumirrt?“ Schließlich war am Stützpunkt allgemein bekannt, dass die Wachsoldaten gelegentlich zum Rauchen vor die Tür gingen, auch wenn dies eigentlich verboten war. Doch Oberst Hammond schüttelte den Kopf: „Um genau das zu verhindern, haben wir vor Jahren schon außen am Notausgang ein Tastenfeld installiert und mit einem elektrischen Türöffner gekoppelt. Der Code ist allen eingesetzten Soldaten bekannt. Versehentlich“, konstatierte Hammond, „ist unser Mann nicht raus.“
„Und wenn Mills aus lauter Langeweile eine kleine Erkundungstour unternehmen wollte“, schlug Hobbits vor. „Eine halbe Stunde vor Dienstende“, zog Hammond die Augenbrauen hoch, „ziemlich ausgeschlossen. Abgesehen davon wissen alle eingesetzten Männer vom Betretungsverbot des Geländes.“ Ja, wegen der angeblichen Ansteckungsgefahr, ging es Colonel Frank L. Hobbits durch den Kopf.
Im Wachgebäude selbst, erzählte Hammond weiter, sei nichts Außergewöhnliches festgestellt worden. Sergeant Mills habe sich augenscheinlich bereits auf den Feierabend vorbereitet, seine Tasche gepackt und auch ein bisschen geputzt. Sämtliche Gerätschaften seien in einwandfreiem Zustand gewesen, der Computer per Sperrcode gegen unbefugte Benutzung gesichert und der Waffenschrank mit den beiden Heckler-und-Koch-Dienstpistolen abgeschlossen. Mills und Stephens seien darüber hinaus persönlich befreundet, so dass Mills gewusst habe, dass seine Ablösung bereits gegen 5.45 Uhr am Objekt eintreffen würde. Warum also sollte er das Wachgebäude verlassen, noch dazu so kurz vor seinem Feierabend?
Vor dem Bunker, ergänzte der Oberst noch, habe man den VW Golf des verschwundenen Sergeanten gefunden und inzwischen zum Stützpunkt Grafenwöhr transportiert. Eine erste Untersuchung des Fahrzeugs habe aber auch keine neuen Erkenntnisse gebracht.
Hobbits nippte an seinem inzwischen kalt gewordenen Kaffee. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Draußen war eine Kompanie zum Morgenappell angetreten. Nach ein paar Sekunden des Nachdenkens drehte sich Hobbits um: „Prüfen Sie die Alarmstapel im Rechner der Wache“, forderte er Oberst Hammond auf, doch der hob beide Hände: „Schon geschehen, Sir“, antwortete er, „es gab während der gesamten Schicht keine Auffälligkeiten. Lediglich zwei Fehlalarme wegen Tieren. Einmal um 21.56 Uhr und einmal“ – Hammond blätterte erneut in seinem Notizbuch – „um 5.12 Uhr. Sergeant Mills hat beide Alarme mit dem Code 51 in den Computer eingetragen.“ Code 51 stand für Auslösung durch Vögel, wusste Hobbits. Die Wachsoldaten wussten, dass sie eine Alarmursache erst nach absoluter Sicherheit eintragen durften, also war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es wirklich nur ein Vogel gewesen war. Aber so kurz vor Mills‘ Verschwinden…? Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Bitte prüfen Sie nochmal die Auslösung um 5.12 Uhr“, sagte der Colonel, „das liegt mir zeitlich zu nah am Verschwinden des Wachpostens. Vielleicht gibt’s einen Zusammenhang.“ Oberst Hammond nickte, erhob sich und zog ein Mobiltelefon aus der Tasche. „Wenn Sie erlauben…?“, ging sein Blick zum Kommandeur, und Hobbits nickte.
Hammond wählte die Nummer des Bunkers in Höhenberg und hatte zwei Sekunden später Sergeant Thomas Stephens in der Leitung. Er gab die Anweisung, den Alarm um 5.12 Uhr umgehend mittels Sichtung der Videoaufzeichnungen detailliert nachzuvollziehen und sich dann erneut über die MP-Einsatzzentrale mit ihm verbinden zu lassen. Stephens bestätigte und beendete das Gespräch. Wahrscheinlich stirbt der arme Teufel gerade vor Angst um seinen besten Freund, dachte Hammond, als er das Mobiltelefon wieder in seine Tasche gleiten ließ. „Stephens prüft und meldet sich“, sagte der Oberst überflüssigerweise, denn Colonel Hobbits war während des Gesprächs ja praktisch neben ihm gestanden. Jetzt blickte er wieder nachdenklich aus dem Fenster.
„Sollen wir einen Suchtrupp…“, begann Hammond, doch Hobbits drehte sich blitzartig zu ihm herum und funkelte ihn böse an: „Wir können da nicht reingehen, das wissen Sie doch, John“, fuhr er den Oberst an. Die beiden Männer blickten sich eine Weile schweigend an. Dann ging Hobbits zu seinem Schreibtisch zurück. Er kramte abwesend in ein paar Papieren herum und trank erneut einen Schluck von seinem kalten Kaffee, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Dann läutete das Mobiltelefon in Hammonds Hosentasche. Der Oberst nahm das Gespräch entgegen und lauschte eine Weile. Hobbits blickte ihn dabei erwartungsvoll an und registrierte, dass Hammonds Gesicht während des Telefonats stark an Farbe verlor. Er beendete die Verbindung ohne Verabschiedung, lies sich in den Sessel zurück gleiten und zeigte für fast eine halbe Minute keinerlei Regung.
Hobbits musste ihn schließlich aus seinen Gedanken reißen: „John, sprechen Sie!“
Oberst John Hammond blickte langsam zu seinem Vorgesetzten auf. „Sir… Wir sollten nach Höhenberg fahren. Jetzt gleich.“
Montag, 16. März 2014, 10.25 Uhr
Wachgebäude ehemaliges Sanatorium Höhenberg
Als der Militärjeep die schmale Sandstraße durch den Wald zum ehemaligen Sanatorium entlangfuhr, dachte Colonel Frank L. Hobbits wieder mal, was für ein Paradies das hier eigentlich war. Er liebte die Fauna und Flora in Deutschland, vor allem hier in Bayern, wo er seit nunmehr zwölf Jahren stationiert war. Jede freie Minute nutzte er gemeinsam mit seiner Frau Harriet und ihrer Tochter Julie für Ausflüge in die Natur. Nein, er hatte seine Zusage, nach Deutschland zu gehen, nie bereut.
Der Jeep hielt an einer Schranke an, und der Fahrer, ein junger Corporal namens Peter Shawn, stieg aus, um sie zu öffnen. Auf den ersten Blick war es eine normale handbedienbare Schranke wie tausend andere auch, doch der Soldat ging an ihr vorbei und steuerte ein paar Meter weiter einen Baum an, hinter dem ein kleiner grauer Kasten verborgen war. Corporal Shawn tippte einen achtstelligen Code in ein Tastenfeld, und die vorgebliche Handschranke öffnete sich wie von Geisterhand. Im selben Moment erhielt der diensthabende Sergeant droben im Bunker eine automatisierte Nachricht auf seinen Computer, dass offizieller Besuch zu ihm unterwegs ist. Nachdem das Fahrzeug die Schranke passiert hatte, senkte sich der Schlagbaum wieder.
Nach etwa 300 Metern machte die Straße eine scharfe Rechtskurve und führte nun an einer gut vier Meter hohen roten Backsteinmauer entlang. In regelmäßigen Abständen von 30 Metern waren Schilder angebracht: Verbotenes Gelände! Militärischer Sicherheitsbereich. Betreten verboten. Vorsicht Schusswaffengebrauch!
Die Mauer an sich war trotz ihrer Höhe relativ unscheinbar. Nur wer ganz genau hinsah, der bemerkte die dünnen Drähte, die oberhalb in etwa zwei Zentimetern Abstand vom Mauerwerk verliefen und ein eventuelles Überklettern sofort an die Wache im Bunker melden würden. Vollkommen unsichtbar waren dagegen die vier direkt in die Mauer eingelassenen Drähte, die unmittelbar über dem Boden und dann im Abstand von einem, zwei und drei Metern horizontal rund ums das gesamte Areal verliefen. Ein Beschädigen der Mauer, etwa ein Durchbruch, würde ebenfalls sofort an die Sicherheitszentrale gemeldet. Im Boden waren zudem in Zehn-Meter-Abständen Erschütterungsmelder eingelassen. Unbemerkt unter der Mauer durchgraben konnte man sich also auch nicht.
Der Jeep hielt auf einer kleinen Freifläche von etwa 20 mal 30 Metern direkt vor dem Wachgebäude. Hobbits kletterte aus dem Fahrzeug und war wieder mal überwältigt davon, wie hässlich dieser Klotz aus Stahlbeton inmitten der paradiesischen Landschaft wirkte. Nun ja, die Zweckmäßigkeit hatte beim Bau eindeutig Vorrang genossen.
Aus dem Fond des Militärautos stiegen Oberst John Hammond und First Sergeant Robert Powers, der Leiter der IT-Abteilung des Stützpunkts Grafenwöhr. Powers hatte die komplette Sicherheitstechnik des Bunkers während der letzten Erneuerung vor einigen Jahren selbst entworfen und den Einbau akribisch überwacht. Während Corporal Shawn beim Fahrzeug blieb, schritten die drei Rangoberen zum Eingang des Wachgebäudes, und Hammond drückte auf den Klingelknopf. Anschließend drehten alle drei ihre Gesichter in die Kamera über der Tür. Hammond hob vier Finger der rechten Hand und zwei Finger der linken Hand in die Höhe – das visuelle Zeichen für den Sergeanten in der Wache dafür, dass alles in Ordnung war. In der Tür fuhren zwei Stahlriegel beiseite, dann klickte es, und Hammond drückte die Tür auf.
Sergeant Thomas Stephens hatte wahrlich schon bessere Tage erlebt. Der 50jährige aus dem US-Bundesstaat Alabama fühlte sich hundeelend vor Sorge um seinen Freund. Und was er da vorher auf Weisung Hammonds auf dem Bildschirm gesehen hatte, trug auch nicht gerade zu einer Verbesserung seines Zustands bei. Er salutierte kurz vor den Rangoberen, hielt sich aber nicht mit langen Vorreden auf. Allen im Raum war klar, wie ernst die Lage war.
First Sergeant Robert Powers, ein kerniger Mittfünfziger mit mächtigem Schnauzbart, nahm am Arbeitstisch Platz und loggte sich mit dem Master-Kennwort der IT-Abteilung ins System ein. Er wechselte auf eine DOS-ähnliche Benutzerebene, hackte diverse Kommandos in den Computer und brummte dabei unverständliches Zeugs vor sich hin. Die anderen beobachteten Powers dabei, wie seine Finger geradezu über die Tastatur flogen. „Also“, sagte der IT-Spezialist schließlich, „ausgelöst hat den Alarm um 5.12 Uhr Kamera 31a – die steht nur gut 100 Meter von hier.“ Powers deutete mit dem Finger durch ein imaginäres Fenster nach draußen. „Schon eine Minute später hat der Bediener Brian Mills den Alarm als bearbeitet gekennzeichnet, und zwar mit einem Code 51 aus Auslöser.“
„Alles wie bereits bekannt“, kommentierte Colonel Hobbits. Robert Powers jedoch drehte sich auf dem Stuhl herum und sah seinen Vorgesetzten unverwandt an: „Das Interessante kommt aber jetzt erst“, kündigte er an, um nach einer kleinen Kunstpause fortzufahren: „Mills hat sich die Kameraaufzeichnung erst um 5.15 Uhr angesehen. Also nachdem er als Ursache für den Alarm einen Vogel ausgemacht und bestätigt hatte. Kann der Mann in die Zukunft sehen?“
„Zeigen Sie uns die Aufzeichnung“, forderte Hobbits, ohne auf Powers‘ ironische Bemerkung einzugehen. Der First Sergeant wandte sich wieder dem Rechner zu, wechselte auf eine andere Benutzeroberfläche und wählte Kamera 31a an. Er gab den Zeitpunkt der Alarmauslösung in ein Feld ein und zog 30 Sekunden vom Wert ab. Dann klickte er mit der Maus auf „Wiedergabe starten“. Gebannt schauten die Männer auf den Bildschirm, einschließlich Stephens, obwohl dieser die Aufzeichnung ja schon kannte.
Auf dem Monitor war der helle Sandstreifen zu sehen, flankiert links von der Backsteinmauer, die in Wirklichkeit ja ein technisches Meisterwerk in Sachen Intrusionsschutz war, und rechte von dem unscheinbaren Maschendrahtzaun. Um 5.11 und 58 Sekunden tauchte im Bild ein Schatten auf. Ein mächtiger Schatten im Vergleich zu dem kleinen Format eines Vogels, den die Beobachter eigentlich erwartet hatten. Um 5.11 Uhr und 59 Sekunden gewann der Schatten an Kontur, und man konnte so etwas wie eine menschliche Gestalt erkennen. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Um 5.12 Uhr und null Sekunden wurde der Alarm ausgelöst. Im selben Moment war der Schatten wieder aus dem Bild verschwunden.
„Ein Tier?“, fragte Hammond in die Runde, doch Hobbits schüttelte entschieden den Kopf. Große Tiere wie Rehe oder Wildschweine gab es auf dem gesamten Areal nicht. Oder besser nicht mehr