Wachsmädchen - Thomas Bosch - E-Book

Wachsmädchen E-Book

Thomas Bosch

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Beschreibung

Hochsommer in München. Auf dem Haidhauser Friedhof steht eine junge Frau vor einem namenlosen Grab. Niemand weiß bisher, wer die unbekannte Tote war, die seit vielen Jahren hier begraben liegt. Der Polizei kommen die Hinweise und Aussagen der so plötzlich aufgetauchten jungen Frau suspekt vor. Sie scheint mehr zu wissen, als sie vorgibt. Angeblich war sie nur dabei, als damals die Leiche aus dem Baggersee der stillgelegten Kiesgrube geborgen wurde. Aber war sie auch Zeuge, als ein Mensch sterben musste? Immer mehr erhärtet sich der Verdacht, dass die Frau die Tote gekannt hat. Und dass sie nun auf der Suche nach Gerechtigkeit ist. Die junge Frau scheint deutlich mehr zu wissen, als sie anfangs zugibt. Und sie stellt auch einige merkwürdige Fragen.

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Seitenzahl: 172

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jedes Jahr verschwinden in Deutschland

rund 100.000 Menschen.

Die meisten von ihnen tauchen

nach kurzer Zeit wieder auf.

Manche nie mehr.

 

Prolog

Trotz der vielen Menschen sah sie das Schild schon von Weitem. Und auch der junge Mann, der den Blick suchend in die Menge richtete, kam ihr sofort vertraut vor. Sie kannte sein Gesicht. Es war das Gesicht von dem Foto, das sie sich schon so oft angesehen hatte.

Der Mann, der da inmitten all der Menschen stand und ganz offensichtlich auf sie wartete, war eindeutig die Person auf dem Bild. Vielleicht war er etwas jünger gewesen, als das Foto gemacht worden war, ein paar Jahre, drei oder vier, mehr nicht. Aber es war definitiv derselbe Mann. Und jetzt, da er sie erblickt hatte, lächelte er.

Mit ausladenden Armbewegungen winkte er ihr zu. Sie winkte zurück und lenkte ihre Schritte in seine Richtung. Etwa einen Meter vor ihm blieb sie stehen. Sie blickte erst zu Boden, dann sah sie schüchtern in sein Gesicht. Der Mann schien genauso verunsichert zu sein wie sie. „Hallo“, sagte er, ein wenig leise – so leise, dass sie seine Stimme in dem ganzen Trubel kaum hören konnte.

Ein paar Sekunden standen sie sich gegenüber, dann hob er überflüssigerweise nochmal die rechte Hand zum Gruß. Dabei sagte er etwas zu ihr, das sie aber nicht verstand. Das Wort „Hallo“ hatte sie gekannt, aber mit dem, was er jetzt sprach, konnte sie nichts anfangen. Mit einem scheuen Lächeln in ihrem hübschen Gesicht blickte sie ihn an und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Der Mann klatschte sich mit der rechten Hand an die Stirn. Aha, offenbar hatte er sich jetzt daran erinnert, dass sie seine Sprache nicht kannte. Er sagte wieder etwas, deutete dabei mit dem Zeigefinger erst auf sich selbst, dann machte seine Hand die Scheibenwischergeste vor seinem Gesicht. Ununterbrochen sprach er weiter, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. An seinem Tonfall erkannte sie, dass er sich wohl selbst einen Nar-ren schalt und sich bei ihr entschuldigte. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte ihn an. Das Eis war gebrochen.

Er deutete auf ihren Koffer und zog fragend die Augenbrauen nach oben. Sie lächelte und nickte. Dann griff er sich ihr Gepäck, zeigte in Richtung des etwa 25 Meter entfernten Ausgangs des Terminals und bedeutete ihr voranzugehen.

Als sie das klimatisierte Gebäude verließen, schlug ihnen die drückende Sommerhitze entgegen. Sie zupfte an ihrer Kleidung, um etwas Luft unter den Stoff zu lassen. Dabei sah sie sich um und registrierte, wie unglaublich groß alles hier war. Der Flughafen, an dem sie vor einigen Stunden gestartet war, hatte nur einen Bruchteil der Größe der Anlagen hier. Eine schmale Straße hatte zum Terminal geführt, vor dem nur wenige Autos geparkt waren. Hier aber war alles anders. Sie sah viele Fahrzeuge, hunderte, vielleicht tausende, und überall waren Menschen. Sie trugen Koffer umher, umarmten sich, sprachen miteinander. Einige liefen herum, als hätten sie gar kein Ziel, aber natürlich kam ihr das nur so vor. Autos hupten, und eine Stimme drang von irgendwo her aus einem Lautsprecher zu ihr. Natürlich verstand sie nicht, was die Stimme sagte. Es war ihr aber auch egal.

Gemeinsam überquerten sie einen riesigen Parkplatz. Der junge Mann ging jetzt voran, drehte sich immer wieder zu ihr herum, fast so als wollte er sichergehen, dass sie zwischen all den Autos und Menschen nicht verloren ging. Ab und zu sagte er etwas zu ihr, gestikulierte dabei in irgendeine Richtung. Sie verstand, dass er ihr etwas über den Flughafen erklärte, und lächelte artig in seine Richtung.

Hinter einem dunkelblauen Auto blieb der Mann stehen, setzte den Koffer ab und fischte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor. Er öffnete den Kofferraum und legte ihr Gepäck vorsichtig, fast schon ein wenig zärtlich in den Laderaum des Fahrzeugs. Es war ein BMW der 5er-Reihe, ein älteres Baujahr. Das Auto hatte schon bessere Zeiten erlebt, aber für sie war der BMW trotzdem wunderschön. Galant öffnete ihr der Mann die Beifahrertür und machte eine einladende Handbewegung. Vorsichtig ließ sie sich auf das beigefarbene Leder gleiten, während der Mann die Tür sanft ins Schloss drückte.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich das Flughafengelände verlassen hatten. Sie sah aus dem Seitenfenster nach oben zu einem Flugzeug, das gerade gestartet war und immer kleiner wurde. Wo es wohl hinflog?

Der BMW fuhr eine Weile über die Zubringerstraße, dann lenkte er auf die Autobahn in Richtung Südosten. Der junge Mann neben ihr blickte immer verstohlen zu ihr hinüber und lächelte dabei. Sie lächelte zurück. Gerne hätte sie sich etwas mit ihm unterhalten, aber die sprachliche Barriere zwischen ihnen war unüberwindbar, das wusste sie. Mit der rechten Hand zeigte sie nach draußen, machte eine ausladende Bewegung und dann das Daumen-hoch-Zeichen. Zumindest wollte sie ihm irgendwie zu verstehen geben, dass ihr die Landschaft gefiel. Der Mann schien zu begreifen, denn er nickte und setzte ein zufriedenes Gesicht auf.

Die kleine Analoguhr in der Mitte der Armaturentafel zeigte, dass es auf den Abend zuging. Eine knappe Stunde würden sie unterwegs sein, hatte sie im Vorfeld ihrer Reise erfahren. Inzwischen saßen sie rund 45 Minuten im Auto, während die Landschaft mit 120 Stundenkilometern an ihnen vorbeizog. Der junge Mann sprach jetzt nicht mehr. Er schaute zwar immer wieder zu ihr hinüber, doch sein Lächeln war verschwunden. Sie bemerkte, dass sein Blick, wenn er zu ihr sah, jetzt nicht mehr nur ihr Gesicht suchte, sondern auch nach unten wanderte. Instinktiv schloss sie züchtig die in einer blauen Jeans steckenden Beine noch ein wenig fester. Es war nicht so, dass sie sich unwohl fühlte, aber sie merkte, dass sie das Ende der Fahrt langsam doch herbeisehnte.

War es ein Fehler gewesen, diese Reise anzutreten? Hätte sie nicht zufrieden sein sollen mit dem, was sie gehabt hatte? Warum eigentlich strebten die Menschen immer nach dem, was sie nicht hatten? Eigentlich ging es ihr doch gut. Aber andererseits… nein, sie hatte Träume. Wünsche. Vorstellungen. Alles war immer so weit weg gewesen. Aber dann waren die Chance und das Glück gekommen.

So gerne hätte sie sich mit dem Mann neben ihr unterhalten. Sie suchte seinen Blick, doch er schaute konzentriert auf die Straße, während der BMW in die Dämmerung hinein rollte.

Im Vorbeifahren registrierte sie, dass der Wagen ein Schild passierte, auf dem ein Pfeil abgebildet war, zusammen mit dem international verständlichen Symbol für das Zentrum einer Stadt und dem Zusatz, dass es in 500 Metern so weit sein würde. Ihr Herz schlug schneller. Gleich würden sie die Autobahn verlassen, dann würden es nur noch wenige Minuten bis zum Ziel sein. Aufgeregt blickte sie aus dem Seitenfenster nach draußen. Kurz darauf kam die Ausfahrt zum Zentrum. Doch der BMW reduzierte die Geschwindigkeit nicht und fuhr an der Ausfahrt vorbei.

Fragend sah sie den Fahrer an. Der aber erwiderte ihren Blick nicht, sondern sah weiter stur geradeaus. Sie bemerkte, dass sich auf seiner Stirn ein dünner Schweißfilm gebildet hatte, und wunderte sich. Schließlich war es in dem Fahrzeug überhaupt nicht warm. Die Klimaanlage lief auf vollen Touren. Vor einer Weile wollte sie den Mann schon bitten, die Temperatur im Innenraum etwas zu erhöhen, aber sie wusste nicht, wie sie ihm das verständlich machen sollte. Also hatte sie beschlossen zu schweigen. Die paar Minuten bis zum Ziel würde sie schon noch durchhalten.

Als der BMW die nächste Ausfahrt nahm, entspannte sie sich ein wenig. Der Mann bog auf eine Landstraße und beschleunigte auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern. Sie sah einen weiteren Wegweiser, auf dem das Symbol für das Stadtzentrum abgebildet war. Es zeigte in die entgegengesetzte Richtung.

Sie sprach den jungen Mann an. Natürlich würde er sie nicht verstehen, aber er würde ihr zumindest seine Aufmerksamkeit schenken. Als er zu ihr hinüberblickte, deutete sie mit dem Daumen über ihre Schulter und fragte in ihrer Sprache, ob sie denn nicht hätten anders fahren müssen. Anhand der Geste und des fragenden Tonfalls würde der Mann schon kapieren, was sie meinte. Er brummte etwas, dann wanderte sein Blick wieder nach vorne auf die Fahrbahn.

Sie war irritiert. Die ganze Herzlichkeit, mit der er sie am Flughafen empfangen hatte, war verschwunden. Was war nur passiert? Sie spürte, dass ein unangenehmes Gefühl in ihr hochstieg. Hoffentlich waren sie bald am Ziel.

Einige Minuten später bremste der BMW ab. Der Mann setzte den Blinker und bog in einen Feldweg ein. Es knarrte aus der Innenverkleidung des Fahrzeugs, als der BMW langsam über die Kieselsteine holperte. Der Weg führte eine Weile zwischen Feldern entlang und dann in ein kleines Waldstück hinein. Dann hielt das Auto an.

Der Mann stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Sie bemerkte, dass sein Blick suchend umherging. Etwas stimmte nicht. Sie konnte es spüren. Plötzlich wünschte sie sich, niemals in dieses Fahrzeug gestiegen zu sein.

Dann wandte sich der Mann ihr zu. Und sie verstand, dass er jetzt ein anderer geworden war.

Samstag, 31. Juli 2021, 13.25 Uhr

Der Juli verabschiedet sich mit stolzen 35 Grad aus der bayerischen Landeshauptstadt. Die Wetter-App auf meinem iPhone hatte ja bereits von dieser für mein Empfinden subtropischen Temperatur gesprochen, aber wie weit kann man diesen Softwaremeteorologen schon trauen… Als ich das vierstöckige Mehrfamilienhaus an der Einsteinstraße verlasse und gegen eine regelrechte Hitzewand pralle, werfe ich im Vorbeigehen einen Blick auf das gute alte analoge Thermometer, das einer meiner Nachbarn außen auf seinem Fenstersims im Erdgeschoss angebracht hat. Tatsächlich, 35 Grad.

Sommer und Sonne waren noch nie meine besten Freunde. Meine Mitmenschen schauen mich immer bisschen schräg an, wenn ich von meiner Vorliebe für Kälte, Schnee und Eis erzähle. Und das, obwohl ich mit Wintersport nie etwas anfangen konnte. Aber ich fühl mich bei Temperaturen über 20 Grad einfach nicht wohl. Das war schon immer so und wird auch immer so sein. Punkt.

„Don’t pay attention to it“, hatte mir meine Bekannte Irina mal geraten, als wir irgendwann einen Spaziergang bei knapp über 30 Grad machten und ich neben ihr regelrecht dahinschmolz – nicht wegen ihres zugegeben atemberaubenden Aussehens in diesem Kirschmusterkleidchen, sondern weil mir die Hitze so zusetzte, dass ich kaum ihren Worten folgen konnte. Und Irina, die ursprünglich aus Russland stammt und trotz ihrer bereits mehrjährigen Verweildauer in München nach wie vor fast nur Englisch mit mir spricht, hat immer besonders viele Worte parat.

Grundsätzlich bestens gelaunt, sprudelt das Leben nur so aus ihr heraus. Und bei den entgegenkommenden Passanten, insbesondere bei meinen Geschlechtsgenossen, bin ich mir eigentlich nie sicher, ob ihre Blicke in unsere Richtung bewundernd oder mitfühlend gemeint sind.

Nun ja, wie auch immer, Irina ist schon ein Schneckerl. Ich hatte sie mal bei Tinder gedatet, aber es stellte sich beim ersten Treffen heraus, dass wir zwar auf einer Wellenlänge lagen, jedoch der gewisse Funke nicht nur nicht übersprang, sondern überhaupt nicht vorhanden war. Übrig blieben dafür regelmäßige und wirklich angenehme Spaziergänge. Zumindest bei Temperaturen bis maximal 20 Grad Celsius.

Schon wenige Meter nach der Haustür läuft mir der Schweiß den Rücken hinab. Ich folge der Einsteinstraße etwa hundert Meter in stadtauswärtiger Richtung, dann schleppe ich mich die gefühlten 500 Stufen zum Haidhauser Friedhof hinauf. Der Plan ist, die wunderschön angelegte letzte Ruhestätte mit ihren großen schattenspendenden Bäumen zu durchqueren und dann den Lidl-Discounter in der angrenzenden Kirchenstraße aufzusuchen, um die Leere meines Kühlschranks durch allerlei schmackhafte Köstlichkeiten zu ersetzen. Tatsächlich komme ich nur etwa 75 Meter weit, bevor ich mich erschöpft auf einem Bankerl unter einer mächtigen Rotbuche niederlasse.

Ich mag den Haidhauser Friedhof. Erstens hat meine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung keinen Balkon, so dass ich öfter hier sitze und lese, wenn mich nach frischer Luft, allerdings nicht nach körperlicher Anstrengung verlangt. Gut, die Maximiliansanlagen wären zwar landschaftlich reizvoller und auch nicht weit, vielleicht zehn Minuten zu Fuß – aber der Friedhof liegt eben direkt neben meinem Haus. Und zweitens übt dieser Ort irgendeine Art Magie auf mich aus. Wenn ich auf den Feinkieswegen dahinschlendere oder einfach nur, so wie jetzt gerade, auf einer Holzbank sitze, fühle ich immer eine angenehme Ruhe in mir aufsteigen. Ja, ich bin wirklich gern hier, auch wenn es Freunden immer schwer zu vermitteln ist, dass mein Münchner Lieblingsort ausgerechnet ein Friedhof ist, noch dazu einer der eher kleineren.

Ein älterer Herr, der zu meinem Erstaunen über dem langärmeligen Hemd noch eine Strickjacke trägt, geht vorbei und grüßt freundlich. Ich schenke ihm ein Lächeln und hebe die Hand. Ich weiß, dass der Herr noch etwa zwanzig Meter geradeaus gehen und danach zwischen zwei Grabstätten hindurch in die zweite Reihe treten wird. Ich hab ihn schon paarmal hier gesehen. Seinen Namen kenne ich nicht, aber er besucht immer eine Ruth Sibling, die vor mehr als zehn Jahren von dieser Welt gegangen ist. Vom Alter her könnte es seine Frau gewesen sein. Oder seine Schwester. Ich beobachte ihn, wie er ein bisschen Unkraut zwischen den Blumen zupft. Dann erhebt er sich mühevoll und verharrt mit gesenktem Kopf im Gedenken. Aus Respekt wende ich den Blick ab.

Ein Schweißtropfen läuft mir genau ins rechte Auge. Aus der Tasche meiner dunkelblauen Bermuda-Shorts fische ich ein sorgfältig zusammengefaltetes Zewa-Papiertuch hervor und wische mir damit übers Gesicht.

Direkt neben dem Zugang an der Südseite, an der Ecke Flurstraße und Kirchenstraße, befindet sich ein kleines gemauertes Mehrzweckgebäude mit öffentlichen Toiletten und einem Büro für den Friedhofswärter. Hans ist gerade dabei, den ebenfalls integrierten Aufbahrungsraum abzusperren. Wie immer trägt er seine schwarze Dienstkleidung samt Schirmmütze mit dem Logo des Städtischen Bestattungsdienstes. Trotzdem ist kein Tropfen Schweiß auf seinem Gesicht zu sehen. Faszinierend. Ich rufe ihm im Vorbeigehen ein freundliches Grüß Gott zu. Mit einer Geschwindigkeit, die man ihm angesichts seines fortgeschrittenen Alters gar nicht zutrauen würde, wirbelt er herum und erwidert den Gruß. Man kennt sich, ich bin ja öfter hier. Und er eigentlich immer.

Im Lidl ist wie immer die Hölle los. Die Menschen laden Mehl-, Fleisch- und Fischprodukte in die Einkaufswägen, als seien ab morgen alle Lebensmittelgeschäfte in München dauerhaft geschlossen. Ich stopfe etwas Gemüse, Joghurt, Nudeln und einige Fertigsaucen im Glas in meinen örtlich hier nicht ganz passenden Aldi-Stoffbeutel, lasse dafür 17,92 Euro an der Kasse zurück und trete den Heimweg an.

Als ich den klimatisierten Discounter verlasse und ins Freie schreite, verschlägt mir die heiße Luft erneut fast den Atem, und der Stoffbeutel fühlt sich schlagartig einige Kilo schwerer an. Da ich nichts Tiefgefrorenes gekauft hab, gönne ich mir auf dem Rückweg, der wieder über den schattigen Friedhof führt, eine kleine Pause auf einem meiner Lieblingsbankerl, direkt an der Ostmauer zwischen den Ruhestätten eines Oskar Garmond und einer Cecilia Schneiderreuth. Letztere weist der Grabstein als „Maurermeisterswitwe“ aus, so wie es früher üblich war.

Cecilia hat uns schon vor mehr als 50 Jahren verlassen, und oft hab ich beim Vorbeikommen den Eindruck, dass sich die Nachkommen eher schlecht als recht um die Grabpflege kümmern. Weswegen ich schon einige Male ein paar Minuten geopfert und Unkraut ausgerissen hab. Oskars Grabstätte hingegen wirkt immer wie gestern erst frisch angelegt.

Während ich mir ein weiteres Mal den Schweiß von der Stirn wische, bemerke ich zum ersten Mal, dass Cecilia und Oskar im selben Jahr und zudem im selben Monat gestorben sind. Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen, obwohl ich nach all den Jahren mit den Geburts- und Sterbedaten der meisten Friedhofsbewohner recht gut vertraut bin.

In etwa 40 Metern Entfernung fällt mir eine junge Frau auf, die andächtig inmitten der Gräber steht, den Kopf leicht gesenkt. Das Gräberfeld mit der Nummer 131 gehört zum ältesten Teil des Friedhofs und beinhaltet auch einige letzte Ruhestätten von Menschen, die zum Zeitpunkt ihres Todes entweder keine Verwandten mehr hatten oder deren Identität unklar war, so dass gemäß Bestattungsgesetz die Kommune, also die Landeshauptstadt München, die Beerdigung übernehmen musste. Entsprechend schlicht wirken die Grabsteine oder einfachen Holzkreuze, in denen teilweise nicht mal ein Name eingraviert ist.

Manchmal kommen ältere Menschen hierher, pflanzen ein paar Blümchen oder stellen eines der roten Grablichter auf, die sie für zwei Euro aus dem Automaten am Nordeingang gezogen haben. In der Regel jedoch besteht der einzige Grabschmuck aus einem regelmäßigen Schnitt des überdeckenden Rasens. Sogar Friedhofswärter Hans verirrt sich nur selten nach Nummer 131. Einsamkeit über den Tod hinaus.

Während mir selbst hier auf meinem schattigen Bankerl der Schweiß inzwischen in Strömen von der Stirn läuft, registriere ich erstaunt und bewundernd zugleich, dass sich die junge Frau überhaupt nicht zu bewegen scheint – und das schon seit Minuten, obwohl Gräberfeld 131 eines der wenigen Fleckchen des Haidhauser Friedhofs ohne Beschattung durch einen der mächtigen Bäume ist. Sie trägt Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber eine hellblaue Weste. Die Hände hält sie nach wie vor gefaltet, der Kopf wiegt leicht hin und her.

Die Frau scheint hart im Nehmen zu sein, denke ich. Gleichzeitig fallen mir meine Einkäufe ein. Vor allem der Joghurt braucht langsam, aber sicher ein kühleres Plätzchen. Ich stehe auf, hänge mir meinen Stoffbeutel über die rechte Schulter und mache mich auf den Weg.

Als ich an Nummer 131 vorbeikomme, riskiere ich verstohlen einen Blick auf das Gesicht der Frau. Sie scheint jünger zu sein, als es auf die Entfernung gewirkt hatte. Ich schätze sie auf etwa 23 Jahre. Eine Strähne ihres blonden Haars ist ihr ins Gesicht gefallen, doch sie scheint es nicht zu bemerken. Ihr Blick ruht auf dem Grabstein direkt vor ihr. „Ruhe in Frieden“ steht darauf geschrieben. Aus rund zehn Metern Distanz kann ich das natürlich nicht lesen, aber ich weiß es eben, weil mich meine unzähligen Spaziergänge über den Haidhauser Friedhof auch diverse Male quer über Nummer 131 geführt haben. „Ruhe in Frieden.“ Sonst nichts. Etwas einfallslos, aber besser als nichts. Kein Name. Kein Geburtsdatum, kein Sterbetag. Die junge Frau mit den – wie ich jetzt eindeutig erkenne – osteuropäischen Gesichtszügen verharrt vor einem der namenlosen Gräber.

Ich verlangsame meine Schritte und bleibe schließlich stehen. Von der nahen vielbefahrenen Einsteinstraße dringt Verkehrslärm durch das Friedhofsgrün herüber. Ein älteres Ehepaar flaniert an mir vorbei, sie mit zwei Blumentöpfen in der Hand, er mit einer der grünen Gießkannen bewaffnet, die an den vielen kleinen Brunnen für die Bewässerung der letzten Ruhestätten bereitstehen. Die Frau blickt mich etwas missmutig an, wahrscheinlich weil ich mitten auf dem Weg herumstehe. Der Mann indessen scheint mich nicht mal zu bemerken. Wer weiß, wo seine Gedanken gerade sind.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich die junge Frau auf Nummer 131 wie ein Idiot anstarre. Ich komme mir blöd vor, erinnere mich an meine Einkäufe und will mich gerade wieder auf den Weg machen, als sie unvermittelt den Kopf in meine Richtung dreht. Unsere Blicke treffen sich, und ein wohliger Schauer läuft mir den Rücken hinunter.

Die Frau ist unglaublich hübsch. Ihre Gesichtszüge sind weich wie Seide. Obwohl kein Lüftchen geht, scheint es als würde ein sanfter Wind durch ihr Haar dringen. Das Faszinierendste an ihrer schlanken Erscheinung sind die Augen, die mich durchdringend mustern. Dunkle Seen, in die man eintauchen möchte, mit einem seltsamen Flackern. Wie ein Leuchtfeuer am Horizont.

Für eine Weile scheint die Zeit stillzustehen. Dann verzieht sie den Mund zu einem schüchternen Lächeln, das perlweiße Zähne entblößt. Obwohl ich schwören könnte, dass ich absolut bewegungsunfähig bin, registriere ich, dass ich langsam auf sie zu gehe. Ich lächle ebenfalls, wobei ich sicher bin, dass es bei mir eher ein dümmliches Grinsen ist. Jedenfalls nicht zu vergleichen mit dem ihrigen. Nach einigen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit scheinen, stehe ich schließlich vor ihr. Sie lächelt immer noch.

„Hallo“, krächze ich, weil mir sonst nichts einfällt. Mein Kopf ist wie leer. Der Stoffbeutel fühlt sich mit einem Mal an wie Blei und drückt auf meine Schultern. Diese Augen… Ich suche in meinen Gehirnzellen nach einem ansatzweise passenden Vergleich, finde aber keinen.

„Ich habe Dich schon oft gesehen.“ Ihre Stimme jagt mir augenblicklich eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Sie klingt deutlich erwachsener als die Frau zu sein scheint. Der osteuropäische Akzent ist unverkennbar. Ich tippe auf Russland, bin mir aber nicht sicher.

„Ja, ich bin regelmäßig hier“, erwidere ich, „ich wohne gleich da drüben.“ Der Zeigefinger meiner rechten Hand deutet in die vollkommen falsche Richtung. „Und Du? Bist Du auch aus der Gegend?“, frage ich. Sie sagt nichts, sondern blickt mich weiter unverwandt an. Nach einer Weile haucht sie ein „Ja“. Es klingt irgendwie traurig, und das Lächeln auf ihren Lippen erstirbt. „Seit ein paar Jahren. Ursprünglich komme ich aus der Russischen Föderation“, erklärt sie mir. Dann wendet sie sich ab, blickt wieder auf das Grab zu ihren Füßen und senkt leicht den Kopf.