4,99 €
Reden ist Silber, Klauen bringt Gold. Es ist Dezember in Galway. Emily hat sich mit ihrem kleinen Foodtruck einen der begehrten Plätze auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt gesichert. Die Geschäfte laufen gut und auch sonst hat sich ihr neues Leben in Irland mittlerweile eingespielt. Sie genießt es, endlich mal wieder einen geregelten Tagesablauf zu haben, ganz ohne die Aufregung der letzten Monate. Doch die Ruhe währt nicht lange. Ein mysteriöser Einbruch in einem Juweliergeschäft stellt Superintendent Tony Doyle vor ein Rätsel - und weckt Emilys detektivischen Spürsinn ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
IMPRESSUM
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
IMPRESSUM
© Thalia Bücher GmbH
Batheyer Str. 115-117, 58099 Hagen, 2024
Alle Rechte vorbehalten.
KAPITEL 1
Reden ist Silber, Klauen bringt Gold.
Mit leichtem Zittern streckte Valaria ihre lilienweiße Hand aus. Keine Sekunde länger konnte sie dem Drang widerstehen, diesen wundersamen Schatz endlich zu berühren und seiner wahren Bestimmung zuzuführen. Sanft glitten ihre Fingerspitzen über den nachtblauen Samt, tasteten sich vor, bis ihre Hand ihn ganz umschloss. Endlich gehörte er ihr. Nur ihr, ganz allein. Ein Gefühl der Unbesiegbarkeit erfasste sie wie eine Welle und ließ sie bis ins Mark erschauern. Noch bevor Mond und Sonne sich küssten, würde ihre Seele das Tal der Finsternis verlassen und ihr Körper ...
»Emily Thompson! Jetzt nimm doch mal die Nase aus dem Buch. Ich rede mit dir!«
Ungeduldig wedelt Nora mit den Flugtickets vor dem Gesicht ihrer Tochter herum. Emily legt den zerknitterten Kassenbon, den sie als Lesezeichen benutzt, wieder zwischen die Seiten, klappt das Buch zu und lächelt ihre Mutter fragend an.
»Wie kannst du hier am Flughafen so seelenruhig lesen?«, sagt diese. »Und dann auch noch so ein dicker Schinken!«
»Nicht irgendeiner!«, sagt Emily und tippt mit dem Finger auf den Buchumschlag, auf dem sich zwei feenhafte Wesen vor einem Hügel küssen.
»Das Lied des Finvarra von Cassandra Willoughby!«, fährt sie fort. »Hat mir Deirdre mitgebracht. Angeblich liest es halb Galway gerade.«
»Kein Wunder, mit Romanzen kennt sie sich ja bestens aus«, entgegnet Nora, und Emily weiß genau, worauf sie damit anspielt. Doch noch bevor sie das rege Dating-Leben ihrer Grandma verteidigen kann, deutet Nora in die Richtung des Schalters. Verärgert stemmt sie die Hände in die Taille.
»Jetzt stehen wir schon eine halbe Stunde am Check-in und sind noch keinen Zentimeter vorangekommen«, beschwert sie sich. »Glaubst du, mit unserem Flug ist alles in Ordnung? Nicht, dass er gestrichen wurde. Man hört ja in letzter Zeit die schlimmsten Sachen.«
Am Hals ihrer Mum erkennt Emily ein paar rote Flecken.
»Ich hätte nicht bei dieser Billig-Airline buchen sollen«, beklagt sich Nora weiter. »Aber wir wollten dich doch unbedingt noch einmal sehen in diesem Jahr!«
Nervös fächelt sie sich Luft zu. Pünktlich zur Wintersaison hat man in der Abflughalle des kleinen Shannon Airport die Heizung aufgedreht, und die Aufregung treibt ihr inneres Thermostat noch einmal extra hoch. Emily würde am liebsten mit den Augen rollen, verkneift es sich aber. Stattdessen streicht sie ihrer Mutter beruhigend über die Schulter. An diesem Samstag, dem Ende des Überraschungsbesuchs ihrer Eltern in Galway, will sie nicht riskieren, dass die Stimmung doch noch kippt.
»Ganz ruhig, Mum«, sagt Emily. »Hier ist einfach ’ne Menge los am letzten Wochenende vor Weihnachten. Ihr seid nicht die Einzigen mit Sehnsucht nach Familie. Bestimmt kommt ihr gleich dran. Du weißt, wir hätten auch online einchecken können.«
»Viel zu unsicher«, kontert Nora. »Und wo ist denn überhaupt dein Dad? Er wollte doch nur kurz den Gepäckwagen wegbringen und dann gleich wiederkommen!«
Tief durchatmen, es ist bald geschafft, denkt Emily. Tief durchatmen.
Sie liebt ihre Eltern. Wirklich! Wenn sie nur nicht so anstrengend wären. Nachdem sie nun eine ganze Woche ununterbrochen mit ihnen zusammen war und in ihrer knappen freien Zeit gefühlt jeden Zentimeter Galways mit ihnen abgelaufen ist, kommt sie definitiv an ihre Grenzen. Die nächsten Tage werden ihr dagegen wie ein Erholungsurlaub vorkommen. Die darf sie nämlich auf dem Weihnachtsmarkt verbringen, wo sie für Emily’s Delicacies einen Standplatz ergattern konnte. Der Betreiber eines Glühweinstands ist krank geworden, und Emily wird mit ihrem Foodtruck kurzfristig einspringen. Nach den vergangenen Monaten, in denen so viel passiert ist, freut sie sich unbändig auf einen halbwegs geregelten Tagesablauf. Und auf eine Pause vom verbalen Gerangel ihrer Eltern. Typischerweise läuft das so: Nora kommandiert Graham herum. Der reagiert nicht. Was wiederum dazu führt, dass sie ihn noch mehr herumkommandiert. Was ihn nur noch sturer macht ... und so weiter und so fort.
Außerdem hatte Emily schon ganz vergessen, wie nervös ihre Mum an Reisetagen ist. Aus Sorge, dass etwas schief gehen könnte, hat sie ihre Tochter gebeten, sich erst im allerletzten Moment zu verabschieden. Emily soll so lange an ihrer Seite bleiben, bis sie hundertprozentig sicher eingecheckt haben.
Kurz gesagt, es ist im Sinne aller Beteiligten höchste Zeit, dass Nora und Graham wieder den Weg nach Alicante einschlagen: zurück in ihr sonnenbeschienenes Nest, das sie sich im Ruhestand dort eingerichtet haben. Ihr altes Leben in einem Londoner Vorort scheinen sie dabei kaum zu vermissen, wenn man ihnen so zuhört. Nora wurde während ihres Besuchs jedenfalls nicht müde zu betonen: »Dieser Dezemberregen in Galway schlägt mir wirklich aufs Gemüt – wie damals in England!«
KAPITEL 2
Mit federnden Schritten kommt nun endlich auch Emilys Dad wieder herangelaufen.
»Wo warst du denn so lange?«, fragt Nora gallig.
»Du glaubst nicht, wen ich gesehen habe«, entgegnet Graham und grinst wie ein kleiner Junge. »Santa höchst persönlich!«
»Hier in Galway nennt man ihn Sant-y. Oder Daidí na Nollag«, verbessert ihn Emily.
»Ach ja? Jedenfalls hatte er zwei Elfen im Schlepptau. Die standen da hinten am Eingang und haben gratis Donuts verteilt.«
Stolz zieht er das leicht zerknautschte, in Plastik verpackte Backwerk aus seiner Jackentasche. Der Donut ist mit rotem Guss verziert, auf den kleine grüne Tannenbäume aus Zucker geklebt wurden. Nora schenkt ihrem Mann einen strengen Blick.
»Och Graham, denkt doch einmal an deinen Diabetes ...«
Mit leicht schuldbewusstem Blick steckt Emilys Dad das Zuckergebäck wieder in die Tasche zurück.
Just in diesem Moment schieben sich die Wartenden in der Schlange vor dem Check-in-Schalter ein großes Stück voran.
»Na bitte, jetzt geht es doch schnell«, freut sich Graham. Und tatsächlich: Nicht einmal zehn Minuten später darf Nora ihre ausgedruckten Bordkarten endlich der Frau hinterm Schalter überreichen. Obwohl ja inzwischen auch der QR-Code auf dem Handy-Display genügen würde. Aber aus Angst davor, dass ihr »Gerät« im entscheidenden Moment schlapp macht, würde Nora dieses Risiko niemals eingehen.
Kurz vor dem Sicherheitscheck drückt Nora ihre Tochter dann noch einmal fest an sich.
»Mach’s gut, Liebes. Es war sehr schön bei dir«, sagt sie. »Halt die Ohren steif und mach dir ein schönes Weihnachtsfest.«
»Das werde ich, Mum«, entgegnet Emily. »Grandma und ich gönnen uns ein paar gemütliche Tage.«
»Wenn sie ausnahmsweise mal zu Hause ist, meinst du«, gibt Nora schmallippig zurück. Was Emily daran erinnert, dass zwischen ihr und Deirdre immer eine leichte Spannung in der Luft liegt. Ihre Grandma wird wohl bis in alle Ewigkeit schmollen, weil Nora als junge Frau lieber nach England zog, als für den Rest ihres Lebens in Galway zu bleiben.
»Das wird sie«, versichert Emily. »Guten Flug und frohes Fest, Mum! Und dir auch Dad.«
Sie umarmt Graham, der ihr liebevoll durchs Haar strubbelt, als wäre sie noch sechs Jahre alt. Ein letztes Winken und sie sind durch die Kontrolle verschwunden.
»Puuuh ...«, entfährt es Emily. Alles, was sie von diesem Nachmittag noch verlangt, ist eine warme Suppe, ein heißes Bad – und dann früh ins Bett, um noch etwas in ihrem Buch zu lesen. Zugegeben, diese Romantasy, also eine Mischung aus Romance und Fantasy, ist manchmal ein bisschen arg übertrieben, und die Autorin lässt kein erotisches Klischee aus. Doch genau das ist es, was Emily zum Beginn der dunklen Jahreszeit braucht. Ein Buch, in das sie abtauchen kann.
Das Leben hat allerdings mal wieder andere Pläne für sie als einen ungestörten Lesemarathon. Während sie sich auf den Weg zum Ausgang in Richtung Busbahnhof macht, klingelt das Handy in ihrer Tasche.
»Emily Thompson?«, meldet sie sich, ohne darauf zu schauen.
»Warum so förmlich, Liebes? Ich bin‘s doch nur«, schmettert Deirdre fröhlich in ihr Ohr. »Hast du deine Eltern gut ins Flugzeug verfrachtet?«
»Zumindest bis zur Sicherheits-Kontrolle, ja – lief alles bestens«, sagt Emily.
»Gut, dann komm direkt nach Hause«, ordnet ihre Grandma an. »Wir müssen dringend was besprechen.«
»Unser Outfit für die Weihnachts-Party bei Sinéad?«
»Doch nicht jetzt! Nein, stell dir vor: Es wurde eingebrochen. Bei lieben Menschen, die wir beide kennen!«
KAPITEL 3
»Setz dich, Liebes – du siehst aus, als könntest du eine schöne Tasse Tee vertragen«, sagt Deirdre und grinst das schelmische Grinsen, das Emily an ihrer Grandma so liebt. Durch die kleine Küche ihres Cottages weht ein Hauch von Nelken und Zimt. Nicht, dass Deirdre Plätzchen backen würde. Emily tippt eher darauf, dass sie sich mit einem neuen, extra weihnachtlichen Parfüm eingenebelt hat. Sehr stark eingenebelt. Eine Angewohnheit, die aus ihrer Zeit als Avon-Beraterin übrigblieb.
Was Deirde ihr so freundlich als »schöne Tasse Tee« ankündigt, klingt für Emily eher wie eine Drohung. Ihr starkes und leicht bitteres Gebräu ist nämlich nichts für Feiglinge. Doch Emily, die inzwischen seit knapp fünf Monaten mit ihr unter einem Dach wohnt, weiß, dass Widerstand zwecklos ist. Also wird sie tapfer ein paar Schlucke nehmen, um sie nicht zu kränken. Und dann später im Tea & Tarts, dem Café ihrer Freundin Sinéad, einen ordentlichen Espresso hinterherkippen. Inzwischen ist das schon ein kleines Ritual für sie.
Während Deirdre ihr eine dampfende Tasse über den rustikalen Holztisch schiebt, fällt Emilys Blick auf eine Plastiktüte in einer Ecke der Küche. Sie ist leicht zur Seite gekippt, und ein paar Stricknadeln ragen heraus. Ein rotes Wollknäuel ist neben der Tüte auf den Boden gefallen.
»Ich wusste gar nicht, dass du strickst«, stellt Emily erstaunt fest.
»Erinnre mich nicht daran!«, schnaubt Deirdre. »Schon als kleines Mädchen habe ich es gehasst, wenn sie uns in der Schule an die Nadeln gezwungen haben. Und nun will der Galway Women’s Club es wieder tun! Aber nicht mit mir!«
Sie nimmt das Wollknäuel, wirft es wieder in die Tüte und stellt sie demonstrativ neben den Mülleimer.
»Was hat dein Club denn vor, dass es dich so ärgert?«, fragt Emily.
»Die sinnloseste Aktion seit Jahren!«, empört sich Deirdre mit bebenden Nasenflügeln. »Jedes Mitglied muss Socken stricken. Und dann sollen wir an einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt in der Nässe stehen und sie verkaufen. Die Einnahmen kommen Obdachlosen zugute.«
»Daran ist doch nichts Schlechtes?«, wirft Emily ein.
»Wenn ich dafür stricken muss, kann es nicht gut sein! Es gibt sicher hundert andere und bessere Wege, Geld für diese armen Menschen aufzutreiben. Aber lass uns nicht länger drüber reden, ich rege mich nur auf.«
Deirdre hat sich nun selbst eine Tasse Tee eingeschenkt und setzt sich zu ihrer Enkelin an den Tisch.
»Sei’s drum. Es gibt etwas viel Wichtigeres zu erzählen ...«
»Der Einbruch, von dem du gesprochen hast?«, fragt Emily und Deirdre nickt.
»Erinnerst du dich an Lizzie und Frank Marley?«
Emily muss einen Moment in ihrem Gedächtnis kramen. Doch da sie sich Menschen gemeinhin gut merken kann, dauert es nicht lange, bis sie darauf kommt. Sie ist den beiden schon einmal begegnet, als sie in Galway das erste Mal in die Ermittlungen zu einem Mordfall geriet. Ein kleiner älterer Herr um die Sechzig im dreiteiligen Anzug und seine nicht viel größere, grauhaarige Frau erscheinen vor ihrem inneren Auge.
»Ja klar – die Goldschmiedin und ihr Mann. Ganz nette Leute.«
»Eben«, seufzt Deirdre. »Umso schlimmer, dass jemand gestern Nacht ihren schönen Laden aufgebrochen hat. Marley & Marley, in der Frenchville Lane. Und das so kurz vor Weihnachten. Wie sollen sie sich so jemals wieder sicher fühlen? Was für ein Schlamassel.«
»Weißt du denn schon, ob etwas gestohlen wurde – und was?«, hakt Emily nach.
»Zu den Details fragst du mal lieber den Superintendent deines Vertrauens«, erwidert Deirdre bedeutsam lächelnd.
»Ist er denn schon wieder zurück?« Emily weiß, dass Tony Doyle ein paar Tage in Dublin war. Sinéad hat ihr erzählt, dass er dort Kollegen in einem Mordfall aushelfen sollte, in den ein ehemaliger Informant von ihm verwickelt war.
»Ja, er müsste gerade wieder zu Hause eingetroffen sein«, flötet Deirdre und zwinkert ihr über den Rand ihrer Teetasse zu. Emily will gar nicht wissen, von welcher Nachbarin sie diese Information schon wieder hat. Der Flurfunk in Galway ist für sie immer noch ein Phänomen. Hier fliegen die Nachrichten in Überschallgeschwindigkeit hin und her.
»Was für ein Glück – besonders für dich«, schiebt Deirdre hinterher. »By the way, wie gefällt dir denn dein neues Buch? Ist es nicht himmlisch pikant?«
KAPITEL 4
Es geht doch nichts über ein kaltes Bier, denkt Tony Doyle und beschließt, es direkt aus der Flasche zu trinken. Seinen Koffer hat er schon ausgepackt, die Waschmaschine läuft, und er wird offiziell erst übermorgen wieder zum Dienst auf der Mill Street Garda Station anrücken müssen. Ein ganzer Samstagabend und ein freier Sonntag liegen vor ihm. Das zumindest war der Plan. Hätte ihn nicht sein Kollege Mick Finnigan auf dem Heimweg im Auto angerufen.
»Hey Tony, schon wieder zurück im wilden Westen?«, scherzte der Inspector.
»Noch nicht ganz«, sagte Tony. »Was gibt’s denn Dringendes?«
»’nen Einbruch. In einem Juwelierladen an der Frenchville Road«, entgegnete Mick.
»Marley & Marley?«, fragte Tony.
»Ganz genau«, bestätigte Mick. »Der Laden wurde offenbar aufgebrochen und jemand hat den Tresor geöffnet. Es fehlt nur die Goldkette einer Kundin, mit einem antiken Münz-Anhänger. Ansonsten wurde nichts entwendet. Ich hab den Tatort schon gesichert, die Inhaber befragt und die Spurensicherung durchgejagt. Das Protokoll maile ich dir. Aber mir kommt das alles ziemlich seltsam vor. Warum wurde sonst nichts entwendet? Ich glaube nicht, dass die Besitzer hier irgendwas im Schilde führen, aber mir wäre trotzdem lieb, wenn wir noch mal zusammen mit ihnen sprechen könnten. Vier Ohren hören mehr als zwei.«
Und natürlich hat Tony ihm dann zugesagt, am Sonntagnachmittag mit ihm dort vorbeizuschauen. Wenn Mick Unterstützung braucht, ist er da. Auch wenn ihm mehr danach ist, die Füße hochzulegen.
Die drei Tage beim Criminal Investigation Department in Dublin waren anstrengend, aber es hat ihn gefreut, dass seine alte Truppe von früher ihn als Berater hinzugezogen hat. Er konnte einiges dazu beitragen, den Mord an einem Pizzalieferanten aufzuklären. Seit er sich aus der Hauptstadt zur Abteilung Serious Crime nach Galway versetzen ließ, war er nicht mehr so zufrieden mit sich.
Im Übrigen hat es ihm viel weniger wehgetan als gedacht, nach Dienstschluss durch die Straßen Dublins zu laufen. Dort, wo er vor seiner Scheidung mit seiner Frau Sandy gelebt hat. Sein ehemaliger Chef – mit dem sie ihn betrogen hat – war während seines Besuchs zum Glück mit ihr im Urlaub. Die Erinnerungen an seine Ex schienen ihm erstaunlich weit weg. Ob es daran lag, dass Emily Thompson vor Kurzem in sein Leben getreten ist? Beim Gedanken an ihr strahlendes Lächeln fließt es warm durch seinen Brustkorb wie ein Schluck Whiskey. Er freut sich schon auf die Weihnachtsfeier im Tea & Tarts. Dort wird er sie auf jeden Fall sehen. Sinéad hat für Heiligabend Familie und Freunde eingeladen, bevor sie das Café für eine Woche schließt. Bei der Vorbereitung fürs Weihnachtswichteln sorgte sie außerdem dafür, dass Tony ganz zufällig Emilys Namen zog.
»Gib dir Mühe und sei ein guter Secret Santa«, schärfte ihm seine alte Freundin lachend ein. »Ich hänge auch ausreichend Mistelzweige auf. Für den Fall der Fälle!« Jetzt muss er Emily nur noch ein Geschenk besorgen, das nichts kosten darf. Nur noch. Dabei hat er erstens keine Ahnung, wie und wo man gute Geschenke findet. Und zweitens ist er noch gar nicht richtig in Weihnachtsstimmung. Wenn er sich so in seinem Haus umsieht, merkt man das auch. Es sieht verdammt kahl aus dafür, dass die Feiertage schon in einer Woche anstehen. Was soll Emily von ihm denken, wenn sie zufällig vorbeikommt – was er jederzeit begrüßen würde? Etwa, dass er ein herzloser, weihnachtshassender Grinch ist? Besaß seine Mutter nicht immer so eine große Kiste mit Weihnachtsdekoration? Ja, es gab da eine, die sie jedes Jahr vom Dachboden holte, um lachend darin herumzukramen, Lichterketten zu entknoten und schließlich die Wohnung in ein Weihnachtwunderland zu verwandeln.
Er trinkt das Bier in einem Zug aus, unterdrückt einen Rülpser und stapft die knarrenden Holzstufen zum Dachboden hinauf. Eine Viertelstunde und mehrere Staubwolken später hat er sie endlich gefunden – hinter einem alten Schlauchboot mit Loch, seiner Angelausrüstung und einem Dreirad, dem ein Hinterrad fehlt. Eines Tages wird er sich mal einen Tag freinehmen und das ganze Gerümpel sortieren, nimmt er sich vor. Leise ächzend zieht er die Kiste heraus und klappt sie auf. Ein Stich fährt in seine Magengrube. Vor ihm liegt das Weihnachten seiner Kindheit. Mit einem Mal vermisst er seine Mutter. Immer noch unglaublich, dass sie nicht mehr da ist. Das kleine Haus, das er von ihr geerbt hat, tröstet ihn bisher nicht annähernd darüber hinweg.
Reiß dich zusammen, Tony, sagt er sich und zerrt die Kiste zur Treppe, um sie nach unten zu bugsieren. Auf dem Weg dorthin entdeckt er in einer der Ecke des Dachbodens noch einen alten Plastikweihnachtsbaum voller Spinnenweben.
Dich lass ich erstmal stehen, schreckliches Ding.
Zurück im Wohnzimmer will er gerade noch einmal in Ruhe durchsehen, was sich in der Kiste befindet, als sein Handy klingelt. Als er den Namen auf dem Display liest, läuft er rot an. Auch wenn die Anruferin ja gar nicht wissen kann, dass er gerade eben noch sehnsüchtig an sie gedacht hat.
»Emily, long time no hear«, sagt er lächelnd.
»Wie war’s in Dublin?«, schießt sie direkt los.
»Ein voller Erfolg«, antwortet er wahrheitsgemäß. »Meine alten Kontakte haben sich als ziemlich nützlich erwiesen. Eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis ich beim DCRI anfange.«
»Beim irischen Geheimdienst? Herrje, ich werde nie wieder etwas vor dir geheim halten können«, lacht Emily. Und Tony freut sich, dass sie seinen Humor versteht.
»Das konntest du auch schon vorher nicht«, gibt er grinsend zurück. »Man muss nur einmal bei Deirdre nachfragen und erfährt alles über dich.«
»Wo wir gerade von ihr sprechen«, sagt Emily nun etwas ernster. »Grandma hat mir erzählt, dass heute Nacht bei Marley & Marley eingebrochen wurde, dem Juweliergeschäft.«
»Ja«, erwidert Tony. »Mick hat mich schon informiert. Ab morgen steige ich in den Fall mit ein.«
»Cool, hältst du mich auf dem Laufenden?«, bittet Emily.
»Warum? Ist die Detektei ‚Thompson & O‘Malley‘ schon wieder aktiv?«, scherzt Tony.
Emily hat als inoffizielle Ermittlerin in kurzer Zeit einige Erfolge erzielt – nicht nur er weiß das, sondern inzwischen ganz Galway. Zwei Morde und ein Vermisstenfall wären ohne ihre Hilfe nicht so schnell oder vielleicht gar nicht aufgeklärt worden. Was jedoch nichts daran ändert, dass sie weder eine Lizenz hat, um offiziell als Privatdetektivin zu arbeiten, noch eine Polizistin ist. Er muss daher vorsichtig sein, was er ihr mitteilt.
»Nein, ich frage nur ganz unverbindlich«, erklärt sie ihm. »Deirdre und ich kennen das Ehepaar, das den Laden führt.