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Zehn Jahre schrieb Brigitte Reimann an "Franziska Linkerhand", einem der "schönsten und wichtigsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur"(FAZ). Der Roman um die talentierte, leidenschaftliche, von der Liebe beseelte und besessene junge Architektin entfaltete seine Wirkung zunächst in der DDR und der Bundesrepublik der 70er Jahre, wo er als phantasievoller Liebesroman und als politischer Text in den studentischen Milieus und der entstehenden Frauenbewegung kontrovers diskutiert wurde. 2009 musste er erstmals als Pflichtlektüre für das Zentralabitur in Deutsch von allen Abiturientinnen und Abiturienten in Hamburg gelesen werden. Wie wird "Franziska Linkerhand" gerade diskutiert, was bewirkt der Roman, welche heutigen Geschichten werden durch ihn angestoßen? Im Zentrum des vorliegenden Textes steht keine literaturwissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Liebesgeschichte.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Der Referent legte den Laserpointer beiseite, mit dem er fortlaufend auf die grammatischen Subjekte und Prädikate gedeutet hatte, als stünde er vor einer etwas unterbelichteten Zuhörerschaft. Die Powerpoint-Präsentation endete mit dem schriftlichen Signal zum Applaus – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – dem etwa die Hälfte der Versammelten nachkam, während die Jalousien nach oben glitten und die Nachmittagssonne durch die hohen alten Fenster der gastgebenden Schule zurückkehrte. Der Beifall war da, fiel aber etwas verhalten aus, wie er fand. Wahrscheinlich wird geklatscht aus Dankbarkeit, überhaupt etwas präsentiert zu bekommen. Ihm fiel bei sich selbst ein ähnliches Gefühl auf. Es war schön, nicht zuerst wieder selbst aktiv werden zu müssen. Nicht wieder aufgeteilt in sogenannten kleinen Murmelgruppen, nach der gerade so modischen Methode der Best practise, nach an Schulen schon funktionierenden Beispielen für die abstrakten bildungspolitischen Vorgaben zu suchen, für deren praktische Umsetzung in der Behörde noch keine oder nur sehr grobe Vorstellungen entwickelt werden konnten. Wie er wusste, konnten die Abteilungen der Behörde mit dem hohen Reformtempo, das in der letzten Zeit gerne ironisch mit dem Attribut „sportlich“ versehen wurde, kaum Schritt halten. Er sah sich unter den vielen Gesichtern um, unter den Kolleginnen und Kollegen, die den Deutsch-Fachschaften an den weiterführenden Schulen der Stadt vorstanden, und die nun im Halbkreis der hellen Aula saßen, aus dem nahen Hafen waren Schiffe zu hören. Er winkte der Schulleiterin eines nachbarlichen Gymnasiums zu, die die vermutlich erkrankte eigentliche Fachleiterin ersetzte, mit der er schon häufig zusammengearbeitet hatte. Einige der jungen Männer waren wohl ganz neu im Amt, er hatte sie noch nie gesehen. Kurz überlegte er, ob die unbekannte Kollegin im leuchtend grünen Sommerkleid mit den fließenden rotblondgrauen Haaren in seinem Alter sei. Etwa ein Drittel der Anwesenden glaubte er zumindest vom Ansehen her zu kennen.
Die Fachreferentin der Behörde für Schule und Berufsbildung, eine neue Oberschulrätin, richtete sich lächelnd auf, rückte das Mikrophon und leitete mit sanfter Stimme den nächsten Tagesordnungspunkt ein: „Und nun, liebe Fachvertreterinnen und Fachvertreter aus allen Teilen der Freien und Hansestadt, möchte ich auch hier, auf der Fachleitungsebene, den Erfahrungsaustausch über die schriftlichen Aufgaben für das Zentralabitur in Deutsch eröffnen. Obwohl die Evaluierungsbögen der im Abitur beteiligten Lehrerinnen und Lehrer noch nicht alle zurückgelaufen und ausgewertet sind, haben wir doch schon etliche Feed-backs aus verschiedenen Stadtteilen erhalten. Die erste Aufgabe zur Literatur von der Aufklärung bis zur Klassik, die Interpretation der beiden Goethe-Gedichte hat wohl im Großen und Ganzen den Erwartungen und unterrichtlichen Vorbereitungen entsprochen, ähnliches gilt für die Aufgabe zur Literatur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bei der es dieses Mal bekanntermaßen um Gerhard Hauptmanns Vor Sonnenaufgang ging. Anders dürfte dies im dritten Bereich sein, der Literatur des 20. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt DDR und dem Referenztext Franziska Linkerhand von Brigitte Reimann. Und da sehe ich auch schon die ersten Meldungen, bitte schön, die Kollegin hinten am Fenster.“