Vergeltung - Val McDermid - E-Book

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Val McDermid

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Beschreibung

Ein gefährlicher Psychopath will Rache: Gnadenlos spannender Thriller von Bestseller-Autorin Val McDermid! Bisher galt das Hochsicherheitsgefängnis als absolut ausbruchsicher. Doch nach zwölf Jahren Haft gelingt Jacko Vance, einem perfiden Mädchenmörder, durch eine raffinierte, lange geplante Täuschung die Flucht. Jacko ist besessen von einem einzigen Gedanken: gnadenlose Rache – an allen, die ihn hinter Schloss und Riegel gebracht haben. Für das Ermittler-Duo Carol Jordan und Tony Hill, die den ehemaligen Fernsehmoderatoren und sein blutrünstigen Morden seinerzeit entlarvten, hat er einen besonders hässlichen Rache-Plan. Dieser Thriller lässt niemanden kalt, denn hier hat sich Crime-Queen Val McDermid einen Serienkiller erdacht, der an Bösartigkeit und Brutalität kaum zu überbieten ist. Jacko Vance will seine Feinde nicht einfach töten, er will sie aus abgrundtiefer Rache bis ins Mark quälen und ihnen das nehmen, was ihnen am liebsten ist: Seine ersten Opfer sind Carols Bruder und dessen Frau. Ein Psychopath ohne Gewissen, der keine Grenzen kennt – wie schnell können Carol und Tony diesen blutigen Rachefeldzug stoppen? Der Bestseller-Thriller bleibt nervenaufreibend bis zum überraschenden Schluss. Die Fälle des Ermittler-Duo Carol Jordan und Tony Hill gehören schon zu den Klassikern der modernen Thriller-Literatur. Dieses Buch nimmt Rache an Ihnen. Sie werden lesen – gnadenlos schnell! Denglers-buchkritik.de Ein neuer Hill-Jordan-Thriller, der schon eine verdammt spannende Angelegenheit ist. hr1 Sie mögen extrem aufregende Fingernägel-knabber-Thriller? Voilà. Buch-ticker.de Weitere Bände der spannenden Thriller-Serie um Carol Jordan und Profiler Tony Hill: Bd. 1: Das Lied der Sirenen Bd. 2: Schlussblende Bd. 3: Ein kalter Strom Bd. 4: Tödliche Worte Bd. 5: Schleichendes Gift Bd. 6: Vatermord Bd. 7: Vergeltung Bd. 8: Eiszeit Bd. 9: Schwarzes Netz Bd. 10: Rachgier Bd. 11: Der Knochengarten

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Seitenzahl: 642

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Val McDermid

Vergeltung

Ein neuer Fall für Carol Jordan und Tony Hill

Aus dem Englischen von Doris Styron

Knaur e-books

Über dieses Buch

Bisher galt dieses Gefängnis als absolut ausbruchsicher. Doch nach zwölf Jahren Haft gelingt Jacko Vance, einem perfiden Mädchenmörder, durch eine raffinierte, lange geplante Täuschung die Flucht. Jacko ist besessen von einem einzigen Gedanken: gnadenlose Vergeltung – an allen, die ihn hinter Schloss und Riegel gebracht haben. Vor allem aber an Carol Jordan und Tony Hill. Und er hat sich etwas Hinterhältigeres als deren Tod ausgedacht: Er will seine Feinde ins Mark treffen, ihnen ihr Liebstes nehmen. Seine ersten Opfer sind Carols Bruder und dessen Frau …

Inhaltsübersicht

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. KapitelDankTIPP!Leseprobe »Rachgier«
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Für Mr. David, weil er mich daran erinnert,

wie viel Spaß das Schreiben macht,

meine Ideen beflügelt und an das Projekt

geglaubt hat.

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Die Nemesis ist lahm, aber sie ist von kolossaler Größe,

wie die Götter, und während ihr Schwert noch in der Scheide steckt,

streckt sie manchmal ihren riesigen linken Arm aus und

greift sich ihr Opfer. Die mächtige Hand ist unsichtbar,

aber das Opfer taumelt im Würgegriff.

George Eliot,

Bilder aus dem kirchlichen Leben Englands

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1

Die Kunst des Ausbrechens hatte etwas von Taschenspielerei. Das Geheimnis lag in der Irreführung. Manchmal gelang eine Flucht, indem mit Hilfe sorgfältiger Planung etwas Falsches vorgespiegelt wurde; manchmal kam es auf Manöver an, die körperliche und intellektuelle Kraft, Mut und Beweglichkeit erforderten; und manchmal wirkte das alles zusammen. Aber wie man auch vorging, das Element der Täuschung spielte stets eine entscheidende Rolle. Und wenn es auf Irreführung ankam, gab es niemanden, der besser war als er. Die beste Täuschung war die, die andere überhaupt nicht mitbekamen. Das gelang nur, wenn die Ablenkung sich nahtlos in den Ablauf einfügte.

An manchen Orten ist das schwieriger als an anderen. Zum Beispiel hätte man Mühe, in einem Büro, in dem alles wie in einem Uhrwerk durchorganisiert ist, die Ablenkung zu integrieren, weil alles vom Normalen Abweichende auffiele und in Erinnerung bliebe. Aber im Gefängnis gibt es so viele variable Größen – unberechenbare Individuen, komplexe Machtstrukturen, triviale Streitereien, die in Sekunden eskalieren können, und unterdrückte Frustration, die immer kurz vor dem Aufbrechen ist wie ein reifes Furunkel. Fast alles könnte jederzeit zu einem Konflikt führen, und wer könnte schon sagen, ob die Sache eingefädelt oder einfach eines der hundert kleinen Probleme war, das außer Kontrolle geriet? Schon allein die Tatsache, dass es solche Variablen gab, machte manche Leute nervös.

Ihn ließ das völlig kalt. Für ihn stellte jede vorstellbare Alternative einen neuen Ansatzpunkt dar, eine weitere Option, die es eingehend zu prüfen galt, bis er endlich die perfekte Kombination von Ausgangsbedingungen und Persönlichkeiten gefunden hatte.

Er hatte überlegt, ob er eine Show abziehen sollte. Er hätte ein paar Jungs dafür bezahlen können, eine Schlägerei in seinem Trakt zu inszenieren. Aber das hatte zu viele Nachteile. Zunächst mal: Je mehr Leute seine Pläne kannten, desto wahrscheinlicher war es, dass jemand plauderte. Außerdem saßen die meisten dort ein, weil sie mit ihren früheren Täuschungsversuchen jämmerlich gescheitert waren. Keine gute Grundvoraussetzung für ein überzeugendes Ablenkungsmanöver. Und man konnte natürlich auch ganz gewöhnliche Dummheit niemals ausschließen. Diese Variante fiel also schon einmal weg.

Das Schöne am Gefängnis war jedoch, dass es jede Menge Druckmittel gab. Die Gefangenen fürchteten sich vor dem, was draußen geschehen konnte. Sie hatten Freundinnen, Frauen, Kinder und Eltern, die misshandelt oder verführt werden konnten. Manchmal reichte es schon, dies anzudrohen.

Also hatte er die Lage beobachtet und gewartet, hatte Informationen gesammelt, sie ausgewertet und ausgetüftelt, wo sich die besten Erfolgschancen boten. Es war hilfreich, dass er sich nicht nur auf seine eigenen Beobachtungen verlassen musste. Sein Netzwerk außerhalb der Gefängnismauern hatte ihm die Informationen verschafft, mit denen er die meisten seiner Wissenslücken schließen konnte. Es hatte gar nicht lange gedauert, bis er den perfekten Punkt fand, an dem er den Hebel ansetzen konnte.

Und jetzt war er so weit. Heute Abend würde er handeln. Morgen Abend würde er in einem herrlich breiten Bett mit weichen Kissen schlafen. Das perfekte Ende eines wundervollen Abends. Ein nur zart angebratenes Steak mit Knoblauch, Pilzen und Rösti, abgerundet mit einer Flasche Rotwein, der in den zwölf Jahren seiner Abwesenheit bestimmt nur noch besser geworden war. Ein Teller mit Kräckern und einem köstlichen Stilton, der ihn vergessen ließ, was man im Gefängnis als Käse bezeichnete. Dann ein langes heißes Bad, ein Glas Cognac und eine kubanische Cohiba. Er würde jede Spielart des sinnlichen Genusses auskosten.

Sein Wachtraum wurde von lauten Stimmen unterbrochen; es war eine alltägliche Auseinandersetzung über Fußball, die zwischen den Stockwerken widerhallte. Ein Wärter brüllte, sie sollten leiser sein, und der Geräuschpegel senkte sich etwas. Das entfernte Gemurmel aus einem Radio füllte die Pausen zwischen den Flüchen, und er erkannte, noch besser als das Steak, der Alkohol und die Zigarre würde die Befreiung vom Lärm anderer Menschen sein.

Wurde über die schrecklichen Zustände im Gefängnis gesprochen, dann fiel das meistens unter den Tisch. Man beschwerte sich über die Einschränkungen, die Unfreiheit, die Angst vor den anderen Gefangenen, den Verlust persönlicher Annehmlichkeiten. Aber selbst die einfühlsamsten Leute erwähnten nie den Alptraum, den der Verlust der Stille bedeutete.

Morgen würde dieser Alptraum ausgeträumt sein. Er würde so leise oder so laut sein können, wie es ihm passte. Aber es würde sein eigener Lärm sein.

Na ja, zum größten Teil jedenfalls. Es würde andere Geräusche geben. Solche, auf die er sich freute. Die er sich gerne vorstellte, wenn er einen Ansporn brauchte, um weiterzumachen. Solche, von denen er schon länger träumte, als die Planung mit seiner Flucht zurückreichte. Die Schreie, das Schluchzen, das stammelnde Bitten um Gnade, die niemals kommen würde. Der Soundtrack zum Rachefeldzug.

Jacko Vance, der siebzehn junge Mädchen umgebracht und eine Polizeibeamtin im Dienst ermordet hatte, der einmal zum attraktivsten Mann des britischen Fernsehens gewählt worden war, konnte es kaum erwarten.

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2

Der stämmige Mann stellte zwei randvolle Gläser mit kupferfarbenem Bier auf den Tisch. »Piddle in the Hole – piss ins Loch«, sagte er und ließ sich mit seiner breiten Gestalt auf einem Hocker nieder, der unter seinen Oberschenkeln verschwand.

Dr. Tony Hill zog die Augenbrauen hoch. »Soll das eine Herausforderung sein? Oder findet man das hier in Worcester witzig?«

Detective Sergeant Alvin Ambrose hob das Glas, um mit ihm anzustoßen. »Keins von beidem. Die Brauerei ist in einem Dorf, das Wyre Piddle heißt, deshalb meint man dort, auf diesen Namen Anspruch zu haben.«

Tony nahm einen großen Schluck von seinem Bier und schaute es dann nachdenklich an. »Na schön!«, sagte er. »Es ist ziemlich gut.«

Beide Männer widmeten dem Qualitätsgetränk kurz ein respektvolles Schweigen, dann meinte Ambrose: »Ihre Carol Jordan hat meinen Chef zur Weißglut gebracht.«

Selbst nach so vielen Jahren fiel es Tony immer noch schwer, sein Pokerface beizubehalten, wenn es um Carol Jordan ging. Aber es war eine Mühe, die sich lohnte. Erstens mal gab er nicht gern etwas preis, wenn’s nicht sein musste. Aber noch wichtiger war, dass es ihm immer unmöglich gewesen war, zu erklären, was Carol ihm bedeutete, und er hatte keine Lust, anderen die Gelegenheit zu falschen Schlüssen zu geben. »Sie ist nicht meine Carol Jordan«, sagte er gelassen. »Ehrlich gesagt, ist sie niemandes Carol Jordan.«

»Sie sagten, sie würde hier in Ihrem Haus wohnen, wenn sie die Stelle bekäme«, erwiderte Ambrose, ohne den vorwurfsvollen Ton zu unterdrücken.

Das war eine Enthüllung, von der Tony sich nun wünschte, er hätte sie nie gemacht. Es war ihm während einer der abendlichen Unterhaltungen herausgerutscht, die die merkwürdige Freundschaft zweier argwöhnischer Männer gefestigt hatten, die sonst nicht viel gemeinsam hatten. Tony vertraute Ambrose, aber das hieß nicht, dass er ihm Zutritt zum Labyrinth der Widersprüche und Komplexitäten seines Gefühlslebens gewähren wollte. »Sie wohnt bereits jetzt bei mir im Souterrain. Das ist doch kaum ein Unterschied. Es ist ein großes Haus«, antwortete er in unverbindlichem Ton, aber die Hand, mit der er das Glas hielt, verkrampfte sich leicht.

Ambrose’ Augenwinkel strafften sich ein wenig, aber der Rest seines Gesichts zeigte keine Regung. Tony vermutete, dass sein allzeit waches Polizistenhirn sich fragte, ob es sich lohnte, dies weiterzuverfolgen. Schließlich fügte Ambrose hinzu: »Und sie ist eine sehr attraktive Frau.«

»Das stimmt.« Tony hob Ambrose bestätigend sein Glas entgegen. »Und warum ist DI Patterson wütend auf sie?«

Ambrose zuckte mit einer seiner muskulösen Schultern, so dass sich die Naht seiner Jacke dehnte. Seine braunen Augen blickten nicht mehr so wachsam, denn jetzt befand er sich auf sicherem Terrain und konnte sich entspannen. »Das Übliche. Er hat seine ganze Dienstzeit in West Mercia verbracht, den größten Teil hier in Worcester. Als die Stelle des Detective Chief Inspector frei wurde, sah er sich schon befördert. Dann ließ Ihre … dann ließ DCI Jordan verlauten, dass sie an einer Versetzung von Bradfield weg interessiert sei.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Und wie hätte West Mercia es ihr abschlagen können?«

Tony schüttelte den Kopf. »Das weiß ich genauso wenig wie Sie.«

»Bei ihrer Erfolgsbilanz? Zuerst bei der Met, dann eine geheimnisvolle Aufgabe bei Europol, dann an der Spitze ihrer eigenen Spezialtruppe im viertgrößten Polizeiverbund des Landes, wo sie die Trottel von der Terrorismusabwehr auf ihrem eigenen Feld geschlagen hat … Im ganzen Land gibt es nur eine Handvoll Polizisten, die ihre Erfahrung haben und trotzdem noch gern im praktischen Einsatz sind, statt im Büro zu sitzen. Bei der ersten leisen Andeutung im Flurfunk wusste Patterson gleich, dass er keine Chance hatte.«

»Nicht unbedingt«, warf Tony ein. »Es gibt Vorgesetzte, die Carol als Bedrohung sehen könnten. Die Frau, die zu viel wusste. Sie glauben vielleicht, man würde damit den Bock zum Gärtner machen.«

Ambrose lachte in sich hinein, es klang wie ein tiefes, unterirdisches Grollen. »Aber hier ist es nicht so. Man hält sich für das Maß aller Dinge. Man schaut rüber zu den lausigen Kerlen in West Midlands und spreizt die Federn wie ein eitler Pfau. Sie würden DCI Jordan als eine Preistaube sehen, die in den heimatlichen Schlag zurückfliegt, wo sie hingehört.«

»Sehr schön ausgedrückt.« Tony nippte an seinem Bier und genoss das bittere Hopfenaroma. »Aber Ihr DI Patterson sieht das anders?«

Während Ambrose nach Worten suchte, trank er sein Glas fast leer. Tony war daran gewöhnt zu warten. Es war ein Trick, der bei der Arbeit wie im Privatleben gleichermaßen funktionierte. Schließlich kam er ohne Geduld auch mit seinen Patienten nicht sehr weit. Wenn jemand ein kompetenter klinischer Psychologe sein wollte, konnte er es sich nicht leisten, bei der Suche nach Antworten zu viel Ungeduld zu zeigen.

»Für ihn ist es nicht leicht«, sagte Ambrose schließlich. »Es ist bitter zu wissen, dass man übergangen wurde, weil man nur der Zweitbeste ist. Also muss er etwas finden, das es für ihn erträglicher macht.«

»Und was hat er sich ausgedacht?«

Ambrose senkte den Kopf. Im schwachen Licht der Kneipe war er wegen seiner dunklen Haut nur noch ein Schatten. »Er stänkert herum über die Gründe für ihren Umzug. Zum Beispiel, dass ihr West Mercia scheißegal sei. Dass sie nur Ihnen folgt, weil Sie das große Haus geerbt und sich entschieden haben, von Bradfield wegzuziehen …«

Carol Jordans Entscheidungen zu verteidigen war nicht seine Aufgabe, doch er konnte sich auch nicht einfach ausschweigen. Wenn er schwieg, würde er damit nur Pattersons trostlose Sicht der Dinge bestätigen. Tony sollte Ambrose zumindest eine Alternative aufzeigen, die er in der Kantine und im Büro vorbringen konnte. »Vielleicht. Aber ich bin nicht der Grund, weshalb sie Bradfield verlässt. Es geht um Bürointrigen, hat nichts mit mir zu tun. Sie hatte einen neuen Chef, und er fand, ihr Team sei zu kostspielig. Sie hatte drei Monate Zeit, um ihm das Gegenteil zu beweisen.« Tony schüttelte betrübt lächelnd den Kopf. »Man kann sich kaum vorstellen, was sie noch zusätzlich hätte tun können. Sie hat einen Serientäter zur Strecke gebracht, zwei alte Mordfälle gelöst und eine Bande von Menschenhändlern hochgenommen, die Kinder ins Land brachten und sie zur Prostitution zwangen.«

»Das nenne ich doch eine beachtliche Erfolgsrate«, befand Ambrose.

»Nicht beachtlich genug für James Blake. Die drei Monate sind um, und er hat angekündigt, er werde die Einheit am Ende des Monats auflösen und die Mitglieder irgendwo bei der Kripo unterbringen. Sie hatte schon beschlossen, da nicht mitzuspielen. Deshalb war ihr klar, dass sie Bradfield verlassen wollte. Sie wusste nur noch nicht, wohin sie gehen würde. Dann wurde dieser Job in West Mercia frei, und sie musste nicht einmal den Vermieter wechseln.«

Ambrose warf ihm einen belustigten Blick zu und leerte sein Glas. »Nehmen Sie noch eins?«

»Ich hab noch. Aber jetzt bin ich an der Reihe.« Tony erhob Einspruch, als Ambrose trotzdem zur Theke ging. Er bemerkte, wie die junge Kellnerin das ungleiche Paar stirnrunzelnd musterte.

Ambrose und er, das war weiß Gott eine seltsame Kombination. Ein dunkelhäutiger stämmiger Mann mit rasiertem Kopf und einem Gesicht wie ein Schwergewichtsboxer, mit locker herunterhängender Krawatte und einem schwarzen Anzug, der eng über kräftigen Muskeln saß. Ambrose’ beachtliche Ausstrahlung passte zu der Vorstellung, die die meisten Leute von einem ernstzunehmenden Bodyguard hatten. Er selbst dagegen, so vermutete Tony, sah nicht so aus, als könne er sich selbst beschützen, von anderen gar nicht erst zu reden. Er war mittelgroß, eher feingliedrig gebaut, dabei drahtiger, als man denken würde, da seine hauptsächliche körperliche Ertüchtigung darin bestand, dass er Rayman’s Raving Rabbids auf seiner Wii spielte. Er trug eine Lederjacke, Sweatshirt mit Kapuze und schwarze Jeans. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, dass die Leute sich immer nur an seine strahlenden blauen Augen erinnerten, die durch seinen blassen Teint noch betont wurden. Auch Ambrose’ Augen waren einprägsam, aber nur, weil sie eine Sanftheit erahnen ließen, die sonst nirgends an seinem Auftreten wahrzunehmen war. Die meisten Leute übersahen das, glaubte Tony. Sie waren zu geblendet vom oberflächlichen Eindruck. Er fragte sich, ob die Kellnerin es bemerkt hatte.

Ambrose kam mit einem frischen Glas Bier zurück. »Wollen Sie heute Abend nichts trinken?«

Tony schüttelte den Kopf. »Ich fahre noch nach Bradfield zurück.«

Ambrose schaute auf seine Uhr. »So spät? Es ist ja schon nach zehn.«

»Ich weiß. Aber um diese Zeit ist wenig Verkehr. Da kann ich in weniger als zwei Stunden zu Hause sein. Ich muss morgen in Bradfield Moor noch mit Patienten sprechen. Die letzten Termine, bevor ich sie an jemand anderen abgebe. Und ich hoffe, man wird berücksichtigen, dass sie verkorkste Problemfälle sind. Es ist weniger Stress, abends zu fahren. Nachtmusik und leere Straßen.«

Ambrose lachte vor sich hin. »Klingt wie ein Countrysong.«

»Manchmal kommt es mir vor, als wäre mein ganzes Leben ein Countrysong«, murmelte Tony. »Und keiner von den optimistischen.« Während er noch sprach, meldete sich sein Handy. Er tastete hektisch seine Kleider ab und zog es schließlich aus der vorderen Tasche seiner Jeans. Die Nummer auf dem Display erkannte er nicht, stellte aber seine Zweifel zurück. Wenn jemand vom Personal in Bradfield Moor Probleme mit einem der Verrückten hatte, rief man ihn manchmal auf dem Handy an. »Hallo?«, fragte er zurückhaltend.

»Ist dort Dr. Hill? Dr. Tony Hill?« Es war eine Frauenstimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam, die er aber nicht zuordnen konnte.

»Wer spricht dort?«

»Penny Burgess, Dr. Hill. Von der Evening Sentinel Times. Wir haben schon häufiger miteinander gesprochen.«

Penny Burgess. Er erinnerte sich an eine Frau im Trenchcoat, den Kragen im Regen hochgeschlagen, mit knallharter Miene und widerspenstigem langem dunklem Haar. Außerdem fiel ihm ein, dass er in den von ihr verfassten Artikeln verschiedene Verwandlungen durchgemacht hatte von einem allwissenden Weisen zu einem Idioten, der als Sündenbock herhalten musste. »Nicht so oft wie Sie Ihren Lesern gern vormachen.«

»Ich tue doch nur meine Arbeit, Dr. Hill.« Sie klang viel herzlicher, als es durch die gemeinsamen Erfahrungen gerechtfertigt war. »Es ist wieder eine Frau in Bradfield ermordet worden«, fuhr sie fort. Zum Smalltalk taugte sie genauso wenig wie er, dachte Tony und versuchte zu ignorieren, was sie durchblicken ließ. Als eine Reaktion von ihm ausblieb, fügte sie hinzu: »Eine Prostituierte, genau wie die beiden letzten Monat.«

»Tut mir leid, das zu hören«, äußerte Tony so vorsichtig, als bewege er sich in einem Minenfeld.

»Also, weshalb ich Sie anrufe … Mein Informant sagte mir, dass der Fall die gleiche Handschrift trägt wie die beiden vorherigen. Ich frage mich, was Sie davon halten?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Zurzeit habe ich keinen Auftrag von der Kripo Bradfield.«

Aus Penny Burgess’ Kehle stieg ein glucksender Laut auf, fast wie ein leises Lachen. »Ich bin sicher, dass Ihre Kontakte mindestens so gut sind wie meine«, erwiderte sie. »Ich glaube nicht, dass Detective Chief Inspector Jordan über die Sache nicht informiert ist, und wenn sie Bescheid weiß, dann tun Sie das auch.«

»Sie haben eine merkwürdige Vorstellung von meiner Welt«, antwortete Tony resolut. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Ich spreche von einem Serienmörder, Dr. Hill. Und wenn es um Serientäter geht, sind Sie im Spiel.«

Abrupt beendete Tony das Gespräch und schob sein Handy in die Tasche zurück. Als er aufschaute, traf er auf Ambrose’ fragenden Blick. »Schmierfink von der Presse«, sagte er und nahm einen Schluck Bier. »Na ja, eigentlich nicht. Sie ist schon etwas besser. Carols Team hat sie schon öfter ganz schön dumm dastehen lassen, aber sie tut einfach, als sei das ein Berufsrisiko.«

»Immerhin …«, sagte Ambrose.

Tony nickte. »Stimmt. Man kann diese Leute respektieren, ohne dass man bereit ist, sie einzuweihen.«

»Was wollte sie denn?«

»Sie wollte mich aushorchen. Wir hatten in den letzten Wochen in Bradfield zwei Morde an Prostituierten. Jetzt gibt es einen dritten Fall. Soweit ich wusste, gab es keinen Grund, zwischen den beiden ersten eine Verbindung zu sehen, ganz andere Vorgehensweise.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich sag das so, offiziell weiß ich aber gar nichts. Carol ist nicht mit den Fällen befasst, und selbst wenn es ihre wären, würde sie nichts darüber sagen.«

»Aber Ihre Zeitungsschmiererin stellt es anders dar?«

»Sie behauptet, es gebe eine charakteristische Gemeinsamkeit. Trotzdem habe ich nichts damit zu tun. Selbst wenn sie entscheiden sollten, dass sie ein Profil brauchen, würden sie sich nicht an mich wenden.«

»Trottel. Dabei sind Sie der beste Profiler, den wir haben.«

Tony leerte sein Glas. »Das mag stimmen. Aber James Blake hält interne Lösungen für billiger, und außerdem behält er dann die Kontrolle.« Er lächelte ironisch. »Ich verstehe, wieso. An seiner Stelle würde ich mich wahrscheinlich auch nicht beauftragen. Bringt mehr Ärger als Nutzen.« Er stieß sich vom Tisch ab und erhob sich. »Und in diesem heiteren Sinne begebe ich mich jetzt auf die Schnellstraße.«

»Wünschten Sie nicht einerseits, Sie wären da draußen am Tatort?« Ambrose trank sein zweites Glas aus und stand auf, blieb aber absichtlich etwas entfernt stehen, damit er im Vergleich zu seinem Bekannten nicht so groß wirkte.

Tony überlegte. »Ich bestreite nicht, dass die Menschen, die so etwas tun, mich faszinieren. Je gestörter sie sind, desto größer ist mein Verlangen herauszufinden, wie sie ticken. Und wie ich ihnen helfen kann.« Er seufzte. »Aber ich bin es leid, die Endergebnisse zu betrachten. Heute Abend gehe ich nach Haus und zu Bett, Alvin, und glauben Sie mir, ich würde nirgendwo lieber sein.«

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3

Das sicherste Versteck war immer in aller Öffentlichkeit. Die Leute nehmen immer nur wahr, was sie zu sehen erwarten. Das gehörte zu den Wahrheiten, die er erkannt hatte, lange bevor sein Leben durch die Gefängnismauern eingeschränkt wurde. Aber er war schlau und entschlossen; nur weil seine äußere Umgebung ihn eingeschränkt hatte, hörte er nicht auf zu lernen.

Manche Leute machten dicht, sobald sie hinter Gittern saßen. Sie ließen sich durch ein weniger chaotisches Leben verführen, trösteten sich mit der Vorhersehbarkeit. Einer der weniger bekannten Aspekte des Lebens hinter Gittern war das häufige Vorkommen von Zwangsneurosen. Die Gefängnisse waren voll von Männern und Frauen, die in immer wiederkehrenden Abläufen Trost fanden. In der Freiheit wäre das für sie undenkbar gewesen. Jacko Vance hatte sich gleich von Anfang an gegen die Verführung durch die Routine gewappnet.

Allerdings hatte es anfangs für ihn nicht viel alltägliche Routine gegeben. Gefangene mögen nichts lieber, als einen berühmten Mitgefangenen fertigzumachen. Als George Michael festgenommen wurde, grölten alle im gesamten Trakt die ganze Nacht lang seine größten Hits und ließen ihn nicht schlafen. Dabei änderten sie je nach Stimmung die Texte ab. Als Vance kam, pfiffen sie, sobald sie für die Nacht eingeschlossen waren, die Titelmelodie seiner TV-Sendung, immer weiter wie eine Endlosschleife. Als Vance’s Visits ihnen langweilig wurde, fingen die Fußballgesänge über seine Frau und ihre Freundin an. Es war eine unschöne Begrüßung, aber sie hatte ihn nicht aufgeregt. Am nächsten Morgen trat er so gefasst und ruhig wie am Abend zuvor auf den Flur.

Es gab einen Grund für seine Gelassenheit. Von Anfang an war er entschlossen, wieder freizukommen. Er wusste, dass es Jahre dauern würde, und hatte sich gezwungen, dies zu akzeptieren. Er hatte legale Möglichkeiten in Betracht gezogen, war aber nicht überzeugt, dass sie funktionieren würden. Also hatte er so bald wie möglich Plan B ausgearbeitet, damit er etwas hatte, auf das er sich konzentrieren und auf das er hinarbeiten konnte.

Die gelassene Grundeinstellung war der erste Schritt des Weges. Er musste sich den Respekt der anderen verdienen, ohne dass es so aussah, als wolle er jemandem ins Gehege kommen, besonders weil alle wussten, dass er Teenager getötet hatte und damit schon fast ein Kinderschänder war. All das war nicht leicht gewesen, und er hatte dabei hin und wieder Fehler gemacht. Aber Vance hatte draußen noch Kontakte, die am Glauben an seine Unschuld festhielten. Und er war durchaus gewillt, diese Kontakte auf jede Weise zu nutzen. Die Alphamännchen im Knast bei Laune zu halten hieß oft, die Rädchen draußen zu schmieren. Vance hatte immer noch genug Schmiere, wenn es darauf ankam.

Unauffälligkeit war ein weiteres wichtiges Element seines Plans. Was immer er vorhatte, es musste so aussehen, als halte er sich an die Regeln. Den Angestellten wollte er ein tadelloses Verhalten präsentieren. Find dich mit dem Mist ab und sei ein guter Junge, Jacko. Aber das war genauso Fassade wie alles andere.

Vor Jahren hatte er sich die Fernsehsendung angeschaut, die seine Ex-Frau damals moderierte. Sie interviewte den Direktor eines Gefängnisses, in dem ein schrecklicher Aufstand ausgebrochen war. Die Gefangenen hatten drei Tage lang die volle Kontrolle über die Strafanstalt. Der Gefängnisdirektor wirkte abgespannt und niedergedrückt, und Vance konnte sich immer noch an sein Aussehen und seine Worte erinnern. »Welche Regeln man auch festlegt, sie finden eine Möglichkeit, sie zu umgehen.« Damals war Vance fasziniert gewesen und hatte überlegt, ob es für ihn und sein Team als Aufhänger für eine Sendung dienen könne. Aber jetzt erfasste er erst richtig, was es bedeutete.

Natürlich waren die Wahlmöglichkeiten im Knast eingeschränkt, wenn es darum ging, Schwierigkeiten zu umgehen. Man war auf seine eigenen Fertigkeiten zurückgeworfen. Das gab Vance einen Vorsprung im Vergleich zu den meisten Mitgefangenen, denen nicht viel zur Verfügung stand, auf das sie zurückgreifen konnten. Aber die Eigenschaften, die ihn zum beliebtesten Moderator des britischen Fernsehens gemacht hatten, waren fürs Gefängnis sehr gut geeignet. Er war charismatisch, sah gut aus und hatte ein einnehmendes Wesen. Und weil er ein Weltklasse-Sportler gewesen war, bevor sein Unfall ihn schließlich zu seiner Karriere im Fernsehen führte, konnte er Anspruch darauf erheben, ein echter Mann zu sein. Dazu kam der George Cross Preis, der ihm verliehen worden war, weil er sein Leben riskiert hatte, um nach einer Massenkarambolage auf der nebligen Autobahn Kindern das Leben zu retten. Oder vielleicht sollte es ein Trost dafür sein, dass er bei dem Versuch, einen Fernfahrer aus seinem zerdrückten Fahrerhaus zu befreien, einen Arm verloren hatte. Wie auch immer, er glaubte jedenfalls nicht, dass es im Land einen zweiten Knacki gab, dem die höchste Auszeichnung für die heldenhafte Rettung von Mitmenschen verliehen worden war. Und all dies schlug für ihn auf der Plusseite zu Buche.

Das Herzstück seines Plans war ein einfaches Element, nämlich mit den Menschen Freundschaft zu schließen, die die Macht hatten, seine Welt zu verändern. Mit den Anführern, die die Gefangenen dominierten, mit den Wärtern, die festlegen, wer Vergünstigungen bekommt, mit dem Psychologen, der bestimmen würde, wie er seine Haftstrafe absaß. Und dabei würde er die ganze Zeit ein wachsames Auge haben müssen auf die Schlüsselfigur, die er brauchen würde, um den Coup zu landen.

Stein um Stein hatte er das Fundament für seine Flucht gelegt. Zum Beispiel der elektrische Rasierapparat. Absichtlich hatte er sich das Handgelenk verstaucht, damit er erklären konnte, es sei für einen Mann mit nur einem Arm unmöglich, sich anders zu rasieren. Dann war ihm das Gesetz zum Schutz der Menschenrechte entgegengekommen, das es ihm ermöglicht hatte, eine supermoderne Prothese zu bekommen. Weil das Geld, das er verdient hatte, bevor er als Serienmörder junger Mädchen entlarvt wurde, kein Ertrag aus kriminellen Aktivitäten war, konnten die Behörden es ihm nicht wegnehmen. Auf diese Weise bekam er einen künstlichen Arm allerbester Qualität, mit dem er Kontrolle über die Bewegung einzelner Finger hatte. Die synthetische Haut war so täuschend echt, dass Leute, die es nicht wussten, nicht glaubten, dass sie künstlich war. Wenn man nicht bewusst darauf achtete, bemerkte man es nicht. Man brauchte dafür schon ein sehr feines Auge.

Es hatte einen Augenblick gegeben, in dem er glaubte, all seine Arbeit sei umsonst gewesen. Aber umsonst im positiven Sinn. Zur Überraschung der meisten Leute hatte das Berufungsgericht schließlich das Urteil gegen ihn aufgehoben. Einen herrlichen Moment lang hatte er geglaubt, er werde als freier Mann in die Welt hinausgehen. Aber diese Scheißcops hatten ihm eine neuerliche Mordanklage hingeknallt, bevor er die Anklagebank verlassen konnte. Und die blieb an ihm hängen, wie er befürchtet hatte. Das hieß also, zurück in die Zelle und von vorn beginnen.

Geduldig zu sein und sich an den Plan zu halten war schwierig gewesen. Die Jahre waren langsam verstrichen, ohne dass sich viel tat. Aber er hatte schließlich auch früher schon allerhand durchgestanden. Die Erholung von dem schrecklichen Unfall, der ihn seiner Träume von einer olympischen Medaille und der Frau, die er liebte, beraubt hatte, das hatte ihm eine Willenskraft verliehen, die nur wenige besaßen. Das jahrelange Training, um seinen Spitzenplatz zu behaupten, hatte ihn gelehrt, wie wichtig Durchhalten ist. Heute Abend würde sich all dies auszahlen. Noch ein paar Stunden – und all das würde sich gelohnt haben. Jetzt waren nur noch die letzten Vorbereitungen zu treffen.

Und dann würde er ein paar Leuten eine Lektion erteilen, die sie nie vergessen würden.

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4

Es war schwierig, das Opfer zu sehen. Überall standen die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen herum. In Detective Superintendent Pete Reekies Augen war das aber nicht schlimm. Er war nicht empfindlich, denn er hatte im Lauf der Jahre viel Blut gesehen. Den Magen drehte ihm das schon lange nicht mehr um. Die Auswirkungen noch so brutaler Gewalt konnte er aushalten. Aber wenn er sich mit Perversität konfrontiert sah, tat er alles, um die Toten nicht so anschauen zu müssen, dass sich die zerstörten und entwürdigten Körper in sein Gedächtnis einbrannten. Detective Superintendent Reekie mochte es nicht, wenn ein Psychopath es schaffte, sich in seinem Kopf festzusetzen.

Es war schon schlimm genug, dass er von seinem Detective Inspector eine telefonische Zusammenfassung des Tatbestands hatte anhören müssen. Reekie war dabei gewesen, mit einer Dose Stella-Bier in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand vor seinem riesigen Flachbildschirm einen sehr gemütlichen Abend zu verbringen. Als sein Telefon klingelte, sah er gerade zu, wie sich Manchester United im Spiel gegen die eleganteren Rivalen in der Europameisterschaft an sein einziges Tor klammerte.

»Hier DI Spencer«, meldete sich der Anrufer. »Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss, Sir, aber wir haben hier einen schlimmen Fall, und ich dachte, Sie würden wahrscheinlich wollen, dass wir Sie informieren.«

Reekie hatte gleich, nachdem er die Leitung des nördlichen Bezirks von Bradfields Kriminalpolizei übernommen hatte, seinen Untergebenen klargemacht, dass er niemals durch einen Fall auf dem falschen Fuß erwischt werden wolle, den die Medien in einen publikumswirksamen Feldzug verwandeln konnten. Deshalb wurde er jetzt dummerweise fünfzehn Minuten vor dem Schlusspfiff von diesem wichtigen Spiel weggeholt. »Hat es nicht Zeit bis morgen?«, fragte Reekie, wobei er die Antwort schon wusste, bevor er die Frage richtig ausgesprochen hatte.

»Ich glaube, Sie sollten herkommen«, sagte Spencer. »Wieder eine Prostituierte, und mit der gleichen Tätowierung am Handgelenk, sagt der Doktor.«

»Sie meinen, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun?« Reekie gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu unterdrücken. Seit Hannibal Lecter wollte jeder verdammte Kripobeamte einen Serientäter fassen.

»Schwer zu sagen, Sir. Ich habe die ersten beiden nicht gesehen, aber der Arzt sagt, der Fall sieht genauso aus. Nur …«

»Reden Sie schon, Spencer.« Dabei stellte Reekie bereits bedauernd seine Bierdose auf den Beistelltisch neben seinem Sessel und drückte die Zigarre aus.

»Die Vorgehensweise … die ist, also … ziemlich abweichend im Vergleich zu den beiden anderen.«

Reekie seufzte, während er rückwärts aus dem Raum ging, mit den Gedanken noch halb bei dem trägen Mittelstürmer, der auf einen perfekt gezielten Pass zutrottete. »Was soll das heißen, verdammt noch mal, Spencer, ›ziemlich abweichend‹?«

»Sie ist gekreuzigt worden. Dann wurde das Kreuz umgedreht und ihre Kehle durchgeschnitten. In dieser Reihenfolge, laut Arzt.«

Spencer war relativ kurz angebunden. Reekie wusste nicht, ob Spencer selbst geschockt war oder damit seinen Chef nervös machen wollte. Es hatte jedenfalls bei Reekie die entsprechende Wirkung ausgelöst. Er spürte, wie ihm etwas Bitteres in die Kehle stieg und Alkohol und Rauch sich mit Galle vermischten.

Er wusste also schon, bevor er das Haus verließ, dass er sich dieses Opfer nicht genauer anschauen wollte. Jetzt stand Reekie mit dem Rücken zu dem schrecklichen Bild und hörte Spencer zu, der aus den schon gesammelten Informationsstückchen etwas Fassbares zu machen versuchte. Als Spencer der Stoff ausging, hakte Reekie ein. »Der Arzt ist sich also sicher, dass wir hier eine Reihe von drei Straftaten haben, die zusammengehören?«

»Soweit wir wissen. Ich meine, es könnten auch mehr sein.«

»Genau. Ein verdammter Alptraum. Ganz zu schweigen davon, was das für unser Budget bedeutet.« Reekie nahm die Schultern zurück. »Nichts für ungut, DI Spencer, aber ich glaube, das ist ein Fall für die Spezialisten.«

Er sah Spencers Augen an, dass er begriffen hatte. Es gab eine Möglichkeit für den Detective Inspector, sich endlose unbezahlte Überstunden und seinen Mitarbeitern den emotionalen Stress zu ersparen und sich die Medienmeute vom Hals zu halten. Spencer war kein Drückeberger, aber alle wussten, wie destruktiv sich solche Fälle auf die Gemüter auswirkten. Und wenn es Leute gab, die Lust hatten, sich mit derartigem Schmutz zu beschäftigen, war es ja auch nicht nötig. Außerdem gab es Vorschriften, die verlangten, dass solche Fälle abgegeben wurden.

Spencer nickte. »Ganz wie Sie meinen, Sir, ich kenne meine Grenzen.«

Reekie nickte und trat von den hellen Scheinwerfern und dem leisen Rascheln der Bewegungen am Tatort zurück. Er wusste genau, wen er anrufen musste.

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5

Detective Chief Inspector Carol Jordan zog die untere Schublade auf der linken Seite ihres Schreibtischs heraus. Das war der Preis, den sie zu zahlen hatte für den Entschluss, Bradfield den Rücken zu kehren. Am Monatsende würde ihr bewährtes Spezialistenteam in alle Winde verstreut werden, und sie würde ihren Platz verlassen. Bis dahin musste jede Schreibtischschublade, jeder Aktencontainer, jeder Schrank in ihrem Büro ausgeräumt werden. Persönliche Dinge würde sie mitnehmen – Fotos, Postkarten, Mitteilungen von Kollegen, aus Illustrierten und Zeitungen herausgerissene Cartoons, die Carol und ihre Kollegen amüsiert hatten. Die berufsbezogenen Unterlagen musste sie irgendwo bei der Bradfield Metropolitan Police zu den Akten geben. Auch gekritzelte Notizen, die ohne den Zusammenhang der Ermittlungen, zu denen sie gehörten, keinen Sinn ergaben. Und es würde jede Menge Futter für den Aktenvernichter geben, all die losen Zettel, die niemand je wieder zu sehen brauchte. Der Rest ihres Teams hatte bereits Feierabend gemacht, doch sie war geblieben, um endlich einen Anfang zu machen.

Sobald sie die Schublade geöffnet hatte, überkam sie Trübsinn. Sie war vollgestopft mit Unterlagen zu diversen Fällen, die wie geologische Schichten übereinanderlagen. Fälle, die schockierend, erschreckend, bewegend und verstörend gewesen waren. Fälle von einer Art, wie sie wahrscheinlich nie wieder welche erleben würde. So etwas sollte sie nicht in Angriff nehmen, ohne sich zu stärken. Carol drehte sich mit ihrem Stuhl und griff in den mittleren Aktenschrank mit seinem wohlvertrauten Inhalt. Sie nahm sich eine der kleinen Wodkaflaschen, die sie aus den Minibars in Hotelzimmern und bei Zugfahrten oder Businessflügen gesammelt hatte. Sie schüttete die letzten Tropfen Kaffee in den Papierkorb, wischte die Tasse mit einem Papiertuch aus und goss den Wodka hinein. Es sah nicht nach viel aus. Sie griff sich ein zweites Fläschchen und goss es hinzu. Immer noch schien es nicht genug. Carol kippte den Wodka runter, fand aber, dass man das kaum als Drink bezeichnen konnte. Also leerte sie zwei weitere Minifläschchen in die Tasse und stellte sie auf den Schreibtisch.

»Nur etwas, um daran zu nippen«, sagte Carol laut zu sich selbst. Sie hatte kein Alkoholproblem. Was immer Tony Hill denken mochte, sie hatte die Kontrolle über den Alkohol, nicht umgekehrt. Es hatte in der Vergangenheit Zeiten gegeben, da war sie nahe dran gewesen, aber die hatte sie hinter sich. Wenn man sich freute, dass zwei Drinks die Dinge erträglicher machten, stellte das doch kein Problem dar. Sie wurde dadurch nicht an der Erledigung ihrer Arbeit gehindert. Es wirkte sich nicht störend auf ihre privaten Beziehungen aus. »Welche auch immer das sein mögen«, murmelte sie und zog einen Bündel Schriftstücke aus der Schublade.

Sie hatte sich durch einen so großen Teil des Stapels durchgearbeitet, dass das Klingeln des Telefons ihr wie ein Rettungssignal vorkam. Auf dem Display war eine Polizeinummer zu sehen, aber sie kannte sie nicht. »DCI Jordan«, meldete sie sich, griff nach der Tasse und war überrascht, dass sie schon leer war.

»Detective Superintendent Reekie von der Northern Division«, antwortete eine rauhe Stimme.

Carol kannte Reekie nicht, aber es musste etwas Wichtiges sein, wenn jemand so weit oben auf der Hierarchieleiter so spät am Abend noch bei der Arbeit war. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Wir haben hier etwas, passt genau zu Ihrem Team, glaube ich«, teilte ihr Reekie mit. »Ich fand, es wäre am besten, Sie so bald wie möglich zu informieren. Solange der Tatort noch frisch ist.«

»Damit haben Sie durchaus recht«, sagte Carol. »Aber meine Gruppe wird aufgelöst, verstehen Sie.«

»Ich habe gehört, dass Sie Ihre Kündigung einreichen«, sagte Reekie. »Aber Sie sind doch noch aktiv, oder? Ich dachte, Sie würden sich vielleicht gern auf einen letzten speziellen Fall stürzen.«

Sie hätte es nicht so formuliert, aber sie wusste, was er meinte. Alle kannten den Unterschied zwischen den alltäglichen Fällen wie häusliche Gewalt und brutale Streitereien, die den Großteil der Todesfälle ausmachten, und den Delikten, bei denen sich erkennen ließ, dass eine abartige Psyche am Werk gewesen war. Fälle mit rätselhaften Elementen waren relativ selten. Deshalb fand sie, dass »speziell« kein besonders ungewöhnliches Wort war, um damit einen Mord zu umschreiben. »Geben Sie mir die Lagebeschreibung durch, ich werde, so bald ich kann, dort sein«, antwortete sie, legte die nicht durchgesehenen Papiere zurück und stieß mit dem Fuß die Schublade zu.

Ihr Blick fiel auf die leere Tasse. Genau genommen hatte sie zu viel Alkohol intus. Aber sie fühlte sich vollkommen in der Lage zu fahren, ein Spruch, den sie im Lauf ihres Berufslebens von Dutzenden widerspenstiger Betrunkener in Gewahrsamszellen gehört hatte. Andererseits zögerte sie, sich alleine zum Tatort aufzumachen. Wenn sie den Fall übernehmen würden, dann gab es Dinge, die gleich vor Ort in die Wege zu leiten waren, und dafür sollte sie nicht ihre Zeit und ihre Fähigkeiten verwenden müssen. In Gedanken ging sie ihre Einsatzgruppe durch. Einer ihrer zwei Sergeants, Chris Devine, hatte in letzter Zeit zu viele Stunden bis spätabends abgeleistet, um einen Fall für einen wichtigen Prozess vorzubereiten. Und Kevin Matthews feierte heute seinen Hochzeitstag. Reekie hatte nicht allzu besorgt geklungen, so dass es sich wahrscheinlich nicht lohnte, Kevin die seltene Gelegenheit zu verderben, mal einen Abend auszugehen. Damit blieben ihre Constables. Stacey Chen kam immer besser mit Technik als mit Menschen zurecht. Hinsichtlich Sam Evans war Carol nach wie vor der Meinung, dass ihm seine eigene Karriere wichtiger war als die Opfer, für die sie alle da sein sollten; damit blieb nur noch Paula McIntyre übrig. Während sie Paulas Nummer wählte, machte sich Carol klar, dass es sowieso immer auf Paula hinausgelaufen wäre.

 

Es war immer das Gleiche, dachte Paula. Fuhr man zu einem Tatort, wurde man von einem brennenden Adrenalinschub erfasst. Jedes Mal spürte sie den Nervenkitzel.

»Tut mir leid, dass ich dich rufen musste«, sagte Carol.

Das meinte sie zwar nicht wirklich ernst, dachte Paula, aber Carol hatte es stets geschafft, ihr Team zu überzeugen, dass ihr Engagement nicht als selbstverständlich angesehen wurde. Paulas Blick war konzentriert auf die Straße geheftet. Sie fuhr etwas zu schnell, doch das hatte sie im Griff. Niemand wollte als einer jener Polizisten im Gedächtnis bleiben, der vor lauter Hast, zu den Toten zu kommen, einen unschuldigen Verkehrsteilnehmer niedergemäht hatte. »Kein Problem, Chefin«, sagte sie. »Elinor hat Bereitschaftsdienst, wir hatten es uns nur daheim gemütlich gemacht. Haben Scrabble gespielt und was zu essen bestellt.« Carol war nicht die Einzige, die alle bei guter Laune halten wollte.

»Trotzdem …«

Paula grinste. »Ich war sowieso dabei zu verlieren. Was gibt es?«

»Reekie sprach von einem ungeschützten Apparat aus, deshalb ging er nicht ins Detail. Ich weiß nur, dass er denkt, es sei ein Fall für uns.«

»Das wird nicht mehr viel länger so sein«, warf Paula ein und war sich der Verbitterung und des Bedauerns in ihrer Stimme bewusst.

»Es wäre so gelaufen, egal ob ich geblieben wäre oder nicht.«

Paula war erschrocken. »Ich habe Ihnen damit keinen Vorwurf machen wollen, Chefin. Ich weiß, wer daran schuld ist.« Sie warf Carol einen kurzen Blick zu. »Ich wollte fragen …«

»Natürlich lege ich ein gutes Wort für dich ein.«

»Eigentlich hatte ich mir etwas mehr erhofft.« Paula holte tief Luft. Schon seit Tagen hatte sie versucht, den richtigen Moment zu finden, aber es war immer etwas dazwischengekommen. Wenn sie jetzt, da sie mit Carol allein war, die Gelegenheit nicht nutzte, wer weiß, wann es wieder eine geben würde? »Wenn ich mich bewerben würde, gäbe es da in West Mercia eine Stelle für mich?«

Carol hatte es kalt erwischt. »Ich weiß es nicht. Es kam mir nie der Gedanke, dass jemand …« Sie rutschte auf dem Sitz in eine andere Position, damit sie Paula besser betrachten konnte. »Es wird anders sein als hier, musst du wissen. Im Vergleich zu Bradfield kann man die Zahl der Tötungsdelikte dort vergessen. Es wird viel mehr routinemäßige Kripoarbeit geben.«

Paula verzog den Mund zu einem Lächeln. »Damit könnte ich leben. Ich glaub, ich hab meinen Teil an der Front und mit harten Fällen abgeleistet.«

»Dagegen lässt sich nichts einwenden. Wenn du das willst, werde ich mein Bestes tun, damit es klappt«, erwiderte Carol. »Aber ich dachte, du wärst hier ganz gut etabliert. Mit Elinor?«

»Elinor ist nicht das Problem. Na ja, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie Sie es meinen. Die Sache ist, sie möchte den nächsten Karriereschritt machen und hat von einer guten Stelle in Birmingham gehört. Und niemand, der halbwegs vernünftig ist, würde von Bradfield nach Birmingham pendeln. Deshalb …« Paula bremste leicht, als sie sich einer Kreuzung näherten, und schaute nach rechts und links, bevor sie hinüberflitzte. »Wenn sie das tut, muss ich mir was überlegen. Und wenn Sie nach West Mercia gehen, dachte ich, könnte ich doch meine Beziehungen nutzen.« Sie warf Carol einen Blick zu und grinste.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, antwortete Carol. »Ich hätte niemanden lieber in meinem Team als dich«, fügte sie hinzu und meinte es ehrlich.

»Mit dem Sergeant, mit dem wir bei den RigMarole-Morden zusammengearbeitet haben, kam ich wirklich sehr gut klar«, fuhr Paula fort. »Alvin Ambrose, mit dem würde ich gern wieder zusammenarbeiten.«

Carol seufzte: »Ja, Paula, ich weiß. Es ist nicht nötig, noch weiter Druck zu machen. Aber es hängt letztendlich vielleicht nicht von mir ab. Du weißt ja, wie es zurzeit ist, die Kürzungen betreffen auch die Leute in vorderster Front.«

»Ich weiß. Tut mir leid, Chefin.« Sie blickte stirnrunzelnd auf das Navi und bog zögernd links in ein kleines Gewerbegebiet ein, wo Lagerhäuser aus vorgefertigten Teilen mit ihren leicht abfallenden Dächern die gekrümmte Straße säumten. Als sie die letzte Windung hinter sich hatten, wusste Paula, dass sie den Zielort erreicht haben mussten. Mehrere Polizeiwagen und Fahrzeuge von der Spurensicherung standen auf dem Gelände des letzten Lagerhauses; das Blaulicht hatte man abgeschaltet, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Aber es konnte kein Zweifel bestehen, denn die flatternden Bänder der Polizeiabsperrung liefen um das ganze Gebäude herum. Paula hielt an, stellte den Motor ab und straffte die Schultern. »Jetzt übernehmen wir.«

 

Bei solchen Gelegenheiten wurde Carol immer schmerzlich bewusst, dass es, egal wie gut sie in ihrem Beruf war, doch nie genügen würde. Immer erst nach dem Verhängnis einzutreffen, das wurde für sie immer schwieriger zu ertragen, je länger sie diese Arbeit machte. Sie wünschte, Tony wäre bei ihr, und nicht nur, weil er den Tatort auf eine andere Weise als sie interpretieren könnte. Er hatte Verständnis für ihren Wunsch, Vorfälle wie diesen zu verhindern, Ereignisse, die das Leben der Menschen in Stücke rissen und sie mit tiefen Löchern im täglichen Leben allein ließen. Carol sehnte sich nach Gerechtigkeit, fand aber, dass diese sich zurzeit recht rarmachte.

Detective Superintendent Reekie hatte nicht viel gesagt, und sie war froh darüber. Manche Dinge gingen über Worte hinaus, und zu viele Cops versuchten, den Horror durch Geplapper fernzuhalten. Aber bei einem solchen Anblick konnte nichts Distanz schaffen.

Die Frau war nackt. Carol konnte mehrere oberflächliche Schnitte auf ihrer Haut erkennen und fragte sich, ob der Mörder ihre Kleidung abgeschnitten hatte. Sie würde den Fotografen von der Spurensicherung bitten, Aufnahmen davon zu machen, damit man sie vergleichen konnte, wenn die Kleider gefunden wurden.

Der Frauenkörper war mit starken Nägeln durch die Hand- und Fußgelenke an ein Kreuz geschlagen. Carol zuckte zusammen bei dem Gedanken, wie sich das angehört haben musste, der Hammer, der auf die Nägel traf, das Knirschen der Knochen, der Todesschrei, der von den metallenen Wänden zurückgeworfen wurde. Dann war das Kreuz verkehrt herum an der Wand aufgerichtet worden; das blond gefärbte Haar, dessen Ansatz an der Stirn eine dunkle Linie bildete, fiel herab und berührte den grobkörnigen Zementboden.

Aber es war nicht die Kreuzigung, die sie getötet hatte. Carol sagte sich, dass man den grausamen Schnitt, mit dem die Kehle aufgeschlitzt wurde, als eine Art Gnadenstoß ansehen musste, allerdings von der Art, die sie hoffte, nie selbst zu benötigen. Der Schnitt war so tief, dass er die großen Blutgefäße durchtrennt hatte. Durch den Druck in den Arterien hatte das Blut eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, die Spritzer waren überall auf dem Boden zu sehen, außer an einer Stelle. »Dort hat er gestanden«, sagte sie. »Er muss von oben bis unten voller Blut gewesen sein.«

»Er muss verdammt stark sein«, vermutete Paula. »Ein Holzkreuz mit einem Menschen dran zu bewegen, das ist Schwerstarbeit. Ich glaube nicht, dass ich das könnte.«

Die in einem weißen Schutzanzug steckende Gestalt neben der Leiche drehte sich um. Seine Worte waren durch die Maske leicht gedämpft, aber Carol hörte ihn gut. Sie erkannte den kanadischen Akzent des Gerichtsmediziners Grisha Shatalov vom Innenministerium. »Die Balken sind nur acht auf zwölf Zentimeter. Und sie wiegt fast gar nichts. Ich würde sagen, eine klassische Junkiefigur, nur gibt es keine Anzeichen von Einstichen. Ich wette, Sie könnten sie aufheben und ohne allzu viel Anstrengung hinschleppen, DC McIntyre.«

»Wie lange ist sie schon tot, Grisha?«, fragte Carol.

»Sie stellen mir nie die Fragen, auf die ich eine Antwort weiß«, sagte er scherzhaft, klang aber erschöpft. »Bis jetzt kann ich nur annehmen, dass sie seit ungefähr vierundzwanzig Stunden tot sein muss.«

»Die Halle steht schon seit vier Monaten leer«, berichtete Reekie. »Der Mann vom Sicherheitsdienst hatte nicht bemerkt, dass die Tür am Hintereingang aufgebrochen worden war.« Er versuchte nicht, seine Verachtung zu verbergen.

»Wie wurde sie gefunden?«, fragte Carol.

»Das Übliche. Ein Mann ging spätabends noch mal mit seinem Hund raus. Der Hund lief schnurstracks zur hinteren Tür. Er muss das Blut gerochen haben.« Reekie rümpfte die Nase. »Das überrascht ja nicht gerade. Sein Herrchen sagt, der Hund sprang gegen die Tür, da ging sie auf, der Hund verschwand im Gebäude und kam nicht zurück, als er ihn rief. Also ging er mit der Taschenlampe rein. Kaum hatte er einen Blick auf all das geworfen, rief er uns auch schon an.« Er ließ ein freudloses Lachen hören. »Wenigstens war er so vernünftig, den Hund festzuhalten, bevor der den Tatort völlig ruinierte.«

»Aber Dr. Shatalov glaubt, dass sie gestern Abend getötet wurde. Wieso hat der Hund sie da nicht gefunden?«

Reekie blickte zu seinem Detective Inspector. Bis jetzt hatte der geschwiegen, wusste aber, was von ihm erwartet wurde. »Laut Hundebesitzer haben sie gestern Abend einen anderen Weg genommen. Natürlich werden wir das überprüfen.«

»Dem, der die Leiche entdeckt, sollte man niemals trauen«, sagte Reekie.

Als wüssten wir das nicht. Carol musterte die Leiche, nahm jede Einzelheit wahr und fragte sich, welche Umstände diese junge Frau hierhergebracht hatten. »Identität?«, fragte sie.

»Bis jetzt nicht«, antwortete Spencer. »Wir haben draußen Richtung Flughafen ein Problem mit Straßenprostitution. Hauptsächlich Frauen aus Osteuropa. Wahrscheinlich ist sie von dort.«

»Oder er brachte sie von der Stadt hier heraus. Von Temple Fields«, warf Paula ein.

»Die beiden Ersten waren aus der Umgebung«, sagte Reekie.

»Na ja, hoffen wir, dass Grisha ihr ein so menschliches Aussehen geben kann, dass sie auf einem Foto zu erkennen ist«, meinte Carol. »Sie sagten ›die ersten zwei‹, Sir. Sind Sie sicher, dass es sich hier um eine Serie handelt?«

Reekie wandte sich wieder der Leiche zu. »Zeigen Sie es ihr, Doc.«

Grisha deutete auf etwas an der Innenseite des Handgelenks der Frau, das wie eine Tätowierung aussah. Es war zum Teil mit Blut beschmiert, aber Carol konnte trotzdem die Buchstaben MEINE erkennen. Eine Botschaft, die widerwärtig, krank und unverschämt war. Und doch flüsterte eine teuflische Stimme in Carols Hinterkopf: »Mach das meiste draus. Wenn du nach West Mercia gehst, wirst du nie wieder einen so interessanten Fall bekommen.«

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6

Trotz der verschwindend geringen Chancen hatte sich Vance durch Jahre scheinbar vorbildlichen Verhaltens einen Platz in der therapeutischen Gemeinschaft im HMP Oakworth mitten in der Pampa von Worcestershire erarbeitet. Das Licht musste in diesem separaten Gefängnistrakt nicht zu einer bestimmten Zeit gelöscht werden. Die Insassen konnten die Lampen aus- und einschalten, wann sie wollten. Und die winzige Nasszelle bot ihm eine Intimsphäre, von der er fast vergessen hatte, dass es so etwas gab. Vance löschte das Licht, ließ aber den Fernseher an, damit er nicht in völliger Dunkelheit hantieren musste. Er breitete eine Zeitung auf dem Tisch aus und schnitt dann sorgfältig mit einer Rasierklinge sein Haar ab. Als es kurz genug war, fuhr er sich mit dem elektrischen Rasierapparat über den Schädel, vor und zurück, bis er so glatt wie möglich war. Wegen seiner vom Aufenthalt im Knast sehr blassen Haut würde man keinen Unterschied zwischen der Farbe der frisch geschorenen Kopfhaut und seines Gesichts erkennen. Als Nächstes nahm er seinen Vollbart ab, den er sich in den letzten Wochen hatte wachsen lassen, und ließ nur einen Kinnbart und einen Schnurrbart stehen. Im Lauf der letzten Jahre hatte er seine Haartracht dramatisch verändert, vom Vollbart zum glattrasierten Gesicht, vom Kinnbart zum Schnauzer, damit niemand es beachten würde, wenn er die letzten entscheidenden Veränderungen vornahm.

Der wichtigste Teil seiner Verwandlung lag noch vor ihm. Vom Bücherregal über dem Tisch nahm er ein großformatiges Buch herunter, eine limitierte Auflage mit Lithographien moderner russischer Maler. Weder Vance noch der Bewohner, der sonst in dieser Zelle lebte, hatte Interesse an Kunst; was dieses Buch wertvoll machte, war das schwere Papier, das solch dicke Seiten ergab, dass man sie aufschlitzen und dünne Plastikbögen mit Abzieh-Tattoos dazwischen verstecken konnte.

Die Abziehmotive waren penibel genau nach Fotos hergestellt, die Vance mit seinem eingeschmuggelten Smartphone aufgenommen hatte. Sie imitierten in allen Einzelheiten die aufwendige und geschmacklose Körperkunst auf Armen und Nacken von Jason Collins, dem Mann, der im Moment in Vance’ Bett schlief. Denn Vance war heute Abend nicht in seiner Zelle. Sein Ablenkungsmanöver hatte perfekt funktioniert.

Ein Foto von Damon Todds Frau, die sich in irgendeinem Nachtclub an Cash Costellos Bruder schmiegte, war die einzige Währung gewesen, die er gebraucht hatte. Vance hatte es wie nebenbei auf den Pingpongtisch fallen lassen, als er abends während der Freizeitphase dort vorbeikam. Wie zu erwarten und geplant, hatte es jemand aufgehoben und sofort die Bedeutung erfasst. Es folgten Pfiffe und höhnische Bemerkungen, und es war unabwendbar, dass Todd ausrastete und sich auf Costello stürzte. Das würde das Ende ihrer Zeit in der therapeutischen Gemeinschaft sein, all das gute Benehmen war durch einen unbezwinglichen Zornesausbruch ausgelöscht. Vance war das egal. Kollateralschäden hatten ihm noch nie etwas ausgemacht.

Das einzig Wichtige war, dass das Durcheinander lange genug die Aufmerksamkeit der Vollzugsbeamten in Anspruch nahm, damit Vance und Collins sich in die falschen Zellen begeben konnten. Bis sich die Lage beruhigt hatte und die Wärter ihre letzte Runde machten, hatten beide Männer das Licht ausgeschaltet und taten, als schliefen sie fest. Es gab keinen Grund zu bezweifeln, dass jeder da war, wo er hingehörte.

Vance stand auf und ließ kaltes Wasser ins Waschbecken. Er riss die erste präparierte Seite heraus und löste die zwei Blätter Papier von der Plastikfolie ab. Dann tauchte er die dünne Folie ins Wasser, und als das Tattoo-Motiv sich zu lösen begann, trug er es sorgfältig auf seine Prothese auf. Es dauerte recht lange, war aber bei weitem nicht so schwierig wie das Aufbringen auf den anderen Arm. Ja, diese neuen künstlichen Gliedmaßen waren bemerkenswert. Aber was sie tun konnten, war doch noch weit entfernt von der Feinmotorik eines lebendigen Arms. Und alles hing doch davon ab, dass er jede Einzelheit genau richtig hinbekam.

Als er fertig war, standen ihm Schweißperlen auf dem Schädel, und feine Rinnsale liefen an seinem Rücken herunter. Er hatte sein Bestes getan. Bei einem gründlichen Vergleich mit Collins wäre es leicht, die echten von den falschen Tattoos zu unterscheiden, aber das würde nicht geschehen, wenn nicht alles schrecklich schiefging. Vance nahm die Nachbildung von Collins’ Brille, die sein Helfer draußen hatte anfertigen lassen, und setzte sie auf. Die Welt schwankte und verschwamm, aber nicht so sehr, dass er nicht damit fertig werden konnte. Die Gläser waren lange nicht so stark wie Collins’ eigene, aber eine flüchtige Überprüfung würde zeigen, dass es kein Fensterglas war. Die Einzelheiten, darauf kam es an.

Er schloss die Augen und rief sich den Klang von Collins’ näselndem Midlands-Akzent ins Gedächtnis. Das war für Vance der schwierigste Teil der Umwandlung. Er war noch nie ein besonders begabter Imitator gewesen. Denn er hatte immer gefunden, es genüge, er selbst zu sein. Aber dieses eine Mal würde er sich in der Stimme eines anderen verlieren müssen. Er würde versuchen, so wenig wie möglich zu sprechen, aber er musste darauf vorbereitet sein, eine Antwort in seiner gewöhnlichen vollen Stimme zu vermeiden. Er erinnerte sich an die Szene in Gesprengte Ketten, in der der Gefangene, den Gordon Jackson spielt, sich mit einer automatischen Antwort verrät, als er auf Englisch angesprochen wird. Vance würde es besser machen müssen. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu entspannen, keinen Augenblick. Nicht, bis er frei und in Sicherheit war.

Es hatte Jahre gedauert, so weit zu kommen. Zunächst hatte er es schaffen müssen, überhaupt in die therapeutische Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Dann hatte er jemanden finden müssen, der ungefähr die gleiche Größe und Gestalt hatte und dem Vance etwas bieten konnte, was er dringend brauchte. Seit dem ersten Tag, an dem der unheimliche kleine Brandstifter in die Gruppentherapie gekommen war, hatte er Jason Collins im Visier. Collins war ein Auftragskrimineller, er brannte gegen Bezahlung Betriebe ab. Aber Vance brauchte keinen Psychologen, der ihm sagte, dass Collins’ Motive dunkler und tiefgründiger waren. Dass er überhaupt in der Gruppe war, bewies es.

Vance hatte sich mit Collins angefreundet, hatte erkannt, dass er litt, weil er sein Familienleben eingebüßt hatte, und begann, die Hoffnung auf gewisse Chancen zu wecken. Was Vance’ Geld alles für Collins’ drei Kinder und für seine Frau tun könnte. Lange hatte Vance das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Die entscheidende Hürde war, dass Collins sich durch Vance’ Unterstützung weitere Jahre zu seiner schon bestehenden Strafe einhandeln würde.

Doch dann wurde über Collins eine andere Art von Urteilsspruch verhängt. Leukämie. Die Variante, bei der man nur eine vierzigprozentige Chance hat, fünf Jahre nach der Diagnose noch am Leben zu sein. Und das hieß, dass er wahrscheinlich niemals eine zweite Chance bekommen würde, seinen Kindern oder seiner Frau eine Zukunft zu geben. Selbst wenn sein Strafmaß drastisch verkürzt würde, käme Collins nur nach Haus, um zu sterben. »Sie würden dich doch auf jeden Fall heimgehen lassen, wenn du so nah dran wärst am eigenen Tod«, hatte Vance ihm erklärt. »Schau mal, was mit dem Lockerbie-Bomber passiert ist.« Damit schien er auf merkwürdige, geradezu perverse Weise die Möglichkeit zu haben, alles gleichzeitig zu bekommen. Collins konnte Vance helfen zu entkommen, und es würde keine Rolle spielen; wenn er krank genug war, würde man ihn trotzdem freilassen. So oder so würde er sein Lebensende bei seiner Familie verbringen. Und wenn sie es so machten, wie Vance sich das vorstellte, würden sich seine Frau und Kinder niemals mehr um Geld Gedanken machen müssen.

Vance hatte alle Überzeugungskraft gebraucht und mehr Geduld, als er sich zugetraut hatte, um Collins von seinem Standpunkt zu überzeugen. »Das Schöne und Nette habt ihr alle aus eurem Leben verbannt«, hatte sein Psychologe einmal gesagt. Das hatte Vance einen starken Ansatzpunkt gegeben, und schließlich schaffte er es. Collins’ ältester Sohn sollte die beste Privatschule in Warwickshire besuchen, und Jacko Vance war kurz davor, das Gefängnis zu verlassen.

Vance räumte alles auf, riss das durchweichte Papier in kleine Fetzen und spülte es zusammen mit dem Haar, das er in dünne Bündel Toilettenpapier gewickelt hatte, durchs Klo hinunter. Die Plastikfolie knüllte er zu kleinen Bällchen zusammen und klemmte sie zwischen Tisch und Wand. Als es nichts mehr zu tun gab, legte er sich endlich auf das schmale Bett. Die Luft kühlte den Schweiß auf seiner Haut, er fröstelte und zog die Decke hoch.

Alles würde gutgehen. Morgen würde der Wärter kommen und Jason Collins abholen, der seinen ersten Tag Freigang bekommen sollte. Jeder Gefangene der therapeutischen Gemeinschaft träumte von diesem Resozialisierungsprogramm, von dem Augenblick, an dem er durch das Gefängnistor hinausgehen und einen Tag in einer Fabrik oder einem Büro verbringen würde. Wie verdammt armselig, dachte Vance. Die Therapie schränkte die Vorstellung eines Menschen derart ein, dass ein Tag banaler Plackerei etwas war, nach dem man sich sehnte. Er hatte sich ganz schön verstellen müssen, um seine Verachtung für dieses System zu verbergen. Aber er hatte es geschafft, denn er wusste, dies war der Schlüssel zu seiner Rückkehr ins Leben außerhalb der Gefängnismauern.

Denn nicht jedes Mitglied der therapeutischen Gemeinschaft bekam die Erlaubnis, den Knast zu verlassen. Was Vance und eine Handvoll anderer betraf, würde das immer ein zu hohes Risiko bedeuten. Obwohl er die dumme Schlampe von einer Psychologin überzeugt hatte, dass er sich gewandelt hatte und nicht mehr der Mann war, der den äußerst verstörenden Mord begangen hatte, für den er verurteilt wurde. Ganz zu schweigen von all den Morden an weiteren Teenagern, an deren Tod er offiziell unschuldig war, da man ihm ihre Ermordung nie hatte nachweisen können. Aber trotzdem wollte kein Innenminister es riskieren, als Verantwortlicher für Jacko Vance’ Entlassung in Erinnerung zu bleiben. Es spielte keine Rolle, welches Strafmaß der Richter für ihn festgelegt hatte: Vance wusste, es würde für ihn niemals eine legale Rückkehr in die Gesellschaft geben. Er musste zugeben, dass er, wenn er selbst das Sagen hätte, auch nicht anders entscheiden würde. Aber schließlich wusste er auch genau, wozu er fähig war. Die Behörden dagegen konnten nur Vermutungen anstellen.

Vance lächelte in der Dunkelheit. Sehr bald, so plante er, würde er die Ungewissheit aus dieser Gleichung entfernen.

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7

Der Streifenwagen bog, von Carol dirigiert, langsam in die Straße ein. »Das dritte Haus links«, seufzte sie müde. Sie hatte Paula am Tatort zurückgelassen, damit sie sich darum kümmerte, dass alles nach Carols Wünschen abgewickelt wurde. Carol hatte kein Problem damit zu delegieren, jedenfalls nicht bei einer handverlesenen Gruppe wie ihrer. Sie fragte sich, ob ihr in Worcester der gleiche Luxus zur Verfügung stehen würde.

»Ma’am?« Der Fahrer, ein behäbiger Verkehrspolizist Mitte zwanzig, klang, als wolle er sie warnen.

Carols Aufmerksamkeit war geweckt. »Ja? Was ist los?«

»Vor dem dritten Haus auf der linken Seite sitzt ein Mann in einem geparkten Wagen. Sieht aus, als hätte er den Kopf aufs Steuerrad gelegt«, fügte er hinzu. »Soll ich die Nummer überprüfen?«

Als sie auf gleicher Höhe waren, blickte Carol aus dem Fenster und war überrascht, aber nicht schockiert, Tony zu sehen, der, wie der Constable gesagt hatte, den Kopf auf die Arme gestützt, auf dem Steuerrad lag. »Sie brauchen den Computer nicht zu bemühen«, sagte sie. »Ich weiß, wer das ist.«

»Soll ich mal mit ihm sprechen?«

Carol lächelte. »Danke, aber das ist nicht nötig. Er ist vollkommen harmlos.« Genau genommen stimmte das nicht ganz, aber innerhalb der strikten Richtlinien eines Verkehrspolizisten war es ziemlich nah dran.

»Dann überlasse ich das Ihnen«, sagte er und stoppte vor Tonys Wagen. »Gute Nacht, Ma’am.«

»Gute Nacht. Sie brauchen nicht zu warten, das geht schon.« Carol stieg aus und ging zu Tonys Auto zurück. Sie wartete, bis der Polizeiwagen abgefahren war, dann öffnete sie die Beifahrertür und stieg ein. Beim Klicken der sich schließenden Tür riss Tony den Kopf hoch und rang nach Luft, als sei er geschlagen worden.

»Was verdammt …«, stieß er erschrocken und verwirrt hervor. Er drehte den Kopf ruckweise hin und her, als versuche er, seine Umgebung irgendwie zuzuordnen. »Carol? Was …?«

Sie klopfte ihm leicht auf den Arm. »Du bist vor dem Haus in Bradfield. Hast geschlafen. Ich bin von der Arbeit gekommen und habe dich gesehen. Ich dachte, dass du vielleicht nicht geplant hattest, die ganze Nacht draußen im Wagen zu verbringen.«

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als hätte er es mit Wasser bespritzt, und wandte sich ihr dann mit immer noch erschrocken aufgerissenen Augen zu. »Ich habe mir einen Podcast angehört. Die fabelhafte Dr. Gwen Adshead von Broadmoor sprach darüber, wie man mit unseren unmöglichen Patienten umgehen sollte. Ich kam zu Haus an, sie redete immer noch, und ich wollte es zu Ende hören. Ich kann’s nicht fassen, dass ich eingeschlafen bin, denn ich habe schon lange nichts so Vernünftiges mehr gehört.« Er gähnte und schüttelte sich. »Wie spät ist es?«

»Kurz nach drei.«

»Mein Gott. Ich kam gleich nach Mitternacht hier an.« Er fröstelte. »Mir ist elend kalt.«

»Das wundert mich nicht.« Carol öffnete die Tür. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich geh jetzt rein.«

Tony stieg eilig auf seiner Seite aus und holte sie am Tor wieder ein. »Wieso kommst du erst nach drei nach Haus? Willst du was trinken? Ich bin jetzt hellwach.«

Er konnte sich wie ein kleines Kind benehmen, dachte sie. Aus heiterem Himmel meldeten sich plötzlich sein Eifer und seine Neugier. »Ich komm noch auf’n Schlaftrunk mit rein«, sagte sie und folgte ihm zur Haustür, statt zur Seitentür zu gehen, die zu ihrer separaten Souterrainwohnung führte.