Vergiss mein nicht - David Sieveking - E-Book

Vergiss mein nicht E-Book

David Sieveking

4,9

Beschreibung

Ein mutiges und schmerzhaftes Buch. Zärtlich und realistisch - und immer wieder von entwaffnender Komik. David Sieveking erzählt die bewegende Geschichte seiner an Alzheimer erkrankten Mutter und entdeckt dabei auch die Liebesgeschichte seiner Eltern neu. Eine Erzählung, die den Umgang mit dem Sterben nicht ausspart - und gerade deshalb voller Leben steckt. Das Taschenbuch zum international gefeierten Dokumentarfilm.

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Seitenzahl: 315

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David Sieveking

Vergiss mein nicht

Wie meine Mutterihr Gedächtnis verlorund ich meine Elternneu entdeckte

Impressum

Einige Namen wurden aus personenrechtlichen Gründen geändert.

Foto S. 4 © Adrian Stähli; S. 6 privat

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

Umschlagfoto: © Malte Sieveking

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

ISBN (E-Book) 978-3-451-34737-5

ISBN (Buch) 978-3-451-32574-8

Gewidmet meiner Mutter

Gretel Sieveking

(geb. Margarete Schaumann)

Inhalt

Kapitel 1     Kinderfragen

Kapitel 2     Film ohne Ende

Kapitel 3     Die letzte Lasagne

Kapitel 4     Delirium

Kapitel 5     Leichte kognitive Beeinträchtigung

Kapitel 6     Hoffnungsanker Depression

Kapitel 7     Vergessen zu vergessen

Kapitel 8     Bitte nicht totmachen!

Kapitel 9     Aspiration

Kapitel 10   Im kranken Haus

Kapitel 11   Irrtum zweiter Klasse

Kapitel 12   Die Mächte des Lichts

Kapitel 13   Bauchgefühl und Magensonde

Kapitel 14   Der letzte Reigen

Kapitel 15   Die Amsel

Meine Eltern

kurz nach ihrer Hochzeit 1966 in Hamburg

Kapitel 1

Kinderfragen

Ich kann es kaum fassen: Meine Mutter läuft wieder! Mit wallendem weißen Haar kommt sie schnell auf mich zu, vor sich her schiebt sie eine Gehhilfe auf Rädern.

»Hallo Gretel«, spreche ich sie an.

»Nein, wieso«, antwortet sie verwundert, »ich bin nicht hier.« Sie streckt mir die Zunge heraus und sieht für einen kurzen Moment aus wie Albert Einstein auf dem berühmten Foto mit der Grimasse. Ohne mir Beachtung zu schenken, schiebt sie den Rollator an mir vorbei.

»Wo gehst du denn hin?«

»Zum Wichtigsten.«

Zum Wichtigsten? Meint sie meinen Vater? Zielstrebig steuert sie auf eine breite Treppe zu, die sich in einer weiten Biegung in die Tiefe windet und deren Ende nicht abzusehen ist. Meine Freude, dass sie ohne Rollstuhl auskommt, verfliegt, als sie beginnt, die Gehhilfe vor sich her die Treppe hinunterzustoßen.

»Warte, Gretel!«, rufe ich und renne ihr nach. Doch schon rollert sie mitsamt dem Gerät die Treppe hinab: Klank, klank, klank. Es sieht halsbrecherisch aus. Ich nehme mehrere Stufen gleichzeitig, doch ihr Vorsprung bleibt. Plötzlich sehe ich ein kleines Kind, das allein ist und versucht, auf das Geländer der Treppe zu klettern. Vielleicht ist es ein, zwei, drei Jahre alt und es scheint noch nicht allzu sicher auf den Beinen. Ich zögere einen Moment: Soll ich meiner Mutter folgen oder mich um das Kind kümmern? Hastig wende ich mich dem Treppengeländer zu, an dem sich das Kleine mittlerweile emporgezogen hat. Als ich fast bei ihm bin, wendet es sich erschrocken um, und ich versuche, es festzuhalten. Doch das Kind weicht zurück, verliert den Halt und fällt hintenüber. Ich stürze zum Geländer vor, versuche verzweifelt nach ihm zu greifen, aber es ist zu spät. Ein dumpfer Aufprall ist zu hören. Der kleine Körper liegt regungslos unten am Boden.

Mir ist schwindelig, ich fühle mich schuldig.

Dann wache ich auf und es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass ich geträumt habe, dass kein Kind zu Tode gefallen ist. Ich liege in meiner Wohnung in Berlin-Kreuzberg, Schneeflocken fallen auf die Dachfenster über mir und verwandeln sich auf der Scheibe in Tropfen. Ich habe Tränen in den Augen.

Leider kann meine Mutter nur noch im Traum laufen. Seit ihrem Sturz vor gut einem Monat hält sie sich nicht mehr gut auf den Beinen, zu Weihnachten saß sie im Rollstuhl. Nur manchmal macht sie jetzt noch ein paar Schritte mit einer Gehhilfe. Meinen Vater nennt sie wie im Traum ihren »Wichtigsten«. Auch mich hat sie früher ab und zu so genannt, aber mittlerweile ist es bei unseren Begegnungen oft so, als würde sie mich übersehen. Ich spiele keine große Rolle mehr für sie. Natürlich liegt das auch daran, dass ich mich in letzter Zeit kaum habe blicken lassen.

Eigentlich ist meine Mutter Gretel bei meinem Vater und der Pflegerin, die mittlerweile bei meinen Eltern wohnt, in guten Händen. Aber seit sich ihre Verfassung in der Zeit zwischen den Jahren so verschlechtert hat, kriege ich bei jedem Anruf von zu Hause einen Schrecken.

»Wir müssen alle einmal sterben«, sagte mein Vater neulich düster am Telefon, »aber Gretel ist die Nächste. Sie hat den Fernseher abgeschaltet.« Als ich das hörte, verstand ich zuerst nicht und dachte: ›Na, wenn sie es noch schafft, selbstständig den Fernseher abzuschalten, kann es ja nicht so schlimm sein!‹ Erst im Laufe des Gesprächs begriff ich, dass mein Vater das Bewusstsein meiner Mutter gemeint hatte. In einem ihrer wachen Momente sagte sie meinem Vater vor Kurzem: »Wenn ihr nicht mehr da seid, bin ich tot.«

Mein Traum hinterlässt bei mir das Gefühl, etwas versäumt zu haben und für etwas Schreckliches verantwortlich zu sein. Was hat das Kind zu bedeuten, das vom Geländer stürzte? Bevor meine Mutter ihr Gedächtnis verlor, hatte sie mich nie direkt auf Kinder angesprochen. Ich bin ihr Jüngster und als einziger unter meinen Geschwistern noch kinderlos. Als sie vor zwei Jahren schon große Teile ihres Sprachvermögens eingebüßt hatte und völlig desorientiert in den Tag hinein lebte, wurde das Thema plötzlich ganz zentral.

»Wie geht’s dir, Gretel?«, fragte ich sie eines Morgens.

»Du bist da! Dieses, dass du da bist, das find’ ich sehr angenehm. Aber sonst – also ich hab’ keine Tiere und keine kleinen Kinder, mit denen ich was machen kann. Ich geh’ mit denen auch gerne mal ein bisschen rum, wenn die das auch gerne machen, gell. Und du?«

»Ich? Na, ich hab’ halt noch gar keine Kinder«, antwortete ich zögernd.

»Du hast keine Kinder, behauptest du! Und ich denk’ immer, du kriegst andauernd Kinder.«

Ich musste lachen: »Wieso glaubst du, dass ich andauernd Kinder bekomme?«

Doch Gretel schien keine Zweifel zu haben: »Die haben es relativ gut, finde ich. Findest du nicht auch?«

»Ich habe wirklich kein einziges Kind.«

»Oh, wieso? Man hat doch meistens schon Kinder gehabt!« Ähnlich schwierig, wie sie von meiner Kinderlosigkeit zu überzeugen, war es, ihr unser verwandtschaftliches Verhältnis klarzumachen.

»Wer bist denn du?«

»Ich bin dein Sohn.«

»Mein Sohn?« Sie blickte mich erstaunt an.

»Ja, und du bist meine Mutter.«

»Das wäre schön«, seufzte sie sehnsüchtig.

»Aber es stimmt, Gretel! Ich bin dein Kind. Du hast mich geboren.«

»Ich? Dich? Du bist doch viel zu groß!«

»Bei meiner Geburt war ich natürlich viel kleiner!«

Doch sie blieb skeptisch. »Und wie alt bist du?«

»Zweiunddreißig.«

»Und wo sind deine Kinder?«

»Ich habe noch keine Kinder.«

»Nicht? Und ich wollte schon sagen, schau mal nach deinen Kindern. Die hätten dich nämlich bestimmt sehr gerne. Aber du weißt ja vielleicht, was man dafür machen müsste, wie man das anstellen könnte.«

Oft kamen mir die Tränen bei dem Gedanken daran, dass ich meine Mutter wohl nicht mehr mit Enkelkindern würde beglücken können, und dass meine Kinder sie wahrscheinlich nicht mehr erleben würden.

»Du hast probiert, es zu schaffen, gell?«, fragte sie mich eines Abends augenzwinkernd.

»Was meinst du?«

»Das ist gar nicht so leicht. Da muss man halt ein bisschen warten, bis es soweit ist, dass man das hinkriegt. Wenn es einem überhaupt gefällt, welche zu kriegen.«

»Ach so! Du meinst Kinder?«

»Ja, das glaub’ ich. Also, jetzt im Moment hast du keine Kinder. Da direkt auf der Nase hast du gerade keine, aber du könntest sie eigentlich da auch haben. Dann bräuchtest du nur deine Zähne ein bisschen vorzeigen und die Augen dazu, dann ist ja alles da.«

Auf dem Dachfenster über meinem Bett hat sich mittlerweile eine kleine Schneeschicht gebildet. Ich stehe auf und versuche unter der Dusche das mulmige Gefühl aus meinem Albtraum wegzuspülen. Da fällt mir siedend heiß ein, dass ich ganz vergessen habe, heute Morgen mein Handy einzuschalten!

Tatsächlich bestätigt sich meine böse Ahnung: Ich habe eine Nachricht auf der Mailbox. Meine ältere Schwester spricht betont ruhig, aber der Inhalt hat es in sich. Gretel sei gestern in der Küche hingefallen, die Pflegerin habe beim Versuch, sie aufzuheben, einen Hexenschuss erlitten. Mein Vater habe die ganze Nacht kein Auge zutun können, da er dem Hausarzt bei einer ambulanten Operation von Gretels wundgelegenem Rücken assistiert habe. Mir jagen dramatische Bilder durch den Kopf: Skalpell, Schere, Tupfer, ein blutiges Laken. Hoffentlich haben sie Gretel ein starkes Schmerzmittel gegeben!

Im Einvernehmen mit uns Kindern und dem Hausarzt hatte sich mein Vater dafür entschieden, Gretel die Einweisung in ein Krankenhaus möglichst zu ersparen. Aber eine Wund-OP im Schlafzimmer mit meinem Vater als Krankenschwester? Häusliche Pflege hatte ich mir anders vorgestellt.

Ich rufe zu Hause an, aber erreiche nur den Anrufbeantworter. »Hallo, hier ist Familie Sieveking«, ertönt die Stimme meiner Mutter aus längst vergangener Zeit. »Leider sind wir zur Zeit nicht da, aber wir freuen uns über Ihre Nachricht und rufen sobald wie möglich zurück.«

Ich suche beim Hören im Geist nach zugehörigen Bildern, doch die Erinnerungen an die gesunde Gretel sind längst von den intensiven Erfahrungen mit der neuen Gretel verstellt, die einen solchen Text gar nicht mehr auswendig aufsagen könnte. Wird es mein Vater jemals über das Herz bringen, eine neue Nachricht aufzusprechen? Ich versuche, ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber auch dort nimmt er nicht ab. Es grenzt schon an ein Wunder, wenn er mal an sein Mobiltelefon geht. Ich spiele mit dem Gedanken, einfach alles stehen und liegen zu lassen und mich sofort in den Zug nach Bad Homburg zu setzen. Allerdings liegt das fast 600 Kilometer entfernt, und ich habe die ganze Woche wichtige Termine.

Die letzten Monate habe ich fieberhaft daran gearbeitet, meinen neuen Film fertigzustellen, um die Premiere noch mit meiner Mutter zu erleben. Aber ich war nicht schnell genug. Das Leben hat mich rechts überholt, und auch der schnellste ICE kann das jetzt nicht mehr aufholen.

Mein Handy klingelt und holt mich in die Gegenwart des Zugabteils zurück. Draußen rauscht die nasskalte deutsche Januarlandschaft vorbei. Ich bin unterwegs nach Frankfurt am Main, wo mich früher meine Mutter immer vom Bahnhof abholte. Meine ältere Schwester, die mir auf die Mailbox gesprochen hatte, ist am Telefon. Sie berichtet, dass die Lage zu Hause seit gestern Nacht relativ stabil sei. Sie könne selber leider nicht kommen, da sie in Arbeit ertrinke und sich um ihre Tochter kümmern müsse. Ich erzähle ihr von meinem Traum, in dem Gretel wieder laufen konnte und eine Treppe herabstürmte. Sie ist ganz perplex, denn auch sie hat von Gretel geträumt. Auch in ihrem Traum konnte sie wieder laufen. Sie ging auf einem Wanderweg flink vorneweg, meine Schwester und der Rest der Familie hinterher. Das Gelände war leicht abschüssig, und der Weg endete am Steilhang einer dunklen Lehmgrube. Gretel lief immer schneller auf den Abgrund zu, wendete sich dann noch einmal um und rief: »Ich bin die Erste!«

Dann verschwand sie in der Untiefe.

Kapitel 2

Film ohne Ende

Parallel zu den Dreharbeiten meines Debütfilms David wants to fly, die sich über mehrere Jahre hinzogen, entwickelte meine Mutter immer deutlichere Anzeichen einer Demenz. Es wurde schwerer, ihr zu erklären, woran ich da gerade arbeitete. Die Handlung meines Dokumentarfilms war schon für Nicht-Demente verwirrend genug: Ich hatte mich als Regisseur und Protagonist vor der Kamera einer ziemlich abgehobenen Meditationsbewegung angeschlossen, deren Gründer, ein gewisser Maharishi Mahesh Yogi, Ende der 60er-Jahre als Guru der Beatles weltberühmt geworden war.

Meine Mutter fand es, schon bevor sich ihre Verwirrung zeigte, schwer nachvollziehbar, warum ich mich einer religiös anmutenden Organisation anschloss, die einem indischen Guru huldigte. »So was macht doch bei uns keiner«, sagte sie befremdet. Sie hatte mich autoritätskritisch erzogen, war aus der Kirche ausgetreten und Esoterik lag ihr fern. »Wie geht es deinem Gurishi?«, fragte sie mich, nachdem wir 2008 die Beisetzung des gerade verstorbenen Maharishi in Indien gedreht hatten.

Bei der Premiere von David wants to fly auf der Berlinale 2010 konnte sich meine Mutter schon gar nicht mehr erklären, was ihr Sohn da auf der Leinwand verloren hatte. Sie blieb zwar während der ganzen Dauer des Films aufmerksam im Saal sitzen, aber als wir uns nach dem Film vor dem Kino begrüßten, fragte sie mich ganz verwundert: »Was machst du denn hier?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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