Verlorene Engel - Sandra Eckervogt - E-Book

Verlorene Engel E-Book

Sandra Eckervogt

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Beschreibung

Vanity wird als Tänzerin in das legendäre Pariser "Doom Dance" eingeschleust. Angeblich verschwinden aus diesem Burlesque Club immer wieder junge Mädchen. Der neuste Fall: Chloé, die Tochter des französischen Politikers Durand, wird seit Weihnachten vermisst. Sofort fällt der Verdacht auf den Mädchenhändler Christobal. Der Scheich Tabuk Bel-Rhan ist Stammkunde bei ihm und verlangt von Christobal, dass er die berühmte Tänzerin Lady Doom alias Camille für ihn kidnappen soll. Da Christobal sich weigert, nimmt der Scheich die Sache selbst in die Hand. Vanity kann die Entführung in Syrien vereiteln und Camille wird sicher nach Paris gebracht. Bei der weiteren Suche nach Chloé stößt Vanity auf andere Mädchen, die ebenfalls von Christobal entführt worden sind. Auf einem Sklavenmarkt in Damaskus trifft sie einen Mann, den sie zuletzt vor über einem Jahr gesehen hat. Wird er ihr Schwierigkeiten bereiten? Das größte Problem Vanitys aber ist: Ihr inneres Monster rebelliert und setzt sie ständig außer Gefecht. Wird sie die Mädchen rechtzeitig finden? Wird sie ihr Monster wieder in den Griff bekommen? Oder bedeutet das ihr Ende?   Wichtige Info: In keinem der erwähnten Länder/Städte gibt es in dieser fiktiven Geschichte einen Krieg!

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Sandra Eckervogt

Verlorene Engel

Das sechste Abenteuer

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Verlorene Engel

 

Das sechste Abenteuer

 

 

Sandra Eckervogt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Info: In dieser fiktiven Geschichte gibt es in keinem der erwähnten Länder/Städte Krieg oder Unruhen.

 

 

 

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten! Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Autors/Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopien, Bandaufzeichnungen und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Die Personen und Handlung des Buches sind vom Autor frei erfunden.

©Sandra Eckervogt 2021

Prolog

 

Saudi-Arabien (kurz vor Weihnachten)

 

Wie in Trance nahm Chloѐ wahr, dass die Frauen ihr die Haare machten. Sie trug ein sehr teures und aufreizendes Abendkleid. Es war aus goldener Seide und brachte ihre leicht gebräunte Haut gut zur Geltung. Der Ausschnitt war offenherzig und drückte ihren kleinen, aber festen Busen nach oben. Eine goldene Kette lag um ihren Hals und Chloѐ hatte im Moment das Gefühl, sie würde daran ersticken.

Chloѐ schwankte leicht, diese verdammten Drogen. In ihrem Schädel wusste sie, dass sie in der Hölle steckte und von hier fliehen musste. Doch ihr Körper wollte nicht auf ihr Gehirn hören. Die Wirkung der Droge ließ die Umgebung in einem milchigen Licht erscheinen, so als würde sie durch verschwommene Brillengläser blicken. Ihre Augen kämpften gegen den Wunsch an, sich sofort zu schließen.

Eine der Frauen steckte ihr Franchipaniblüten ins Haar. Chloѐ konnte den feinen Duft der Blüte riechen.

Die andere Frau machte den Reißverschluss des goldenen Kleides zu.

Chloѐ hörte, dass die Frauen sich unterhielten, leise und in einer fremden Sprache. Sie verstand kein Wort.

Wie konnte sie nur in diese aussichtslose Lage geraten? Alles hatte so gut angefangen. Neben ihrem eigentlichen Tanzstudium in Paris hatte sie einen Job in dem weltbekannten Varieté „Doom Dance“ bekommen. Sie hatte sechs Wochen lang an den Wochenendaufführungen getanzt und sehr gutes Geld verdient. Dann war der Abend gekommen, der alles verändert hatte.

Nach der Aufführung lud der Inhaber vom „Doom Dance“, Baptist Lacroix, einige Darstellerinnen zu einer großen privaten Party ein.

Es wurde viel getanzt, gelacht und getrunken. Chloѐ wunderte sich, dass viele arabische Männer auf der Party waren und die jungen, neuen Tänzerinnen begutachteten. Als sie mit ihrer Tanzkollegin Janette ein Taxi zu ihrer Stadtwohnung nehmen wollte, hatte plötzlich ein Bulli vor ihnen angehalten und die beiden wurden brutal hineingezogen. Das Letzte, an das sich Chloѐ erinnern konnte, war der ekelig schmeckende Lappen mit Chloroform, den ihr jemand hart über Nase und Mund gepresst hatte.

Dann war sie wach geworden und hatte sich gefesselt auf der Ladefläche eines LKW befunden. Neben ihr weitere junge Mädchen.

Wo steckte Janette nur? Sie hatte ihre Freundin seit Tagen nicht mehr gesehen. Sicherlich war sie bei einem anderen reichen Araber. Hoffentlich lebte sie noch.

Die Männer waren teilweise brutal zu den Mädchen gewesen. Manche wurden sogar vor den Augen der anderen vergewaltigt. Einige Mädchen wurden seltsamerweise verschont. Chloѐ ahnte jetzt auch, warum. Sie wurden an reiche Scheichs weiterverschachert, die keine im Vorfeld beschmutzte Ware kaufen wollten.

Die Frauen um sie herum unterhielten sich weiter in der Sprache, die sie nicht verstand. Sie vermutete Arabisch.

Oh Gott, war sie etwa auf einem Sklavenmarkt im Orient gelandet?

„Wasser, bitte ein Glas Wasser“, sagte Chloѐ kaum hörbar.

Eine der Frauen nickte und reichte ihr ein Glas. In einem kurzen Moment der Klarheit, der in ihrem Kopf herrschte, nutzte Chloѐ die Gelegenheit. Sie schüttete der Frau das Wasser ins Gesicht, der anderen haute sie ihre Faust auf die Nase. Die Frau ging k.o. zu Boden. Die andere schrie laut in ihrer Sprache und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht.

Chloѐ nahm einen tiefen Atemzug und spürte, dass die Wirkung der Droge nachließ. Sie erkannte eine Vase, griff danach und schlug der Frau damit eins über den Schädel. Diese gab einen stöhnenden Schmerzlaut von sich und fiel zu Boden. Schritte erklangen.

Reiß dich zusammen, Chloѐ … du musst hier weg. Nur raus hier! Konzentriere dich.

Sie stolperte durch das Zimmer.

Das Fenster war einen Spalt offen. Chloѐ zögerte nicht und kletterte hindurch. Zum Glück befand sie sich im ersten Stockwerk und ein Sims gab ihr Halt zum Klettern. Der warme Abendwind blies ihr ins Gesicht und sie nahm einen erneuten tiefen Atemzug. Augenblicklich fühlte sie sich besser und der Nebel vor ihren Augen begann sich zu lichten. Ein Franchipani-Baum stand vor ihr. Sie konnte doch nicht springen, oder?

Hinter ihr aus dem Zimmer hörte sie laut fluchende Stimmen und jemand schrie in ihrer Sprache: „Bleib stehen! Chloѐ! Bleib sofort stehen!“

Es nutzte nichts, sie musste springen. Augen zu und durch. Chloѐ machte einen Satz nach vorn und rauschte in den fein duftenden Baum. Das schöne Kleid blieb in den Ästen hängen und es ratschte an der Seitennaht auf. Kleine Zweige rissen ihre zarte Haut an den Armen und Beinen weg. Zischende Schmerzlaute kamen über ihre Lippen. Egal, sie musste weiter, sie wollte nicht verkauft werden.

„Da! Da ist sie!“, hörte sie die energische Männerstimme von oben.

Chloѐ hangelte sich so gut sie konnte an den Ästen hinunter und ließ sich die letzten zwei Meter einfach fallen. Als sie auf dem Gras landete, spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrer rechten Rippengegend. Die restliche Wirkung der Droge vertuschte die wahren Schmerzen.

Lauf um dein Leben, Chloѐ … spornte sie sich selbst an und warf einen letzten Blick zurück.

Sie hielt inne. Das Gebäude, aus dem sie gerade geflüchtet war, sah wie ein Palast aus „Tausendundeiner Nacht“ aus. Doch leider steckte sie in der Hölle.

Lauf, Chloѐ, lauf!!!

 

Pascal riss die Tür auf und blieb abrupt stehen. „Christobal? Wir haben ein Problem.“

Der ältere hochgewachsene Mann hielt mit seinem Telefongespräch augenblicklich inne. „Ich rufe Sie gleich zurück, bitte entschuldigen Sie, Scheich Bel-Rhan.“ Er beendete das Gespräch und sah seinen Mitarbeiter aus schmalen Augen an. „Was ist, Pascal?“

„Chloѐ. Sie versucht zu fliehen. Sie ist aus dem Fenster gesprungen“, berichtete er.

Christobal zuckte mit den Schultern. „Dann sieh zu, dass du sie wieder einfängst. Es darf sie niemand anderes finden, also?“

Pascal nickte und machte sich sofort auf die Suche. Er organisierte mehrere Männer seines Teams.

„Nimmt die Betäubungspistole. Denkt daran, wir müssen sie schnell finden, bevor sie die Polizei informieren kann“, ermahnte er seine Männer.

 

Chloѐ eilte über die Wiese und erreichte das Eisentor. Mist, ein Wachmann war dort positioniert. Sie schlich sich so nah es ging an das Tor heran und hatte Glück. Mehrere Wagen wollten auf das Gelände. Der Wachmann war somit abgelenkt und kontrollierte die Besucher. Chloѐ lief in gebückter Haltung an den haltenden Autos vorbei und schaffte es nach draußen.

Sie blickte nach beiden Seiten. Egal in welche Richtung sie auch lief, sie musste sich beeilen.

 

Pascal saß in dem ersten Wagen und fluchte, als die Einfahrt von drei Fahrzeugen blockiert wurde. Der Wachmann hob die Arme und hantierte wild damit durch die Luft. Die Limousinen fuhren alle erst die Auffahrt hoch, bevor Pascal mit seinen Männern passieren konnte. Das hatte ihm wertvolle Zeit gekostet. „Kevin, du fährst nach rechts, Richtung Bahnhof. Max, ihr übernehmt die Hauptstraße. Ich kümmere mich um die Nebenstraßen. Sobald ihr sie entdeckt, meldet euch. Sie trägt ein goldenes Abendkleid, also wird sie auffallen“, informierte Pascal das Team über Funk.

Die Wagen bogen in die jeweiligen Richtungen ab.

 

Erschöpft blieb Chloѐ stehen. Ihre Lunge brannte vom schnellen Laufen. Ihre Kehle war ausgetrocknet. Sie bekam kaum noch Luft. In dieser Gegend war zu dieser Uhrzeit nicht viel los. Nach wenigen Metern, die sie an der Straße entlanggelaufen war, ahnte sie, dass sie sich in einem arabischen Land befinden musste. Die Schilder waren alle in dieser interessant gemalten Sprache geschrieben und in Englisch darunter übersetzt. Sie hatte nur noch nicht herausgefunden, wo genau sie sich befand. Wenn ihre Eltern das nur wüssten!

Aber leider hatte sie keinen guten Kontakt mehr zu ihnen. Sie war im Streit nach Paris gegangen und hatte ihr Tanzstudium begonnen. Ihr Vater wollte unbedingt, dass seine Tochter einen anständigen Beruf erlernen sollte und nicht als billige Hüpftusse auf den Brettern der Welt verendete. Immerhin war er als Politiker tätig und es war ihm peinlich, dass seine einzige Tochter in diesem verruchten Milieu arbeiten wollte.

Chloѐ begann zu weinen. Sie vermisste ihre Eltern. Ihr tat der letzte Streit von Herzen weh, doch es war zu spät. Sie wischte die Tränen fort und entdeckte ein Internet-Café. Ihre Chance. Schnell rannte sie hin und riss die Tür auf.

Es war ein kleiner Laden, in dem sich gerade drei Typen aufhielten. Der mutmaßliche Besitzer, der hinter einem Tresen stand, schaute sie verwundert an. Es war mehr als selten, dass eine sehr schöne, junge Frau in einem goldenen Abendkleid das Internet-Café betrat. Und dazu noch europäisch aussah.

„Sprechen Sie meine Sprache?“

„Ja. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Er lächelte und sah, dass sie geweint hatte.

„Darf ich einen Ihrer Computer benutzen? Es ist ein Notfall.“ Chloѐ sah den Mann bittend an.

„Gerne. Dreißig Minuten, fünf Dollar.“

„Ich habe leider kein Geld bei mir. Wissen Sie, ich stecke in Schwierigkeiten und muss nur eine E-Mail verschicken.“ Wieder stiegen Tränen in ihre Augen und sie sah sich zur Tür um. Bis jetzt hatte man sie noch nicht gefunden.

„Soll ich lieber die Polizei anrufen? Kann ich Ihnen sonst wie helfen?“, erkundigte sich der junge Mann.

„Es reicht mir, wenn ich eine E-Mail verschicken kann“, wiederholte sie und schreckte zusammen, als ein Wagen vor dem Laden vorbeifuhr.

„Kommen Sie.“ Er lächelte und führte Chloѐ zu einem freien PC. Er tippte etwas ein. „So, jetzt können Sie eine Mail verschicken.“

„Vielen Dank! Sie können gern die Kette haben, als Bezahlung.“ Sie wollte den Verschluss öffnen, doch der Mann winkte ihr Angebot ab.

„Kein Problem, Sie brauchen dafür nicht bezahlen. Ich helfe gern.“

Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln und begann zu tippen.

 

Pascal fuhr langsam die Einfahrten der Seitenstraßen entlang und stoppte, als er ein buntes Reklameschild entdeckte, auf dem er „Internet-Café“ lesen konnte. Sein Gefühl sagte ihm, das Chloѐ dort sicherlich versuchte, eine Nachricht zu versenden. Ein paar Häuser vorher stoppte er den Wagen. „Ich werde nachschauen und sage euch Bescheid, wenn sie drin ist“, gab er über Funk an seine Kollegen weiter.

Vorsichtig näherte sich Pascal dem Internet-Café und lugte durch eins der kleinen Schaufenster, die mit bunten Werbe-Aufklebern versehen waren. Er konnte drei Männer erkennen, die an den Computertischen saßen, und einen vierten hinter dem Tresen. Pascal wechselte die Fensterseite und entdeckte den goldenen Engel in der hintersten Ecke.

 

Chloѐ drückte auf Senden und erschrak in der nächsten Sekunde, denn ein Mann stand vor ihr.

„Tze, tze … liebe Chloѐ … was hast du dir nur dabei gedacht, hm?“ Pascal schüttelte langsam den Kopf und grinste sie gefährlich an.

Chloѐ sprang vom Stuhl auf.

„Na? Wem hast du denn verraten, wo du dich aufhältst?“

Der Besitzer blickte zu den beiden herüber und sah die Angst in den Augen des Mädchens. Da stimmte doch was nicht! Er ging zu ihnen.

„Du sagst mir sofort, wem du eine Nachricht geschickt hast, hast du mich verstanden“, knirschte Pascal böse und packte sie fest am rechten Oberarm.

„Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“, erkundigte sich der Mann höflich.

„Nein, danke. Ich habe meine Schwester schon die ganze Zeit gesucht. Unsere Eltern haben sich die größten Sorgen gemacht.“ Pascal lächelte den Mann beruhigend an. „Danke der Nachfrage.“

Chloѐ schüttelte kaum merkbar den Kopf und starrte den Besitzer aus panischen Augen an.

„Okay, entschuldigen Sie bitte die Störung.“ Der Besitzer zwinkerte ihr zu und begab sich wieder hinter den Tresen. Das Mädel steckte in großen Schwierigkeiten. Er hatte ein ganz dummes Gefühl und behielt die beiden im Auge.

Kurze Zeit später hielten zwei Wagen direkt vor dem Eingang und weitere Männer traten ein.

Kevin packte sich Chloѐ, die sich ganz ruhig verhielt. Es brachte eh nichts. Sie konnte nur beten, dass die Nachricht bei der Sekretärin ihres Vaters angekommen war und Pascal es nicht herausfand.

Pascal setzte sich an den PC und versuchte die E-Mail zurückzuverfolgen. Er ging gerade auf den Ordner Gesendete Nachrichten und wollte ihn öffnen, als der Bildschirm vor ihm schwarz wurde. „Was? Was soll das!“, rief er sauer.

„Oh, tut mir leid, aber wir haben manchmal ein Problem mit der Stromversorgung. Ist oft überlastet“, antwortete der Besitzer und zuckte mit den Schultern. Er hatte den Hauptschalter ausgestellt, an dem die Computer angeschlossen waren. Nur so konnte er dem goldenen Mädchen wenigstens etwas helfen. Das hoffte er jedenfalls.

Die anderen Männer, die am PC saßen, hatten ebenfalls einen schwarzen Monitor vor sich und fluchten in ihrer Landessprache.

Pascal lachte hart und stand auf. „Kommt, wir bringen sie zurück. Wir können hier eh nichts mehr ausrichten. Wem du auch eine Nachricht geschickt hast, man wird dich nicht finden. Komm, Christobal wird ein ernstes Wörtchen mit dir reden wollen.“

Kevin zerrte Chloѐ mit sich, gefolgt von Max und Pascal. Chloѐ schenkte dem Besitzer ein zaghaftes Lächeln und wurde in einen Wagen verfrachtet.

„Hier, für die Unannehmlichkeiten.“ Pascal warf ihm einen größeren Geldschein hin und sie verließen das Café.

 

Die E-Mail hatte es geschafft und kam auf dem Rechner der Sekretärin an. Doch da sich alle im Weihnachtsurlaub befanden, würde sie diese wichtige Nachricht erst Tage später entdecken.

 

 

 

1. Kapitel

 

Rückblick (fast vier Monate zuvor)

 

Cylemore Rock Castle

 

Tom öffnete langsam die Augen und verspürte einen stechenden Schmerz in seiner Nase. Als er auf seine Finger blickte, sah er Blut. Er verzog das Gesicht und richtete sich langsam auf. Verdammt, sie hatte ihn tatsächlich k.o. geschlagen. Schon wieder.

„Tom? Alles in Ordnung?“, rief Jason und blieb abrupt stehen, als er den Raum betrat und die ganzen altertümlichen Sachen sah. „Wow!!!“

Tom stützte sich an der Mauer ab. „Nein, nichts ist in Ordnung.“

„Sie hat wirklich einen guten Schlag, nicht wahr?“ Er sah das Blut und die demolierte Nase. Irgendwie tat Tom ihm ja leid, aber irgendwie herrschte große Schadenfreude in ihm.

„Das hat sie, ja. Wo ist sie?“ Tom wischte sich das Blut in den Ärmel und taumelte zur Tür.

„Pfff … keine Ahnung. Sag mal … was sind das alles für coole Sachen? Stammen die aus dem 19. Jahrhundert?“, fragte Jason begeistert und folgte ihm.

„Ja. Hast du nichts anderes zu tun?“, pflaumte er ihn an.

Jason blieb beleidigt stehen. „Ich wische dann mal die Spuren deiner Verletzung auf.“

Tom reagierte nicht und lief schnurstracks zu ihrem Zimmer nach oben. Er klopfte erst gar nicht an, sondern riss die Tür auf.

Vanity war dabei, einen Koffer zu packen.

„Du willst verreisen?“, fragte er.

„Ich wüsste nicht, was es dich angeht“, zickte sie.

„Ich habe es wirklich verdient, aber du musst mich anhören.“ Seine Stimme klang bittend.

Sie drehte sich schlagartig zu ihm um und ihre Augen funkelten böse. „Ach? Muss ich das?“

Er wagte sich einen Schritt weiter in das Zimmer. „Ja, das musst du. Ich möchte dir sagen, warum ich das getan habe. Warum ich in die Rolle von Thomas James Cylemore geschlüpft bin.“

„Na, da bin ich aber gespannt, Leutnant General Tom Fear. Also? Ich bin ganz Ohr.“ Sie hielt mit dem Packen inne.

Gerade als Tom reden wollte, klopfte es und Rosa trat ein. „Bitte entschuldige, Vanity. Aber es ist ein Helikopter gelandet und du sollst umgehend nach London geflogen werden.“ Rosa bemerkte die angespannte Situation zwischen den beiden und nagte an ihrer Unterlippe. „Anordnung von ganz oben, sorry.“

Vanity lachte hart zu Tom hinüber und schlug den Deckel ihres Koffers zu. „Na dann. Ich komme, Rosa, danke.“

„Okay, ich werde sagen, dass du gleich da bist.“ Rosa nickte und stutze im nächsten Moment. Hatte ihr Boss nicht eine blutverschmierte Nase?

Vanity nahm den Koffer und lief an Tom vorbei. Er packte sie am linken Oberarm und schloss die Augen. „Bitte, Vanity, du musst mich anhören.“ Seine erotische Stimme klang so zart, so voller Liebe, Demut und …

Und sie entzog sich seinem Griff, sah ihn aus rabenschwarzen Augen an und ihre Worte waren wie in Gift getränkt. „Ich muss gar nichts, lieber Tom. Du hast alles, wirklich alles, was zwischen uns je hätte entstehen können, 1818 zerstört.“ Sie holte tief Luft und spürte, wie ein schwarzer Bluttropfen auf ihre Oberlippe tropfte, den sie flink entfernte, bevor er ihn entdecken konnte.

Tom ballte seine Hände zu Fäusten zusammen und folgte ihr. „Nein! Nein! Vanity! Du hast es genauso gewollt wie ich und wir wissen, dass wir nur diese Chance haben werden! Lauf nicht weg, ich muss es dir wenigstens erklären!“

Doch sie lief weg. Weg von ihm. Weg von den schmerzhaften Erinnerungen. Vanity war froh, dass Neat sie zu sich nach London holte, und sie hoffte, dass sie schon morgen einen neuen Auftrag erledigen musste. Sie hoffte so viel.

Vanity rannte nach draußen und sah den Hubschrauber, der mit drehenden Rotorblättern auf sie wartete. Sie duckte sich und öffnete die Tür. Der Koffer landete achtlos auf einem der hinteren Sitze und sie wollte gerade einsteigen, als sie seine Hand erneut auf ihrer Schulter spürte und er sie zu sich umdrehte.

Vanity seufzte schwerfällig, denn seine sehnsüchtigen Augen, die vor Kummer, Scham und Liebe glühten, verursachten Herzkneifen bei ihr.

„Bitte, Vanity … Ich hatte nie die Absicht, dich zu verletzen oder die Situation auszunutzen. Ich habe die Rolle getauscht, um mehr über dich zu erfahren, denn du bleibst mir noch immer ein Rätsel.“

Es zuckte um ihre Mundwinkel und sie stieg ein. „Sie lieben Rätsel, Sir Fear? Ein anderes Wort für Ungetüm? Sieben Buchstaben waagerecht, der vierte ist ein S!“ Sie schlug die Tür zu und wies den Piloten an, sofort aufzusteigen.

Tom wich einige Schritte zurück, denn der Heli nahm schnell an Höhe zu. Die Rotorblätter wirbelten die kühle Luft in sein Gesicht. Die kalten Winde legten sich auf seine gebrochene Nase und gaben für Sekunden eine angenehme Kühlung.

„Und was ist mit deiner Schussverletzung? Ich habe genau gesehen, wie dich zwei Kugeln getroffen haben. Du hättest tot sein müssen!“, rief er außer sich vor Wut gegen den Lärm der Rotorblätter an. Doch er erhielt keine Antwort.

Und wieder entschwand sie ihm und wieder stand er vor einem Rätsel. Ungetüm mit sieben Buchstaben? Und der vierte war ein S?

 

Vanity schloss die Augen. Ihr Körper zitterte vor Wut, Kummer und Sehnsucht. Am liebsten wäre sie ihm gerade um den Hals gefallen, hätte ihn geküsst. Doch es sollte nicht sein. Es durfte nicht sein. Sie hatten zwei wunderschöne Nächte zusammen verbracht, allein bei den Erinnerungen überrollte sie erneut eine Welle des Schmerzes.

Wie konnte Tom nur so dreist sein und die Rolle von Thomas James Cylemore annehmen? Und all die schleimigen Liebesschwüre, die er ihr in den wenigen Tagen vorgesülzt hatte? Ha, nie im Leben hatte sie damit gerechnet, dass er so gut schauspielern konnte, nie. „Und warum verdammt noch mal hast du mich nicht gewarnt? Du hättest es doch spüren müssen“, sprach sie ihr Monster an. Erhielt aber keine Antwort.

Sie öffnete die Augen und warf einen Blick zurück. Sie konnte ihn tatsächlich noch erkennen. Tom stand da auf der Wiese und starrte ihr hinterher.

Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass auch sie nicht ganz unschuldig an seiner Handlung gewesen war. Hatte sie nicht selbst schuld, dass Tom ihre Person, einfach alles an ihr, in Frage stellte? Sich das stellen musste? Wie würde sie denn reagieren, wenn jemand vor ihr stehen würde, der aus heiterem Himmel schwarze Augen, Nasenbluten und besondere Fähigkeiten hatte? Und wie er gerade gesagt hatte, sie wurde durch zwei Kugeln tödlich verletzt und hatte es wieder einmal überlebt. Ja, sie hätte genauso gehandelt wie er.

 

London

 

Nelly Neat wusste auch nicht, warum, aber als das junge, schöne Mädchen in ihr Büro trat, konnte sie nicht anders und umarmte sie. „Hallo, Vanity! Wie geht es dir, mein Kind?“

Vanity war von der Herzlichkeit etwas überrascht.

„Danke, alles in Ordnung. Was gibt es denn, dass ich so dringend nach London kommen muss?“ Sie hoffte, nein, sie betete zum lieben Gott, dass Neat ihr jetzt einen neuen, sehr gefährlichen Auftrag unterbreiten würde, damit sie die nächsten Tage, ach was, die nächsten Wochen nicht mit Weinkrämpfen und Kummersaufen verbringen beziehungsweise überbrücken musste.

„Setz dich.“ Nelly gab Vanity wieder frei und deutete auf den Sessel.

Vanity nahm Platz und blickte Neat erwartungsvoll an. „Wollen Sie mir irgendetwas sagen?“

Neat hatte doch tatsächlich ein warmes Lächeln im Gesicht. Vanitys Hoffnung auf einen neuen Auftrag schwanden mit dieser herzlichen Geste. Doch die freundliche Mimik ihrer Chefin wurde ganz plötzlich von einem besorgten Blick weggezaubert. Bekam sie nun doch einen neuen Auftrag, um böse Menschen zu jagen?

„Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Vanity“, begann sie mit bedächtiger Stimme.

Vanity sah sie überrascht an. „Entschuldigen? Wofür möchten Sie sich denn bei mir entschuldigen?“

Neat seufzte schwer und lehnte sich an die Schreibtischkante. „Für das unmögliche, unprofessionelle Verhalten von Tom Fear. Ich hatte keine Ahnung, dass er sich unter Gewalt Zugang zu der Zeitmaschine verschafft hat. Ich hoffe, er hat dir 1818 keinen Ärger bereitet?“

„Nein, hat er nicht. Keine Panik. Im Gegenteil, er hat mir sogar geholfen“, versicherte sie ihr mit fester Stimme.

„Hat er sich denn dir gegenüber zu erkennen gegeben?“ Neat war sichtlich verblüfft.

„Ja … ich meine … ich habe ihn gleich erkannt. Natürlich war ich im ersten Moment sauer, aber wir haben immerhin vielen Menschen geholfen. Es ist alles in Ordnung“, log sie, dass sich die Balken bogen. Doch Vanity hatte keine Lust, sich auf irgendwelche Diskussionen einzulassen. Es würde auch zu nichts führen. Nun hoffte Vanity insgeheim, dass Tom der lieben Neat nicht genau das Gegenteil berichtet hatte. „Wirklich, Nelly… es ist alles in Ordnung. Bekomme ich einen neuen Auftrag?“, wechselte sie schlagartig das Thema.

Neat lief mit seichten Schritten vor ihr umher. „Nein, ich habe mir gedacht, da du den letzten Auftrag so gut ausgeführt hast …“ Sie machte eine Pause und grinste sie geheimnisvoll an. Vanity bekam ein schiefes Lächeln hin und rutschte ungeduldig auf ihrem Sessel umher. „… bekommst du vier Wochen Urlaub“, platzte es glücklich aus Neat heraus.

„Urlaub?“, wiederholte Vanity entsetzt und zog eine Braue hoch. „Ich will aber nicht Urlaub haben. Gibt es keinen bösen Buben, der auf der großen, weiten Welt versucht, Menschen zu töten? Tun Sie mir einen Gefallen, Neat … lassen Sie mich nicht allein auf einer traumhaften Insel!“

„Es wird keine einsame Insel sein, sondern ein Wellnesshotel auf Sri Lanka, was sagst du? Entspanne dich die vier Wochen und danach darfst du wieder die bösen Jungs töten, okay?“ Sie zwinkerte ihr zu.

„Wellnesshotel auf Sri Lanka? Das ist doch wohl ein Scherz, Neat?“ Vanity blickte sie skeptisch an.

Neat verschränkte die Arme und ihre Gesichtszüge verhärteten sich augenblicklich. „Ernst? Nein, es ist ein Befehl, hast du mich verstanden?“

„Ich muss arbeiten, ich kann nicht auf der faulen Haut liegen, besonders jetzt nicht, nach dem Auftrag. Ich muss ständig an Tara 1818 denken.“ Sie seufzte und legte einen dramatischen Blick auf.

„Also hattest du doch Ärger mit Fear?“ Nelly zog argwöhnisch die Braue hoch.

„Was? Nein, nein … ich möchte halt nicht … die Erinnerungen sind einfach zu frisch und zu emotional. Ich meine, immerhin war ich dort vor fast zweihundert Jahren und also …“, stotterte sie.

„Genau, und deswegen ist dieser Wellness-Urlaub das Beste für dich.“ Sie machte eine kurze Pause und grinste sie schelmisch an. „Außerdem habe ich gehört, dass es dort einen Teeplantagenbesitzer gibt, der angeblich Drogen schmuggelt. Vielleicht lädt er dich zu einer Tasse Ceylon-Tee ein. Sein Name ist Kajol Rukh Shahid. Hier, ich habe zufällig ein Foto von ihm.“ Sie nahm ein Bild von ihrem Schreibtisch und reichte es ihr.

Vanity staunte nicht schlecht. Der Mann sah sehr gut aus, so als wäre er gerade einem Bollywood-Film entsprungen. Seine Augen waren hellgrün, die Iris hatte einen leicht gebräunten Rand. Seine Nase war schmal und einen Tacken zu lang für ihren Geschmack, aber dieser kleine Makel entstellte ihn in keinster Weise, ganz im Gegenteil. Er ließ ihn interessanter erscheinen. Außerdem ging eine magische Ausstrahlung von ihm aus, warum auch immer. Vielleicht war es dieser intensive Blick, den er auf dem Foto hatte. „Hm, hübsches Kerlchen.“

„Ihm gehört das Wellnesshotel, in dem du wohnen wirst. Es wird in zwei Tagen eröffnet. Und dazu ist Kajol noch solo. Er hat sich erst vor ein paar Wochen von seiner Freundin getrennt. Er ist dreiunddreißig Jahre und einer der reichsten Männer auf Sri Lanka“, teilte Nelly ihr ein paar wichtige Informationen mit.

„Wann geht mein Flug?“, wollte Vanity wissen und stand auf. Das Foto noch in der Hand.

„Du hast noch drei Stunden Zeit, um dir neue Sommerkleidung zu kaufen, und falls du Utensilien in Sachen Katy Catnap benötigst, der Kiosk ist noch eine halbe Stunde offen.“

„Nein, danke! Ich habe alles vorrätig. Mir reicht noch der pinke Koffer mit dem Anker.“

„Dann wünsche ich dir einen wunderschönen Wellness-Aufenthalt und genieße den Tee.“

„Das Foto nehme ich mit, sozusagen als Motivation.“

Neat lachte und nickte.

Vanity wollte gerade den Raum verlassen, als sie sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Und Sie hatten wirklich keine Ahnung, dass sich wieder mal mein Chef in meinen Auftrag eingemischt hat?“

„Nein. Er rief mich an und teilte mir mit, dass er einen Job in Europa zu erledigen hat. Es tut mir leid, ich hatte ihm vertraut. Aber es war auch nicht in Ordnung, dass Parker einfach dort aufgetaucht ist.“

„Ich benötige keine Babysitter, sagen Sie das bitte beiden Herren.“ Damit schloss sie die Tür hinter sich.

Nelly seufzte und ließ sich in ihren Sessel fallen. „Ja, wem sagst du das? Aber die zwei Chaoten benötigen einen.“

 

Cylemore Rock Castle / Irland

 

„Würdest du mir bitte mitteilen, warum meine Agentin zu dir nach London kommen musste und ich seit fast drei Tagen nichts mehr von ihr gehört habe?“, fragte Tom seine Tante in einem strafenden Ton.

„Ich werde dir nicht mitteilen, wo sich deine Agentin zurzeit aufhält.“ Neat grinste ihm frech ins Gesicht.

Tom seufzte und verschränkte die Arme. „Meine Geduld ist so langsam am Ende! Du hast mich gebeten, dir Zeit zu geben, das habe ich, und jetzt verlange ich von dir, dass du mich endlich über Phoenix aufklärst.“

„Es tut mir leid, lieber Tom, aber leider hast du nicht die Position, mir Vorschriften zu erteilen. Ich habe dich von Herzen um dein Vertrauen gebeten. Außerdem bist du derjenige, der den letzten Auftrag versemmelt hat. Wie konntest du dich nur so unprofessionell verhalten und Vanity eine falsche Persönlichkeit vorspielen?“, brauste Neat auf. „Und dazu noch deine eigene Tante belügen und mir erzählen, du wärest in Europa unterwegs!“

„Ach? Hat sie das gesagt?“ Es zuckte um seine Mundwinkel.

„Nein, das mit Europa hat sie mir nicht gesagt“, warf sie sarkastisch ein. „Ganz im Gegenteil, sie hat dich in Schutz genommen, mir vorgelogen, dass du ihr sofort gesagt hast, dass du Tom Fear bist.“ Sie machte eine kurze Pause und sah ihren Neffen aus strengen Augen an. „Mir ist es ehrlich gesagt egal, ob sie für dich gelogen hat oder nicht. Ich möchte, dass du sie in den nächsten Monaten in Ruhe lässt, bis Gras über die Sache gewachsen ist, und dann sehen wir weiter.“

„Heißt das etwa, du entziehst mir Phoenix?“, grummelte er mürrisch.

„Ja, genau dass heißt es. Außerdem ist sie im Urlaub. Schönen Abend noch.“ Sie beendete die Unterhaltung und der große Bildschirm vor ihm wurde schwarz.

Tom fluchte und ballte seine Hand zu einer Faust. So ein Mist aber auch! Im Urlaub? Pfff, Vanity war sicherlich nicht im Urlaub. Er lockerte seine Faust und sackte auf seinen Bürostuhl. Ach, was gab er seiner Tante nur die Schuld? Er selbst hatte es verbockt. Konnte er überhaupt noch mit Vanity zusammenarbeiten, nachdem er mit ihr geschlafen hatte?

Gras über die Sache wachsen lassen?

So hoch konnte das Gras wahrscheinlich gar nicht wachsen.

 

 

2. Kapitel

 

Vier Monate später / London

 

Vanity starrte aus dem Hotelfenster.

Die Weihnachtsbeleuchtungen an der gegenüberliegenden Straßenseite schalteten sich genau um sechzehn Uhr an. Oh Mann, in wenigen Tagen war schon Weihnachten. Sie konnte es kaum glauben, dass inzwischen vier Monate vergangen waren, als Nelly sie nach Sri Lanka geschickt hatte. Eigentlich sollte Vanity nur vier Wochen dort bleiben, aus denen dann neun Wochen geworden sind. Der Fall war sehr schnell gelöst.

Leider erkrankte Kajol Rukh Shahid an einem schweren Gehirntumor, der nicht operativ entfernt werden konnte. Ihm gehörte eine sehr große Teefabrik auf Sri Lanka, leider war sein Bruder Arjun in Drogengeschäfte verwickelt gewesen und hatte die Teefabrik als Drogenumschlagplatz benutzt. Vanity war schnell dahintergekommen. Sie wollte Arjun überführen, doch genau in dem Moment, als sie Kajol die Wahrheit über seinen Bruder erzählen wollte, brach er zusammen.

Im Krankenhaus stellte man die fürchterliche Diagnose, dass Kajol bald sterben würde. Vanity hatte es nicht übers Herz gebracht, Kajol die böse Wahrheit zu übermitteln. Und zu ihrem Glück beschloss Arjun mit den Drogen aufzuhören. Er wollte das Lebenswerk seines Bruders nicht in Schande weiterführen.

Leider zog sich der schmerzhafte Tod von Kajol einige Wochen hin. Kajol, der sich in Vanity verliebt hatte, bat sie, ihn bis zu seinem Tode zu begleiten und nicht von seiner Seite zu weichen.

Vanity wusste nicht, warum, aber es tat gut, auf Sri Lanka zu sein, bei Kajol. Er war so ein herzensguter, ruhiger Mann. Durch den Buddhismus, den er ihr in dieser Zeit nähergebracht hatte, hatte Vanity selbst innere Ruhe erlangt. Dieser Abstand zu Tom Fear tat auch sicherlich ihrer Seele ganz gut. Jedenfalls redete sie sich das die ganze Zeit über immer wieder ein. Aber es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihre zwei leidenschaftlichen Nächte denken musste.

Dann kam der Tag, als Kajol einschlief.

Vanity blieb bis zur Beerdigung und reiste dann sofort nach London zurück. Dort angekommen, hatte Neat sie umgehend zu einer Schulung nach Hong Kong geschickt. Nach vier Wochen Weiterbildung in der asiatischen Kampfkunst, die sie als langweilig befunden hatte, da sie die Griffe aus dem Effeff beherrschte und sich stetig mit dem Trainer in den Haaren hatte, war sie nach Cylemore Rock Castle gereist. In ihr nagte die Angst, Tom zu begegnen, doch sie konnte ihm nicht ewig aus dem Weg gehen. Das Problem hatte sich von allein gelöst: Tom musste für einige Wochen nach Hunter Island und die Ausbildung übernehmen.

So waren vier Monate vergangen, in denen Vanity nicht einmal Tom Fear begegnet war. Was sie tief im Inneren sehr traurig stimmte und auch wiederum zornig machte. Der Mann beherrschte noch immer ihr Herz.

Sie seufzte und wandte sich vom Fenster ab, zog ihren Wintermantel über und verließ das Hotel. Sie hatte einen Termin bei Nelly Neat.

 

Nelly Neat blieb für einen kurzen Moment im Türrahmen stehen und seufzte. Vanity saß auf dem kleinen Sofa und starrte in ihre Tasse Tee. Sie wirkte müde und unendlich traurig. Es war sicherlich nicht leicht, ein Agent zu sein. Die Menschen, die man mochte, die einem plötzlich so nahe standen, starben. Plötzlich und völlig unerwartet überrann Nelly ihr schlechtes Gewissen. Hatte sie wirklich das richtige getan, um Vanity zu einer MI6-Agentin ausbilden zu lassen? Vanity Phoenix war die bis jetzt fähigste Agentin und das in ihren verdammt jungen Jahren und als Frau.

Neat räusperte sich leise, worauf Vanity von der Tasse Tee zu ihr hochschaute. „Neat?“ Ein schwaches Lächeln huschte um ihre Mundwinkel und sie stellte die Tasse auf dem Tisch ab.

Nelly nickte ihr zu und schloss die Tür. „Wie geht es dir, Liebes?“

„Gut. Aber ich bin sehr froh, dass Sie mich angerufen haben. Ich muss wieder arbeiten, sonst werde ich noch verrückt.“ Ihre Mimik verriet, dass sie unglücklich war.

Neat blieb vor ihr stehen und seufzte schwer. „Das mit Kajol tut mir sehr leid. Ich finde es sehr aufopfernd, dass du bis zum … dass du ihn nicht allein gelassen hast“, verstummte Neat mit bedrückter Stimme.

Vanity stand auf und ging zum Fenster. Es war halb fünf und der dunkle, graue Himmel sah nach Schnee aus.

„Ja, ich war auch froh darüber, ihn bis zum Ende begleiten zu dürfen.“ Sie holte tief Luft und wie aus heiterem Himmel war der traurige Gesichtsausdruck verschwunden und sie trat mit festen Schritten auf Neat zu. „Das Leben geht weiter, so hart es ist. Die Zeit der Trauer ist vorbei. Ich werde sicherlich noch um viele Menschen trauern. Doch ich lebe, ich lebe jetzt und ich habe die Aufgabe, die bösen Menschen zu vernichten und die Guten zu beschützen. Also? Was ist mein nächster Auftrag? Sicherlich machen die bösen Buben nicht Halt, nur weil das Fest der Liebe vor der Tür steht?“ Sie verschränkte die Arme und zog eine Braue hoch.

Neat war sichtlich erfreut über den positiven Stimmungswechsel. „Ich dachte mir, auch wenn du nun viele Monate ausgespannt hast, musst du leider die nächsten Tage noch einmal ausspannen.“

„Ach nein!“, rief sie pikiert. „Schicken Sie mich bloß nicht wieder zu einem Lehrgang! Der in Hong Kong hat mir gereicht. Und auf Cylemore Rock Castle herrschte Totentanz, da bin ich aus Langeweile mehrmals von der Klippe gesprungen.“ War sie wirklich. Aber die Befreiung, die sie sich jeweils davon erhofft hatte, blieb aus. Nun, sie war ja auch jetzt eins mit ihrem inneren Zottelmonster. Es hatte keine Angst mehr vor dem Sprung.

„Ja, ich habe schon gehört, dass du dich stetig mit dem Trainer in den Haaren hattest.“ Auf die Klippensprünge ging Neat nicht näher ein und winkte die böse Vermutung von einem weiteren Lehrgang mit einer laschen Handbewegung fort. „Nun hör mir doch erst einmal zu, meine Liebe.“ Sie tätschelte Vanitys Hand und lächelte geheimnisvoll. „Du wirst die Feiertage mit einem ganz besonderen Mann verbringen.“

Vanity blickte Neat aus großen, panischen Augen an. Doch wohl nicht mit Tom Fear? Wollte Neat etwa zwischen den beiden vermitteln, weil sie vermutete, dass die beiden sich doch in Tara 1818 gestritten hatten? Vanity schluckte gegen ihre Panikattacke an. Der Versuch würde sicherlich nicht gut gehen.

„Und zwar mit mir.“ Parker trat plötzlich in das Zimmer und blickte seine Tochter verunsichert an. Immerhin hatten die beiden sich seit Monaten nicht gesehen. Er wusste nie, wie Vanity reagieren würde. Im ersten Moment glaubte er, sie würde auf der Stelle die Waffe ziehen und ihm ins Knie schießen. Ihre großen Augen wirkten geschockt.

Vanity fiel ein riesiger Stein, ach was, ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Ihr geschockter Gesichtsausdruck wirkte schlagartig herzlich und sie stürmte zu ihm. Sie fiel ihm regelrecht um den Hals und Parker drückte sie ganz fest an sich. „Ich habe dich vermisst“, hauchte sie in sein Ohr.

„Ich dich auch, meine Kleine … ich dich auch.“ Und Parker war froh, dass sie keine Waffe gezogen hatte.

 

 

Schweiz – irgendwo in den Bergen

 

„Wow!!!“, schrie Vanity und sauste mit hoher Geschwindigkeit die Piste hinunter. Sie spürte den eisigen Wind in ihrem Gesicht und das Adrenalin in sich. Sie fühlte sich jetzt glücklich und frei. Parker war direkt hinter ihr. Die glitzernde weiße Schneelandschaft sauste an ihren Augen vorbei. Vanity beugte sich so tief sie konnte der Schneemasse entgegen. Wie lange war sie schon kein Ski mehr gefahren? Das letzte Mal in der Schweiz, als sie noch einfach Jamie Lee Manson gewesen war.

Es war eine sehr gute Idee von Nelly Neat, dass sie mit ihrem Vater unbeschwert und unerkannt in einem kleinen schweizerischen Bergdorf die Festtage verbringen durfte.

Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Gefühlsduselei von der eigentlich so gefühlskalten Nelly Neat. Das war das schönste Geschenk, das sie seit langem erhalten hatte. Besonders nach den letzten Monaten. Es war so viel geschehen. Die Geschichte mit Tom in Tara 1818, der schreckliche Tod von Kajol in Sri Lanka, der beschissene Lehrgang in Hong Kong, die tödliche Langeweile auf Cylemore Rock Castle … und die schreckliche Sehnsucht nach Tom Fear.

Vanity bremste ab und kam langsam zum Stehen, das Ende der Piste war erreicht. Sie drehte sich um und sah, wie Parker auf sie zukam.

„Das war supercool!“, rief sie ihm entgegen und nahm die Skibrille ab.

Parker strahlte und kam direkt neben ihr zum Stehen. „Du fährst wirklich gut.“

„Danke, und ich habe Hunger, komm, wir gehen zur Hütte zurück.“

Er bestätigte ihren Vorschlag mit einem Nicken und beide begaben sich zu dem Schneemobil, das sie zurück zur Hütte brachte.

Als Vanity als Erste die Hütte betrat, stieß sie einen Freudenschrei aus. „Oh, ist das schön!“

Der Weihnachtsbaum stand direkt neben dem Kamin, in dem wärmend ein Feuer prasselte, der Tisch war festlich gedeckt und es lagen sogar einige Geschenke unter dem Baum.

Parker zog die Handschuhe aus und legte sie auf eine Kommode. „Tja, da war der Weihnachtsmann wohl als Erstes bei uns in der Hütte.“

Vanity lief zum Baum und begutachtete die Kugeln. Sie griff nach einer, die goldfarben war und sie an ihr eigenes Weihnachten in England erinnerte. An ein Weihnachten, das sie mit ihrer Mutter und ihren Großeltern in einem Landhaus in Cornwall verbracht hatte. Wie alt war sie da gewesen? Zehn oder elf? Sie hatte sich Schießunterricht gewünscht, doch leider war sie zu jung dafür gewesen und ziemlich sauer darüber, dass sie es nicht bekommen hatte. Ihre Mutter hatte ihr einen Kurs in Bogenschießen geschenkt.

„Ich dachte, du spielst mit Puppen oder freust dich über Reitstunden?“, hörte sie noch die Stimme ihrer Mutter, die ihr lachend über die Haare wuschelte. „Du kommst genau nach deinem Vater … nur gefährliche Sachen im Kopf.“

„Alles in Ordnung?“, drang die Stimme ihres Vaters in ihre Erinnerungen.

Vanity schnellte zu ihm und strahlte ihn breit an. „Es ist wunderschön. Danke, Dad.“ Sie fiel ihm um den Hals.

Er wusste nicht, warum, aber irgendwie wirkte seine süße Maus traurig. Ob es an den letzten Aufträgen lag, die sie erledigen musste? Sie hatte in Tara viel durchgemacht und er musste sich wirklich eingestehen: Seine Tochter war hammercool und superclever gewesen. Oder lag es daran, dass Thomas James Cylemore genau wie ihr Vorgesetzter Tom Fear ausgesehen hatte? Oder lag es an dem Verlust von Kajol, den seine Tochter laut Neat bis zu dessen Tod auf seinem qualvollen Weg begleitet hatte? Obwohl der Anlass sehr traurig war, empfand er Stolz für sein kleines Mädchen, das einen Mann bis zum Ende gepflegt hatte.

Vielleicht würde er in den zwei Tagen, die sie gemeinsam verbringen durften, mehr über seine Tochter erfahren. Über ein junges, wunderschönes Mädchen, das als Agentin beim MI6 tätig war und brutaler als manch einer der Männer, die er in den Jahren erlebt hatte.

Vanity löste sich wieder von ihm, denn sonst wäre sie in einer Gefühlsduselei ausgebrochen und hätte ihm irgendwelchen Mist erzählt, den sie hinterher bitter bereuen würde. Aber der Gedanke, dass ihr eigener Vater nicht von ihren Fähigkeiten wusste, sie ihn immer wieder belügen musste und das Tag für Tag, schmerzte sehr, doch es musste sein.

„Wollen wir essen? Ich habe ordentlich Kohldampf“, brach sie die Stille und Parker lächelte.

„Und ich erst! Skifahren macht einen Bärenhunger.“

Also begaben sich die beiden an den festlich gedeckten Tisch und aßen.

Das Geschirr, in dem sich das Essen befunden hatte, wurde nach zwei Stunden von einer freundlichen Person wieder abgeholt. „Ich wünsche Ihnen wunderschöne Weihnachten, schönen Abend noch“, sagte die Frau und hatte gerade den letzten Topf in den Kofferraum verstaut, als ein dröhnender, dumpfer Donner in der Ferne zu hören war.

„Was war das?“, rief Vanity und blickte in die Dunkelheit.

Die Frau seufzte. „Eine Lawine. Wir haben seit Tagen Probleme damit. Es sind ein paar Idioten hier unterwegs, die meinen, die sind supercool, wenn sie sich in den gefährlichen Gebieten aufhalten. Sie sind meistens der Grund für die Lawinen.“

„Aber es ist stockdunkel?“ Vanity starrte die ältere Dame entsetzt an.

„Tja, das ist den feinen Herrschaften aber egal. Die kommen aus reichem Haus, haben coole Nachtsichtgeräte und werden mit dem Helikopter abgeholt.“ Sie hatte gerade das letzte Wort ausgesprochen, als man in der Ferne Geräusche eines Helikopters vernehmen konnte.

„Da! Hören Sie … den Idioten sollte man ordentlich eins auswischen“, fluchte die Frau weiter.

„Wissen Sie, wo sich die Jungs tagsüber so rumtreiben?“, wollte Vanity wissen.

„Meistens hängen sie an der White-Viper Piste rum. Es ist die gefährlichste. Sie können sie daran erkennen, dass die Jungs sich großkotzig und provokant auf der Piste verhalten. Die haben schon zig Unfälle verursacht, aber Daddy zahlt ja alles und hält die schützende Geldhand über den ach so heiligen Sohnemann. So … ich muss, meine Kinder warten. Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage und falls etwas sein sollte, meine Nummer haben Sie ja. Gute Nacht!“ Die Frau hob zum Abschied die Hand und stieg in den Rover.

Vanity verharrte noch einen Moment draußen und lauschte dem Geräusch des Helikopters. Sie wusste schon, wo sie morgen Ski fahren würde und wem sie mal ordentlich Feuer unterm Hintern machen wollte. Sie grinste.

„Ist dir nicht kalt? Komm rein“, rief Parker ihr zu.

„Ich komme!“ Die Geräusche des Helikopters verstummten und die Vorfreude auf morgen wuchs in ihr.

„Was war das gerade für ein Geräusch?“, erkundigte Parker sich.

„Eine Lawine.“

„Oh … ich möchte keine miterleben.“

„Ich weiß schon, wo wir morgen unsere Zeit verbringen.“

„Und wo?“, wollte er von ihr wissen und löschte das Licht. Jetzt leuchteten nur noch der Tannenbaum und das Feuer im Kamin.

„Die Frau hat mir gerade den ultimativen Tipp gegeben. Es gibt eine tolle Strecke. Sie heißt White- Viper.“ Sie nahm ihm gegenüber auf dem kuscheligen Teppich Platz.

„Kannst du eigentlich auch mal nichts Gefährliches machen?“, zog Parker sie auf und goss Wein nach.

„Wieso? Was ist daran gefährlich, eine Skipiste hinunterzufahren?“

„Ja, ist schon gut. Ich bin dabei.“ Er lachte und sie prosteten sich zu. „Aber jetzt genießen wir erst mal den Abend.“

„Wie hast du eigentlich die letzten Jahre Weihnachten verbracht?“, fragte sie ihn und lehnte sich an das Sofa.

„Meistens war ich allein in meiner Wohnung oder habe irgendwo auf der Welt die Feiertage verbracht. Es waren meistens die Tage, an denen ich wirklich ausspannen konnte. Und du?“

„Ich war bei meiner Mutter und meinen Großeltern. Wir haben Heiligabend zusammen gegessen und am nächsten Tag gab es Geschenke. Wir sind spazieren gegangen und ich habe gegammelt. Musste nach Silvester wieder ins Internat zurück“, erzählte sie.

„Wie war es für dich, in einem Internat zu leben? Die ganzen Woche ohne deine Mutter?“

Vanity blies die Backen auf. „Puh, ich fand es eigentlich nie schlimm. Ich war selbst schuld. Habe in den Schulen nur Mist gebaut und mit vierzehn Jahren war es dann genug. Meine Großeltern haben dafür gesorgt, dass ich in ein strenges Internat komme. Doch auch dort habe ich nur rebelliert. Was die Lehrer am meisten ärgerte, war, dass ich trotz des Unfugs immer die Beste auf der Schule war. Das haben sie nie verstanden und machten jedes Mal drei Kreuze, wenn ich geflogen bin.“ Sie kicherte vor sich hin und nahm einen Schluck Wein. „Ich schlage in allen Dingen komplett nach meinem Vater. Du bist schuld, dass ich mich so entwickelt habe.“

Parker hob mahnend den Zeigefinger. „Wage es ja nicht, mir allein die Schuld zu geben, deine Mutter war auch nicht ohne.“

Vanity nickte. „Das stimmt. Sie war eine echt taffe Frau. Leider war der Krebs taffer als sie“, endete sie traurig und starrte in das Glas. „Ich vermisse sie sehr.“

„Das glaube ich dir. Sie fehlt mir auch. Deine Mutter war meine erste große Liebe. Ich habe sie in einer Kneipe kennengelernt. Ein Typ hat sie belästigt und unsittlich angepackt, da habe ich mich eingemischt und den Kerl gewarnt, er sollte doch seine dreckigen Hände von ihr lassen. Er wollte natürlich nicht auf mich hören und schubste mich von sich. Deine Mutter flüchtete unter einen der Tische, als die Prügelei losging und der Blödmann in der nächsten Sekunde auf dem Boden lag. Seine Nase war gebrochen.“

Parker lachte bei dem Gedanken. „Ich bin dann zu deiner Mutter und habe gefragt, ob alles in Ordnung wäre und wie ihr Name ist. Tja, und als ich ihre Hand berührte und in ihre großen, braunen Augen schaute, war es um mich geschehen. Ich hatte mich das erste Mal so richtig verliebt. Mich hatte es voll erwischt, von einer auf die andere Sekunde war ich ihr verfallen. Ich brachte sie nach Hause und ab dem nächsten Tag waren wir zusammen.

Wir haben viel unternommen, uns nie gestritten und ich habe sie zu nichts gedrängt, obwohl ich zwanzig Jahre alt war und sie gerade mal sechzehn. Nach drei Monaten haben wir das erste Mal miteinander geschlafen. Es war wunderschön und dann, nach weiteren drei Monaten kam das Angebot des MI6. Ich lehnte es ab. Ich wollte Anne auf keinen Fall verlassen, denn der MI6 bedeutet: keine Familie.

Plötzlich machte Anne mit mir Schluss. Sie sagte, es sei alles nur ein Spiel gewesen, sie würde mich nicht genug lieben, sie sei zu jung für mich und sie wolle mich nicht wiedersehen. Eine Welt brach für mich zusammen. Ich wollte nur noch eins: sterben. Ein Leben ohne Anne, nicht vorstellbar.

Dann kam Bill Boston vom MI6 zu mir. Er war Ausbilder dort. Er holte mich aus der Leere, die mich seit Wochen erfüllt hatte. Ich nahm das Angebot an und habe Anne nie wieder gesehen.“

Vanity spürte, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. „Sie hat dich nie vergessen und es hat ihr das Herz gebrochen, dich wegzuschicken. Und das alles nur, weil sie mit mir schwanger war und ein Agent kein Kind haben darf. Nicht erpressbar.“

Parker stand auf und setzte sich zu ihr auf den flauschigen Teppich. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie fest an sich. „Glaube mir, ich bereue nichts und auch deine Mutter hat das Richtige getan. Hinterher kann man immer sagen, man hätte sich falsch verhalten. Deine Mutter liebte dich über alles und ist sehr stolz auf dich gewesen. Sie wusste, wer der eigentliche Vater von dir ist. Und nun mal ehrlich: Ich bin doch ein toller Kerl, oder?“, versuchte er sie aufzumuntern, als er Tränen in ihren Augen schimmern sah.

Sie schniefte und wischte sich flink über die Augen. „Ja, bist du. Deswegen hast du ja auch so eine atemberaubend schöne, tolle Tochter.“

Beide sahen sich an und lachten laut los.

 

Der Abend war wunderschön und dauerte lange. Da die Stimmung zwischen den beiden so vertraut und herzlich war, wollte er sie nicht auf Kajol ansprechen und wie sie damit klarkam, wenn Menschen vor ihren Augen die Welt verlassen mussten. Irgendwann und irgendwo ergab sich bestimmt die Gelegenheit dazu.

Vanity erzählte ihm von ihren ersten Fahrradversuchen, wie sie die Einschulung mit ihren Großeltern erlebt hatte, die ersten Sommerferien an der Westküste, ihr erstes Autorennen, ihren ersten Liebeskummer, was sie am liebsten hörte, las und wie sie Jason vor Jahren kennengelernt hatte.

„Weißt du eigentlich, dass der Bengel bis über beide Ohren in dich verschossen ist?“

Vanity gähnte und reckte sich. „Meinst du?“

„Oh, meine Liebe, wenn du das nicht bemerkt hast, bist du eine sehr schlechte Agentin“, neckte er sie und musste ebenfalls gähnen.

Kein Wunder, die Wohnzimmeruhr zeigte kurz nach drei Uhr nachts an. Das Feuer im Kamin war fast niedergebrannt und knisterte leise vor sich hin.

Vanity bekam einen wehmütigen Blick und umschloss mit ihren Armen die aufgestellten Knie. „Es ist schlimm, wenn man jemanden liebt und dieses Gefühl von demjenigen nicht erwidert wird. Du hast recht, Liebe ist unser größter Feind, Dad.“

„Hey, für dich ist es nicht zu spät. Du kannst aussteigen, kannst ein ganz normales Leben führen“, begann er vorsichtig das leidige Thema Berufswahl und hoffte, dass sie ihm nicht wieder an die Kehle sprang.

„Weißt du, wenn ich jetzt bewusst zurückblicke, habe ich noch nie ein normales Leben geführt. Und ich werde auch kein normales Leben führen können. Es würde nie lange gut gehen, dafür bin ich zu … extrem“, brachte sie mit trauriger Stimme hervor.

Sein Blick hing in den kleinen, lodernden Flammen fest. Bei manchen niedergebrannten Holzstücken sah es aus, als würden ihn böse Fratzen anstarren. Andere wirkten fröhlich wie ein verkohlter Smiley. Parker seufzte und verstand ihre Worte nur zu gut, obwohl er lieber etwas anderes gehört hätte. Doch genau in diesem Moment wusste er, spürte er, war es die richtige Entscheidung von Vanity gewesen. Sie musste Agentin sein. Es war ihr schon in die Wiege gelegt worden und es brachte nichts, dagegen anzukämpfen. Er hatte es auch versucht und war kläglich gescheitert. Je mehr man sich gegen seine Bestimmung wehrte, umso schlimmer wurde das Leben, so unerträglich. Es gab nur zwei Lösungen:

Erstens: Man brachte sich um.

Oder zweitens: Man akzeptierte.

Er hatte damals akzeptiert.

Sein Blick löste sich von dem Feuer und er sah zu ihr runter und als sich ihre Blicke trafen und er in diese wunderschönen, klaren, großen Augen blickte, wusste er, sie hatten beide dasselbe Schicksal und gehörten zusammen. Je mehr er sie von dem Agentenjob abbringen würde, umso mehr würde er sie verlieren, sie zum Selbstmord treiben.

„Ich bin übrigens sehr stolz auf dich und ich unterstütze dich in deinem neuen Job. Ich habe heute Abend begriffen, dass wir beide einfach für diese Aufgabe bestimmt sind und wir das Beste daraus machen müssen. Außerdem will ich dich nicht verlieren, meine Jamie Lee“, endete er leise.

Vanity konnte nicht anders und fiel ihm weinend um den Hals. „Danke … danke, ich liebe dich und ich verspreche dir, vorsichtig zu sein und sobald ich in Schwierigkeiten stecke, melde ich mich.“

Er drückte sie ganz fest an sich und spürte ebenfalls Tränen in seinen Augen. Es war das schönste Weihnachten, das er je erlebt hatte. „Ich liebe dich auch und ich bin da, wann immer du mich brauchst.“

Vanity löste sich von ihm und schniefte. „Eine Bitte hätte ich noch.“

Er strich ihr über die feuchte Wange. „Na was denn?“

„Kann ich heute Nacht in deinem Bett schlafen? Ich habe mir als Kind immer gewünscht, neben meinem Vater im Bett zu liegen und dass er mich vor den Monstern der Nacht beschützt.“

Er stutzte über diesen Wunsch, hatte er doch eher damit gerechnet, dass sie sich die neuste Automatik-Waffe wünscht. Diese Kinder …

„Du meinst wohl eher, wer die Monster in der Nacht vor dir schützt?“, neckte er sie.

Kurze Zeit später lag sie neben ihm und schlief tief und fest. Er betrachtete sie eine ganze Zeitlang. Sie war eine absolute Schönheit. Ihre Haut war so rein und schimmerte leicht silbern. Sicherlich der neuste Puder von diesem „H&M“-Laden. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig mit ihrer Atmung. Da lag nun seine Tochter neben ihm im Bett. Wie oft lag irgendeine Frau neben ihm im Bett und keine erfüllte ihn mit solch starken Gefühlen wie dieses hübsche, junge Ding. Er war tatsächlich Vater, sie war tatsächlich seine Tochter. Er hatte vom lieben Gott eine zweite Chance erhalten. Und diese Chance würde er mit seinem Leben beschützen, noch einmal würde er nicht versagen.

Parker legte sich hin und löschte das Licht.

Ja, es waren seine schönsten Weihnachten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Kapitel

 

 

Nachdem die beiden ausgiebig gefrühstückt hatten, machten sie sich auf den Weg zu dieser White-Viper-Piste. Sie fuhren mit einer Gondel zur höchstgelegenen Piste, die es in dem Skigebiet gab.

Der Ausblick und der gigantische Anblick waren einfach atemberaubend. Der Himmel hatte das blaueste Blau, das Vanity bis jetzt gesehen hatte, und die Berggipfel glitzerten, als hätte jemand alle Diamanten der Welt dort oben auf deren Spitze verteilt.

Vanity schnallte sich ihre Ski an und hielt Ausschau nach irgendwelchen Rabauken, die sich auf der Piste herumtrieben.

„Suchst du was?“, fragte Parker, als er den intensiven Blick seiner Tochter bemerkte.

Vanity antwortete nicht sofort und entdeckte vier Snowboardfahrer, die laut grölend über die Piste heizten und mehrere Gäste haarscharf schnitten. Sie trugen die teuerste Kleidung und hatten die besten Boards. Es konnten nur diese Schnösel sein. Wie die gute Frau gestern Abend gesagt hatte: Die Eltern stanken sicherlich vor Geld. Und Vanity konnte diesen Gestank regelrecht riechen.

„Ja, komm mit.“ Mehr sagte sie nicht und fuhr los.

Parker setzte seine Brille auf und folgte ihr. Keine Ahnung, was sie so plötzlich antrieb.

Vanity erreichte schon nach kurzer Zeit den letzten der vier Fahrer und schnitt ihn eiskalt. Sie donnerte ihm sogar direkt über das Snowboard, worauf derjenige ins Trudeln kam und sich mehrmals überschlug. Der Junge schrie und blieb an der Seite der Piste liegen. Seine Kumpels bekamen den Vorfall mit, bremsten ab und eilten zu ihm.

Vanity bremste ebenfalls ab.