Vermächtnis der Schwerter (Band 2) - Feuerzwinger - Michael Rothballer - E-Book

Vermächtnis der Schwerter (Band 2) - Feuerzwinger E-Book

Michael Rothballer

4,6

Beschreibung

Ein vielschichtiges, dramatisches Fantasy-Abenteuer voller Spannung und Tiefgang! "Feuerzwinger" ist der zweite Band der Vermächtnis der Schwerter-Trilogie. Der Titel des ersten Bandes lautet "Tausendsturm". Auf einem kleinen Felsen außerhalb der Burg stand Arden Erenor. Er reckte das funkelnde Schwert Ecorims in den Himmel, das jeden Blick auf sich zog, als wäre es ein Sonnenstrahl, der in eine dunkle Höhle fällt. Angesichts dieser Waffe des Lichts erschien eine Niederlage im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar. Arden sprach zu seinem Heer, doch was er sagte, hatte keine Bedeutung. Es war die Art, wie er es sagte, die wahre Begeisterungsstürme unter den Menschen auslöste. Jedes seiner Worte, jede Geste zeugte von unerschütterlichem Siegeswillen, von der Gewissheit, nicht unterliegen zu können. Egal, was er von ihnen verlangte, die Soldaten würden es mit Freuden ausführen, denn Arden war ihr Held, ihr König, ein leibhaftiger Sohn der Götter …

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Für meinen Vater, dem ich die Worte verdanke

RÜCKBLICK „TAUSENDSTURM“

In der kleinen Hafenstadt Seewaith lebt Arton, der trotz seines jungen Alters im ganzen Land berühmt ist für seine Schwertkünste. Gemeinsam mit seinem Bruder Arden und dem altehrwürdigen Maralon Erenor bildet er in der Kriegerschule Ecorim junge Männer und Frauen aus den ganzen Ostlanden in der Kunst des Schwertkampfs aus. An seinem achtzehnten Geburtstag erfährt Arton, dass er nicht dem Geschlecht der Erenors entstammt, und eine Welt bricht für ihn zusammen. Da er kein Nachfahre des großen Helden Ecorim ist, wird ihm zeit seines Lebens das von ihm so sehr begehrte, machtvolle Schwert seiner Familie verwehrt bleiben. Stattdessen soll sein Halbbruder Arden die legendäre Waffe erhalten.

Da Arton seinen verantwortungslosen Bruder für unwürdig hält, die mächtige Klinge zu führen, beginnt er, nach einem anderen Erben aus dem Hause Erenor zu suchen, der das Schwert an Ardens Stelle übernehmen könnte. Tatsächlich findet Arton ein uneheliches Kind Ardens mit Namen Thalia und bringt es in die Kriegerschule, ohne dass jemand von der Herkunft des Mädchens erfährt.

Inzwischen machen sich in Tilet, der Hauptstadt von Citheon, die Diebe Barat und Rai daran, die Thronschätze des Königs Jorig Techel zu stehlen. Rai wird in der Schatzkammer jedoch von einer kleinen, schwarz verhüllten Gestalt überrascht, deren geräuschvolles Eindringen die Wachen alarmiert. Rai greift zur Verteidigung nach einem schwarzen Schwert, das in der Schatzkammer liegt, und mit dessen Hilfe gelingt ihm die Flucht. Rai und Barat werden wegen dieses Schwertes sowohl von den Soldaten des Königs als auch von mehreren gnomenartigen Kreaturen erbittert verfolgt. Barat erkennt die unheimlichen, kleinen Wesen als Zarg, die einst zur Verteidigung der großen Festung Arch Themur eingesetzt wurden. Außerdem hegt er den schrecklichen Verdacht, dass es sich bei der dunklen Klinge, die Rai durch Zufall in der Schatzkammer ergriff, um das mächtige Schwert des gefürchteten Herrschers von Arch Themur handeln könnte, der damals in der großen Schlacht zwischen dem Norden und dem Süden von Ecorim Erenor bezwungen wurde.

In Seewaith kommen sich unterdessen Arton und seine Schwertschülerin Tarana näher und verbringen eine Nacht miteinander, die nicht ohne Folgen bleibt.

Tags darauf kommt es zu einem Überfall auf die Kriegerschule. Die Attentäter werden von dem verräterischen Schwertschüler Megas angeführt, der vom königlichen Berater Abak Belchaim beauftragt wurde, die ganze Familie Erenor auszulöschen. Durch die Ermordung der mit dem alten Königshaus verwandten Erenor-Familie soll Abak seinem Herrn Jorig Techel den Thron sichern.

Doch der Überfall hat nur zum Teil Erfolg. Zwar werden Maralon und die Schwertschüler Estol und Derbil getötet und die Schule brennt völlig nieder, Arden und Arton überleben jedoch. Arton verliert allerdings durch einen Schwertstreich sein linkes Auge und endet als Gefangener auf einem Sklavenschiff. Von den anderen wird er durch unglückliche Umstände für tot gehalten. Die überlebenden Schwertschüler finden in den Ruinen der Kriegerschule das Testament Maralon Erenors, in dem offenbart wird, dass Arden der Sohn Ecorims und damit der legitime Thronfolger des Landes ist. Daraufhin leisten Arden, der mittlerweile das Schwert Ecorims an sich genommen hat, und die verbliebenen Schwertschüler Meatril, Targ, Deran, Eringar und Daia einen Eid, Jorig Techel zu stürzen. Nur Tarana beteiligt sich nicht an dem Racheschwur. Bald stellt sie fest, dass sie ein Kind von Arton erwartet.

Sobald Jorig Techel und sein Berater Abak von dem Scheitern des Überfalls auf die Familie Erenor und den rebellischen Umtrieben Ardens erfahren, versuchen sie, alle Landesfürsten für einen Krieg gegen das aufrührerische Fendland zu gewinnen. Doch der Citarim, der oberste Priester des Sonnengottes Cit, bringt die Landesherren dazu, Arden als rechtmäßigen Thronerben anzuerkennen und Jorig Techel ihre Unterstützung zu verweigern. Daraufhin beschließt Jorig Techel, selbst mit einem Heer nach Fendland zu ziehen.

Die beiden Diebe Rai und Barat geraten inzwischen in die Fänge von Sklavenjägern, die eigentlich keine Menschen, sondern kleine, kindlich anmutende Waldwesen jagen, die von Barat Wurzelbälger getauft werden. Zusammen mit den Wurzelbälgern werden Rai und Barat auf einem Schiff nach Norden zu einem Erzbergwerk auf der Insel Andobras gebracht. Einer der Sklavenjäger namens Ferrag nimmt Rai das schwarze Schwert ab und verkauft es an einen ranghohen Offizier.

In der Sklavenmine Andobras legt sich Rai gleich zu Beginn mit Ulag, dem riesenhaften Beherrscher der Mine, an. Fortan ist es für ihn unmöglich, sein geschlagenes Erz für Essen einzutauschen, da alle Vorräte von Ulag kontrolliert werden. Als Barat schwer erkrankt, ist Rai gezwungen, sich zur Tarnung einer Gruppe Xeliten anzuschließen, fanatische Anhänger des Unterweltgottes Xelos. Er gerät in eine Auseinandersetzung mit deren Anführer und nur dank des rettenden Eingreifens eines narbengesichtigen Einäugigen gelingt es Rai, Ulag und dem Xelitenführer zu entwischen.

Um nicht zu verhungern, bittet Rai danach einen Jungen namens Warson darum, sein Erz bei Ulag gegen Nahrung einzutauschen. Der Junge wird jedoch von Ulag ertappt und getötet. Gleichzeitig setzt ein Unwetter die tieferen Bereiche der Mine unter Wasser. Beim Versuch, das Leben des Einäugigen zu retten, der ihm gegen die Xeliten beigestanden hat, stürzt Rai selbst in die Fluten. Bewusstlos wird er durch einen unterirdischen Fluss aus dem Bergwerk gespült.

Außerhalb der Mine trifft Rai auf Kawrin, mit dessen Hilfe er heimlich in die Mine zurückkehrt, um Barat und die anderen Sklaven zu befreien. In der Auseinandersetzung mit Ulag kommt der mysteriöse Einäugige Rai erneut zu Hilfe und erschlägt den Riesen. Rai bittet den Narbengesichtigen nach dem Kampf, ihm seinen richtigen Namen zu nennen: Er lautet Arton. Zwischen Rai und Arton beginnt eine zaghafte Freundschaft.

Beflügelt von ihrem Sieg über Ulag beschließen Arton und Rai, aus dem Bergwerk zu fliehen, um zusammen mit den befreiten Sklaven die Festung am Hafen von Andobras anzugreifen und damit die Kontrolle über die gesamte Insel zu übernehmen. Bei dem Kampf um die Festung sehen sich Arton, Rai und ihre Anhänger unvermutet mit einer ganzen Einheit derselben Zarg konfrontiert, die Rai und Barat auch nach dem Diebstahl des schwarzen Schwertes verfolgten. Die Zarg kämpfen ohne Rücksicht auf eigene Verluste und stehen offensichtlich unter der Kontrolle des Hohepriesters der Insel.

Als Arton im Kampf auf den Festungskommandanten Garlan trifft, der gerade das schwarze Schwert in Sicherheit bringen will, nimmt er diesem die Klinge ab. Daraufhin vervielfachen sich auf einmal seine Kräfte. Mithilfe des dunklen Schwertes gelingt es Arton, die geistige Kontrolle über die Zarg zu übernehmen und den Sieg herbeizuführen. Nach der Schlacht stellt sich heraus, dass es sich bei den Zarg um in schwarze Mäntel gehüllte Wurzelbälger handelt, die nun von Arton in die Freiheit entlassen werden. Rai, Barat, Kawrin und der ehemalige Minensklave Erbukas träumen nach dem Sieg von einer „freien Insel“, auf der es keine Sklaven mehr geben soll, und beginnen, erste Vorbereitungen dafür zu treffen.

Arton sucht währenddessen bei dem alten Hohepriester Nataol nach Antworten und stellt ihn bezüglich des schwarzen Schwertes und dessen Verbindung zu den Wurzelbälgern zur Rede. Nataol erkennt in dem Schwert die sagenhafte Klinge Themuron wieder, die einst der Herr von Arch Themur, Hador Badach, führte. Sie wurde von den Göttern erschaffen, um ihrem Träger die Kontrolle über die Zarg, die der Citpriester als Themuraia bezeichnet, zu ermöglichen. Arton beschließt, so lange auf der Insel Andobras zu bleiben, bis er alles erfahren hat über das magische Schwert Themuron, das von den Menschen der Ostlande Tausendsturmgenannt wird.

MACHTWECHSEL

In endlosen Wasserfäden fiel der Regen auf die Stadt Andobras hernieder. Rai hasste den Regen. Immer wenn der Himmel seine Schleusen über der Insel öffnete, musste er an das Bergwerk denken, wie es in jener schicksalhaften Nacht überflutet worden war. Er erinnerte sich noch genau an die Kälte, die reißenden Wassermassen, seine Verzweiflung, die Todesangst, die ein ständiger Begleiter gewesen war, und – die Dunkelheit. Diese schreckliche, alles beherrschende lichtlose Finsternis würde ihn vermutlich bis an sein Lebensende in seinen Träumen heimsuchen. Aber da gab es noch etwas anderes, etwas Schlimmeres, das ihn jede Nacht in seinen Albträumen verfolgte: große, unschuldige Augen, die ihn vorwurfsvoll anblickten. Es waren die Augen des jungen Warson. Der kleine Junge war in den Minen von Ulag getötet worden, weil er für Rai Erz tauschen wollte. Rai sah Warsons Gesicht sogar manchmal am helllichten Tag. Wie jetzt. Ihn fröstelte.

Dabei fehlte es an diesem regnerischen Morgen eigentlich nicht an genügend Ablenkung. Heute wollten Rai, Barat, Kawrin und Erbukas das erste Mal als neue Machthaber zu den Bewohnern von Andobras sprechen und waren deshalb bereits auf dem Weg von der Festung zur Stadt. Als sie endlich den Hafen erreichten, hatte das unablässig herabrieselnde Nass schon den Weg durch die unterste Schicht schützender Kleidung gefunden und kroch nun klamm über die Haut, wo es den letzten Rest Wärme zu tilgen begann. Raschen Schrittes hielten die vier neuen Herren der Insel auf die große Markthalle zu, wo noch vor wenigen Tagen mit Sklaven gehandelt worden war. Heute drängte sich dort der Gutteil der Stadtbevölkerung, wobei nicht alle unter dem schützenden Gebäudedach Platz fanden. Die mit Spannung erwartete Rede der selbst ernannten Machthaber veranlasste die Menschen jedoch, auch bei diesem feuchtkalten Wetter am Versammlungsort auszuharren. Selbst die Minenflüchtlinge waren aus ihren neuen Behelfsunterkünften in der Festung herabgeströmt und scharten sich nun mit den bereits wartenden Stadtbewohnern vor den Eingängen der Markthalle.

Barat ließ für sich und seine drei Gefährten von einer Gruppe aus vierzig voll gerüsteten und gut bewaffneten Minenarbeitern eine Gasse durch die Menschenmenge bahnen. Im Zentrum der Markthalle waren einige der Tische, die bisher den Finanzsekretären beim Ankauf der Sklaven als Schreibpult gedient hatten, zusammengeschoben worden, sodass eine kleine Tribüne entstanden war. Auf diese kletterten Barat, Rai, Kawrin und Erbukas nun hinauf.

„Na, das nenne ich mal einen frostigen Empfang“, flüsterte Kawrin, nachdem er sich von ihrer erhöhten Position aus einen ersten Eindruck von der Stimmung der wartenden Menge verschafft hatte. „Ich hoffe, das liegt am Wetter.“

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend ließ nun auch Rai seinen Blick über die Köpfe der Zuhörer schweifen. Ihre Zahl überstieg wahrscheinlich die Tausend, wobei aus den Gesichtern neben erwartungsvoller Spannung auch nicht selten Ablehnung oder gar grimmige Wut abzulesen war. Denn wider Erwarten hatte die Stadtbevölkerung den Machtwechsel auf der Insel nicht stillschweigend hingenommen. Besonders nachdem alle der über dreihundert ehemaligen Zwangsarbeiter des Bergwerks nach ihrer Befreiung in die Stadt gebracht worden waren, begannen sich die Stadtbewohner zunehmend feindselig zu verhalten. Rai musste jedoch zugeben, dass er diese Reaktion in gewisser Weise nachvollziehen konnte. Denn bei den ehemaligen Minenarbeitern handelte es sich zumeist um vollkommen ausgemergelte Kinder, die erst einmal durch reichlich Nahrung aufgepäppelt werden mussten. Vorerst sollte dies mit den Vorräten der Festung geschehen. Aber natürlich war den Bewohnern von Andobras klar, dass sie zur Versorgung der Hunderte von Minenarbeitern ebenfalls einen beträchtlichen Beitrag würden leisten müssen, sobald die Nahrungsmittel der Burganlage aufgebraucht waren.

Zusätzlich erzürnt hatte die Andobrasier das Anheben der schweren Sperrkette am Eingang des Hafens, was vorläufig das Verlassen der Insel und auch jeglichen Handel mit Schiffen vom Festland unmöglich machte. Erbukas, Kawrin, Rai und Barat hatten sich nach langer Diskussion zu dieser vorübergehenden Sicherheitsmaßnahme entschlossen, um ein wenig Zeit zu gewinnen und die überstürzte Flucht der Stadtbewohner oder das überraschende Anlanden eines Kriegsschiffes aus Tilet zu verhindern. Es gab an beiden Enden der Kette eine Winde, mit der die vielgliedrige Eisenbarriere angehoben werden konnte. Eine dieser Hebevorrichtungen befand sich in dem Leuchtturm gegenüber dem Festungsplateau, die andere in einer lediglich über die Burg zu erreichenden Felsenkammer. Da der Leuchtturm derzeit unbemannt war und von den neuen Machthabern stets gut verschlossen gehalten wurde, konnte allein von der Wehranlage aus die Sperrkette bewegt und damit der Hafen, die Lebensader der Stadt Andobras, beherrscht werden.

Aber diese Einschränkung hatte die Andobrasier an den Rand eines offenen Aufruhrs gebracht. Es war höchste Zeit, dass die neuen Herren der Insel das Wort an die Stadtbewohner richteten, um ihnen die mannigfaltigen neuen Möglichkeiten zu verdeutlichen, die sich nach dem Machtwechsel für sie ergaben. Barats Idee von der „freien Insel“ musste den Leuten erst noch schmackhaft gemacht werden, damit bei der Umsetzung dieses Vorhabens nicht eine massenhafte Flucht in Richtung Festland einsetzte. Denn ob es Rai und den anderen nun gefiel oder nicht, ohne die Städter würden sie in Kürze ernsthafte Schwierigkeiten bei der Nahrungsbeschaffung bekommen. Die meisten der geschundenen Minensklaven waren noch nicht in der Verfassung, um für die Jagd oder den Fischfang eingesetzt zu werden. Die wenigen von ihnen, die sich als stark genug erwiesen hatten, wurden dringend benötigt, die aufgebrachten Stadtbewohner im Zaum zu halten. Daher musste nun jemand die richtigen Worte finden, damit dieser schwelende Konflikt sich nicht zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung ausweitete. Auch wenn es nicht offen ausgesprochen worden war, so hatten sowohl Rai als auch Erbukas und Kawrin stillschweigend diese Aufgabe Barat zugedacht, der sich auch gegenüber den Minenflüchtlingen bereits zweimal als überzeugender Redner erwiesen hatte.

Langsam senkte sich eine trügerische Ruhe über die Anwesenden. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die vier neuen Stadtherren, die jetzt auf dem Podest aus Tischen standen, als hätten sie dieses nicht freiwillig bestiegen, sondern wären von der Menge dort hinaufgejagt worden. Rai wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass Arton sie begleitet hätte, aber der einäugige Kämpfer gab sich seit der Eroberung der Festung wieder ebenso unzugänglich wie zu dem Zeitpunkt, als Rai ihn unten in den Schächten der Mine das erste Mal getroffen hatte. Die bloße Anwesenheit des kräftigen Schwertkämpfers hätte bereits ausgereicht, um die Feindseligkeit der Andobrasier so weit zu zügeln, dass es nicht zum Ausbruch von Gewalt kommen würde. Ohne Artons Unterstützung befielen den Tileter Straßendieb angesichts der finsteren Blicke, die ihm einige der Städter zuwarfen, ernsthafte Zweifel über den friedlichen Verlauf dieser Zusammenkunft.

Erwartungsvoll, beinahe flehentlich richtete Rai daher seinen Blick auf Barat, der noch unschlüssig die versammelte Menge begutachtete. Kawrin und Erbukas taten es dem jungen Tileter gleich und so fand Barat, als er sich fragend nach den anderen umsah, drei auf ihm ruhende Augenpaare, die ihn unmissverständlich dazu aufforderten, nun endlich das Wort zu ergreifen. Der alte Soldat seufzte ergeben, fuhr sich dann nach Konzentration suchend mit der Hand übers Gesicht und wandte sich schließlich an die wartende Menge.

„Mein Name ist Barat“, stellte er sich mit lauter Stimme vor, „und ich komme aus Tilet. Der Kleine da neben mir ist Rai, auch aus Tilet, der lange Blonde dort ist Kawrin aus Seewaith und dieser bärtige Geselle hier nennt sich Bergmeister Erbukas, seine Heimat ist Andobras.“

„Also eigentlich stamme ich aus dem nördlichen Citheon …“, widersprach Erbukas halbherzig und zu leise, als dass es die Versammelten hätten hören können.

„Schscht“, zischte Rai zu ihm hinüber, „ist doch egal, woher du wirklich kommst, aber es macht sich bestimmt gut, wenn sie glauben, dass unter uns einer aus ihren Reihen ist.“ Erbukas reagierte auf diese Zurechtweisung des kleinen Tileters mit dem missbilligenden Heben einer Augenbraue, erwiderte aber nichts.

„Wir sind die Anführer der ehemaligen Sklaven“, fuhr Barat mit seiner Rede fort, „die aus dem Bergwerk von Andobras entkommen sind. Zu uns gehört noch ein weiterer Kämpfer, der heute leider nicht anwesend sein kann. Sein Name lautet Arton. Er war es, der dem Tyrannen Ulag, dem früheren Beherrscher des Bergwerks, mit bloßen Händen das Genick gebrochen hat. Und das, obwohl Ulag so groß wie zwei Männer war und so stark wie zehn. Nur dem Helden Arton ist es zu verdanken, dass wir dieses Ungetüm überwinden und die Mine verlassen konnten.“

Rai stellte beeindruckt fest, dass Barat trotz Artons fehlender Präsenz versuchte, dessen einschüchternde Aura zu beschwören. Was genau der Grund für das Fernbleiben des Kriegers war, konnte Rai nicht ermessen. Unmittelbar nach dem Entkommen aus dem Bergwerk und der Eroberung des Wachturms war Arton erstaunlich aufgekratzt gewesen und Rai hatte schon zu hoffen gewagt, dass der düstere Schwertfechter seine grimmige Verbissenheit ablegen und ein wenig offener werden würde. Aber spätestens nach dem Vorfall mit Kawrin begann Arton, wieder dazu überzugehen, sich nur noch um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Kawrin hatte bei dem Versuch, wichtige Informationen über Artons Verschleppung aus Seewaith zurückzuhalten, den Zorn des Kriegers zu spüren bekommen. Seitdem beschäftigte sich Arton hauptsächlich mit dem schwarzen Schwert, das ihm beim Kampf um die Festung in die Hände gefallen war. Außerdem stattete er dem immer noch bewusstlosen Hohepriester des Cittempels regelmäßige Besuche an dessen Krankenlager ab. Der Grund für dieses merkwürdige Interesse an dem betagten Glaubensführer blieb Rai jedoch ein Rätsel und ebenso wenig konnte er Artons Weigerung verstehen, sich an dem so entscheidenden Gespräch mit der Stadtbevölkerung am heutigen Tag zu beteiligen.

„Wo ist denn dieser große Held?“, rief plötzlich jemand aus der Menge. „Warum hat ihn noch nie jemand gesehen? Gibt es ihn überhaupt?“

Ein Raunen lief durch die Halle und es war klar erkennbar, dass der Zwischenrufer bei den versammelten Andobrasiern Zweifel an Barats Worten gesät hatte.

„Er bewacht mit einigen Leuten die Festung“, antwortete Barat ein wenig ungehalten, während er versuchte, den Zwischenrufer unter den Zuhörern auszumachen. „Und von den Minenarbeitern hat ihn jeder schon einmal gesehen. Nur hier unten in der Stadt war er noch nicht, deshalb habt ihr ihn bisher nicht zu Gesicht bekommen. Aber seid gewiss, mit seiner Schwertkunst und Kraft kann sich kein Zweiter messen. Durch Artons Hilfe gelang uns auch die Eroberung des Wachturms am Eingang der Mine und schließlich die Einnahme der Festung Andobras, die seit ihrer Erbauung noch niemals gefallen ist.“

„Nichts weiter als Glück und Hinterlist“, tönte es aus der Menschenmasse. Ein paar der Anwesenden nickten zustimmend.

Rai war sich ziemlich sicher, dass diese aufwieglerischen Einwürfe immer von demselben Sprecher stammten, fand es aber ebenso wie Barat unmöglich, den Störenfried unter den Hunderten von Menschen ausfindig zu machen. Aber selbst wenn ihm das gelungen wäre, was hätte es schon genutzt? Schließlich wollten sie die Städter für sich gewinnen und nicht einen von ihnen gleich zu Anfang gewaltsam aus der Markthalle werfen lassen.

Außerdem konnte man nie wissen, wie die Andobrasier bei solch einem Vorgehen reagieren würden. Rai musste sich in diesem Augenblick selbst daran erinnern, dass bei Weitem nicht alle ehemaligen Sklaven als verlässlich gelten konnten. Abgesehen von den vielen, bei denen die Folgen der langen Zwangsarbeit die körperliche Beanspruchung eines Kampfes nicht zuließen, gab es unter Rais früheren Mitgefangenen immer noch die Gruppe der Raffer. Diese niederträchtigen Halsabschneider konnten sich nun zwar nicht mehr in der Dunkelheit verbergen, wohl aber in der Masse der Minenarbeiter. Dort würden sie so lange unentdeckt bleiben, bis sich ihnen eine günstige Gelegenheit bot, erneut zuzuschlagen. Bei solchermaßen eingeschränkt verlässlichen Verbündeten war die Vermeidung jeder gewaltsamen Auseinandersetzung mit der Stadtbevölkerung das einzig Ratsame.

Barat schien zu demselben Schluss gekommen zu sein, denn er ignorierte die Bemerkung ganz einfach, als er weitersprach: „Wir haben die Kontrolle über diese Insel an uns gebracht, weil wir wollen, dass die grausame und würdelose Sklavenarbeit im Bergwerk ein für alle Mal aufhört. Ebenso soll der Handel mit Sklaven für immer beendet werden. Überhaupt soll niemand auf dieser Insel mehr zu etwas gezwungen werden, das er nicht tun will.“

„Dann senkt die Sperrkette!“ Dieser Ausruf wurde gleich vielfach von den Anwesenden wiederholt und es dauerte eine Weile, bis wieder Ruhe in der Halle eingekehrt war.

Barat versuchte, die Menge zu beschwichtigen. „Die Sperrkette wird wieder gesenkt werden, sobald ihr alles gehört habt, was wir zu sagen haben.“

Rai bewunderte Barat dafür, dass er so gelassen blieb, obwohl seine Ansprache alles andere als reibungslos verlief. Seine Ankündigung, den Hafen wieder freizugeben, verfehlte allerdings nicht ihre Wirkung und es war freudig überraschtes Murmeln unter den Andobrasiern zu hören.

„Wir wollen niemanden gegen seinen Willen hier festhalten“, hob Barat von Neuem an. „Wir möchten euch aber wissen lassen, welch einzigartige Möglichkeiten sich zukünftig auf dieser Insel für euch bieten. Jeder hier soll absolut frei sein und kommen und gehen können, wie es ihm beliebt. Es wird keine Steuern geben, sondern nur anfangs eine geringe Abgabe von Nahrungsmitteln zur Versorgung der bedürftigen Minenflüchtlinge. Diese Abgabe wird sofort eingestellt, sobald alle sich wieder selbst ernähren können. Danach wandert jede Münze, die ihr durch Handel, Fischfang, Handwerk, Bewirtung und andere ehrliche Arbeit verdient, ausschließlich in eure eigene Tasche.“

Das beifällige Getuschel, das diesen Worten folgte, wurde durch einen erneuten Zwischenruf übertönt: „Das ist doch ein Haufen Pferdemist! Die Insel braucht eine Garde. Die Festung, die Straßen, der Hafen müssen erhalten werden und ihr selbst werdet auch nicht nur von Luft und Wasser leben. Das kostet alles Geld. Wie wollt ihr das aufbringen, wenn ihr keine Steuern erhebt?“

Diesmal war es Rai beinahe gelungen, den Zwischenrufer zu entdecken. Die Stimme kam von jemandem innerhalb einer kleinen Gruppe auffällig dunkel gekleideter Gestalten, etwa zehn Schritt von der Rednertribüne entfernt. Nur welcher von ihnen gesprochen hatte, war Rai auch dieses Mal entgangen. Aber er hatte bereits einen Verdacht.

„Ganz einfach“, erwiderte Barat, bemüht seine Fassung zu wahren. „Wir werden ebenso unser Brot verdienen müssen wie ihr. Im Bergwerk von Andobras wird auch weiterhin geschürft, allerdings nur noch mittels bezahlter freiwilliger Arbeitskräfte. Das Erz und die daraus hergestellten Schmiedewaren sollen verkauft werden und der Gewinn wird für die Bezahlung der Minenarbeiter, die Erhaltung der Stadt, den Unterhalt der Garde und alle sonstigen Ausgaben verwendet, die dem Allgemeinwohl dienen.“

„Aber wer entschädigt uns dafür, dass wir euch in nächster Zeit alle durchfüttern müssen?“ Die vielstimmigen Unmutsbekundungen, welche dieser eingeworfenen Frage folgten, zeigten deutlich, dass dies für die Stadtbevölkerung eines der drängendsten Probleme darstellte.

„Das wird sich aber später für euch auszahlen“, beeilte sich Barat, zu versichern. „Dann, wenn die Minenflüchtlinge als neue Stadtbewohner Fische aus dem Meer holen, neue Felder anlegen oder das Erz aus den Minen zutage fördern. Das wird der ganzen Insel zu Wohlstand verhelfen, denn die neuen Einwohner werden ihr verdientes Geld in euren Geschäften ausgeben. Zudem sind wir nicht mehr so sehr auf Lieferungen vom Festland angewiesen, die Preise für Nahrung und andere Güter werden sinken, wenn wir sie selbst herstellen. Vorläufig gibt es natürlich keinen Ersatz für eure Aufwendungen, doch langfristig wird es sich für euch lohnen.“ Barat setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

„Was ist mit dem Tempelgold?“

Nun war es um Barats Beherrschung wie auch um die mühsam aufrechterhaltene Ruhe in der Markthalle endgültig geschehen. Der Veteran ließ seinen Blick zornig über die aufgeregten Andobrasier schweifen, die offenbar durch die bloße Erwähnung des Wortes „Gold“ vollkommen außer sich gerieten. Barat wusste, dass bei der Durchsuchung des Tempels außer einer großen Zahl von Kisten mit Waffen und Rüstungen keine weiteren Dinge von Wert gefunden worden waren. Wie dieser unliebsame Zwischenrufer darauf kam, dass in dem Cittempel innerhalb der Festung noch irgendwelche Goldschätze verborgen liegen sollten, blieb ihm schleierhaft. Aber natürlich weckten solche Gerüchte, ob nun wahr oder nicht, Begehrlichkeiten.

Indessen hielt Rai seinen Blick unverwandt auf einen Mann in dunklem Mantel inmitten der Zuhörer gerichtet. Der letzte Satz war zweifelsohne von dieser zwielichtigen Gestalt gekommen. Außerdem begann für Rai die vage Vermutung, dass er diesen Aufwiegler bereits kannte, nun zur Gewissheit zu werden. Auch wenn das Gesicht unter der Kapuze des schweren Reitermantels, den der Mann trug, nicht zu erkennen war, so offenbarte das Kleidungsstück trotzdem ein körperliches Merkmal, das Rai den notwendigen Hinweis lieferte. Der rechte Mantelärmel hing nämlich schlaff herab, was darauf schließen ließ, dass dem Mann ein Arm fehlte. Da Rai auch die Ausdrucksweise und der Klang der Stimme bekannt vorkamen, blieb nun kaum noch ein Zweifel: Es war der Hundeführer Ferrag.

Rai nutzte die momentane Unruhe und trat nach vorn zu Barat, der erfolglos versuchte, die Menge mit strafenden Blicken zum Schweigen zu bringen.

„Der Zwischenrufer ist Ferrag“, flüsterte Rai Barat ins Ohr. „Er steht da vorn, etwa zehn Schritt von der Tribüne entfernt. Er hat sich in einen langen Mantel gehüllt und wird von einigen dunkel gekleideten Männern umgeben. Das sind wahrscheinlich die Wurzelbalg-Jäger.“ Die Erinnerung, wie diese Männer mit ihrer Hundemeute Rai, Barat und auch einige Wurzelbälger durch den Wald gehetzt und schließlich auf ihr Sklavenschiff verschleppt hatten, erfüllte Rai noch immer mit Schrecken.

Barat kniff angespannt die Augen zusammen und suchte die von Rai beschriebene Gruppe inmitten der versammelten Städter. Bald schon heftete sich auch sein Blick in glühendem Zorn auf den verhassten Hundeführer.

„Diese widerliche Zecke“, zischte Barat. „Ich dachte, der hätte uns während der Schiffspassage genug gepiesackt. Aber wie es scheint, sind wir ihn noch immer nicht los.“

Barat räusperte sich und rief dann, so laut er konnte: „Gold!“

Augenblicklich verstummten die meisten Anwesenden, als handle es sich bei diesem Wort um eine Zauberformel.

„Gold“, wiederholte Barat mit durchdringender Stimme, „haben wir bisher nicht finden können im Cittempel. Aber, bester Ferrag – so lautet doch Euer Name …?“ Er deutete auf den Hundeführer. „Wenn Ihr schon so viel zu sagen habt, dass Ihr mit Euren Einwürfen jeden meiner Sätze begleiten müsst, so tretet doch nun vor und sprecht von Angesicht zu Angesicht aus, was Ihr so dringend loswerden wollt.“ Barat winkte Ferrag aufmunternd nach vorn.

Der Einarmige zögerte einen Moment, dann schlug er die Kapuze zurück und bahnte sich seinen Weg zur Rednertribüne bis kurz vor die dort postierten Wachen. Etwa zwei Schritt entfernt von den Tischen blieb Ferrag stehen und blickte herausfordernd zu Barat hinauf.

„Ich weiß genau“, rief er selbstsicher, „dass die Citpriester massenweise Gold in ihrem Tempel gehortet haben. Und als Entschädigung für euer Auftauchen hier will ich davon einen Teil abhaben.“ Er blickte sich zu den anderen Stadtbewohnern um. „Ihr doch auch, oder?“

Die Andobrasier erwiderten diese Frage mit eifrigem Nicken und bestätigenden Rufen.

Barat lächelte und entgegnete bedächtig: „Ich kann mir denken, dass Ihr, verehrter Ferrag, sicherlich gut Bescheid wisst über die Reichtümer des Tempels, denn Ihr habt ja für Eure Dienste als Sklavenjäger schon reichlich Gold von den Citpriestern erhalten.“ Barat ließ seinen Blick nun eindringlich über die Anwesenden gleiten. „Aber ich kann nur noch einmal wiederholen, dass wir kein Gold im Tempel gefunden haben. Und selbst wenn“, Barats Stimme gewann zunehmend an Schärfe, „würden wir es sicherlich nicht jemandem wie Ferrag überlassen, der bisher seinen Unterhalt mit der Sklavenjagd verdient hat und der Menschen schlechter behandelt als seine Hunde. Eben für solche Leute wie Euch, Ferrag, ist Andobras von jetzt an der falsche Ort. Ihr werdet einer der Ersten sein, die die Insel verlassen dürfen, das verspreche ich. Falls Ihr wider Erwarten bleiben wollt, so sei Euch auch das freigestellt, aber Euch muss klar sein, dass Ihr für jedes Eurer Vergehen von nun an zur Rechenschaft gezogen werdet. Ihr müsst ein völlig neues Leben beginnen, wenn Ihr weiterhin das Recht genießen wollt, ein Bürger von Andobras zu sein. Skrupellose Gesellen werden keinen Platz mehr auf Andobras finden, solange die Insel unter unserer Kontrolle ist!“

Ferrags Gesicht war rot vor Zorn. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, drängte sich plötzlich ein weiterer Mann nach vorne, der wild mit dem Zeigefinger gestikulierte und immer wieder „Lügner“ brüllte.

„Nun beruhigt Euch doch“, versuchte Barat, den Näherkommenden zu beschwichtigen. „Wen bezeichnet Ihr als Lügner und weshalb?“

„Das, was Ihr hier erzählt, ist eine unverschämte Lüge!“, schrie der Mann außer sich. „Wie könnt Ihr behaupten, dass keine Skrupellosen mehr auf Andobras geduldet werden? Unter Euch sogenannten neuen Stadtherren verbirgt sich ja selbst ein feiger Verbrecher! Ein dreister Lügner und ein heimtückischer Mörder! Und Ihr wollt mir erzählen, Andobras wird unter Eurer Herrschaft ein besserer Ort!“ Er schnaubte verächtlich.

Barat runzelte verwirrt die Stirn und wollte gerade etwas fragen, doch der aufgebrachte Sprecher gab ihm keine Gelegenheit dazu.

„Dieser dort“, kreischte der Mann beinahe hysterisch und zeigte mit dem Finger auf Rai, „der Kleine da, der ist schuld am Tod meines einzigen Sohnes! Belogen und betrogen hat er mein Kind! Er ist ein götterverfluchter Mörder und muss bestraft werden!“

Erschüttertes Schweigen herrschte in der Halle. Mit einem Mal fühlte Rai alle Augen auf sich ruhen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, als hätte er einen Geist gesehen. In gewisser Weise traf das auch zu, denn der Mann, der ihm die Schuld an dem Tod des jungen Warson wieder schmerzlich in Erinnerung rief, war niemand anderes als Nessalion – Warsons Vater. Wie ein Rachedämon schien er aus den Abgründen des Bergwerks emporgestiegen zu sein, um hier inmitten der Versammlung, im denkbar schlechtesten Moment, seine Anklage gegen Rai zu erheben.

„Rai“, raunte ihm Barat zu, „was redet dieser Kerl da? Du kannst diese Beschuldigung nicht auf dir sitzen lassen!“

„Ich, ich …“, stotterte Rai halblaut. „Das war doch keine Absicht.“

„Habt Ihr das gehört?“, rief Nessalion triumphierend und drängte sich bis an die Wachen heran, die die Tribüne umstanden. „Er hat es sogar zugegeben! Ich fordere Euch auf, diesen Verbrecher herauszugeben, damit er bestraft werden kann, wie er es verdient. Dann werde ich vielleicht glauben, dass jetzt Gerechtigkeit herrscht auf Andobras.“

„Richtig so!“, schaltete sich nun auch Ferrag ein, der diese willkommene Gelegenheit, weiter Unruhe zu stiften, nicht ungenutzt verstreichen ließ. „Zeigt, dass es Euch ernst ist, mit Euren schönen Worten. Lasst Taten sprechen! Gebt den Mörder heraus!“ Aus der Menge kamen vereinzelte ähnliche Rufe, aber die meisten warteten gespannt, was nun geschehen würde.

„Schweigt, und zwar beide!“, brüllte Barat wütend. „Ihr seid doch verrückt! Rai hat niemandem etwas getan und daher braucht auch niemand bestraft zu werden.“

„Wir sollten gehen“, zischte Erbukas den anderen zu, „das wird hier zu brenzlig.“ Kawrin hatte bereits die Hände auf die Griffe der beiden Dolche gelegt, die unter seinem Hemd verborgen waren.

„Wenn ihr ihn nicht freiwillig herausgebt“, schrie Nessalion unbeirrt weiter, „dann werde ich ihn eben holen.“ Daraufhin machte er einen Satz vorwärts, brach zwischen zwei völlig verdutzten Wächtern hindurch und packte Rai am Bein, um ihn von der Tribüne zu zerren. Plötzlich blitzten an mehreren Stellen in der Menge Waffen auf. Auch Ferrag hatte auf einmal ein Schwert in der Hand, um damit einen der Wächter vor der Rednertribüne zu attackieren. Barat war wie gelähmt. Er konnte einfach nicht fassen, was sich da gerade vor seinen Augen abspielte. Nun geschah genau das, was er mit seiner Ansprache zu verhindern gehofft hatte.

Kawrin riss seine Dolche aus dem Gürtel, um Rai zu Hilfe zu eilen. Dieser war von dem wie besessen wirkenden Nessalion bereits von der Rednertribüne gezogen worden und versuchte vergeblich, wieder auf die Füße zu kommen. Beherzt sprang Kawrin von den Tischen hinab zu seinem Freund, doch prallte er dabei mit einem der gerüsteten Minenarbeiter zusammen, der gerade in diesem Moment einen Schritt vor den herandrängenden Angreifern zurückgewichen war. Mittlerweile wurden die vor dem Podest stehenden Wachen von wenigstens drei Dutzend bewaffneten Männern in die Zange genommen.

„Bleibt zusammen!“, rief Erbukas und packte Barat am Arm, der sich immer noch nicht gefangen hatte. „Wir müssen hier raus!“

Rai hörte die Worte des Bergmeisters, während er verzweifelt versuchte, seine Kehle aus Nessalions Umklammerung zu befreien. Der unbändige Hass auf den Mörder seines Sohnes schien Nessalions Kraft zu verdoppeln. Gleichzeitig bekamen die beiden am Boden Ringenden immer wieder Fußtritte und herbe Stöße von den Kämpfenden um sie herum ab. Plötzlich stolperte eine der Wachen rücklings über sie, weil er das Hindernis zu seinen Füßen im Getümmel nicht gesehen hatte. Der metallene Schulterpanzer des Mannes traf Nessalion mit voller Wucht am Kopf. Rai nutzte die Gelegenheit, um die Hand seines nun benommenen Gegners abzuschütteln. Er wollte aufspringen, doch ein weiterer Minenarbeiter riss Rai wieder um, als dieser, von einem Schlag getroffen, zurücktaumelte.

„Zum Ausgang! Geschlossene Formation!“

Rai wusste nicht, ob der Befehl von Erbukas oder Barat gekommen war, aber angesichts des bereits tobenden Tumults, in dessen Mitte er sich befand, hatte er wenig Hoffnung, dass die Minenarbeiter ein solches Manöver zustande bringen würden. Wieder unternahm er den Versuch, aufzustehen, doch diesmal bekam er einen Ellbogen ins Gesicht gerammt, was ihn abermals zu Boden zwang.

„Rai!“, hörte er Kawrin aus nächster Nähe rufen. „Komm hoch!“

Unter anderen Umständen hätte Rai ihm darauf eine bissige Antwort gegeben, denn schließlich wusste er auch ohne die Aufforderung seines blonden Gefährten, dass er schnellstmöglich wieder auf die Beine kommen musste. Aber wenn eine solche Masse von Menschen unvermittelt damit begann, aufeinander loszugehen, wurde selbst eine solch einfache Angelegenheit wie Aufstehen zu einer Herausforderung.

Auf einmal kam Bewegung in die Minenarbeiter. Mit einem einstimmigen Kampfschrei fingen sie an, gemeinsam nach vorne zu drücken, und schufen so ein wenig Platz vor der Rednertribüne. Diese minimale Bewegungsfreiheit nutzte Kawrin, der bis jetzt zwischen einigen Kämpfenden regelrecht eingeklemmt gewesen war, um endlich zu seinem Freund Rai vorzudringen.

„Genug herumgebalgt“, rief Kawrin mit einem schelmischen Grinsen, während er Rai aufhalf, „nichts wie raus hier.“ Damit heftete er sich an die Fersen der voranschreitenden Arbeiter, die nun endlich ihre Rüstung und Bewaffnung nutzten, um sich ihren Weg durch die wogende Menge in Richtung des nächstgelegenen Ausgangs zu erkämpfen. Rai blickte sich noch einmal nach Nessalion um, konnte ihn aber in dem Chaos nicht mehr ausmachen. Er hielt sich aber nicht allzu lange damit auf, Warsons Vater zu finden, sondern versuchte eilig, Kawrin und den anderen nach draußen zu folgen. Zwei Schritte neben sich konnte er Barat und Erbukas erkennen, die ebenfalls dem Eingang zustrebten. Inzwischen schien auch die Mehrheit der versammelten Städter ihr Heil in der Flucht zu suchen, denn eine wahre Menschenwalze schob sich unversehens auf die Tore der Markthalle zu. Auch der freie Bereich, der durch das Vorrücken der Minenarbeiter bei den Tribünentischen entstanden war, wurde bereits wieder von nachdrückenden Stadtbewohnern gefüllt. Es erfolgten jedoch keine weiteren Attacken, wahrscheinlich weil die bewaffneten Angreifer, die offenbar nur einen kleinen Teil der Versammelten ausgemacht hatten, mit diesem gewaltigen Menschenstrom ebenso wie Rai weitgehend machtlos in Richtung Türen gedrängt wurden.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Rai mit der Masse nach draußen gespült werden würde. Somit schien diese Auseinandersetzung nun doch noch ein verhältnismäßig glimpfliches Ende zu finden. Angesichts des immer näher rückenden Ausgangs begann sich bereits eine gewisse Erleichterung einzustellen, als Rai plötzlich hinter sich eine gepresste Stimme vernahm:

„Du entkommst mir nicht, Mörder!“

Er wirbelte herum, sah noch Nessalions hasserfüllte Augen vor sich, dann traf ihn ein harter Schlag gegen die Schläfe. Rais Beine knickten ein, seine Sinne schwanden und er versank in der vorwärtsdrängenden Menge wie ein Stein in einem Fluss.

DER ERLEUCHTETE

Arton lenkte seine Schritte, wie so oft in den letzten Tagen, in Richtung des Cittempels. Er kam aus der Kaserne der Festung Andobras, wo er das Kommandantenzimmer bezogen hatte, ohne dass irgendjemand gewagt hätte, dagegen Einspruch zu erheben. Eigentlich war Artons Wahl für eine Unterkunft nicht aus Überheblichkeit auf das Zimmer des Befehlshabers gefallen, sondern schlicht wegen seines Bedürfnisses nach Abgeschiedenheit. Denn das Zimmer des ehemaligen Kommandanten Garlan, der mittlerweile mit den anderen überlebenden Soldaten in den Zellen unter dem Tempel gefangen gehalten wurde, war das einzige, in dem nur ein Bett stand. Der begrenzte Platz in der Kaserne machte es notwendig, dass jede Schlafstatt belegt wurde, und in den meisten Zimmern ruhten zusätzlich noch einige Minenflüchtlinge auf Decken oder Strohlagern. Der Rest der über dreihundert ehemaligen Sklaven hatte eine bunte Zeltsiedlung auf dem Burgplatz errichtet, die aus Tüchern, Decken und Wagenplanen der Festungs-Vorratslager bestand.

Arton überquerte zielstrebig den Platz mit den nun verwaisten Stoffbehausungen. Normalerweise herrschte hier rege Betriebsamkeit, doch heute waren die meisten Bewohner des Zeltdorfes den selbst ernannten Stadtherren Barat, Rai, Erbukas und Kawrin zum Hafen gefolgt, wo den Stadtbewohnern und Minenflüchtlingen die Ideen des alten Barat verkündet werden sollten. Arton hatte sich in erster Linie deshalb geweigert, die vier zur Markthalle zu begleiten, weil er den Gedanken von der „freien Insel“ schlichtweg für ein Hirngespinst hielt. Es mochte ja sein, dass sich der eine oder andere durch Barats Träumereien von einem Ort ohne Willkür und Gewalt einwickeln ließ, aber Arton war sich sicher, dass solche naiven Luftschlösser durch die grundlegende Niedertracht der Menschen rasch zum Einsturz gebracht werden würden. Allein schon was er seit seiner Verschleppung aus Seewaith hatte erleben müssen, ließ ihn nicht mehr daran glauben, dass in jedem etwas Gutes schlummerte, das nur darauf wartete, erweckt zu werden. Im Gegenteil, er war davon überzeugt, dass es nur sehr wenige gab, die es fertigbrachten, die dunkle Seite ihres Wesens dauerhaft im Zaum zu halten. Er selbst, so gestand sich Arton offen ein, gehörte jedenfalls nicht dazu. Dasselbe galt mit größter Wahrscheinlichkeit auch für die meisten anderen ehemaligen Minensklaven, denn sonst hätten sie niemals zugelassen, dass aus dem Bergwerk von Andobras ein solch verdammungswürdiger Ort wurde. Die Raffer boten das beste Beispiel: Jeder von ihnen war nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und deshalb würden sie auch ihre neu gewonnene Freiheit nur wieder dazu nutzen, einander auszubooten, zu hintergehen und zu bestehlen.

Daneben gab es aber noch weitere Gründe, warum Arton in der Festung geblieben war. Zunächst einmal wurden die Tore momentan nur durch ein paar Mann bewacht und es konnte nicht schaden, wenn er hier oben nach dem Rechten sah, während die anderen in der Stadt waren. Zudem, und das stellte den eigentlich entscheidenden Beweggrund dar, wollte er die Zeit nutzen, um dem Hohepriester Nataol einen weiteren Besuch abzustatten. Nachdem der Priester vor ein paar Tagen in eine tiefe Ohnmacht gefallen war, hatte Arton beschlossen, noch so lange auf der Insel zu bleiben, bis der Gesundheitszustand des Citdieners eine eingehende Befragung erlauben würde. Dafür war Arton sogar bereit, die Rache an dem Verräter Megas noch ein wenig aufzuschieben.

Mittlerweile waren die verbliebenen drei Priester des Tempels, ebenso wie ihr Oberhaupt, in ihren privaten Quartieren untergebracht worden und durften sich auf dem Festungsgelände frei bewegen. Lediglich die Tore zu durchschreiten oder die Wehranlagen zu betreten, war den Gottesdienern verboten. Außer den Priestern gehörten zusätzlich noch zwei Novizen dem Tempel an, die als Anwärter auf das heilige Amt eines Citpriesters dort ausgebildet wurden. Diese beiden pflegten den altehrwürdigen Nataol, seit er bei der Unterredung mit Arton in der Gefängniszelle das Bewusstsein verloren hatte. Der junge Erenor hatte diese Verlegung der gesamten Priesterschaft in den Wohnbereich des Tempels aus zwei Gründen veranlasst: Erstens stufte er die Citdiener nicht mehr als Bedrohung ein, da sie ihnen ohne die Wurzelbälger kaum gefährlich werden konnten, und zweitens sorgte er sich ernsthaft um das Wohl des Hohepriesters. Dieser Mann stellte seine wichtigste oder, genauer gesagt, die einzige Informationsquelle dar, von der sich Arton ein paar erhellende Antworten bezüglich der mysteriösen Wurzelbälger und besonders des dunklen Schwerts versprach. Bei seinen Besuchen in den letzten Tagen war jedoch seine Hoffnung auf Erklärungen jedes Mal enttäuscht worden, denn der alte Nataol hatte nicht ein einziges Mal das Bewusstsein wiedererlangt. Wütend und frustriert, dass all die Antworten, nach denen er sich so verzweifelt sehnte, zum Greifen nahe und doch unerreichbar waren, hatte er danach stets die Einsamkeit seines Zimmers gesucht, wo er stundenlang in dumpfem Brüten versunken war. Aber dann heute Morgen war Arton durch die Novizen des Hohepriesters davon unterrichtet worden, dass der Erleuchtete – wie dessen offizielle Anrede lautete – endlich erwacht und in der Verfassung sei, Besucher zu empfangen.

Deshalb betrat Arton nun in gespannter Erwartung den Tempel und schritt eilig den Gang entlang, der ihn bis vor die Privatgemächer Nataols brachte. Er hatte sich mit dem schwarzen Schwert gegürtet, denn er beabsichtigte, Nataol heute abermals mit der Klinge zu konfrontieren, um mehr über sie herauszufinden. Arton klopfte dreimal, um der Höflichkeit Genüge zu tun, trat dann aber sofort ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Erleuchtete lag noch immer in seinem breiten, mit blütenweißen Laken bespannten Bett. Als er den jungen einäugigen Krieger erblickte, wies er die Novizen durch Kopfnicken an, ihm beim Aufsetzen zu helfen. Während der eine der beiden den Hohepriester vorsichtig an den Armen nach vorne zog, schob der andere ihm ein großes Kissen hinter den Rücken, in das sich Nataol schließlich sichtlich angestrengt zurückfallen ließ.

„Setzt Euch, werter Arton“, lud ihn der Citdiener mit kraftloser Stimme ein. „Nehmt Euch einen Stuhl. Und ihr beide“, er nickte seinen Novizen zu, „lasst uns allein.“

Die beiden wagten nicht, zu protestieren, warfen Arton aber misstrauische Blicke zu, als sie den Raum verließen. Arton fragte sich im Stillen, ob die Novizen ihm wirklich zutrauten, einem alten, bettlägerigen Mann etwas zuleide zu tun, aber dann erinnerte er sich selbst wieder daran, welchen furchterregenden Eindruck sein vernarbtes Gesicht mit der leeren Augenhöhle auf die Priesteranwärter machen musste. Arton wurde wieder bewusst, wie sehr sich alles seit seiner Zeit als Leiter der Kriegerschule Ecorim verändert hatte. Zwar hatte er schon damals ganz gezielt seine Unnahbarkeit gepflegt, um anderen Respekt einzuflößen, aber vor allem auch, um niemandem zu viel von sich preisgeben zu müssen. Aber jetzt brauchte er diese Distanz nicht mehr durch sein Verhalten zu erzwingen – sein Äußeres war vollkommen ausreichend, um die Menschen in seiner Umgebung einzuschüchtern. Allerdings – so musste Arton sich eingestehen – war ihm dies seltsamerweise nicht wirklich angenehm.

Er zog sich schweigend einen Stuhl neben das Bett des Hohepriesters und wartete ungeduldig, bis die beiden Novizen den Raum verlassen hatten.

„Ich muss mich für das Verhalten meiner Schüler entschuldigen“, meinte der Erleuchtete mit einem väterlichen Lächeln. „Sie sind wohl der Meinung, dass sie mich beschützen müssten. Ich denke aber“, dabei fixierten seine graublauen Augen Arton unvermittelt, „dass dies nicht notwendig sein wird, denn Euch verlangt nach Antworten, nicht nach Vergeltung, richtig?“ Nataol schien sich überaus sicher zu sein.

„Die Treue Eurer Schüler ist nichts, wofür Ihr Euch entschuldigen müsst“, erwiderte Arton ruhig. „Und ja, ich habe einige Fragen an Euch, aber wahrscheinlich Ihr ebenso an mich.“

Das blasse, eingefallene Gesicht des Hohepriesters überzog ein sanftes Lächeln. „Selbstverständlich verlangt es auch mich nach Erklärungen, denn ich kann nicht leugnen, dass die Umstände Eures Auftauchens hier und besonders die Waffe, die ihr tragt, mich mit Staunen erfüllt haben. Der dunkle Stahl in Eurer Hand war ein Anblick, von dem ich nicht gedacht hätte, dass ihn mir die Götter noch zu meinen Lebzeiten gewähren.“ Er betrachtete mit glücklichem Glänzen in den Augen die schwarze Klinge, die an Artons Seite hing.

Arton kniff misstrauisch sein verbliebenes Auge zusammen. „Warum?“, fragte er argwöhnisch.

Nataol räusperte sich und versuchte, sich ein wenig aufrechter hinzusetzen. „Das ist eine sehr lange und komplizierte Geschichte. Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, sie zu erzählen, und sie ist nur für einige ausgewählte Ohren bestimmt. Daher würde ich zuerst gerne von Euch mehr erfahren als nur Euren Namen. Wer seid Ihr genau? Was führt Euch hierher und, vor allem, wie seid Ihr in den Besitz der dunklen Klinge gekommen? Und warum versteht Ihr, sie zu nutzen?“

Arton überlegte einen Moment, ob er die Fragen des Priesters wirklich beantworten oder nicht vielmehr darauf bestehen sollte, dass dieser zunächst seinerseits ein paar Antworten lieferte. Er entschied sich dann aber, nicht darauf zu beharren. Schließlich war ihm nicht damit geholfen, gleich zu Beginn mit dem Erleuchteten darüber zu streiten, wer als Erster etwas preisgeben sollte. Daher berichtete er knapp, woher er kam, dass ihn ein Sklavenschiff nach Andobras gebracht hatte und wie er mithilfe des jungen Rai aus den Minen entkommen war. Auch bei der Schilderung des Angriffs auf die Festung Andobras beschränkte Arton sich nur auf das Notwendigste. Er beschrieb kurz, wie er dem Kommandanten Garlan das dunkle Schwert abgenommen hatte und wie es ihm nach dem Ergreifen dieser Waffe auf einmal möglich wurde, die vereinten Gedanken der Zarg zu erfassen.

„Alles Weitere habt Ihr am eigenen Leib erlebt“, bemerkte Arton abschließend. „Warum ich die Kraft des Schwertes nutzen konnte, müsst Ihr mir sagen.“

Nataol schwieg nachdenklich. Die Haut, die sich über seinen bis auf den vierzackigen Haarkranz kahlen Schädel spannte, wirkte beinahe so weiß wie das Laken. Da er seine Haare nicht wie während des Kampfes auf dem Festungsplatz golden eingefärbt, sondern diese in ihrem natürlichen hellgrauen, beinahe weißen Ton belassen hatte, wirkte die farblose Gestalt des Hohepriester fast durchscheinend, so als wäre er kein Wesen aus Fleisch und Blut.

„Ihr stammt also aus Seewaith“, murmelte Nataol wie zu sich selbst, „und Ihr wisst nichts über die Kraft, die in Euch ruht. Bemerkenswert, das hätte ich nicht vermutet.“

„Vielleicht wäre es jetzt einmal an der Zeit, dass Ihr Euch ein bisschen weniger schleierhaft ausdrückt.“ Arton runzelte ungehalten die Stirn. „Ihr habt selbst noch fast nichts verraten, obwohl Ihr bereits vieles von mir erfahren habt.“

Nataol legte den Kopf schräg und hob die Augenbrauen. „Und doch habt Ihr mir noch etwas Wesentliches verschwiegen, nämlich wie der Name Eurer Familie lautet. Aber vielleicht kann ich das bereits erraten. Wäre es möglich, dass Ihr ein Mitglied des Hauses Erenor seid?“ Er kniff gespannt seine Lippen zusammen und forschte nach einer verräterischen Reaktion im Gesicht seines Gegenübers. „Wie ist es“, hakte er nach, „habe ich recht?“

Arton war überrascht. Warum vermochte dieser Gottesmann, solch weitreichende Schlussfolgerungen aus dem wenigen zu ziehen, das er ihm anvertraut hatte? Arton musste noch mehr auf der Hut sein – er wollte diesem Citpriester auf keinen Fall zu viel von sich preisgeben.

„Gut“, sagte er deshalb bedächtig, „es ist Euch gelungen, mich zu verblüffen. Dennoch werdet Ihr nicht um ein paar Antworten herumkommen. Also, wie kommt Ihr darauf, dass ich ein Erenor bin?“

Nataol tippte sich höchst zufrieden mit dem Zeigefinger auf die Lippen. „Ich habe also recht“, stellte er fest. „Ihr seid ein Erenor. Dann müsst Ihr ein heimlicher Sohn Ecorims sein, obgleich der große Held angeblich kinderlos verstarb. Das ist in höchstem Maße interessant.“ Er wackelte beeindruckt mit dem Kopf. „Bisweilen wählt der große Cit wahrlich sonderbare Wege.“

In Arton stieg bei diesen Worten des Hohepriesters heiße Wut auf, wie jedes Mal, wenn seine Abstammung zur Sprache kam. Aber Nataol schien ein exzellenter Beobachter zu sein und gewann selbst aus den geringsten Andeutungen die für ihn wichtigen Erkenntnisse. Arton musste vorsichtig sein, um nicht alles Aufschlussreiche über sich zu verraten, bevor er auch nur irgendeine nützliche Information von dem Citdiener erhalten hatte. Es würde äußerst unerfreulich werden, dem Glaubensführer seine Geheimnisse zu entlocken, wenn Arton seinerseits keinerlei Antworten mehr anzubieten hatte. Dann konnte er nur noch auf den guten Willen des Priesters setzen – oder auf Gewalt. Auf beides wollte der junge Erenor jedoch gerne verzichten, deshalb entschloss er sich, das Gespräch nun ein wenig mehr nach seinem Willen zu gestalten.

„Schluss jetzt mit diesen Ratespielchen“, fuhr er Nataol an. „Ich möchte Euch keine Gewalt antun, also zwingt mich nicht dazu. Es ist nun an der Zeit, meine Fragen zu beantworten, und zwar ohne Umschweife: Warum denkt Ihr, dass ich ein Erenor bin?“

Nataol blickte Arton ernst an. „Die Informationen, die Ihr von mir zu erlangen wünscht, scheinen Euch überaus wichtig zu sein, sonst wärt Ihr sicherlich nicht so aufgebracht und respektlos einem Älteren gegenüber. Meine Novizen haben mir zudem berichtet, dass Ihr Euch jeden Tag nach meinem Befinden erkundigt habt, was mir eindeutig zu erkennen gibt, dass Ihr auf mein Wissen angewiesen seid. Dadurch habt Ihr Euren Trumpf verspielt, mich unter Androhung von Gewalt gefügig zu machen. Denn Ihr wisst natürlich, dass in meiner schlechten Verfassung jede körperliche Behelligung rasch tödlich enden kann, und das dürft Ihr nicht riskieren, wenn Ihr weiterhin auf Antworten hoffen wollt. Ich kann mich also in der Sicherheit wiegen, dass Ihr mir nichts antun werdet. Welche Möglichkeit bleibt Euch dann noch, um mich zur Kooperation zu zwingen, werter Arton? Ich fürchte, Ihr seid nicht in der Lage, etwas von mir zu fordern, das ich Euch nicht aus freien Stücken geben will.“

Artons verbliebenes Auge funkelte. „Wie wäre es“, schlug er mit eisiger Stimme vor, „wenn ich Eure Novizen von der Festungsmauer hinab auf die Felsen werfen lasse? Würde das Eure Kooperationsbereitschaft steigern?“

Arton beabsichtigte nichts dergleichen, aber er begann, langsam Gefallen an dem Katz-und-Maus-Spiel mit dem Erleuchteten zu finden. Es ähnelte ein wenig einem Schwertkampf, nur dass Worte die Klingen ersetzten. Arton war gerade in der Defensive und deshalb hatte er seiner letzten Attacke etwas mehr Biss verliehen.

Nataol kniff die Lippen zusammen, dann schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Ihr so etwas tun würdet. Ihr seid doch ein gesitteter junger Mann, das hat mir Euer bisheriges Verhalten bewiesen. Ihr würdet nicht andere für meine Verweigerung büßen lassen. Der allsehende Cit hat jeder seiner Kreaturen den Sinn für Gerechtigkeit eingepflanzt, man muss nur willens sein, sich danach zu richten.“

„Ihr wollt Euer Leben und das Eurer Schüler aufs Spiel setzen, nur weil Ihr vermutet, dass ich über einen göttergegebenen Sinn für Gerechtigkeit verfüge, der mich davon abhält, jemanden umzubringen?“, fragte Arton ungläubig. „Entweder Ihr seid skrupellos oder dumm.“

„Allein Cit bemisst die Menge aller Gaben“, antwortete der Erleuchtete, während er sich mühte, die Arme gen Himmel zu erheben. „Es ist nicht an uns, über den Mangel an Geisteskräften oder einen charakterlichen Makel zu klagen. Wir müssen das Beste aus dem machen, was uns zu Gebote steht.“

Arton war von Nataol unbestreitbar fasziniert. Diese Mischung aus aufrichtiger Gottesfurcht, Scharfsinn und Willensstärke konnte er nur bewundern. Wenn er in seinem Leben häufiger Gottesmännern begegnet wäre, die auf solche Weise die Eigenschaften eines Glaubensführers mit denen eines weltlichen Herrschers vereinten, würde er heute den Göttern möglicherweise nicht so ablehnend gegenüberstehen. Trotzdem war immer noch sein oberstes Ziel, herauszufinden, welches Wissen Nataol vor ihm zurückhielt, und davon würde er sich auf gar keinen Fall abbringen lassen.

„Ich glaube nicht, dass Euer Gott zufrieden wäre mit den Schlussfolgerungen, zu denen Ihr mithilfe seiner Geistesgaben gelangt seid“, bemerkte Arton trocken. „Denn einige Eurer Schlüsse sind schlichtweg falsch. Falls ihr Euren Fehler berichtigen wollt, bleibt Euch nichts anderes übrig, als mir zunächst meine Frage zu beantworten.“

„Welche Folgerung sollte das gewesen sein?“, fragte Nataol leicht irritiert. „Seid Ihr am Ende nicht Ecorims Sohn?“ Der Hohepriester runzelte skeptisch die Stirn und murmelte leise vor sich hin: „Aber woher dann diese Kräfte? So jung – und schon so mächtig …! Wer außer Ecorim könnte der Vater eines solchermaßen Begabten sein?“ Plötzlich erstarrte Nataol. Nach einer kurzen Weile des Schweigens begannen seine Finger, wie von selbst unruhig an den Falten des Bettlakens herumzuzupfen.

„Gut, gut“, sagte er schließlich. „Ich werde Euch wohl zunächst ein paar Hintergründe erläutern müssen, aus denen ich meine Erkenntnisse schöpfe.“ Der Erleuchtete setzte sich noch einmal zurecht, seufzte laut und begann, zu erzählen:

„Diese Geschichte ist so alt wie die Zeit. Beginnen wir daher der Einfachheit und Kürze halber in der jüngsten Vergangenheit. Wie Ihr wisst, war Ecorim Erenor der einzige Mensch, der dem Herrscher von Arch Themur ebenbürtig war, jedoch nicht allein im Kampf mit dem Schwert, sondern auch in seinen Qualitäten als Anführer. Denn die eigentliche Stärke beider Feldherren bestand darin, immer wieder aufs Neue Mut und Zuversicht in ihren Gefolgsleute zu wecken, sodass beide Heerscharen in ungewöhnlicher Verbissenheit gegeneinander zu Felde zogen. Ecorim entschied den Kampf um die Eherne Feste letztlich nicht in erster Linie durch seinen großen persönlichen Einsatz – wie gerne dies auch in den Liedern berichtet wird –, sondern wegen der Todesverachtung seiner Truppen. Seine Gefolgsmänner zogen an seiner Seite in blinder Treue bis vor die nahezu uneinnehmbaren Tore von Arch Themur. Ich habe nie wieder jemanden getroffen, bei dem die Fähigkeit, solch bedingungslose Loyalität zu erzwingen, so ausgeprägt war wie bei Ecorim.“

„Ihr kanntet Ecorim?“, entfuhr es Arton. Gleich im nächsten Augenblick schalt er sich selbst dafür, dass er Nataol sein Erstaunen so offen zu erkennen gegeben hatte. Wer weiß, was er daraus wieder für Schlüsse ziehen würde.

„Oh ja, ich kannte ihn. Ich war damals noch ein einfacher Priester des Cit in den Reihen des vereinigten Heeres von Citheon und Jovena. Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass sich die Soldaten des göttlichen Beistands allzeit bewusst waren. Dabei hatte ich auch des Öfteren die Ehre, mit dem Heerführer Ecorim persönlich zu sprechen.“

Arton gestand es nicht offen ein, aber er beneidete den Hohepriester für die Erfahrung, dem großen Helden von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben. Ecorim war schon immer Artons Vorbild gewesen und lange Zeit hatte er ihn ja sogar für den eigenen Vater gehalten. Dass dieser Traum wie eine Seifenblase zerplatzt war, minderte seine Bewunderung für den berühmtesten Feldherren und Schwertkämpfer des Südens nicht im Geringsten. Was hätte er darum gegeben, einige Worte mit ihm wechseln oder gar einen kleinen Probekampf gegen ihn ausfechten zu dürfen! Aber die glorreichen Tage des Helden Ecorim waren vorüber und sein Leichnam lag unwürdig irgendwo am Grunde des Meeres. Dessen ungeachtet hatte Arton hier die seltene Gelegenheit, mit einem Mann zu sprechen, der Ecorim mit eigenen Augen gesehen hatte und behauptete, ihn sogar gekannt zu haben. Natürlich hatte dies auch auf Maralon zugetroffen, jedoch was seinen Neffen Ecorim anging, war Artons Ziehvater immer äußerst wortkarg gewesen. Zu sehr hatte Maralon die Erinnerung an Ecorims Tod auch nach all den Jahren noch geschmerzt. Aber Maralon war inzwischen selbst schon seinem Neffen Ecorim durch Xelos’ Feuer gefolgt. Und wenn es der Wahrheit entsprach, was die Priester immer wieder predigten, dann saß Artons Ziehvater vielleicht jetzt gerade an Ecorims Seite in den Hallen des Xelos und sie ergingen sich gemeinsam in Geschichten über die alten Zeiten. Zumindest war dies ein tröstlicher Gedanke, der den plötzlich zurückkehrenden Kummer über Maralons Tod für Arton ein wenig milderte. Fest stand jedenfalls, dass Arton nun niemanden mehr außer Nataol kannte, der ihm etwas über Ecorim hätte berichten können, und deshalb durfte er sich diese Möglichkeit nicht entgehen lassen.

„Wie war Ecorim denn, als Ihr ihm gegenübergetreten seid?“ Arton konnte sehr zu seinem Missfallen nicht verhindern, dass aus jedem Wort seiner Frage staunende Neugier herauszuhören war.

Nataol wirkte dementsprechend amüsiert. „Habt Ihr etwa schon das Interesse an der Beantwortung Eurer ersten Frage verloren? Jaja, die Rastlosigkeit der Jugend … Nun gut, ich werde versuchen, meinen Eindruck von Ecorim in Worte zu fassen.“ Der Erleuchtete strich sich über das beinahe kahle Haupt. „Sein Wuchs und seine Ausstrahlung waren gleichermaßen groß. Er gehörte zu jenen Menschen, die man ganz einfach bemerken muss, selbst wenn man sie nur flüchtig inmitten einer großen Ansammlung von Unbekannten sieht. Sein Gesicht wirkte meist freundlich und ungetrübt von Kummer oder Sorgen. Mit seinen strahlenden blauen Augen und dem langen blonden Haar glich er einem Gesandten der Götter – mit der heiligen Aufgabe betraut, gegen Verzagtheit und Gottlosigkeit zu kämpfen.“

Artons Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Denn Ecorims Ähnlichkeit zu Arden war so offensichtlich, dass der Hohepriester ebenso gut auch Artons Halbbruder hätte beschreiben können. Arton konnte einfach nicht den Tag vergessen, an dem er erfahren hatte, dass er – im Gegensatz zu Arden – nicht Ecorims Sohn war. Dieses niederschmetternde Gefühl, als unwürdig erachtet zu werden, das Erbe des großen Helden anzutreten, hatte sich tief in sein Gedächtnis gebrannt. Arton würde niemals sein wie Ecorim, das war ihm gerade wieder mit schonungsloser Deutlichkeit vor Augen geführt worden. Es fehlten ihm dazu nicht nur die Unbekümmertheit und die Gunst der Götter, sondern mittlerweile verliehen ihm seine Narbe und die eine leere Augenhöhle wohl eher das Aussehen eines Dämons aus der Zwischenwelt als das eines Göttergesandten. Arton hatte es bisher noch nicht gewagt, in einen Spiegel zu blicken. Aber er konnte sich gut vorstellen, wie abstoßend er aussehen musste.

„Was ist mit Euch?“, fragte der Erleuchtete und riss Arton damit aus seinen Überlegungen. „Missfällt Euch meine Beschreibung Ecorims? Erinnert sie Euch an jemanden, den ihr verachtet?“

Artons Blick richtete sich irritiert auf den leichenblassen Hohepriester. Es schien ihm, als könne der greisenhafte Gottesdiener seine Gedanken lesen. Dies beunruhigte ihn zutiefst, denn seine inneren Konflikte waren nun wirklich nicht dazu bestimmt, von anderen studiert zu werden. Schnell versuchte er, sich wieder auf etwas anderes zu konzentrieren.

„Das muss nicht Eure Sorge sein“, erwiderte er knapp. „Beantwortet lieber meine anfängliche Frage.“

„Ihr seid mir ins Wort gefallen“, entgegnete Nataol schulmeisternd, „deshalb konnte ich meine Erklärung nicht beenden. Wenn Ihr mich nicht mehr unterbrecht, werde ich sogleich Eure Wissbegierde stillen.“ Provozierend umständlich stopfte er ein weiteres Kissen als Stütze unter seine Beine, bevor er endlich weitersprach:

„Wie ich bereits sagte, war Ecorim ein Meister darin, bedingungslose Gefolgstreue einzufordern. Aber dies lag nicht etwa an seiner beeindruckenden Erscheinung oder der Kunst, im rechten Augenblick die richtigen Worte zu finden, sondern er verfügte über eine Fähigkeit, die es ihm ermöglichte, auf die Gedanken seiner Mitstreiter Einfluss zu nehmen und sie damit nach seinem Willen zu lenken.“ Nataol musterte Arton bei diesen Worten aufmerksam. „Es gibt in unserer Welt nicht viele, die auf diese Weise in den menschlichen Geist vorstoßen können. Voraussetzung dafür ist das Talent für etwas, das wir ‚Geistsprache‘ nennen und für das Ecorim eine ganz außergewöhnliche Begabung besaß. Nun ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Befähigung zur Geistsprache vom Vater an den Sohn weitergegeben wird. Da Ihr dargelegt habt, aus Seewaith zu stammen, wo Ecorim seine letzten Lebensjahre verbracht hat, und zudem über ähnlich erstaunliche Fähigkeiten verfügt, lag der Schluss für mich nahe, dass Ihr ein Sprössling ebenjenes Helden seid. Sollte ich damit etwa falsch liegen?“

Die Worte des Hohepriesters begannen, wild in Artons Kopf herumzutanzen. War er doch ein Sohn Ecorims? Hatte sich Maralon vielleicht all die Jahre geirrt? Wenn er nur von Ecorim seine Gabe – diese Geistsprache, wie es Nataol genannt hatte – geerbt haben konnte, müsste daraus dann nicht zwingend folgen, dass er nicht nur dem Namen nach ein Erenor war? Das musste doch Beweis genug für seine Abstammung von Ecorim sein! Aber ganz tief in seinem Inneren wusste Arton, dass dies nichts weiter als Wunschdenken war. Nicht nur sein Äußeres, auch sein ganzes Wesen war ein unumstößlicher Gegenbeweis. Doch dann blieb die alles entscheidende Frage, wer denn nun wirklich sein Vater war. Schließlich musste es, wenn Nataol die Wahrheit sprach, jemand sein, der ebenfalls über die Gabe zur Gedankenbeeinflussung verfügte. Da dies angeblich sehr selten war, wurde der Kreis möglicher Personen dadurch erheblich eingeengt. In diesem Fall würde dieser Citdiener wahrscheinlich sogar wissen, wer infrage kam.

„Ihr habt recht und irrt zugleich“, gab Arton daher vorsichtig zur Antwort. „Ich trage zwar den Namen Erenor, jedoch, soweit ich weiß, bin ich kein Sohn Ecorims. Tatsächlich weiß ich nicht, wer mein Erzeuger war. Ich wurde von Maralon Erenor, dem Onkel Ecorims, aufgezogen. Er war jedoch sicher nicht mein leiblicher Vater.“

Nataol starrte gedankenverloren ins Leere. „Das wird immer erstaunlicher“, brummte er. „Also kein Sohn Ecorims und doch hat Euch Maralon Erenor aufgezogen.“ Er sah Arton an. „Und wer war Eure Mutter?“

„Ihr Name lautete Siva, sie war mit Ecorim vermählt. Mehr weiß ich nicht von ihr“, antwortete Arton knapp.

„Hmm, Siva? Der Name sagt mir nichts. Und sie war die Frau Ecorims, der aber nicht Euer Vater war …? Merkwürdig, sehr merkwürdig.“ Nataol strich sich immer wieder nachdenklich übers Kinn, bis Arton das Warten zu lang wurde. Er entschied sich, die Frage, die ihn gerade am meisten bewegte, direkt zu stellen:

„Ihr sagtet, dass es nur sehr wenige gibt, die über diese Geistsprache verfügen, und wenn ich Euch richtig verstanden habe, dann muss mein Vater ebenfalls dazugehören. Könntet Ihr dann nicht eine Vermutung darüber anstellen, wer mein Vater gewesen ist?“

Die stahlblauen, eindringlichen Augen des Erleuchteten richteten sich wieder auf den jungen Erenor. „Ihr müsst meinen Worten sorgfältiger lauschen, guter Arton. Kundige der Geistsprache gibt es viele, äußerst selten hingegen ist die Befähigung, mithilfe der Geistsprache den Verstand von Menschen zu beeinflussen.“

Arton zog die Stirn in tiefe Falten. So wie der Hohepriester das Wort Menschen betont hatte, hörte sich seine letzte Bemerkung an, als gäbe es außer den Menschen noch andere Wesen, die zur Geistsprache in der Lage wären. Meinte er womöglich damit die Wurzelbälger – die Zarg? Aber was sollten diese eigenartigen Kreaturen mit seinem Vater zu tun haben?

In diesem Augenblick ertönte der dumpfe Klang eines Horns. Arton war so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er das Geräusch zunächst nicht einordnen konnte. Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass der Hornstoß das mit den Wachen am Tor vereinbarte Warnsignal darstellte, wenn irgendeine Gefahr drohte.

Ohne ein Wort der Erklärung sprang er auf und ließ den überraschten Nataol in seinem Zimmer alleine. Mit großen Schritten eilte Arton dem Ausgang des Tempels entgegen. Es konnte nur einen Grund für den Alarm geben: Irgendetwas war bei der Versammlung in der Stadt schiefgegangen. Arton verfluchte sich dafür, dass er diesem sinnlosen Unternehmen nicht energischer widersprochen hatte, schließlich bedeutete nun das, was auch immer die vier dort unten am Hafen angerichtet hatten, eine Unterbrechung seines Gesprächs mit dem Citpriester. Dabei war er nur noch einen Schritt davon entfernt gewesen, das Geheimnis seiner Herkunft zu erfahren!

Er hastete durch das Lager aus bunten Zelten dem Eingangstor entgegen, wo er bereits die aufgeregten Wachen sehen konnte, die dort Stellung bezogen. Nach wenigen Augenblicken hatte er sie erreicht.

„Was ist hier los?“, herrschte er den erstbesten der vier Wachposten an.

„Dort kommt eine riesige Masse an Menschen den Festungspfad herauf“, erwiderte der Angesprochene eingeschüchtert, „und es sieht so aus, als wären sie auf der Flucht. Vielleicht wollen sie aber auch angreifen, keine Ahnung. Ich kann nicht sehen, ob es sich um Burg- oder Stadtbewohner handelt. Jedenfalls stimmt irgendetwas nicht, deshalb habe ich das Horn geblasen.“