Vermisst in Graal-Müritz - Regina Hartmann - E-Book

Vermisst in Graal-Müritz E-Book

Regina Hartmann

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  • Herausgeber: Hinstorff
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein junges Mädchen wird seit dem Seebrückenfest der Ostseegemeinde Graal- Müritz vermisst. Innerhalb von 48 Stunden, so das Ziel der Ermittler, sollte die Kleine gefunden werden. Doch es misslingt. Wurde sie ermordet? Kommissar Festerling und Polizeianwärterin Emma Baader nehmen die Spur auf und es beginnt eine verzweifelte Suche nach dem Kind. Sie blicken dabei zwangsläufig in menschliche Abgründe. Plötzlich findet man Leichenteile am Strand, die jedoch zu einem jungen Mann gehören ... Regina Hartmann versteht es blendend, in einem protokollartigen Schreibstil die belastende Ermittlungsarbeit der Kripo zu schildern und hat mit Graal-Müritz die perfekte Kulisse für einen OstseeKrimi gefunden.

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Vermisst in Graal-Müritz

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VRMISST

in Graal-Müritz

HINSTORFF

Das Geschehen dieses Kriminalfalles spielt zwar an weitgehend authentischen Schauplätzen, Handlung und Figuren sind aber frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Freitag, 29. Juli – Vermisst: Mareike Brandt

Immer wieder zog das rote Rettungsboot vor dem Strand von Graal-Müritz seine Runden, besetzt mit den drei jungen Männern, die für die Sicherheit der Badegäste sorgten. Viele Urlauber standen auf der Seebrücke und sahen dem Treiben zu. An diesem Freitag waren sie besonders zahlreich, denn am Abend begann das alljährliche Seebrückenfest – mit Musik, Tanz, Feuerwerk und an der Strandpromenade aufgereihten Buden, die Leckeres vom Fischer, aber auch allerlei Badeutensilien und Kleidung anboten.

Plötzlich ertönte das Signalhorn der Feuerwehr, gefolgt von einem Polizeiwagen: Sie stoppten kurz vor dem Strandaufgang 14. Fast zeitgleich erregte ein Brummen am Himmel die Aufmerksamkeit der Urlauber, und nun richteten sich alle Blicke auf den Hubschrauber, der immer tiefer kreiste; direkt am Strand entlangfliegend entfernte er sich, um nach kurzer Zeit wiederzukehren. Mit ohrenbetäubendem Propellerlärm verharrte er einige Male über einer Stelle der Uferzone und bot einen surrealistischen Anblick mit seinem blauen schlanken Flugkörper und den überdimensionierten Rotorblättern, bis er schließlich abdrehte und über den in der Sonne glitzernden Wellen aus dem Blickfeld verschwand. Gegen 16 Uhr an diesem heißen Julitag stoppte die Musik, die aus Richtung der Strandmuschel kam. Ein Mann in Polizeiuniform trat an das Mikrofon und bat alle Anwesenden um Mithilfe: Gesucht wurde die zehnjährige Mareike Brandt, die mittags um zwölf Uhr bei ihren Großeltern hätte sein sollen, aber nicht gekommen war. Zur Person hieß es: blonder Pferdeschwanz, etwa 1,50 Meter groß und bekleidet mit einem blauen Rock und weißem T-Shirt. Die Durchsage endete mit der üblichen Aufforderung: Wer Hinweise zum Verbleib des Mädchens machen könne, der solle sich an die Polizei wenden.

Die Polizei hielt in Graal-Müritz vor dem Haus der Dr.-Leber-Straße 16. Aus dem Wagen stiegen zwei Männer, Hauptkommissar Ralf Wenke, vierschrötig und Anfang vierzig, sowie sein junger Kollege Gert Jensen, der erst vor etwa einem Jahr seinen Dienst angetreten hatte. In der Tür wurden sie von der Oma des Mädchens, Gertrud Vesper, erwartet. Das Kind hatten sie bisher noch nicht gefunden und so standen die Polizisten vor der Aufgabe, die völlig aufgelöste Frau zu befragen. Sie mochte sechzig Jahre alt sein und machte keinesfalls einen hinfälligen Eindruck, sondern wirkte eher lebendig und resolut. Das musste sie wohl auch sein, denn ihr Mann litt an Demenz, sodass sie gewissermaßen für sie beide zu denken und zu handeln hatte. Hauptkommissar Wenke übernahm das schwierige Gespräch, das – immer wieder unterbrochen von Tränen und Händeringen – schließlich zu den folgenden Angaben führte: Mareike war in den Ferien bei den Großeltern, wie so oft in den vergangenen Jahren, denn ihre Mutter arbeitete als Köchin auf einer der Schwedenfähren der TT-Line und konnte in der Hochsaison keinen Urlaub nehmen. Sie war alleinerziehend – über den Vater wurde in der Familie nicht gesprochen.

Frau Vesper hatte ihre Tochter, Wiebke, noch nicht informiert; zum einen war die Fähre gerade auf ihrem Weg nach Trelleborg, zum anderen, aber sicher vor allem, weil sie hoffte, das Verschwinden ihrer Enkelin würde sich als harmlos erweisen. Die Großmutter betonte immer wieder: »Mareike ist doch so ein zuverlässiges und selbstständiges Mädchen.« Hilfesuchend wandte sie sich an die Polizisten: »Was sollen wir denn jetzt tun? Sie kann doch nicht einfach so verschwinden?«

Gert Jensen bemühte sich etwas unbeholfen, die fassungslose, in Tränen ausbrechende Frau zu trösten.

Währenddessen ging Ralf Wenke die Fakten noch einmal durch, die sich aus den Angaben Gertrud Vespers ergeben hatten: Das Kind wollte zu dem direkt neben der Kurklinik gelegenen kleinen Spielplatz laufen, auf dem ein hölzernes Klettergerüst und andere Spielgeräte stehen. Das war nichts Außergewöhnliches, sie kam gern dorthin, denn sie fand stets Spielgefährten. Die wechselten zwar oft von einem zum anderen Tag, weil es Urlauberkinder waren, sodass Mareike keine festen Freunde hatte. Der Weg führte über eine viel befahrene, doch in einer Dreißigerzone liegende Straße, von der ein Waldweg abging. Er verlief durch den Küstenwald, der zum größten zusammenhängenden Forst Norddeutschlands gehörte und nach etwa fünf Kilometern zum Strand führte, das heißt, direkt auf den Strandaufgang 14 zulief. Das Mädchen hatte das Haus der Großeltern nach dem Frühstück, etwa gegen 9 Uhr, verlassen und musste um 12 Uhr wiederkommen, denn es gab an jedem Tag pünktlich Mittagessen. Namen von Spielgefährten kannte die Großmutter nicht; am Abend vorher hatte die Kleine wohl von einem »Tom« gesprochen, der so schöne Papierboote falten konnte, aber sicher war sie sich nicht – der Name hätte auch »Ron« oder so ähnlich sein können.

Die beiden Polizisten versuchten, Gertrud Vesper zu beruhigen. Schließlich kannte Wenke durch seine langjährige Berufserfahrung die Statistiken. Danach fand sich die überwiegende Mehrheit der vermissten Kinder von allein wieder an. Die meisten hatten nur, völlig im Spiel versunken, die Zeit vergessen oder waren orientierungslos am Strand unterwegs. Letzteres passierte manchmal auch Erwachsenen, schließlich sahen Wasser und Sand überall ähnlich aus.

Die alte Frau sah zu Boden und blickte den Hauptkommissar dann gerade an – und er las in ihren Augen ein klares »Nein« für diese Möglichkeiten.

Tatsächlich schätzte er die Lage in diesem Falle aber anders ein: Wenn ein vermisstes Kind nicht noch am gleichen Tag, vor allem vor Einbruch der Nacht, gefunden wurde, sah es ernst aus. Das galt bei der Polizei an der Küste als unumstrittener Erfahrungswert; zu nahe liegend war die Annahme, dass das Wasser, das auf Kinder eine große Faszination ausübt, zum Verhängnis geworden war. Der Hauptkommissar hatte daher zwei Staffeln der Bereitschaftspolizei angefordert – eine Hundestaffel, die schon am gleichen Abend bereitstand, und den Hubschrauber, der mit einer Wärmebildkamera die Bodensuche unterstützen sollte.

Nachdem die zwei Ermittler sich verabschiedet hatten, fuhren sie auf dem Lindenweg zurück zur Kurklinik und parkten das Auto dort auf dem Gelände neben den Mannschaftswagen der Kollegen. Ungeachtet der einbrechenden Dunkelheit sollten der auf der anderen Straßenseite beginnende Waldweg sowie seine unmittelbare Umgebung abgelaufen werden, um auszuschließen, dass das Mädchen dort umherirrte. Die Beamten bildeten eine Kette und knipsten ihre starken Taschenlampen an, denn der Waldstreifen lag groß und dunkel vor ihnen. Das Geräusch des Hubschraubers war mal lauter, dann wieder leiser über ihnen zu hören. Wenke und Jensen liefen auf dem Weg mit. Die nächtliche Suche war kräfteraubend, aber jeder der Anwesenden hoffte, das kleine Mädchen zu finden. Bei einer mit Kiefern bestandenen etwas lichteren Stelle zog Jensen seinen Block hervor und zeichnete die Strecke, die sie bisher zurückgelegt hatten; dabei ging es ihm um Auffälligkeiten im Gelände, markante Bäume, Findlinge und Ähnliches am Wegesrand, das auf der offiziellen Karte des örtlichen Tourismusbüros natürlich nicht eingetragen war. Nach etwa einem Kilometer passierten sie einen schmalen Brettersteg, der einen Graben überbrückte. Soweit im Licht der Taschenlampe zu erkennen war, führte dieser nur wenig Wasser, sondern war stark verkrautet und an einigen Stellen so zugewachsen, dass er selbst bei Helligkeit kaum noch auszumachen war.

Jensen blickte den Hauptkommissar fragend an: »Ein Bach? Gibt es im Küstenbereich Quellen?« Der junge Mann kam aus Thüringen, das erklärte die Assoziation. Wie sollte er auch wissen, dass das Gebiet in breiter Ausdehnung einst moorig gewesen und der Graben im Zuge von Entwässerungsarbeiten angelegt worden war. Sein völlig vernachlässigter Zustand war darin begründet, dass die Gegend seit etwa zwanzig Jahren zu einem Landschaftsschutzgebiet gehörte. Das hieß auch, dass der Wald forstwirtschaftlich nicht mehr genutzt wurde. Die sich selbst überlassene Natur hatte sich ihr Terrain sehr schnell zurückerobert. Vom letzten Sturm umgestürzte Bäume wurden von kräftigem Unterholz überwuchert – ein naturbelassener Wald, für Touristen anziehend, doch für die Suchaktion natürlich hinderlich.

Es war inzwischen so dunkel, dass nur die Taschenlampen den Weg erkennen ließen. Neben den beiden Kriminalisten führten die Lichtpunkte der links und rechts laufenden Polizisten einen Tanz auf, der einer eigenwilligen Choreographie zu gehorchen schien. Da ertönte ein Signalpfiff, der Einsatzleiter rief zum Sammeln, und schnell standen die zwanzig Frauen und Männer auf dem Weg: Die Suche wurde abgebrochen und sollte erst bei Tageslicht fortgesetzt werden; sie war zu ineffektiv und die Gefahr zu groß, dass irgendetwas übersehen wurde, was auf die Vermisste hinwies.

Ralf Wenke leitete seit fast zehn Jahren das Kommissariat. Als er die Wohnungstür aufschloss, dachte er kurz an seine Anfänge hier zurück, und diese Erinnerung war mit seiner Frau Anne verbunden. Sie hatten sich vor etwa einem Jahr getrennt – »in gegenseitigem Einvernehmen«, wie es in der amtlichen Formulierung hieß. Doch die Wohnung, in die er jetzt trat, hatte sich seitdem nicht verändert. Wohnraum in Rostock war knapp, bezahlbare Mieten schienen ein Auslaufmodell zu sein, und so hatten sie vor Jahren schnell zugegriffen und waren an den Rand einer Industriebrache gezogen. Die Tristesse der Umgebung war selbst bei Sonnenschein nicht zu übersehen, bei Dunkelheit aber zeigte die finstere Fläche, auf die er aus dem Fenster sah, eine Art Verödung, die durchaus seinem derzeitigen Gefühl der Vereinsamung entsprach. Er nahm sich vor, nach dem Abendbrot das sich seit gestern stapelnde Geschirr abzuwaschen, ließ sich aber stattdessen erschöpft ins Bett fallen – wahrscheinlich steckte ihm noch die Erkältung in den Knochen, die ihn zwei Wochen geplagt hatte.

Doch noch fand er nicht in den Schlaf. ›Ein Kind‹, dachte er, ›ein blondes Mädchen. Die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.‹ Anne und er hatten auf Kinder verzichtet; erst passten sie nicht ins Lebenskonzept, denn sie waren beide mit ihrem beruflichen Fortkommen beschäftigt. Und dann war es zu spät: Das Zerbrechen der Beziehung deutete sich an. Es war ein schleichender Prozess gewesen und aus heutiger Sicht war ihm längst klar: Er hätte es merken müssen. Aber die Arbeit bei der Kripo, noch dazu der oft ungeregelte Dienstschluss, war für das Privatleben Gift.

Schließlich stand er auf, ging in die Küche und trank einen Schluck kaltes Wasser aus dem Hahn. Obwohl er eine gähnende Leere erwartete, öffnete er trotzdem den Kühlschrank. Für den Einkauf war Anne zuständig gewesen. Sie hatte auch dafür gesorgt, dass »Grünzeug« auf den Tisch kam.

Wieder im Schlafzimmer angekommen schaute er in den Spiegel: Er strich sich sein mittelbraunes Haar aus der Stirn, die seit den letzten Jahren deutlich höher wirkte, weil der Haaransatz zurückgegangen war. Das machte sein ursprünglich eher volles Gesicht schmaler und ließ das markante Kinn hervortreten. ›Stirnglatze nennt man das ja wohl‹, dachte er und grinste sein Spiegelbild an. Dann blickte er an sich hinunter: Kräftig war er immer schon gewesen, aber seit einiger Zeit hatte er einen deutlichen Bauchansatz. ›Ich muss Sport machen, am besten in einem Verein‹, ging es ihm im Bett durch den Kopf.

Samstag, 30. Juli – Tag 1 nach Mareikes Verschwinden

Für den nächsten Tag hatte Wenke eine Besprechung in der Graal-Müritzer Polizeistation angesetzt, in der der kleine Meetingraum nun das Lagezentrum geworden war. Und so saßen sie frühmorgens zu viert vor ihren Kaffeetassen um den Tisch: neben Gert Jensen sein Kollege Torsten Festerling und Emma Baader, deren Einstellung als Kommissarin noch nicht lange her war. Zu Festerling, für den die Rente schon in zwei Jahren ein Thema sein würde, hatte er engeren Kontakt. Er schätzte dessen Erfahrung und ruhige Art. Andere nannten ihn wortkarg. Sie tranken manchmal ein Feierabendbier zusammen und Wenke wusste, wie er ihn zum Sprechen bringen konnte: Torsten war ein leidenschaftlicher Angler, der auch regelmäßig dabei war, wenn es mit dem Kutter zum Dorschfang hinausging. Mit Gert Jensen arbeitete er vertrauensvoll zusammen, doch seine kriminalistische Spürnase musste der erst noch unter Beweis stellen. Und Emma Baader, die da im Zimmer neben ihm herumwuselte, war ihm im Ausschreibungsverfahren der Stelle zugeteilt worden – ungefragt natürlich, aber ebenso unabwendbar.

Auf dem Tisch lag die Faltkarte der Kurverwaltung: Das Straßennetz des Seebades war verzeichnet, alles für Touristen Interessante markiert: Hotels, Supermärkte, Parkplätze, Bushaltestellen usw. Die Wege durch den Wald zur Strandpromenade liefen als dünne Linien über das Papier, und die Küste war detailliert abgebildet: bewachte Strandabschnitte, Hunde- sowie FKK-Bereich und natürlich die Seebrücke mit der Strandmuschel als Vergnügungszentrum. Die Nummerierung der Strandaufgänge fehlte aus unerfindlichen Gründen und Emma Baader erhielt den Auftrag, sie zu ergänzen – das konnte sie mit Sicherheit bewältigen. Sie nahm dies zwar ungerührt hin, doch es war ihr anzumerken, dass sie sich als Hilfsschülerin behandelt fühlte.

Festerling wies mit dem Kugelschreiber auf einen Campingplatz, der am südwestlichen Ende des Ostseebades nahe Rosenort lag. Vom Strandaufgang 14 bis dorthin waren es etwa sechs Kilometer Küstenlinie. War es denkbar, dass die Zehnjährige bis zum Camp »Rote Anna« – wie es im Volksmund wegen der roten Boje hieß – gelaufen war? Natürlich war der Platz auch über eine Verkehrsanbindung, einen schmalen Plattenweg, zu erreichen. Aber wer sollte sie dahin mitgenommen haben? Und vor allem, was hätte sie im Camp gewollt? Die ganze Diskussion lief auf die Frage hinaus: Wo sollte man suchen oder besser, wo zuerst?

Der Hauptkommissar wollte der um sich greifenden Ratlosigkeit entgegensteuern und legte das Vorgehen für den Tag fest: Die Bereitschaftspolizei sollte das Vorhaben fortsetzen und nun bei normalen Lichtverhältnissen die Strecke bis zur Strandpromenade weiter absuchen, und zwar von Hundeführern mit Fährtenhunden unterstützt. Außerdem waren Feuerwehrleute und Helfer vom Deutschen Roten Kreuz an der Suche beteiligt. Freilich gestaltete sich die Lage ähnlich schwierig wie in der Nacht: Jetzt behinderten nicht die Dunkelheit, sondern die vielen Badegäste, die auf dem Waldweg zur Promenade unterwegs waren, die Polizisten – zu Fuß oder per Fahrrad bevölkerten sie die Gegend. Natürlich hatte die Aktion nicht unbemerkt bleiben können, zumal die Suchmeldung ja abends öffentlich bekanntgegeben worden war. Die große Zahl der Touristen, die zudem noch durch das Seebrückenfest am Wochenende deutlich zugenommen hatte, war für die Polizei eher problematisch als hilfreich; Mareike konnte zwar einerseits von einer größeren Anzahl von Leuten gesehen worden sein, doch erfahrungsgemäß verlor sich andererseits ihre Spur leichter in der Masse – blonde Haare, zehnjährig, blau-weiß gekleidet – die Hinweise schwollen im Laufe des Tages zu einem beträchtlichen Umfang an. Ihre Qualität ließ sich schon daran festmachen, dass eine Reihe von Zeugen sie zu gleicher Zeit gesehen haben wollten. Und zwar an unterschiedlichen Orten.

Wenke hätte zwar die Polizeimaßnahme einer Absperrung ganzer Waldabschnitte einfach anordnen können, doch vor allem Festerling sprach dagegen: Immerhin war es möglich, die Benutzer des Waldweges gezielt nach Beobachtungen zu befragen; vorausgesetzt, es war ihr üblicher Weg zum Strandaufgang 14 und sie gehörten nicht zu den Schaulustigen. Es war eine Möglichkeit, vage genug, aber man wollte die Kollegen von der Bereitschaftspolizei auch irgendwie unterstützen. Gert Jensen erklärte sich bereit, den Versuchsballon zu starten und sich am Ende des Waldweges auf der Promenade zur Befragung bereit zu stellen. Emma Baader hielt das für inkonsequent, wenn man das Gleiche nicht auch an der Straßeneinbiegung des Weges vorhatte. Doch der Hauptkommissar ließ den Einwurf nicht gelten: Laut Karte existierte ein weit verzweigtes Wegenetz, das den Küstenwald durchzog, und man müsse erst einmal vom Nächstliegenden ausgehen, nämlich dass die Kleine vom Spielplatz an den Strand wollte und dies auf dem kürzesten Weg.

Das Kommissariat hielt die Fäden in der Hand und koordinierte die verschiedenen polizeilichen Maßnahmen: Die Wasserschutzpolizei suchte den strandnahen Bereich im weiten Umkreis ab, und zwar mehrere Aufgänge östlich der Seebrücke beginnend, bis zum ca. fünf Kilometer entfernten Campingplatz – koordiniert mit der Hubschrauberbesatzung, die Wärmebildkameras an Bord hatte. Auf dem Spielplatz war die Spurensicherung zugange, die Bereitschaftspolizisten durchkämmten die Umgebung des Waldweges weiter und Gert Jensen passte dessen Benutzer am Ende zur Strandpromenade ab. Das Landeskriminalamt hatte nach Wenkes Ersuchen Kontakt mit den schwedischen Kollegen aufgenommen, sodass Wiebke Brandt als Mutter über das Verschwinden ihrer Tochter informiert werden konnte und umgehend zurückerwartet wurde. Das ganze Räderwerk war in Gang gesetzt und man konnte nur hoffen, dass die Suche nicht tatsächlich bis nach Schweden führen würde. Umso dringender schien es geboten, mehr über das familiäre Umfeld des Mädchens in Erfahrung zu bringen und daher war ein weiterer Besuch bei den Großeltern das Nächstliegende.

Am Vormittag war der Hauptkommissar auf dem Weg zu Gertrud Vesper. Er hatte Torsten Festerling an seiner Seite und folgte damit einem oft erprobten Vorgehen. Er wollte den bisher an einer Recherche unbeteiligten Kollegen mit unvoreingenommenen Augen, sozusagen mit unverstelltem Blick, auf das Geschehen oder wie hier auf eine Person schauen lassen. Das Ergebnis hieß: »Sich ein Bild machen« und war ein für Wenke unverzichtbarer Teil seiner Arbeit, denn die individuellen Eindrücke wurden dann quasi übereinandergelegt. So zeigten sich sowohl Übereinstimmungen als auch Abweichungen. Am Ende blieb eine gewisse Schnittmenge übrig, von der aus die Richtung des weiteren Vorgehens festgelegt werden konnte.

Alle Fensterläden des Hauses der Dr.-Leber-Straße 16 waren heruntergelassen. Wären die gepflegten Blumenrabatten nicht gewesen, man hätte das Anwesen für unbewohnt halten können. Auf Festerlings Klingeln hin tat sich nichts, und so liefen die beiden auf dem Gartenweg zur Rückseite des Gebäudes. Die Terrassentür war verschlossen, doch auf dem Weg dahin waren sie an einer einfachen Tür vorbeigekommen, die in die Küche führen mochte. Auf ihr Klopfen und Rufen hin öffnete sie sich und ein alter Mann, offenbar Herr Vesper, stand vor ihnen: Sehr dünn und hinfällig, mit nackten Füßen, schmutzigem Hemd und einer Hose von undefinierbarer Farbe machte er einen ausgesprochen heruntergekommenen Eindruck. Er schien weder den Gruß zu hören noch ihr Anliegen zu verstehen und so drängte ihn Festerling zurück ins Haus, bis sie in einer geräumigen Wohnküche standen. Neben dem Herd stapelte sich schmutziges Geschirr. Ralf Wenke dachte unwillkürlich an seine eigene Küche. Die Frage, wo seine Frau sei, blieb unbeantwortet. Der Kommissar zeigte seinen Dienstausweis, woraufhin zum ersten Mal überhaupt eine Reaktion erfolgte.

Manfred Vesper sagte: »Rambo ist tot.«

Die Kriminalisten sahen sich verdutzt an, dann fiel ihr Blick auf ein Schlüsselbrett, an dem auch eine Leine hing. Der verwirrte Mann hielt den Ausweis für eine Hundemarke. Offensichtlich reagierte er eher auf etwas, das man anfassen und in die Hand nehmen konnte als auf Worte. Die Beamten beschlossen, sich bei dieser Gelegenheit im Haus umzusehen. Als sie im Wohnzimmer ankamen, hatte Festerling eine Idee: Er nahm eines der an der Wand hängenden Familienfotos in die Hand und hielt es Herrn Vesper vor die Augen.

Dessen Kopf senkte sich. Die schlohweißen wirren Haare fielen ihm ins Gesicht. Mit der Rechten hielt er das Bild, während die linke Hand unaufhörlich auf der Knopfleiste des Hemdes auf und ab strich, als wollte er eine imaginäre Krawatte gerade ziehen. Als sich sein Blick hob, schien ein Funke des Verstehens aufzuleuchten. »Wiebke«, sagte er. Seine Tochter hatte er also erkannt, seine neben ihr sitzende Frau offenkundig nicht.

»Wo ist sie?«, fragte Festerling.

Die knochige Hand wies nach oben. Das Foto zeigte Wiebke als junges Mädchen. Für den Alten war die Zeit wohl stehen geblieben.

Der Kommissar tippte auf ein Bild von Mareike, das anlässlich ihrer Einschulung vor vier Jahren entstanden war.

Manfred Vesper flüsterte kaum verständlich etwas, das wie »dod« klang – »dort« oder »tot«? Doch als er nach oben schaute, sahen die beiden Besucher, dass seine Augen leer waren.

›Grauenhaft‹, dachte Wenke und zog Festerling zur Tür. Die Zimmer der oberen Etage, besonders das, in dem Mareike gewohnt hatte, wollten sie in Gegenwart der Großmutter besichtigen. Sie mussten sie ohnehin sprechen und das Haus war sicher ein geeigneterer Ort als das Kommissariat. Sie gingen zurück zu ihrem Wagen, stiegen ein, und in dem Moment als Festerling das Auto starten wollte, sahen sie Gertrud Vesper mit einem Einkaufsbeutel in der Hand in die Dr.-Leber-Straße einbiegen. So stiegen die Beamten wieder aus und gingen ihr entgegen.

Die alte Frau geleitete sie in die Wohnstube und bat die beiden, einen Moment zu warten.

Wenke und Festerling ahnten, dass Gertrud Vesper nach ihrem Mann suchen würde.

Sie kam zurück in die Stube, ohne diesen zu erwähnen, wirkte zwar ruhig, aber ihr Blick glitt unstet von einem zum anderen und verriet ihre ungeheure Anspannung. Wenke teilte ihr mit, dass die Suche in vollem Gange sei, es im Moment aber nichts Neues gäbe. Und das berechtige doch zu Hoffnung. Was ihm dabei durch den Kopf ging, war ihm nicht anzumerken: ›Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, spätestens, wenn der tote Körper gefunden wird.‹

Dann standen sie zu dritt in dem kleinen Zimmer, das in den Ferien Mareikes Zuhause war. Ein Poster der letztjährigen Hanse Sail hing an der Wand, Bücher standen in einem Regal und auf dem Tisch am Fenster lag Papierkram. Frau Vesper wurde zu den Familienverhältnissen befragt: Der Vater ihrer Enkelin war ein Schiffsarzt, Bengt Johanson, den ihre Tochter bei der Arbeit kennengelernt hatte. Doch er war verheiratet und wollte damals seine Familie nicht verlassen. Sie hatten sich nach sechs Monaten in gegenseitigem Einvernehmen wieder getrennt und Wiebke Vesper eine einmalige Abfindung akzeptiert. Es handelte sich um eine hohe Summe, die die Mutter mit der Maßgabe erhielt, dass damit alles geregelt sei und beide keinerlei Kontakt mehr haben würden. Wiebke hatte drei Jahre später geheiratet, Jürgen Brandt, daher trug auch Mareike dessen Namen. Doch was so glücklich begann, endete, als der Schiffbauer seine Arbeit verlor und zu trinken begann. Die Ehe wurde vor etwa einem Jahr gegen den heftigen Widerstand des Schwiegersohnes geschieden. Erst als Wiebke gedroht hatte, ihn wegen Misshandlung bei einem Streit anzuzeigen, habe er in die Scheidung eingewilligt. In der Auseinandersetzung um das Sorgerecht für Mareike war er nicht ganz chancenlos, denn der Beruf der Mutter brachte schließlich Abwesenheitszeiten mit sich. Das Gericht entschied erst zu ihren Gunsten, als geklärt war, dass das Mädchen von der Freundin ihrer Tochter, mit der sie eine Wohnung teilte, in diesen Zeiten versorgt werden würde.

Festerling notierte sich den Namen ›Anna Hegebrecht‹. Er nahm eine Zeichnung in die Hand, die auf dem Tisch lag; es war ein ausdrucksstarkes, aber irgendwie eigenwilliges Porträt: das Gesicht eines Mannes, mit kräftigen Strichen hingeworfen. Der junge Mann in der Zeichnung blickte am Betrachter mit großen Augen vorbei. Seine Züge waren leicht verzerrt. Dem schiefen Mund gelang nur ein gezwungenes Lächeln. Die Augen lächelten nicht mit, sondern sahen in eine weite Ferne, ins Leere gewissermaßen. Die Großmutter konnte nichts zur Herkunft dieser merkwürdigen Zeichnung sagen, die Bilder ihrer Enkelin sahen jedenfalls ganz anders aus; und natürlich überlasse sie es den Polizisten.

Wenke suchte nach einem Tagebuch, ohne Erfolg, und nahm schließlich den Stapel Blätter mit, der auf dem Bett zerstreut war. Mareike besaß erstaunlicherweise kein Handy, wie Gertrud Vesper versicherte. Mit dem Versprechen, sich am nächsten Tag wieder zu melden, verließen die Beamten das Haus. Sie sahen noch, wie die Rollos heruntergelassen wurden – an einem sonnigen Vormittag.

Am Nachmittag waren alle in dem minimalistisch eingerichteten Zimmer des Kommissars in der Polizeistation Ribnitzer Straße versammelt. Wenke erteilte zuerst Jensen das Wort, der sich zur Befragung an der Strandpromenade postiert hatte: Die Urlauber, die hier unterwegs waren, hätten ihn zunächst für einen lästigen Journalisten gehalten. Sie seien aber durchweg zugänglich gewesen, als sie hörten, worum es ging, und gaben ihm auch bereitwillig ihre Hoteladresse an, wenn er sie darum bat. Insgesamt hatte er fünfundsechzig Personen angesprochen, die meisten kamen als Familie. Bepackt mit Badesachen hatte er viele auf ihrem Rückweg gegen Abend ein zweites Mal gesehen. Darunter hätten neunundzwanzig auf das Foto reagiert, allerdings gaben nur zwölf an, dass ihnen das Mädchen mit Sicherheit über den Weg gelaufen wäre.

Als interessant stufte er die Aussage einer Kindergärtnerin ein, die zufällig unter den Befragten war. Sie hatte Mareike auf dem Waldspielplatz gesehen, an dem der Weg zum Strandaufgang 14 vorbeiführte. Da Frau Freitag von Berufs wegen ein gewissermaßen geschultes Auge für Kinder besaß, kam ihrer Beobachtung Gewicht zu. Allerdings konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das tatsächlich am Tag des Verschwindens gewesen war oder doch schon am Vortag. Die Uhrzeit wusste sie dagegen aufgrund des Tagesablaufs: Gegen 10 Uhr war sie mit ihrer Kindergartengruppe auf den Spielplatz gekommen und kurz nach 11 Uhr zum Mittagessen zurückgegangen. Das Mädchen hätte etwas abseits am Rand neben einem Fliederbusch gehockt und wäre nach etwa einer halben Stunde fortgelaufen.

Weiterhin aufgefallen war Jensen die Aussage eines Mannes, den er mit seiner Tochter an der Hand antraf. Herr Lechleitner – Urlauber aus Bayern – erzählte, dass er eine etwa Zehnjährige am Strand bemerkt hätte, weil sie verbotenerweise auf den Buhnen herumbalancierte. Jedoch sei das nicht vor dem Strandaufgang 14 gewesen, sondern ein ganzes Stück weiter in Richtung Campingplatz, zur Mittagszeit, es mochte 14.30 Uhr gewesen sein.

Außerdem gab es da noch eine Frau Bessmer, eine Rentnerin aus Berlin, die mit ihrem Enkelsohn Thomas über das Wochenende an die See gefahren war. Sie selbst hatte das Mädchen kaum beachtet und könne daher nichts Bestimmtes sagen. Nur so viel: Nach ihrem flüchtigen Eindruck zu urteilen, sei das Kind allein unterwegs gewesen. Der Junge schaltete sich ein, ein Zwölfjähriger, der lebhaft schilderte, wie er mit dem Mädchen auf dem Foto im Wasser nach Steinen gesucht habe. »… und zwar nach ganz besonderen, nach Klappersteinen! Rieke«, wie er sie nannte, »hatte einen. Und sie hat mir verraten, dass solche Steine einen Wunsch erfüllen können, wenn man sie bei Vollmond schüttelt.«

Jensen hielt den Jungen keinesfalls für einen Träumer, denn dieser betonte mehrfach, dass er die Geschichte nicht wirklich geglaubt hatte; außerdem erwähnte er ein rot-gelbgrün geflochtenes Armband an Riekes linkem Handgelenk. Auf die Frage, wo am Strand sich Frau Bessmer mit ihrem Enkel aufgehalten hatte, meinte sie, dass sich alles östlich der Seebrücke, etwa in Höhe des Strandaufgangs 28, und zwar nach dem Mittagessen, aber noch vor 14 Uhr abgespielt habe. Eine halbe Stunde später seien sie zum Eisessen an der Promenade aufgebrochen. Und als sie gegen 15 Uhr wieder zurückkamen, war Rieke nicht mehr da.

Jensen hielt einen Moment inne: Östlich der Seebrücke – das war genau die entgegengesetzte Richtung zum Campingplatz und von der Stelle, die Herr Lechleitner angegeben hatte, mehrere Kilometer entfernt. Der Strand war dort etwas steinig, sodass an dieser Stelle durchaus solche Klappersteine, das heißt Feuersteine, in deren innerem Hohlraum ein kleiner Stein bei der Auswaschung des Kalkanteils übrig geblieben war, gefunden wurden. Sie kamen wesentlich seltener vor als die sogenannten Hühnergötter, also Feuersteine mit einem Loch.

Neben diesen drei Aussagen gab es unter den neun weiteren keine, die ähnlich präzise klangen. So wollte beispielsweise die Fahrerin des durch den Ort rollenden Gefährts, das, einer Kleinbahn nachgebildet, bei den Urlauberkindern als Attraktion galt, im ersten Wagen hinter der »Lokomotive« ein solches Mädchen in Begleitung eines Jugendlichen gesehen haben. Vor allem war an der Befragung abzulesen, dass die Gerüchteküche heftig am Brodeln war: So war aus dem Mädchen ein Geschwisterpaar geworden, die Leute wussten mit Sicherheit, dass in der benachbarten Hansestadt ebenfalls ein blondes Mädchen seit Kurzem gesucht wurde, was ja wohl auf einen Serientäter schließen ließ oder dass die Fischer des Ortes aufgefordert waren, bei der Suche nach der Leiche mitzuhelfen, denn die Wasserschutzpolizei allein sei überfordert.

Der Hauptkommissar winkte ab und zog eine Seekarte hervor, die die Küstenwache ihm überlassen hatte. Eingetragen waren als rote Markierung die bisherige Route, die das Polizeiboot genommen hatte, und sehr detailliert der Verlauf der Uferlinie. Von der Kommissarin ergänzt standen rote Ziffern, die Nummerierung der Strandaufgänge, auf dem Papier. Damit ließ sich natürlich sehr viel mehr anfangen als mit der groben Karte der Kurverwaltung.

Emma Baader meldete sich zu Wort: Sie hatte den zuständigen Revierförster gebeten, die Wege-Karte des Flurabschnitts zu faxen; nun legte sie mehrere Blätter neben die Karte: Zu sehen war ein dichtes Netz, sowohl von Fußals auch von Radwegen, das aber keine Ordnung erkennen ließ, sondern eher chaotisch anmutete. Hier hatten sich wohl die Urlauber durchgesetzt, die sich die jeweils kürzeste Verbindung von ihren an der Uferstraße parkenden Autos durch den Wald zum nächstliegenden Strandaufgang gebahnt hatten.

Festerling nickte der jungen Frau zu, was bei ihm schon eine Form von Anerkennung war, und alle Köpfe beugten sich über den Tisch. Natürlich war damit zu rechnen, dass das Kind auf einem anderen Weg als dem abgesuchten unterwegs gewesen sein konnte, dann aber glich ihr Unterfangen der bekannten Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Man entschloss sich daher, die Medien einzubeziehen, sodass der Aufruf zur Mithilfe in der örtlichen Presse sowie den regionalen Sendern von Rundfunk und Fernsehen Verbreitung finden würde.

Jensen wurde, den Neuzugang Emma Baader im Schlepp, mit Mareikes Foto losgeschickt, um die zahlreichen Graal-Müritzer Hotels abzuklappern.

Wenke sprach aus, was allen ohnehin klar war: Bei dieser Aktion war Eile geboten, denn waren die Urlauber erst einmal abgereist, konnte kaum noch mit Erfolg bei der Zeugensuche gerechnet werden. Und am kommenden Samstag reisten zweifellos schon sehr viele aufgrund des 14-tägigen Hotelturnus wieder ab. Bis zum nächsten Bettenwechsel blieben also nur wenige Tage.

Etwa eine Viertelstunde später, der Hauptkommissar und Festerling waren gerade mit dem Auto in Richtung des Campingplatzes aufgebrochen, klingelte Wenkes Telefon. Die Nachricht Jensens elektrisierte die beiden: Ein Urlauber hatte sich mit einem Foto Mareikes gemeldet, gestern aufgenommen vor der Kurklinik, also ganz in der Nähe des Hauses der Großeltern und auch der Waldspielplatz lag nicht weit entfernt.

Zurück im provisorischen Kommissariat wartete der Zeuge, dessen Schnappschuss ausgedruckt auf Wenkes Schreibtisch lag. Die Personalien waren überprüft worden: Martin Kleinschmidt, achtunddreißig Jahre alt, Besitzer einer Autowerkstatt in Gera. Der Mann machte einen sympathischen, aufgeschlossenen Eindruck. Seine Angaben hielt die Kollegin Baader im Protokoll fest: An diesem 29. Juli, also am Freitag, war er in der Kurklinik mit seiner Frau und Tochter verabredet, deren Mutter-Kind-Kur am 1. August, dem kommenden Montag, zu Ende ging. Er hatte sich drei Tage Urlaub genommen, war am Donnerstagabend mit dem Auto angereist und wollte seine Familie am Entlassungstag nach Hause bringen. So gegen 11 Uhr war er mit seiner Tochter Isabell vor der Klinik. Auf dem Weg zum Parkplatz, der im hinteren Teil des Geländes lag, kam ihnen ein Mädchen mit einer Katze auf dem Arm entgegen. Für die Tochter seien das Lieblingstiere und sie käme an keiner vorbei. Zu Hause wartete schon Kater Moritz. Die beiden Mädchen hätten sich dann gemeinsam mit dem Tier beschäftigt, während er am Auto zu tun hatte und dann zu seiner Frau ins Haus gegangen wäre. Als er Isabell gegen 11.40 Uhr zum Mittagessen – in der Klinik wurden die Essenszeiten pünktlich eingehalten – holen wollte, konnte die sich nur schwer von der Katze trennen; er habe ein Foto von ihr vorgeschlagen, um dem Gezeter ein Ende zu bereiten. Das Kind habe sich schließlich besänftigen lassen und sich auch von dem Mädchen verabschiedet. Die Uhrzeit gab Herr Kleinschmidt mit 11.50 Uhr an.

Die Beamten ließen das Protokoll unterschreiben und gingen zur Beratung in den Nebenraum. Wenke fuhr sich mit der linken Hand über das Kinn, eine charakteristische Geste, die konzentriertes Nachdenken signalisierte, und nahm das Foto in die Hand: Es zeigte ein etwa achtjähriges Mädchen, das die auf einer niedrigen Mauer sitzende Katze liebkoste. Im Hintergrund war ein zweites Mädchen zu sehen, und zwar der Oberkörper und Kopf. Obwohl es leicht verschwommen abgebildet war, wusste jeder im Raum sofort, um wen es sich handelte: Das Kind hatte lange blonde Haare, die ihr etwas ins Gesicht fielen, denn sie schien sich zu der Katze zu bücken. Eine starke Ähnlichkeit mit Mareike war zweifellos vorhanden, aber das Mädchen trug keinen Pferdeschwanz.

»Was für ein Albtraum!«, damit hatte Emma Baader die Stimmungslage in der Runde auf den Punkt gebracht. Es war ihr erster Vermisstenfall und so dachte sie an ihre Ausbildung zurück: Den Entschluss, zur Polizei zu gehen, hatte sie schon während der Schulzeit gefasst. Nach dem Bachelor-Studium an der Güstrower Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und der sich anschließenden obligatorischen Zeit bei der Schutzpolizei sowie im Streifendienst hatte sie sich nach drei Jahren auf die Stelle in der Rostocker Kriminalpolizeiinspektion beworben. Sie war dort seit dem 1. April als Kommissarin angestellt. Bei ihren Kollegen hieß sie freilich immer nur »unser Neuzugang«. Die junge Frau mit den naturblonden Haaren, die sie im Dienst zu einem Zopf zusammengebunden trug, und mit dem netten Lächeln fühlte nur allzu deutlich, dass sie von ihren Kollegen nicht ernst genommen wurde. Das galt selbst für Gert Jensen, der doch auch erst noch seine Meriten als Ermittler erwerben musste. Nun zog sie die Uniformbluse zurecht und saß in gerader Haltung an ihrem Platz.

Es wurde beschlossen, das Foto den Großeltern und der Mutter zu zeigen, die morgen zu erwarten war. Wenke informierte kurz über die Aktionen von Bereitschafts- und Wasserschutzpolizei, die gestern Abend zunächst beendet worden waren: beide ohne greifbares Ergebnis. Zwar war beim Absuchen des Waldweges allerlei entdeckt worden, darunter ein Schlüsselbund, eine Plastikhülle für Stifte, eine kleine Brusttasche aus Jeansstoff, diverse kaputte Wasserbälle unterschiedlicher Größe, Teile einer Luftmatratze, ja sogar ein Autoschlüssel, den sein Besitzer einmal verzweifelt gesucht haben mochte – kurz: nichts, was mit Sicherheit Mareike zuzuordnen war. Den Männern im Polizeiboot, die beinahe den ganzen Samstag die fraglichen Strandabschnitte abgefahren hatten, erging es ähnlich: Aufgetaucht war lediglich Plastikmüll. Ein rot-weiß gestreiftes Badetuch hatten sie aus dem Wasser gefischt sowie mehrfach Schwimmer ermahnt, die Bojenbegrenzung zu beachten. Der mit dem Fernglas abgesuchte Strand hatte keinerlei Auffälligkeiten erbracht; es war wie immer: Die Badegäste des FKK-Strandes hatten das ihnen zugewiesene Terrain zu beiden Seiten ziemlich weit auf den Textilstrand ausgedehnt. Man war nun also bunt gemischt, ohne dass das jemanden störte. Die Männer der Spurensicherung hatten zwar den Spielplatz in Augenschein genommen, doch ohne konkrete Anhaltspunkte wussten sie nicht, wonach sie eigentlich Ausschau halten sollten.

Wenke selbst brachte Herrn Kleinschmidt zur Kurklinik zurück, der sich fast überschwänglich für die Höflichkeit bedankte. Tatsächlich ging es dem Hauptkommissar darum, mit dem Kind zu sprechen. Den blauen Opel stellte er auf dem Parkplatz ab, »um sich das Gelände anzusehen«, wie er sagte. Dann ließ er Isabell holen, die ihm die Stelle zeigen sollte.

Martin Kleinschmidt zog die Stirn in Falten: »Hoffentlich geht das Ganze ohne die Katze ab, denn sonst gibt es wieder Theater.«

Ein Mädchen mit braunem Kraushaar erschien, von der Mutter offensichtlich herausgeputzt. Wenke fragte nach dem Namen des fremden Kindes vom Freitag, das Wort »Katze« vermied er tunlichst.

Die Kleine zuckte die Schultern, sah ihn scheu an und drückte sich in die Arme ihres Vaters. Da forderte er Isabell auf, die Szene nachzuspielen – nach dem Muster »Ich stand hier, das Mädchen da, was passierte dann?«

Es funktionierte: Im nächsten Moment war das Kind so bei der Sache, dass es die Begegnung Schritt für Schritt nachstellte; und dann kam ein Name: »Maike«.

Wenke blickte kurz auf, der Vater lächelte.

»Die Katze«, sagte Kleinschmidt.

Und nun sollte Isabell beschreiben, wie Maike aussah.

»Ganz normal«, war die Antwort; schließlich war »größer« und »blond« das, was ohnehin auf dem Foto zu sehen war.

»Es wäre gut, diese Maike zu finden«, verabschiedete er sich von den beiden. Hier konnte das Ausschlussverfahren helfen; der Hauptkommissar entschloss sich, auf direktem Weg vorzugehen: Er lief zur Rezeption, zog seinen Ausweis und fragte nach einer Kurpatientin mit einer etwa zehnjährigen Maike. Die Antwort war abschlägig.

Als Ralf Wenke seinen Opel auf die Uferstraße gelenkt hatte, klingelte das Handy: Emma Baader meldete sich. Laute Musik machte die Verständigung etwas schwierig, doch dann begriff er. Der zweite Tag des Seebrückenfestes war in vollem Gange – für den Abend angekündigt war ein Feuerwerk – und Emma stand nur einen Aufgang westlich. Sie hätte einen Zeugen – einen potentiellen jedenfalls – an ihrer Seite. Sie verabredeten sich im Fischrestaurant Zur Boje, das fußläufig ein paar Minuten von der Seebrücke entfernt lag.

Wenke wendete den Wagen, fuhr quer durch Graal-Müritz in Richtung Ortsmitte und parkte direkt vor dem kleinen, weinroten Restaurant, vor dem auch ein paar Urlauber mit Fischbrötchen in den Händen saßen. Er wartete einen Moment, bis die beiden vom Strand herankamen. Emmas Begleiter war ein Einheimischer, ein wettergebräunter Sechziger, bei dem man nicht lange fragen musste, wer oder besser was er war: Kai-Uwe Frenks war Fischer und ehemaliger Besitzer der Boje. Die kleine Gaststätte hatte er mittlerweile seinem Sohn überschrieben und auch seinen Kutter machte er nur noch gelegentlich seeklar.

Wenke stieg aus, ging direkt auf sein Ziel los und fragte nach sachdienlichen Hinweisen des Zeugen. Doch so war dem Alten nicht beizukommen; er sprach von »trockener Kehle« und steuerte auf das Haus zu. Nach der ersten Runde Bier »stotterte sein Motor« noch etwas, wie er meinte, aber nachdem Wenke auch einen Klaren vor ihn hinstellen ließ, kam der Alte sichtlich in Fahrt. Von dem, was er zu sagen hatte, war ein Teil Gerede dabei, das unter den Alteingesessenen umlief. Doch dem Hauptkommissar war bewusst, dass er es in der gegenwärtigen Ermittlungssituation nicht geringschätzen sollte – es war genau das, was von den Urlaubern nicht zu erwarten war: Hintergrundinformationen, deren Wert sich im Moment nicht exakt einschätzen ließ.

Auf dem Heimweg stand ihm sein erfahrener Kollege Torsten Festerling vor Augen, dem es schon so manches Mal gelungen war, Wichtiges aus der Fülle der Nachrichten herauszufiltern. ›Es wird schwieriger werden, wenn er in zwei Jahren nicht mehr da ist. Die Rente hat er sich redlich verdient. Aber ob die zwei jungen Mitarbeiter einschlagen, bleibt abzuwarten.‹ Bei Gert Jensen jedenfalls war viel eher davon auszugehen als bei Emma Baader, diesem »Küken«. ›Aber nett anzusehen ist sie schon, mit ihrem blonden Schopf, irgendwie mädchenhaft, dieser Neuzugang – diese Kriminalkommissarin‹, korrigierte er sich. Wenkes Opel bog auf die Zufahrt zur Hansestadt ein und nach etwa einer halben Stunde hatte er seine Wohnung erreicht.

Im Badezimmer drehte er den Wasserhahn der Wanne auf und hielt seinen Kopf kurz darunter. Der kalte Strahl nahm ihm die aufgekommene Müdigkeit – die Behäbigkeit, mit der der alte Fischer nach seiner Aussage eine Anekdote nach der anderen aus dem Leben der Seebadgemeinde zum Besten gab, hatte das Ihre getan. Als Wenke mit trocken gerubbelten Haaren in den Spiegel schaute, musste er lächeln: Der wilde Haarschopf erinnerte ihn an seine Jugendzeit. Die einst volle Haarpracht war zwar heute merklich ausgedünnt, aber die kleine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen war geblieben. Sie gab seinem Lachen nicht nur etwas Jungenhaftes, sondern war auch der Grund dafür, dass er einen unverkennbaren Pfiff zuwege brachte. Er nahm den Kamm zur Hand und aus dem Spiegel blickte ihn wieder das Gesicht des Vierzigers an, mit der tiefen Falte um den Mund.

Sonntag, 31. Juli –Zwei Tage nach Mareikes Verschwinden

Auf dem Notizblock von Emma Baader war es neben dem Kurzprotokoll vor allem eine Skizze, die am Sonntagmorgen in der Besprechungsrunde für ein Aufhorchen sorgte; sie fasste ihre Stichpunkte zusammen: »Die Familien Frenks und Vesper kennen sich aus früheren Jahren, denn zur Schulzeit von Wiebke und des Sohnes Torben Frenks, die in eine Klasse gingen, sind sie regelrecht befreundet gewesen. Als Jugendliche waren die beiden sogar ein Paar. Für die Familien stand fest, dass sie über kurz oder lang heiraten würden. Diese enge Verbindung ging aber auseinander, kurz nachdem Wiebke ihre Ausbildung zur Köchin in der Kurklinik beendet hatte. Von Torben waren zwar nie Einzelheiten zu erfahren, doch es sickerte durch, dass das junge Mädchen etwas mit einem dortigen Arzt angefangen hatte. Und weil niemand Genaues wusste, trieb der Klatsch im Ort Blüten; das ging so weit, dass man munkelte, Mareike sei aus dieser Verbindung hervorgegangen. Und noch etwas hat Herr Frenks erzählt: Mareikes Opa, Manfred Vesper, sei zu seiner Zeit ein stattlicher Mann gewesen, dem es die Frauen leicht gemacht hätten – auch als er längst mit seiner Frau verheiratet war. Das lasse sie ihn nun entgelten, denn sie sperre den Demenzkranken regelrecht weg. Und nun zu der Aussage, die möglicherweise im Zusammenhang mit Mareikes Verschwinden stehen könnte …«

Der Hauptkommissar unterbrach und bat Emma Baader um die Skizze der Karte: Sie zeigte den Fahrradweg, der durch den Küstenwald führte und Teil des europäischen Radwandernetzes war. Daher gab es in größeren Abständen an seiner Route gelegene Parkplätze, in der Regel mit einem Fahrradverleih verbunden. Vor den Augen der Runde im Kommissariat entstand das Gewirr der Wanderwege, durchschnitten von der roten Linie des Radweges; sie führte bis zu dem am westlichen Ortsausgang gelegenen Parkplatz – in Richtung Campingplatz also.

»Kai-Uwe Frenks war mit dem Rad auf dieser Route unterwegs. Kurz vor dem Parkplatz schloss er das Rad an einem Baum an und ging zum Strand – ich vermute, er wollte den FKK-Strand dort ›inspizieren‹«, Emma zog dabei eine Augenbraue hoch und blickte sich kurz um. Ihr Stift markierte die Stelle mit der Strandzugangsnummer »C 1«, sie gehörte also schon zum Campingplatz. Dann fuhr sie fort: »Als er zum Fahrradverleih zurückkam, es mochte inzwischen halb vier gewesen sein, da sah er Mareike, wie sie in ein schwarzes Auto stieg. Ob zu einem Mann oder einer Frau konnte er nicht erkennen. Auch bei der Automarke war er sich unsicher: ein Volvo ›oder irgend so etwas Ausländisches‹.« Emma Baader wies auf ein dickes Kreuz: »Hier also.«

Festerling wollte wissen, wie sie denn mit dem Fischer ins

Gespräch gekommen war.

Sie hätte vorgegeben am Strand die Orientierung verloren zu haben, ihn angesprochen und dabei nach Besonderheiten der einzelnen Strandaufgänge gefragt, lautete die Erklärung.

Der erfahrene Polizist nickte der jungen Kollegin ein zweites Mal anerkennend zu, und auch der Hauptkommissar zollte ihr einen gewissen Respekt, denn er wusste nur zu gut, wie mühsam es sein konnte, diese Einheimischen zum Reden zu bringen.

Als zentrale Fragen blieben: Wie konnte sich Herr Frenks so sicher sein, dass es tatsächlich Mareike gewesen war? In seiner Beschreibung stimmte die Kleidung und die Angabe »blondes Haar«, lang und offen getragen. Und zum zweiten: Wenn es wirklich die Gesuchte war, wie war sie dorthin gekommen? Ein Fußmarsch am Strand hätte mehr als eine Stunde gedauert, und auch die Wege durch den Wald boten zwar eine deutliche Abkürzung, aber für eine Zehnjährige waren sie immer noch eine Anstrengung.

Jensen strich sich die dunklen Haare aus der Stirn und ergänzte Frage Nummer drei: »Aus welchem Grund hätte sie zu dem Parkplatz kommen wollen?«

Wenke sah ihn an, wie er so dasaß, mit seiner schlaksigen Figur immer etwas zu leger angezogen wirkte und mit dem Kuli spielte. Er wusste inzwischen, dass dieser Eindruck von Lässigkeit täuschte. Der junge Mann hatte einen scharfen Verstand und auch diesmal mit seinem Hinweis den Kern der Fragestellungen getroffen.

Um 10 Uhr klingelten die Beamten in der Dr.-Leber-Straße 16. Vor ihnen stand eine adrette blonde Frau, Ende dreißig, mit verweinten Augen. Ehe sie sich noch vorstellen konnten, fiel sie Festerling um den Hals und schluchzte bitterlich. Er ging mit ihr in die Küche und setzte sie behutsam auf einen Stuhl. Die Wohnküche sah aufgeräumt aus, aber vielleicht gerade deshalb wurde ihr abgewohnter Zustand besonders deutlich. Die Uhr an der Wand mochte vor dreißig Jahren modern gewesen sein, der Küchentisch wies Messerspuren auf und die Farbe der Wischflächen am Küchenschrank war von undefinierbarer Art. Hier hatte sich ein ganzes Leben eingeprägt. ›In dieser Umgebung wirkt Frau Brandt irgendwie deplatziert‹, ging es Festerling durch den Kopf, aber er konnte sich nicht darüber klarwerden, warum eigentlich. Ihre Kleidung war sauber und ordentlich, aber keineswegs mit modischem Schnickschnack drapiert.

Wenke tastete sich mit Bedacht an den Kernpunkt ihres Interesses heran und fragte nach der Rückreise: Sie war von ihrem Kapitän am Samstagabend, als sie gerade im sonnigen Malmö durch die Geschäfte schlenderte, benachrichtigt worden, sich umgehend zu Hause zu melden. Ein Anruf bei ihren Eltern hatte dann die furchtbare Nachricht gebracht. Die Nachtfähre zurück nach Rostock hatte sie erst um kurz vor Mitternacht in Trelleborg bestiegen und sich nach ihrer Ankunft heute früh auf den Weg ins Seebad gemacht. Seitdem sei sie in einer Art Trance-Zustand und erwarte eigentlich jeden Moment, aus einem bösen Traum zu erwachen. Während sie sprach, sah sie beständig auf die Küchenuhr, als wolle sie die Zeit erfassen; dann schwieg sie.

Der Hauptkommissar brachte sich in Erinnerung: »Haben Sie Mareikes Vater informiert?«

Frau Brandt sah ihn verständnislos an; ihr sei das Sorgerecht zugesprochen worden. Doch dann begriff sie, dass der leibliche Vater, Bengt Johanson, gemeint war. Sie gab an, seit der Trennung vor der Geburt des Kindes nichts mehr von ihm gehört zu haben, und kam schnell auf ihren geschiedenen Mann, Jürgen Brandt, zu sprechen. Die Kriminalisten erfuhren von der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Sorgerecht.

›Zwei Männer‹, dachte Festerling, ›der eine wollte nichts von seinem eigenen Kind wissen, der andere will nicht von dem fremden lassen.‹

Die Befragung geriet erneut ins Stocken und der Hauptkommissar spürte, dass sie in schwieriges Fahrwasser geraten war. »Jürgen Brandt«, mahnte er, »wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Wiebke gab an, dass sie ihn seit etwa einem Dreivierteljahr nicht mehr getroffen hätte, aber er sie permanent anrufen würde, und zwar zu Hause, ihre Handynummer kannte er nicht. Das ging schon so weit, dass nur noch ihre Freundin den Hörer abnahm, aber das klappte nicht immer. Der letzte Anruf kam kurz vor ihrer Abreise Richtung Schweden. Es ging immer um das Gleiche: Wann er Mareike wieder einmal sehen könne.

»Das Verhältnis ist also eng gewesen«, meinte Festerling.

Wiebke Brandt lachte kurz höhnisch auf.

Der Hauptkommissar überließ die Gesprächsführung für einen Moment seinem Kollegen und sah sich nach Gertrud Vesper um. Sie stand in der Tür, mit so einem hasserfüllten Ausdruck in den Augen, dass er unwillkürlich ihrem Blick folgte. ›Gilt der Jürgen Brandt, den sie in der Erinnerung vor sich sah oder gar ihrer Tochter?‹, fragte sich Wenke. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte die Großmutter sich wieder unter Kontrolle und ergänzte sachlich, es sei dabei wohl um Wiebke gegangen, auf die er nicht verzichten konnte.

Festerling wollte die angespannte Stimmung etwas beruhigen, mit Hasstiraden war ihnen jetzt wenig gedient, und brachte die Sprache auf dem Umweg über Grundstücksnachbarn auf die Familie Frenks.

Gertrud Vesper bedauerte, dass sie kaum noch Kontakt hatten. »Der Torben ist doch so ein netter Mann …«

Ihre Tochter saß zusammengesunken auf dem Stuhl; Festerling zog das vor der Klinik aufgenommene Foto aus der Tasche und hielt es ihr unvermittelt vor die Augen.

»Mareike …«, schrie sie fast, alles andere ging in einem hysterischen Schluchzen unter, sie rutschte von ihrem Stuhl und umklammerte die Beine des Polizisten.

Wenke griff zu seinem Telefon und rief den Notarzt.