Verschollen am Nahanni - Rainer Hamberger - E-Book

Verschollen am Nahanni E-Book

Rainer Hamberger

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Beschreibung

Wohin ist Uwe Breuer mit dem goldhaltigen Erz verschwunden? Seit Wochen ist er mit seinem Wasserflugzeug und einer attraktiven jungen Geologiestudentin in der undurchdringlichen Wildnis am Nahanni River in Nordwestkanada verschollen. Seine Kameraden glauben noch an seine Ehrlichkeit, im Gegensatz zur Polizei und seiner in der Trading Post gebliebenen Partnerin. Ist Uwe mit dem Gold und der jungen Frau untergetaucht? Aber Breuer hatte sich entschlossen, einen Umweg zu fliegen, nachdem er feststellt, dass Sue seine Begeisterung für die großartige Landschaft teilt. Doch dann gibt ein dramatisches Ereignis dem Leben der beiden eine tiefgreifende Wendung. Der Text entstand nach einem Entwurf von Rudolf H. Woller. Geboren in Singen/Hohentwiel, gestorben 1996 in Kanada, wird Woller nach dem Krieg Journalist. Ab 1950 arbeitet er als Bonner Korrespondent verschiedener Tageszeitungen, darunter der „Schwäbischen Zeitung“ bis 1962, anschließend als Bonner Studioleiter des Zweiten Deutschen Fernsehens, ab 1971 als dessen Chefredakteur. Im Jahr 1976 wandert er mit seiner Frau nach Kanada aus. Dort betreiben die beiden bis zu seinem Tod eine biologisch-dynamisch geführte Farm. Sein Buch „6 x Kanada“ wird 1984 in der Reihe „Panoramen der Welt“ veröffentlicht. Im seit 1993 in zwei Auflagen erschienenen Buch „Kanada“ von Rainer Hamberger beteiligt er sich mit einem Kapitel „Pelze für Europa“. Woller war selbst leidenschaftlicher Flieger.

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Monika und Rainer Hamberger

VERSCHOLLEN AM NAHANNI

Nach einem Skript von Rudolf Woller

IMPRESSUM

VERSCHOLLEN AM NAHANNI

Monika und Rainer Hamberger nach einem Skript von Rudolf Woller

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.ddb.de abrufbar.

© 2019 | 360° medien gbr mettmann | Marie-Curie-Straße 31 | 40822 Mettmann

www.360grad-medien.de

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.

Redaktion und Lektorat: Christine Walter

Satz und Layout: Serpil Sevim-Haase

Gedruckt und gebunden:

Himmer GmbH Druckerei & Verlag | Steinerne Furt 95 | 86167 Augsburg | www.himmer.de

Bildnachweis:

Cover: CTC Asymetric Jason Van Bruggen | ADASM Archives (public domain)

S. 6o: Darren Roberts/NWT Tourism | S. 6u: NWT Tourism | S. 7: Kokko/NWT Tourism | S. 197: Rainer Hamberger | Anzeige: NWT Tourism

ISBN: 978-3-948097-49-3

Hergestellt in Deutschland

www.360grad-medien.de

Wir bedanken uns ausdrücklich bei dem Reiseveranstalter CRD International GmbH für die Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches. CRD International ist ein hanseatisches Familienunternehmen, das seit über 40 Jahren maßgeschneiderte Individual- und Pauschalreisen nach Kanada und in die USA anbietet.

Advertorial

Kanadas Nordwesten – Lockruf für Naturliebhaber und Abenteurer

Imposante Natur, ungezähmte Wildnis und eine faszinierende Tierwelt kennzeichnen den Nordwesten Kanadas. Gerade weil die Region touristisch bisher nur schwach erschlossen und äußerst dünn besiedelt ist, bietet sie einmalige Chancen, ein ursprüngliches Kanada zu erleben.

Flora und Fauna sind im Norden von British Columbia und in den Northwest Territories an kurze Sommer und lange Winter angepasst. Urwälder und Tundra sind belebt mit den größten Karibuherden Nordamerikas, zahlreichen wilden Bisons und noch weiter nördlich auch mit Moschusochsen. Dementsprechend hoch sind die Chancen, Tieren in ihrem ursprünglichen Lebensraum zu begegnen. In diesen Vegetations-Regionen sind zudem zahlreiche Orchideenarten beheimatet. Entlang des Alaska Highways und rund um den Nahanni National Park bilden schroffe Gebirgszüge, ungestüme Flüsse und tiefe Canyons eine der wildesten Landschaften des Kontinents. Einen Zugang zum 30.000 Quadratkilometer großen Nahanni National Park gibt es nur per Wasserflugzeug oder mit einer anspruchsvollen mehrtägigen Paddeltour. Die Virginia Falls des South Nahanni River mitten im Nationalpark sind fast zweimal so hoch wie die Niagara Falls, aber ohne Zufahrt und von unverfälschter Wildnis umgeben. Tosende Wassermassen stürzen hier fast 100 Meter in die Tiefe und erzeugen einen spektakulären Regenbogen! Es gibt eine gut gepflegte Portage um die Wasserfälle herum. Hier wurden auch für Wanderer sichere Trails angelegt. Mit etwas Glück sind auch Dallschafe, Bergziegen, Karibus, Wölfe oder Bären zu sichten. Lohnend ist vor allem der kurze Weg zur Kopfzone der Fälle mit einem spritzigen Blick in die Tiefe. Wasserflugzeuge können etwas weiter flussaufwärts oberhalb der Fälle sicher landen. Nicht einmal 1000 Besucher kommen jährlich zu diesem abgelegenen Naturschauspiel.

Unweit davon durchzieht der legendäre 2237 Kilometer lange Alaska Highway die Rocky Mountains. Besonders reizvoll ist die 90 Kilometer lange Fahrt durch den Muncho Lake Provincial Park. Das Naturschutzgebiet liegt 650 Kilometer nördlich der „Mile 0“ in Dawson Creek, wo der Alaska Highway beginnt. Mit der Northern Rockies Lodge bietet sich eine stilvolle Station für einen kurzen Aufenthalt. Vielleicht lockt von da aus ein Abstecher zu den etwa 70 Kilometer nördlich gelegenen Liard Hot Springs und der gleichnamigen Lodge. Welch ein besonderes Erlebnis in den heißen Quellen zu baden, die inmitten der Wildnis gefasst sind! Es ist keine leichte Wahl in welcher der beiden Lodges mit ihren landestypischen Blockhäusern übernachtet wird. Nur wenige Straßen ermöglichen Abstecher in Seitentäler. Auch heute noch sind Forscherteams, Vermessungsingenieure und Goldsucher deswegen meist mit Wasserflugzeugen unterwegs. An einigen Stationen entlang der Flüsse oder Highways werden auch Rundflüge angeboten, die den besten Gesamteindruck von dieser unglaublichen Landschaft ermöglichen.

Erlebnisse mit Wildtieren, das Tosen der Wasserfälle, Begegnungen mit echten Pionieren, Aufenthalte in kanadischen Lodges und über allem der Atem der Wildnis. Willkommen im Nordwesten Kanadas!

Informationen, Beratung und Buchung von individuellen Reisen nach Kanada und in die USA: CRD International – Spezialist für Nordamerikareisen im stilwerk Hamburg | Tel. 040-300 61 670 | [email protected] | www.crd.de

Vorwort

Für Naturbegeisterte ist Kanada oft ein Land ihrer Träume: weite Horizonte über den Prärien, die Wildheit der Rocky Mountains, tosende Wasserfälle, schier undurchdringliche Wälder, Seen wie Binnenmeere, hilfsbereite Einwohner und der Charme des sogenannten Pionierlebens. Schon immer reizte es Menschen aus dem dicht besiedelten Europa sich hier niederzulassen. In der neuen Heimat suchen und finden sie oft auch eine neue Freiheit. Einige arbeiten in ganz anderen Berufen.

Allseits geschätzt wird die optimistische und empathische Mentalität der Kanadier. Viele von ihnen haben sich hier nach der Einwanderung eine neue Existenz aufgebaut. Das weite Land bietet interessante Gelegenheiten für Abenteuer wie das Jagen oder Fliegen.

Wo keine Straßen hinführen, bleiben nur Luft- oder Wasserwege. In den Weiten des Nordens garantieren Wasserflugzeuge die Versorgung der wenigen Bewohner und erledigen lebenswichtige Aufträge, im Sommer mit Schwimmern, im Winter auf Kufen. In ihrer Berufsausübung sind Piloten oft hohen Risiken ausgesetzt durch unberechenbare Winde, riskante Landeflächen und nicht vorhersehbar eintretende Wetteränderungen. Die Landschaften im Norden von British Columbia und den Northwest Territories sind von großer Einsamkeit und Wildheit. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das aus der Vogelschau. Hier ist das Einsatzgebiet der Buschpiloten.

Ein aus Deutschland Eingewanderter sucht in diesem Buch die Verwirklichung seines Lebenstraumes als Buschpilot. Dabei begegnet er allen denkbaren Abenteuern während eines Spezialauftrages mit mehr als ungewissem Ausgang.

Wir widmen diesen Roman allen, die sich für die großartige Natur in Kanada begeistern, Fernweh in sich tragen, ausgetretene Pfade verlassen und besonders allen Buschpiloten für ihre furchtlosen Einsätze.

Monika & Rainer Hamberger, Maierhöfen im Frühjahr 2019

Inhaltsverzeichnis

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Der staubbedeckte Greyhound-Bus kommt ächzend am Straßenrand zum Stehen. Im Leerlauf geht der sonore Ton des schweren Dieselmotors in ein dröhnendes Nageln über. Eine von den gebremsten Rädern aufgewühlte Staubwolke zieht träge zum angrenzenden Feld hinüber und verliert sich langsam im Gelb des reifen Weizens. Felder so groß, dass es scheint, sie würden bis an den Horizont reichen. Vom Wind getriebene Steppenhexen bleiben am nächstbesten Hindernis hängen, bis eine noch stärkere Bö sie mitnimmt. Präriehunde strecken neugierig den Kopf aus ihrem Bau, um gleich darauf wieder in der kühlen Höhle zu verschwinden. Die wabernde Hitze dieses Spätsommertags in der topfebenen, unendlichen Prairie-Landschaft der Provinz Saskatchewan im kanadischen Westen verzerrt die Konturen ins Unwirkliche, als wäre es eine Fata Morgana in der Wüste. Es ist kurz nach zwei Uhr nachmittags.

Nein, hier am Straßenrand, nicht weit von dem einsamen Farmhaus, ist eigentlich keine Haltestelle. Der Mann, der sich jetzt mit einem leichten Akzent in der Stimme beim Fahrer bedankt – ist er Niederländer oder Deutscher? – fragt, ob man ihn hier absetzen könne. Er wisse sonst nicht, wie er von dem letzten Ort hier heraus kommen sollte. Die vor sich hin dösenden Fahrgäste in den ersten Sitzreihen haben mit halbem Interesse zugehört, und einer von ihnen hat genickt. Er wusste wohl, was Reisen in dieser Weltgegend bedeutet. Ist doch selbstverständlich, dass man den hier rauslässt. Der abschätzende Blick des Omnibusfahrers lässt seine Gedanken erkennen. Mit dem Koffer und dem Rucksack, sagt er sich mit einem verborgenen Grinsen, hätte der Mann in der sengenden Hitze viele Stunden gebraucht, um die sechzehn Meilen von dem kleinen Ort hierher zu laufen. Taxis gibt es ja in dem Nest nicht. Und hier draußen fahren nur hin und wieder Autos oder Trucks vorbei, die einen Anhalter mitnehmen könnten. Fremde kommen überhaupt selten zu einer dieser Farmen in der Mitte von Nirgendwo. Und der sieht nicht aus wie ein Geschäftsmann aus dem hundertzwanzig Meilen entfernten Saskatoon. Er trägt Jeans und ein ausgebleichtes Holzfäller-Hemd und hat sich keinen Schlips umgebunden. Wer könnte das denn sein? Sein neugieriger Blick kann nichts ergründen. So nickt er dem Mann freundlich zu, als der aussteigt und zieht dann kräftig am Hebel. Die schwere Tür schließt ächzend. Dann den ersten Gang rein und weiter geht es über die Ebene zum nächsten Halt, vielleicht nach hundert Meilen. Wäre da nicht flotte Musik aus dem Radio und eine gut gefüllte Kaffeekanne, hätte der Busfahrer Mühe bei so viel Eintönigkeit die Augen offen zu halten.

Das Farmhaus liegt um die zweihundert Schritte weit von der Landstraße, meilenweit entfernt vom nächsten Nachbarn. Auf der Westseite ist es durch eine dichte Reihe von Pappeln gegen die Präriewinde geschützt. Es ist eines dieser zweistöckigen Dutzendhäuser aus dem Katalog, wie sie im Westen überall zu finden sind. Breit ausladend, unter einem flachen, mit unempfindlichen Asphaltschindeln gedeckten Satteldach. Das Hauptgeschoss ist oben, darunter befindet sich, was hier Basement genannt wird. Nein, schön oder architektonisch bemerkenswert ist es sicherlich nicht, aber zweckmäßig. Dahinter schaut die Scheune hervor, rot gestrichen mit ausladendem Giebel. Und daneben, in einem offenen Hufeisen, der Maschinenschuppen samt Werkstatt. Alles ist ordentlich aufgeräumt. Der Hund, dessen Bellen weithin hörbar ist, muss hinter dem Haus angebunden sein. Sonst gibt es kein Zeichen von Leben. Es ist noch zu heiß im Freien.

Das Gesicht des Fremden nimmt die Szene mit einem Ausdruck von Genugtuung auf, als freute er sich, dass alles noch da sei. Er hat den prallen Rucksack locker über die Schulter gehängt. Der Koffer scheint nicht sonderlich schwer zu sein. So setzt er ohne Eile einen Fuß vor den anderen auf dem Einfahrtsweg zur Farm hinüber. Da öffnet sich dort die Haustür im Untergeschoss. Ein älterer Mann, die Holzfällerkappe auf dem schütteren grauen Haar, tritt ins Freie und geht in Richtung des Maschinenschuppens. Plötzlich bemerkt er den Fremden den Weg heraufkommen und bleibt stehen. Etwas wie ungläubiges Erkennen zeigt sein Mienenspiel. Er zögert noch einen Moment, als ob er es nicht glauben kann, was er sieht, um dann dem Ankömmling ein paar vorsichtige Schritte entgegen zu gehen. Dann bleibt er stehen, schirmt seine Augen mit der Hand gegen das gleißende Sonnenlicht und fragt mit verhaltener, belegter Stimme:

„Bist du das, Uwe?“

„Ja John, ich bin es“, kommt die Antwort, während der Mann seinen Koffer abstellt und den Rucksack heruntergleiten lässt.

Er ergreift die ausgestreckte Hand mit einem festen Griff. Die beiden schauen sich in die Augen und mustern sich eine Weile schweigend. John Musgrove, der alte Farmer, bekommt eine feierliche Miene.

„Es ist lange her, Uwe Breuer. Ist es dreizehn oder vierzehn Jahre, seit du aus der Gefangenschaft entlassen worden bist?“

„Ja“, kommt die leise Antwort, „und damals hast du gesagt, ich sei bei euch stets willkommen, wenn mich mein Geschick je in dieses Land zurückbrächte.“

„Das Wort gilt. Aber komm doch erst mal ins Haus.“

Seine Stimme wird fröhlich lärmend.

„Donna wird sich freuen. Du musst erzählen, was du so erlebt hast.“

Er greift nach dem Koffer, Uwes abwehrende Geste missachtend, und geht voraus in Richtung Haustür. Währenddessen mustert er Uwe von der Seite.

„Du hast eine Menge Falten bekommen, na ja, wir werden eben alle älter, ich bin ja auch bald sechsundsechzig und werde mich in spätestens zwei Jahren auf meinen Altenteil zurückziehen. Tom ist in Saskatoon und studiert Landwirtschaft. Er ist bald fertig und will dann hier übernehmen. Und der Zweitälteste, der Wally, der nie genug von deinen Fliegergeschichten hören konnte, der ist in dein Fach gegangen, er ist Pilot geworden; da drüben, kaum zwanzig Meilen von hier, weißt du, auf dem alten Flugplatz, der während des Krieges für die Flugschule gebaut wurde.“

Sie sind an der Haustür angekommen. John öffnet sie und ruft mit polternder Stimme das Treppenhaus hinauf:

„Donna, du wirst nicht glauben, wer hier ist!“

Oben in der Küche legt Donna Musgrove hastig die Schürze ab, hängt sie ordentlich an den Haken und schaut neugierig das Treppenhaus herunter.

„Sag' schon, wer es ist“, sagt sie ärgerlich.

Gegen die Helligkeit von den kleinen Fenstern über der Haustür kann sie das Gesicht des Fremden nicht erkennen. So kommt sie mit zögernden Schritten die Treppe herunter, um plötzlich wie angenagelt stehen zu bleiben.

„Mein Gott, das ist doch nicht möglich – Uwe!“

Sie nimmt ihn an die Hand und zieht ihn zu dem Flurfenster hinüber, um ihn bei vollem Licht anschauen zu können. Da wird sie still und streichelt ihm mütterlich die Wange.

„Du hast es schwer gehabt, nicht wahr?“

Und Uwe antwortet gemessen: „Ja, so friedlich wie es hier für einen Kriegsgefangenen auf der Farm war, ist es nie wieder gewesen!“

„Wo kommst du denn jetzt her?“, fragt John, die bei seiner Frau aufkommende Rührung abfangend.

„Wie lange bist du schon unterwegs?“

„Die letzten vier Tage habe ich praktisch im Bus geschlafen, von der Gegend um Toronto. Ich habe dort nach meiner Ankunft für ein halbes Jahr als Mechaniker gearbeitet, in einer Autowerkstatt, manchmal auch auf einem nahen Flugplatz, für so einen Fliegerclub. Und Inhaber eines Berufspilotenscheins bin ich auch. Aber dann habe ich mir in den Kopf gesetzt, in den Westen zu gehen.“

„Und wo ist deine Frau?“, fragt Donna Musgrove leise.

„Du bist doch verheiratet.“

„Nein, Donna, nicht mehr. Aber das ist eine lange Geschichte.“

Sein Gesicht bekommt einen gequälten Ausdruck.

„Also Schluss jetzt. Du wirst uns das ja erzählen, wenn du willst. Aber jetzt soll er sich erst mal frischmachen. Er kann ja in seinem alten Zimmer im Keller schlafen, nicht wahr, Donna?“

„Ja, selbstverständlich. Ich habe es in ein paar Minuten fertig. John, biete ihm was zu trinken an. Er wird es brauchen bei der Hitze. Oben im Kühlschrank ist noch Limonade, die hast du doch immer so gerne gemocht, Uwe.“

Und sie macht sich eilig auf den Weg in den Flur des Untergeschosses, in dem Uwe zwei Jahre als Kriegsgefangener beim Arbeitseinsatz untergebracht war.

Uwe Breuer steht am Fenster seines alten Zimmers. Es ist klein und schmucklos, mit einer Art Feldbett, einem Nachttisch und einem in die Wand eingebauten schmalen Schrank. Auf der Kommode steht eine Waschschüssel mit einem Wasserkrug aus Blech, eine Seifenschale daneben. Und Donna hat ihm ein Handtuch dazugelegt. Ihm ist, als sei er in die Vergangenheit zurückgekehrt. Hier stand er oft und dachte an Zuhause zurück. Und an den Krieg im Mittelmeer, wo er als Oberleutnant im Jagdgeschwader 2, mit seinen Kameraden jenen aussichtslosen Kampf gegen die wachsende Übermacht in der Luft zu fechten hatte. Und an jenen Palmsonntag 1943, an dem für ihn der Krieg zu Ende gegangen war.

Für ihn ist alles, als sei es gestern gewesen.

Die Erinnerung überwältigt ihn.

Er ist unterwegs von Sizilien kommend mit sieben Maschinen Geleitschutz für einen riesigen Schwarm von Transportflugzeugen, Ju 52 und Messerschmitt Giganten. Im Luftkampf wird seine Messerschmitt 109 F flugunfähig geschossen. Er setzt die Maschine ins Wasser und hofft, dass sein Schlauchboot von deutschen Seenot-Flugzeugen entdeckt wird. Aber dann fischt ihn ein englischer Zerstörer aus dem Meer und er landet schließlich in einem Gefangenenlager in Kanada, nahe der Stadt Saskatoon. Dort meldet er sich freiwillig für die Arbeit in der Landwirtschaft. Er erinnert sich noch genau wie freundlich und ohne Vorurteile ihn die Musgroves aufnehmen.

Szenen tauchen in seinem Gedächtnis auf, wie er gemeinsam mit der Familie am Tisch sitzt, glücklich über eine kräftige Mahlzeit. Wie dankbar John für jede Hilfe bei der schweren Farmarbeit ist. Welchen Spaß er hat beim Spiel mit den Kindern. Aber auch, wie der Winter mit seinen Minusgraden und fürchterlichen Stürmen alles Leben mit Schnee oder später im Frühjahr mit Staub zudeckt.

Uwe kehrt zurück in die Gegenwart, als er Donnas Stimme hört, die ihn zum Essen ruft. Er gibt sich einen Ruck und geht nach oben.

In der Wohnküche warten die beiden schon auf ihn. Am Tisch sitzend bemerkt John, dass die Runde kleiner geworden ist, seit die Kinder als Erwachsene das Haus verlassen haben. Nach einem kurzen Tischgebet beginnt jeder schweigend seine Mahlzeit. Es dauert eine Weile, bis Donna, die Uwe immer wieder mustert, das Schweigen bricht.

„Wie lange hat es eigentlich damals gedauert, bis du zu Hause angekommen bist?“

„Ich bin nie wieder nach Hause gekommen. Meine Heimat in Ostpreußen ist ja jetzt russisch. Ich wurde nach Westdeutschland entlassen, in die britische Besatzungszone. Über das Rote Kreuz habe ich nach vier Monaten erfahren, dass Inge, meine Frau, in Düsseldorf lebte. Da bin ich dann auch hingegangen. Inge war ja im Krieg Schreibkraft in einer Rüstungsfabrik. So hat sie bald eine gute Stelle bekommen, bei einem Wirtschaftsberater.“

Uwe macht eine Pause.

„Ich selbst habe alles Mögliche angefangen. Auch auf dem Schwarzmarkt versuchte ich etwas Geld zu verdienen. Aber es ist nichts Rechtes draus geworden. Dann bin ich, sozusagen aus Zufall, zu zwei alten Lastwagen mit Holzvergaser-Motoren gekommen und fing damit einen kleinen Fuhrbetrieb an. Das lief auch nicht schlecht. Ich war ja immer ziemlich geschickt in mechanischen Dingen und konnte somit die beiden alten Wracks am Laufen halten. 1948, als unsere Währung bis auf zehn Prozent abgewertet wurde kam ich ganz gut heraus. Ich habe drei Laster dazugekauft. Aber es ging nur mühsam weiter.“

Uwe räuspert sich, seine Verlegenheit nur mühsam verbergend.

„Ich hatte halt einfach kein Talent fürs Geschäftsleben. Also kurz und gut, es ging kaum mehr vom Fleck. Wir lebten zuerst vor allem von Inges Sekretärinnen-Gehalt.“ Uwes Stimme stockt. Leise fährt er fort.

„Ja, sicher, sie hatte wohl mehr von mir erwartet. Und sie hat angefangen, darüber zu klagen, dass wir keine Kinder haben. Aber es hat nicht geklappt.“

Er macht eine Pause.

„Und was das Geschäftliche anbelangt, hat sie mir immer ihren Chef als Vorbild geschildert, er bringe ihr zunehmend mehr Vertrauen entgegen. Da hat es ein paarmal richtig gekracht. Und ich habe bemerkt, dass ihr der Chef, ein Junggeselle, schöne Augen machte. So sind wir immer mehr auseinandergedriftet. Hin und wieder war auch zu viel Alkohol mit im Spiel.“

Uwe starrt vor sich hin. Ein wenig kleinlaut fährt er nach einer Pause fort.

„Sicher, Inge hat sich viel Mühe mit mir gegeben. Auch nachdem ich aus unserer Wohnung ausgezogen bin. Und vielleicht wären wir wieder zusammengekommen, wenn das mit dem Unfall nicht passiert wäre. Wir verbrachten sogar wieder eine Nacht zusammen in ihrer Wohnung.“

Er schluckt, als seine Stimme beinahe versagt.

„Aber dann ist mir am nächsten Tag nachts auf der Königsallee ein Betrunkener direkt vor das Auto gerannt.“ Wieder eine Pause.

„Er war sofort tot.“

Donna legt mit einer mitleidigen Geste ihre abgearbeitete Hand auf Uwes verkrampfte Faust, die ein paar unkontrollierte Bewegungen auf dem Tischtuch gemacht hat.

„Ich habe das wie ein Gottesurteil genommen. Und auch das Gericht hat eindeutig festgestellt, dass ich gar keine Chance gehabt hätte, so rechtzeitig zu reagieren, damit der Mann, der als notorischer Alkoholiker bekannt war, nicht von meinem Wagen erfasst worden wäre.“

„Aber“, Uwes Augen sind unbeweglich und seine Stimme klingt heiser, „aber ich bin das einfach nicht mehr losgeworden. Es war mir, als hätte hier ein höheres Gericht gegen mich entschieden. Ich kam mir als Versager auf der ganzen Linie vor! Da war meine Ehe, die ich nicht ausfüllen konnte, meine Frau offensichtlich vom Glanz ihres erfolgreichen Chefs geblendet. Ja, wenn wir Kinder gehabt hätten. Aber das hat ja auch nicht geklappt! Im Geschäft war ich den harten Methoden der Branche in unserem Wirtschaftswunderland nicht gewachsen. Und nun das!“

Er spricht leise, sein Blick in die Ferne gerichtet.

John und Donna hören schweigend zu und vermeiden, ihr Mitleid offen zu zeigen.

„Ich wollte neu anfangen, wollte Inge nicht mehr im Wege stehen. Ich habe sie nicht mehr gesehen, sondern in aller Stille durch meinen Anwalt die Scheidung einreichen lassen, alle Schuld an der Zerrüttung auf mich genommen, mein Geschäft verkauft und den Erlös bis auf einen Betrag, den ich hier zum Start von ganz unten brauchte, an sie überweisen lassen. Sobald ich vom kanadischen Konsulat die Einwanderungspapiere erhielt, bin ich abgereist.“

Uwe macht einen erschöpften Eindruck. Aber man merkt ihm auch die Erleichterung an, sich das alles von der Seele geredet zu haben, was er tief im Innern mit sich herumschleppte.

„Ja, es sind jetzt schon sieben Monate her. Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, ob ich das Richtige getan habe!“

2

Inge, heirate mich!“. Die Worte kommen leise, aber eindringlich. Die Augen hinter der randlosen Brille strahlen ruhige Entschlossenheit aus. Karl Harder hält Inge Breuers Hände mit den seinen fest umschlossen, als wolle er sie daran hindern, sich ihm zu entziehen.

Er hat das dezente Ambiente dieses vornehmen Restaurants im Düsseldorfer Parkhotel gewählt, weil er Inge nicht durch die Atmosphäre seines eigenen Hauses verunsichern wollte. Keine Zweifel, er weiß was er will, er will diese Frau gewinnen. Er ist sich ihrer Zustimmung nicht gewiss. Trauert sie immer noch ihrer ersten Ehe nach mit einem Mann, der nichts auf die Reihe brachte? Sie kennen sich schon viele Jahre, ob sie sich für ihn entscheiden wird? Nein, er ist nicht mehr der Jüngste. Vor zwei Wochen hat er seinen zweiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Aber was heißt das schon bei seiner Generation! Man hatte ihnen ja die Jugend gestohlen. Als er nach dem Abitur seinen zweijährigen Wehrdienst antrat, wusste er noch nicht, dass er die Uniform für lange sieben Jahre nicht mehr ausziehen würde. Gerade als seine Pflichtjahre abgeleistet waren, brach der Krieg aus. Er, der Oberfähnrich, marschierte mit nach Polen, dann nach Frankreich und schließlich in die endlose Weite Russlands. Dann war alles vorbei. Karl Harder stand in seiner verschlissenen Hauptmannsuniform als Siebenundzwanzigjähriger am Grab seiner Eltern. Sie kamen kurz vor dem Zusammenbruch bei einem Bombenangriff ums Leben.

Aber er hatte insofern Glück gehabt, als er schon nach wenigen Monaten aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen wurde. Und mit der ihm eigenen Zähigkeit nahm er alle Unbilden des Studentenlebens in jenen Anfangsjahren auf sich, sobald die Bonner Universität wieder ihre Tore öffnete. Betriebswirtschaftslehre war sein Fach, weil er sich ausrechnete, dass Wirtschaftsberatung trotz oder gerade wegen der ungeheuren Zerstörungen ein Mangelberuf sein werde. Er sollte Recht behalten. Sein Beratungsunternehmen war ein Erfolg. Er wurde während dieses deutschen Wirtschaftswunders ein wohlhabender Mann. Nur zum Heiraten ist er nicht gekommen.

Jetzt saß vor ihm die Frau, die er damals als seine erste Sekretärin eingestellt hatte. Bald schon bemerkte er, dass er sich auf diese Inge Breuer blind verlassen konnte. Seit zehn Jahren schmiss sie den ganzen Laden und entwickelte zudem jene damenhafte Sicherheit, die gerade sein Kundenkreis zu schätzen wusste. Schon nach kurzer Zeit war sie unentbehrlich geworden. Ihr Mann hatte sich mehr schlecht als recht im Transportgewerbe versucht. Nein, dafür war der nicht gemacht! Er hatte sich auch nichts sagen lassen, und schon gar nicht von ihm, Karl Harder, weil er wohl spürte, dass er in Inge mehr sah als nur eine Angestellte.

Er hätte wohl keinerlei Chance gehabt, sie je von Uwe Breuer loszueisen. Inge war ihrem Mann unverbrüchlich treu. Sie liebte ihn. Karl Harder wusste das. Es wäre ihm nie eingefallen, auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, seine Gefühle für Inge offen zu zeigen.

Aber dann war die Sache mit dem Unfall auf der Königsallee passiert. Uwe Breuer hatte wohl Panik bekommen. Er reichte die Scheidung ein, erklärte sich durch seinen Anwalt als allein schuldig für die Zerrüttung der Ehe und verschwand. Dass seine Frau ein Kind erwartete, scheint ihn nicht gerührt zu haben.

Inge Breuer, die jetzt vor ihm sitzt, ist bleich geworden. Sie starrt ihn an und versucht, ihm ihre Hände zu entziehen.

„Karl, ich bin schwanger mit dem Kind von Uwe!“, sagt sie hilflos.

„In zwei Monaten ist es soweit!“

„Aber er hat dich doch im Stich gelassen, ist einfach weggelaufen!“

Inge schlägt die Augen nieder, schweigt eine Weile, um dann fast tonlos zu sagen: „Er weiß nichts von dem Kind!“

Die Worte hängen schwer in der Luft.

„Was? Du hast es ihm nicht gesagt?“

Zum ersten Mal fällt die überlegene Sicherheit von ihm ab.

„Ich habe es nicht fertiggebracht“, kommt leise die Antwort.

Und dann öffnet sie sich, ganz langsam, stockend, Wort hinter Wort setzend.

„Es war wohl mehr meine Initiative, damals, die Nacht vor dem Unfall, er wohnte ja nicht mehr bei mir, war ausgezogen. Ich lud ihn zum Essen ein und wir sprachen von den alten Zeiten, damals während des Krieges, von den Briefen, die wir uns geschrieben haben dann, als er verwundet war und bei uns in Stettin im Reservelazarett lag, und als er plötzlich die Heiratsgenehmigung herauszog – mit meinem Namen darin, er zweiundzwanzig und ich neunzehn. All die Erinnerungen an unsere Kriegstrauung kamen hoch, an die Trennung, und dass er dann wenige Wochen später abgeschossen wurde und in Gefangenschaft geriet. Die Erinnerung an die gemeinsamen Erlebnisse machten uns beide glücklich.''

Sie schluckt.

„Da ist er bei mir geblieben. Als er nach dem schrecklichen Unglück auf der Kö nicht mehr auftauchte und dann später sein Anwalt anrief, wegen der Scheidung“, sie schluckt wieder und hält einen Moment inne, „da habe ich es einfach nicht fertiggebracht, das mit der Schwangerschaft zu sagen. Ich war verletzt und ich wollte ihn auch nicht mit dem Kind erpressen, bei mir zu bleiben.''

Karl war der Erzählung mit ungläubigem Gesicht gefolgt.

„Inge, ich bewundere dich, du bist eine unglaublich starke Frau, aber du musst doch auch an deine Zukunft und an die des Kindes denken.“

Er zwingt sich zur Ruhe.

„Du bist eine geschiedene Frau und hättest dann ein uneheliches Kind, unsere Gesellschaft ist ja nicht übertrieben tolerant, wie du weißt.“

Er schaut sie mit einem sachlichen Blick an, um dann weich zu werden.

„Inge, ich bin kein übertrieben impulsiver Mann, du weißt das, aber du hast in diesen Jahren unserer Zusammenarbeit doch sicher gespürt, dass ich ein tiefes Gefühl für dich habe. Ich habe nie versucht mich dir aufzudrängen. In eure Ehe hätte ich mich niemals eingemischt. Aber soll ich jetzt, wo du frei bist, so tun, als würdest du mir nichts bedeuten? Wir sind in diesen Jahren verlässliche Freunde für einander geworden.“

Er zwingt sie mit seinem Blick, ihm in die Augen zu schauen.

„Ich werde mich nie einer anderen Frau wirklich zuwenden können, ich brauche dich! Wir passen zusammen, wir haben schon bewiesen, dass wir ein Team sind.“

„Aber das Kind ...“, wirft sie ein.

Er sieht sie fast flehend an.

„Ich kann es doch nicht einfach beiseiteschieben.''

Ihre Augen haben einen verzweifelten Ausdruck.

„Inge, das Kind ist ein Teil von dir, und ich würde es mit aller Liebe umgeben, als wäre es mein eigenes. Es würde meinen Namen tragen, und wenn du nicht willst, wird es nie erfahren, dass es einen anderen Vater hat. Ich werde nichts tun, um deine Liebe zu erzwingen, aber ich werde versuchen, sie mir zu verdienen. Inge, ich bitte dich, heirate mich!“

3

Alles klar zur Landung.“

Uwe Breuer weiß nicht wie oft er diese Antwort während der letzten Jahre vom Tower bekam. Vorsichtig setzt er die Beaver auf und lässt sie ausrollen. Ein Glücksgefühl durchströmt ihn. Auch ein erfahrener Pilot ist jedes Mal froh, sich und seine Passagiere wieder gesund auf den Boden zu bringen. Dann wird das Flugzeug mit Seilen festgezurrt. Plötzlich auftretende Winde haben schon manchen Schaden an nicht gesicherten Maschinen angerichtet.

„Für heute ist Feierabend“, überbringt Sandy Foster, Eigner der Northern Flying Services Ltd, sein Chef, die gute Nachricht. Mehr als zehn Jahre arbeiten die beiden nun schon zusammen. Sandy fand in ihm einen zuverlässigen Piloten, den er unbedingt für sein Transportgeschäft benötigte. Als Uwe sich aus seiner Fliegerkluft schält, läutet das Telefon. Sandy nimmt ab.

„Ist es wirklich gleich notwendig? Glaubst du nicht, dass es noch eine Weile dauert? Ok, du wirst es ja wissen, ist schließlich nicht dein erstes“, beendet er das Gespräch. „Uwe, du musst doch gleich wieder los. Diane Curtiss hat Wehen und sie glaubt, dass es diesmal nicht so lange dauert bis das Baby kommt. Also schnell ab ins Krankenhaus.“

Schon ist Uwe unterwegs. Schnell zieht er sich die Fliegerkluft wieder über. Die Maschine muss frisch betankt werden. Das Wetter sieht auch nicht einladend aus, aber dieser Flug erlaubt keine Verzögerung. Diane und ihr Mann stehen schon im Warteraum bereit. Im Koffer das Notwendigste fürs Krankenhaus. Ein Stoßgebet zum Himmel schickend verstaut Uwe die beiden in seiner Maschine. Trotz der Dringlichkeit absolviert er in aller Ruhe seine Startvorbereitungen. Die nächstgrößere Krankenstation ist eine gute Flugstunde entfernt, wenn das Wetter mitmacht.

„Alles wird gut. Versucht euch zu entspannen. Wir schaffen das rechtzeitig“, beruhigt er die werdenden Eltern.

Eine Geburt im engen Flugzeug, eventuell mit einer Notlandung, ist nicht gerade die Traumvorstellung eines Piloten. Immer wieder streift sein Blick die schwer atmende Diane auf dem Rücksitz. Wie gern wäre er mit Inge in dieser Situation gewesen. Beide hatten sie sich eine Familie gewünscht. Der Unfall veränderte alles.

Doch denkt Uwe zurück an die Zeit, als er Deutschland den Rücken kehrte und in Kanada Fuß fasste, müsste er fast dankbar für dieses eingreifende Ereignis in seinem Leben sein. Hier oben im Norden konnte er seine Leidenschaft für die Fliegerei berufsmäßig ausleben. Viele Freunde halfen beim Neuanfang. Allen voran John, bei dem er sich während des Krieges als Kriegsgefangener aufhielt. Ein ferner Verwandter von John lebte als Buschpilot in dieser einsamen Gegend und suchte dringend Verstärkung. Die Gelegenheit für Uwe! Sandy und er verstanden sich vom ersten Augenblick an. Eine langanhaltende Freundschaft begann.

Auf dem Rücksitz atmet Diane regelmäßig. Zum Glück werden die Wehen nicht stärker.

„Ich glaube, das Baby merkt, dass es noch etwas warten muss“, meint sie lächelnd, als sie erleichtert die blau blinkenden Lichter des Krankenwagens auf dem inzwischen sichtbar gewordenen Landefeld sieht. Dann übergibt Uwe den wartenden Sanitätern seine Passagiere. Ihm fällt ein Stein vom Herzen.

Das Funkgerät rauscht. „Hallo hier ist Sandy, kannst du mich hören? Das Wetter ändert sich. Es soll stürmisch werden. Das Risiko für einen Rückflug kannst du nicht eingehen. Bestimmt ist bis morgen das Unwetter durchgezogen.“

„Gut, wenn du meinst, werde ich mich in diesem aufstrebenden Ort heute Nacht amüsieren. Selbstverständlich auf deine Kosten!“

Uwe nimmt es gelassen. Sicher findet er eine Bleibe. Seine Gedanken weilen bei Diane. Hoffentlich geht alles gut. Im nächstgelegenen Motel beim Flugplatz bucht er ein Zimmer. Beim Öffnen der Türe gleitet ein Lächeln über sein Gesicht. Der etwas muffige Geruch, die einfache, aber saubere Ausstattung, die schräg hängende Jalousie, altmodische Baseboard Heater, die bei niedrigen Temperaturen für Wärme sorgen: Für ihn ist es das Kanada, das ihm nach all den Wirren seines früheren Lebens ein Gefühl von Heimat vermittelte, als er erstmalig hier Fuß fasste. Gerade diese Unzulänglichkeiten machen es so liebenswert. Dann am Morgen der erlösende Anruf: Der neue Einwohner für seinen Heimatort in der Wildnis kam wohlbehalten auf die Welt. Mutter und Sohn geht es gut. Auch Uwe freut sich für die Eltern. Soweit abseits von der Zivilisation in einer kleinen Gemeinde lebt es sich wie in einer großen Familie. Jeder kennt jeden. Das bedeutet auch jeder hilft jedem.

„Hallo Sandy. Gute Nachrichten hier. Die Curtiss haben einen Sohn und wie ist das Wetter bei euch? Da bring ich die drei doch gleich wieder mit zurück. Also dann bis später.“

„Wie viele Eier möchtest du zum Speck?“

fragt die freundliche Bedienung ihn am nächsten Morgen beim Frühstück.

„Ich glaube, heute vertrage ich drei mit vielen Bratkartoffeln und bitte einen starken Kaffee!“ Uwe freut sich auf das typisch kanadische Frühstück, das er sich normalerweise nicht gönnt, um sein Gewicht zu halten. Am Flugplatz erwartet ihn eine blasse, aber glücklich lächelnde Diane mit einem in Tüchern gewickelten winzigen Menschlein. „Der sieht aber wirklich seinem Vater sehr ähnlich“, kommentiert er das Bündel mit Blick auf den stolzen Erzeuger, wofür er einen freundschaftlichen Rippenstoß erhält. An der Maschine wartet schon ein junges Paar, das den außerplanmäßigen Flug wahrnimmt, um schneller zum Wanderziel im kanadischen Norden zu kommen. Bald darauf sticht die Beaver in den stahlblauen Himmel. Unwirklich ruhig verläuft der Flug.

Bereitwillig gibt Uwe Auskunft, was die jungen Leute in der Wildnis erwartet und worauf es zu achten gilt.

„Ihr könnt mit Joe noch mitfahren. Er wohnt dort oben. Dann spart ihr euch den Marsch die Straße entlang.“

Die Wanderer sind erstaunt, auf wie viel Hilfsbereitschaft sie stoßen.

„Alles klar zur Landung?“

Das übliche Prozedere. Vor dem Hangar haben sich viele Freunde versammelt, die den Neubürger mit lautem Hallo willkommen heißen. Uwe fühlt wie sich Müdigkeit seiner bemächtigt. Die Anspannung des vergangenen Tages macht sich bemerkbar. Sandy hilft ihm beim Befestigen der Maschine.

„Jetzt nimm dir erst mal einen Tag frei und geh fischen. Ich mach Wochenenddienst. Lisa verbringt ein paar Tage bei ihren Eltern. Meine Frau braucht mal wieder Tapetenwechsel!“

Gerne nimmt Uwe das Angebot an. Die halbe Meile zu seinem Mobile Home geht er zu Fuß.

„Hey Uwe, schön, dass du wieder da bist. Hat dich der Sturm nicht erwischt?“

Sein Nachbar streckt neugierig die Nase zur Türe hinaus. Er hat gleich gemerkt, dass in Uwes Trailer letzte Nacht kein Licht brannte. Eigentlich wie auf einem Dorf in Deutschland. Hier wird alles genau beobachtet, denkt Uwe und öffnet schmunzelnd die unverschlossene Tür. Das von außen unscheinbare Gebäude entpuppt sich in seinem Innern als gemütlich eingerichtete Junggesellen-Wohnung. Doch entgegen der landläufigen Meinung über alleinstehende Männer herrscht hier Sauberkeit und Ordnung. Küche und Esszimmer gehen ineinander über. Im Wohnzimmer steht eine ziemlich deutsch wirkende Schrankwand, die auch als Bücherregal dient. Bei genauem Hinschauen ist ein kleines oval geformtes Bild einer hübschen Frau zu erkennen: die junge Inge. Uwe lässt sich in den nächstbesten Sessel fallen. Dabei wird ihm seine Einsamkeit mal wieder bewusst. Trotz der vielen Jahre nach der Trennung von Inge wollte ihm bisher keine engere Beziehung mehr gelingen.

Eine heiße Dusche und das kalte Bier danach heben seine Stimmung etwas.

„Ja, Sandy hat recht, jetzt fahr ich mal übers Wochenende zum Fischen“, denkt er und packt wetterfeste Kleidung und Angelausrüstung in seinen vor der Tür geparkten Ford Bronco.

Der grau-schwarze Jeep sieht nicht nur chic aus, der Achtzylinder mit Allrad hat ihn bei seinen Ausflügen in die Wildnis bisher nie im Stich gelassen. Noch ist er unschlüssig, ob er seinen Zeltanhänger mitnehmen soll.

„Ach was, die eine Nacht roll ich mich in den Kofferraum. Da ist genug Platz.“

Nur fünfzig Meilen von hier kennt er eine gute Stelle am Fluss, wo er bisher erfolgreich beim Angeln war. Während der Fahrt durch die eintönige Landschaft überkommt ihn wohltuende Ruhe. Wie so oft wandern seine Gedanken zurück nach Deutschland. Würde er mit Inge in einem Reihenhaus leben, für dessen Abzahlung er jeden Monat aufkommen müsste? Oder wäre er wieder auf Inges finanzielle Unterstützung angewiesen wie damals? Keine angenehmen Erinnerungen.

Plötzlich steigt er reaktionsschnell auf die Bremse: Ein Elch überquert die Schotterstraße. Bewundernd schaut er dem Tier mit seinen mächtigen Schaufeln nach. Wieder einmal wird ihm bewusst, in welchem Paradies er zu Hause ist, auch wenn sich der nächste Supermarkt nicht um die Ecke befindet und das Unterhaltungsprogramm in der Bar jedes Wochenende das Gleiche bietet.

Angekommen an seinem Stammplatz packt er Tisch und Klappstühle aus. Zwei Angelruten und verschiedenerlei Blinker tauchen kurz darauf ins Wasser. Eine halbe Stunde später liegen eine kräftige Forelle und ein Hecht neben ihm an Land. Für ein ordentliches Lagerfeuer findet er genügend Äste. Da hört er das Herannahen eines Autos.

„Hey Kumpel, da gönnt dir einer deine Beute nicht! Schau mal nach hinten ins Gebüsch.“

Eine tiefe Männerstimme lässt Uwe aufschrecken.

Den Stammplatz kennen wohl noch andere. Vorsichtig dreht er sich um und sieht einen braunen Bärenkopf aus dem grünen Chaos auftauchen. Für Uwe nichts Neues. Jetzt heißt es Ruhe bewahren. Auf seinen Ausflügen kommt es immer wieder zu solchen Begegnungen. Obwohl er sein Bärenspray parat hat, weiß er genau: gegen einen Grizzly kommt er mit dem scharfen Gas kaum an. Doch dieser hat bereits den Rückzug angetreten. Gleich zwei Autos in seinem Revier – das ist unerträglich für ihn.

Inzwischen parkt der Ankömmling sein Auto neben dem Bronco. Als sich die Tür öffnet, sind zuerst einmal spitz zulaufende Cowboystiefel zu sehen. Der etwa fünfzigjährige Fahrer mit grauem Bart und Wuschellocken begrüßt Uwe mit einem kräftigen Handschlag. Der lädt den Fremden zum Essen ein, als er seinen Fang auf dem Lagerfeuer brät.

„Ich bin Uwe, und wie heißt du?“

„Jack“,

„Ok Jack, komm mach es dir gemütlich. Zu zweit schmeckt es doch besser.“

In Kanada ist man sehr gesellig, vor allem in dieser verlassenen Gegend. Die beiden kommen schnell ins Gespräch, als sich herausstellt, dass auch Jacks Eltern vor vielen Jahren von Deutschland einwanderten. Er selbst betreibt eine kleine Farm nicht weit vom Fluss entfernt. Als es dunkel ist, macht sich Uwes neuer Freund auf den Heimweg. Müde von der frischen Luft und nach ein paar Fläschchen kanadischen Biers, zieht sich Uwe in den Kofferraum seines Geländewagens zurück. Er kontrolliert die Fenster. Gar zu schnell würden gierige Moskitos eine Lücke entdecken. Die Schreie verschiedener Nachtvögel dringen zu ihm herein. Dann übermannt ihn Müdigkeit und er fällt in tiefen Schlaf. Dass der Bär am ausgehenden Lagerfeuer schnüffelt, ob noch etwas für ihn übrig geblieben ist und dabei die Stühle umwirft, bekommt er nicht mehr mit.

„Gut, dass du schon früher zurück bist. Ich hab mal wieder einen Spezialauftrag für dich. In Yellowknife wartet ein gut betuchter Amerikaner, der zu dieser Lodge am Ostarm des Sees gebracht werden soll, die nur per Boot oder Flugzeug erreichbar ist. Gleichzeitig kannst du Lisa mitnehmen. Sie hat genug von dem Tratsch ihrer Mutter. Sie sehnt sich nach ihrem schweigsamen Ehemann, ha, ha.“

Sandy empfängt ihn freudestrahlend bei der Rückkehr. Persönliche Wunschtransporte sind für Buschpiloten einträgliche Geschäfte.

„Du nimmst am besten die Havilland Beaver und startest morgen möglichst früh.“ Uwe schlendert zum Hafen. Ein Flugauftrag mit seiner Lieblingsmaschine, das ist eine feine Sache. Außerdem findet sich mit einem Wasserflugzeug oftmals leichter ein Lande- bzw. Startplatz in der seenreichen Landschaft. Nach dem Auftanken kontrolliert er noch die Schwimmer. Alles in Ordnung. Morgen kann es losgehen.