Verschollen auf Naxos - Gilda Boldt - E-Book

Verschollen auf Naxos E-Book

Gilda Boldt

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Beschreibung

Wegen einer Erkrankung muss Annekatrin aus dem Schuldienst ausscheiden. Nach einer Phase der Resignation gelingt es ihr, sich neu zu definieren. Sie verändert ihr äußeres Erscheinungsbild und leistet sich endlich in ihrem Leben einen gewissen Luxus. Annekatrin begibt sich auf Reisen und landet auf der griechischen Insel Naxos.Bestand ihr bisheriges Dasein hauptsächlich aus Arbeit, so kann sie sich nun dem mediterranen Leben und ihrem Hobby, dem Surfen, hingeben. In dem jüngeren Surflehrer Stelios findet sie eine späte Liebe.Kann sie seinem Werben trauen?

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Seitenzahl: 290

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2011 novum publishing gmbh

ISBN Printausgabe: 978-3-99003-231-2

ISBN e-book: 978-3-99026-296-2

Lektorat: Mag. Petra Vock

Umschlagfotos: Malewitch | Dreamstime.com, Kira Kaplinski | Dreamstime.com

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.

www.novumpro.com

AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND

1

Zu ihrer Verabschiedung aus dem Schuldienst waren alle geblieben, die Kollegen, die geladenen Gäste vom Elternrat, die Putzfrauen und die Abordnung der Schüler. Das Schuljahr war beendet und desgleichen ihr Arbeitsleben.

Sie hatte im vorigen Jahr einen Hörsturz erlitten. Seitdem war es für sie unerträglich, weiter ihrer Unterrichtsarbeit nachzukommen. Der Lärmpegel in der Schule war derart hoch, dass sie sich nur mit Ohrstöpseln in dem Gebäude aufhalten konnte. Der Amtsarzt bescheinigte ihr, dass eine Tätigkeit als Lehrerin für sie nicht zumutbar sei. So kam es zu der Frühpensionierung.

Der Schulrat hatte eine Rede gehalten, aus ihrem Schulleben geplaudert, alles Wissenswerte erwähnt, soweit es aus den Akten zu ersehen war. Der Schulleiter hatte ihre Verdienste gepriesen, die Kollegen sich eine launige Persiflage auf ihr Schulmeisterdasein und das der Lehrer im Allgemeinen einfallen lassen. Der Schulchor hatte ein selbst gedichtetes Lied auf die Melodie eines bekannten Volksliedes gesungen und ihre Klasse sie mit Aufsätzen über Erlebnisse aus den vergangenen, gemeinsam verbrachten Jahren erfreut.

Danach hatten sie sich alle über die kalten Platten hergemacht, die sie bei einem Partyservice bestellt hatte. Ihr selbst gebackener Kuchen wurde sehr gelobt. Dann war einer nach dem anderen gegangen, nicht ohne ihr das Übliche zu wünschen, wie:

„Alles Gute für dein weiteres Leben und vor allem Gesundheit!“ „Nutze deine Zeit, von der du ja jetzt genügend zur Verfügung hast!“ „Ach, wären wir doch schon so weit!“ „Komm uns bald besuchen!“

Nun steht sie allein im Lehrerzimmer vor dem ungeheuren Berg schmutzigen Geschirrs. Die Kollegen waren zu geizig, sich einen Geschirrspüler zu leisten. So musste diese Arbeit abwechselnd von den Mitgliedern des Kollegiums verrichtet werden. Heute hatten es alle eilig, in die Ferien zu starten. So verrichtet sie den Abwasch allein. Das hat aber auch etwas Gutes. Sie kann, während ihre Hände mechanisch arbeiten, noch einmal alles Revue passieren lassen.

Bei der Ausrichtung ihrer Abschiedsfeier hatte sie keine Kosten gescheut. Die Kollegen nahmen alles dankbar an. Sie hatten allesamt das Trauma vom Leben des „armen Dorfschulmeisterleins“, unter dem der Lehrerstand vor noch gar nicht so vielen Jahren litt und von dem das gleichnamige Lied berichtet, nicht überwunden und aßen alles, was es gratis gab, mit dankbarer Freude.

Das kalte Büfett war wegen seiner erlesenen Auswahl besonders hervorgehoben worden. Und dann die vielen Flaschen Champagner! Wann hatte jemals ein Kollege etwas so Kostbares ausgegeben? Sie hörte den Kollegen Schröder, der selbst derart knauserig war, dass er sich nicht scheute, auf Kollegiumsausflügen im Restaurant eine Kinderportion zu bestellen, um dann von den anderen die Reste zu essen, seiner Nachbarin zur Rechten zuraunen: „Ist solch ein Aufwand nicht übertrieben? Ich hoffe nicht, dass dies hier Maßstäbe für die Zukunft setzt.“ Er konnte nicht wissen, dass sie das edle Getränk in einem Supermarkt preiswert erstanden hatte.

Noch einmal geht sie an das Fenster des Lehrerzimmers und schaut auf den betonierten Schulhof, auf dem sie viele Pausen verbracht und die Schüler beaufsichtigt hat. Manchen Streit konnte sie schlichten. Hinter dem Hof liegt die Spielwiese, ein ausgedehntes Gelände mit vielen unterschiedlichen Bäumen. Etwas abseits kann man den Schulteich erkennen, der von ihrer letzten Klasse unter Mitwirkung der Eltern angelegt wurde.

Sie nimmt aus ihrem Fach im Lehrerbord die letzten Dinge und verlässt den Raum. Dann geht sie ein letztes Mal durch das Gebäude, in dem die Putzfrauen schon emsig wirken, bis zu ihrer Klasse. Hier gibt es nichts Vertrautes mehr, sind doch sämtliche Bilder und der Schmuck von den Wänden entfernt worden, ebenso die Pflanzen von den Fensterbänken. Die Schüler haben mit ihr die Schule verlassen und werden nach den großen Sommerferien auf eine weiterführende Schule wechseln.

Sie verlässt das Schulgebäude, geht den Weg entlang bis zum Parkplatz, besteigt ihr Auto und fährt los.

Alle hatten erzählt von den Reisen, die sie in den Ferien unternehmen wollten. Man zeigte auch Interesse an ihren Reiseplänen. Aber sie hatte sich noch nicht entschieden. Das konnte sie ja immer noch. Die Zeit drängte nicht mehr. Zum ersten Mal in ihrem Leben besaß sie unbegrenzt davon.

Sie mag noch nicht nach Hause fahren. Alles würde anders sein. Sie muss keine Hefte mehr korrigieren, keine Vorbereitungen für den Unterricht machen. Sie braucht sich kein interessantes Thema für die Schüler auszudenken und in Gedanken schon zu gestalten für die Zeit nach den Ferien.

Die großen Kartons für die überflüssig gewordenen Schulbücher stehen schon bereit. Die meisten hat sie an Kollegen weitergegeben. Einige besonders wertvolle will sie ihrer Patentochter schenken, die in Kürze ihr Lehrerstudium beenden wird.

Sie fährt in das nahe gelegene Einkaufszentrum. Im italienischen Café trinkt sie einen Cappuccino. Dann schlendert sie an den Geschäften vorbei. Bisher hat sie sich wenig für Mode interessiert. Heute sieht sie alles mit etwas anderen Augen. Sie kann sich für den Beginn ihres neuen Lebensabschnittes etwas Neues zum Anziehen kaufen. Vielleicht soll sie sich im Ganzen neu orientieren. Das Einkaufszentrum ist auffallend leer. Man merkt, dass viele schon in den Urlaub gefahren sind.

Endlich tritt sie wieder ins helle Sonnenlicht hinaus. Es ist ein besonders schöner Tag. Sie fährt in den kleinen Park in der Nähe ihrer Wohnung, setzt sich auf den Rasen und lässt sich von der Sonne bescheinen. Die Vögel singen, in den blühenden Rosen summen die Bienen, und in ihr ist eine seltsame Leere.

Sie kann sich nicht so recht der neu gewonnenen Freiheit erfreuen. Was soll sie mit so viel unausgefüllter Zeit anfangen? Es gibt keine Verwandten, die in ihrer Nähe wohnen und die sie besuchen kann. Ein Bruder lebt, getrennt schon seit Langem von seiner Frau, in München und hat einen Lehrstuhl für Archäologie an der Universität inne. Seine Kinder, ihre Nichten und ihr Neffe, sind ihr weitgehend fremd. Ihre Mutter, Großmutter und sie hatten sich zu sehr in das Leben dieser Familie eingemischt, sodass ihr Bruder die Konsequenz gezogen und die Verbindung mit ihnen abgebrochen hatte.

Richtige Freunde besitzt sie nicht, nur mit einer Kollegin hatte sie engeren Kontakt über das übliche Miteinander im Schulalltag hinaus. Aber diese hat sich vor fünf Jahren vom Schuldienst beurlauben lassen und lebt seitdem auf der Kykladeninsel Naxos.

Gegen Abend erreicht sie ihre Zweizimmerwohnung. Ihre Nachbarin, Frau Herringhaus, auch eine pensionierte Studienrätin, erwartet sie schon und überreicht ihr einen prächtigen Blumenstrauß. Sie wünscht ihr Glück nach dem beendeten Lehrerdasein und für ihr weiteres Leben.

Frau Herringhaus hat eine Tochter, die im Rheinland wohnt und die sie nur ein bis zwei Mal im Jahr sieht. Ihr Mann, ein Postbeamter, ist früh gestorben. So wurde auch ihr Leben von dem Dienst an Kindern und Jugendlichen bestimmt. Sie kann Anne-katrin gut verstehen und weiß, wie schwer der Übergang von einem erfüllten Arbeitsleben in den Ruhestand sein kann.

Annekatrin bittet sie zu sich herein, und die beiden trinken eine von den übrig gebliebenen Flaschen Champagner. Zwar haben die Kollegen gemeint, sie könne diese im Kühlschrank lassen. Man werde sie später, nach den Ferien, auf ihr Wohl leeren. Aber so viel Großzügigkeit wollte sie nun doch nicht präsentieren.

Wie kann es anders sein, die beiden Nachbarinnen reden bis spät in die Nacht hinein über Schulerlebnisse. An den nächsten Tagen muss Annekatrin sich zwingen, endlich einmal auszuschlafen. Kein Wecker klingelt um sechs Uhr in der Frühe, aber sie ist dennoch wach. Sie lässt sich Zeit mit dem Frühstück und liest ausgiebig die Zeitung, die sie bisher erst nachmittags lesen konnte.

Als die gesamte Wohnung gereinigt ist und alles blitzt, überbrückt sie noch einige Tage mit dem Aufräumen der Schränke und dem Aussortieren von unnötigen Büchern und Kleidungsstücken. Ihr Patenkind wird die Bücher erst nach den Ferien abholen.

Annekatrin besorgt sich aus einem Reisebüro Prospekte und studiert diese genau, um sich ein Ziel auszuwählen, aber sie wird von einer lähmenden Lustlosigkeit überwältigt, die jegliche Entschlussfreudigkeit im Keim erstickt.

2

An einem schönen Julimorgen fährt Annekatrin mit der S-Bahn in die Innenstadt von Hamburg. Ohne Ziel bummelt sie durch die Straßen. Als sie an dem Friseursalon eines renommierten Haar-stylisten vorüberkommt und die gewagten Frisuren der Models auf den Fotos in dem Schaufenster sieht, kommt ihr der Gedanke, an ihrem Äußeren etwas zu verändern.

Sie betritt den hellen, vornehmen Salon. Ein junger Angestellter meint, sie habe Glück, denn da die Ferien begonnen hätten, könne er sie sofort bedienen ohne Wartezeit. Der junge Mann hat einen etwas absurden Haarschnitt, der sich nicht beschreiben lässt, einen Ohrring im linken Ohrläppchen und einen wohl unechten Brillanten am linken Nasenflügel.

Annekatrin denkt kurz darüber nach, ob er wohl schwul sei. Sie kann sich aber nicht mehr erinnern, an welchem der beiden Ohrläppchen der getragene Ring das Schwulsein signalisiert. Auch weiß sie nicht, ob daran überhaupt etwas Wahres ist.

Der junge Mann stellt sich ihr als Maurice vor. Damit sie seinen Namen wisse, wenn sie später einmal wiederkommen wolle. Sie werde bestimmt zufrieden sein mit seiner Arbeit, meint er, denn er habe schon viele berühmte Kunden zufriedengestellt. Er nennt ihr einige Namen, von denen ihr aber nur wenige bekannt sind. Sie stellt fest, dass sich darunter auch einige Männer befinden, und wieder kommt ihr der Gedanke, dass er das „Zufriedengestellthaben“ auch anders meinen könnte.

Maurice unterbricht ihren Gedankengang. Seine Hände wuscheln wild in ihren Haaren, werfen einige streng zurück und holen andere weit nach vorn, halten sie hoch und lassen sie wieder fallen. Dabei beobachtet er ihr Gesicht aufmerksam im Spiegel. Endlich scheint er der Lösung nahe zu sein.

„Gnädige Frau, lassen Sie sich einfach in meine Hände fallen! Ich werde Ihnen ein Styling zaubern, das Sie überraschen wird. Lassen Sie mir freie Hand?“

Annekatrin ist schon fast willenlos. Sie vermeidet es, sich im Spiegel näher anzuschauen. Das Licht im Salon zeigt schonungslos ihr blasses Gesicht mit den nichtssagenden, blauen Augen, das umrahmt ist von dunklen, grau melierten Haaren. Auch der Schnitt, an dem sie seit Jahren nichts mehr verändert hat, ist wenig vorteilhaft. Ein Pony fällt ihr in die Stirn, an den Seiten hängen die Haare halblang, auf eine Länge geschnitten, herab. Verderben kann er nicht viel. Warum also nicht einmal etwas Neues wagen? „Machen Sie es so, wie Sie es für richtig halten! Ich wollte sowieso etwas Neues ausprobieren.“

Maurice tritt wieder einige Schritte zurück, dann tänzelt er mit gezierten, kleinen Schritten heran und sagt: „Ich würde Ihnen zu einer anderen Farbe raten.“ „Geldschneiderei“, denkt sie. Aber warum nicht? Sie besitzt ausreichend Geld. Ihre Pension ist gut, so gut, dass sie noch einiges Geld jeden Monat wird zurücklegen können. Anfang des Jahres hat sie die letzte Rate der Hypothek, die auf ihrer Eigentumswohnung lag, abgelöst.

„An welche Farbnuance haben Sie gedacht, Maurice?“ Sie nennt ihn zum ersten Mal bei seinem Namen. Er registriert es eitel. „Ich würde ein Braun mit einem leichten Ton ins Rötliche vorschlagen. Nicht Kastanie, sondern ich werde die Mischung selbst für Sie kreieren. Wenn sie Ihnen gefällt, können wir sie beim nächsten Mal wieder nehmen. Ich notiere mir die Farben und die Zusammenstellung für meine Kundinnen.“

„Nun gut, Sie werden es schon richtig machen.“ Er holt aus einem Plastikbeutel, der zugeschweißt ist, Kamm, Bürste, Rollenwickler und allerlei andere Dinge heraus. Dann beginnt die Prozedur.

Maurice verschwindet hinter einem Vorhang. Nach einem Weilchen kommt er mit einem Schälchen und einem Farbbrei darin wieder zum Vorschein. Sorgfältig trägt er das Farbgemisch zuerst auf den Haaransatz auf, danach verteilt er den Rest auf die übrigen Haare. Nun muss die Farbe einige Zeit einwirken.

Maurice kredenzt Annekatrin eine Tasse Kaffee und bringt ihr einige Zeitschriften. Annekatrin liest in den Frauenzeitschriften Klatsch und Tratsch über Prominente und Adelige. Sie kennt kaum eine der Personen. Nie ist ihr bisher Zeit für eine so nutzlose Beschäftigung geblieben.

Ein leises Klingeln zeigt das Ende der Einwirkungszeit an. Maurice spült die Farbe heraus und wäscht mit Hingabe ihre Haare. Danach massiert er ihr eine Kur ins Haar. Annekatrin genießt die wohltuende Massage der Kopfhaut und denkt: „Eine solche Behandlung könnte ruhig länger dauern.“ Annekatrin findet die Farbe sehr dunkel, aber Maurice beruhigt sie: „Den richtigen Farbton kann man erst bei trockenem Haar erkennen.“

Nun steht Maurice nachdenklich hinter ihr. Er schaut wie ein Künstler, der überlegt, wie das begonnene Werk zu vollenden sei. Mit einem plötzlichen Ruck, einem Impuls folgend, fängt er an zu schneiden. Annekatrin ist gespannt. Es ist verwirrend, wie er hier Haare kürzt, dort welche stehen lässt. Sie kann zuerst kein Prinzip darin erkennen, meint auch, er ändere zwischendurch seine künstlerische Meinung.

Doch endlich ist er zufrieden. Nun beginnt er zu föhnen, Bürsten einzudrehen und wieder herauszudrehen. Hier wird kürzer, dort länger geföhnt, die Haare toupiert und danach etwas gezaust, damit es natürlich aussieht.

Annekatrin muss zugeben: Es ist gekonnt. Das Ergebnis ist verblüffend und kann sich sehen lassen.

Sie sieht sich kaum mehr ähnlich. Wie kann es angehen, durch Farbe und Schnitt der Haare ein Gesicht so zu verändern? An der einen Seite sind die braun gefärbten Haare mit dem gewissen rötlichen Ton kurz gehalten und nach hinten gekämmt, an der anderen länger gelassen. Dort fallen sie leicht gewellt nach vorn etwas über die Augen, sodass man sie mit leichtem Schwung nach hinten werfen kann. Maurice zeigt ihr mit anmutiger Kopfbewegung, wie dies zu bewerkstelligen sei.

Annekatrin ist zufrieden. Nur ihr Gesicht ist blass und unscheinbar, trotz der tollen Frisur. Maurice sieht sie kritisch an und meint: „Gnädige Frau, Sie müssen etwas für Ihr Face tun. Gehen Sie zur Kosmetikerin! Gönnen Sie sich eine Behandlung! Ich kann Ihnen meine Kollegin Nicole hier im Salon empfehlen.“

Ehe Annekatrin sich äußern kann, hat er die Kosmetikerin herangeholt. Auch sie hat augenblicklich nichts zu tun, wegen der Flaute des Ferienbeginns. Annekatrin überlegt nicht lange. „Jetzt müssen Nägel mit Köpfen gemacht werden“, hätte ihre Mutter gesagt. Sie nimmt in einem Kosmetiksessel Platz und lässt sich eine Stunde verwöhnen mit Kompressen, Gesichts- und Nackenmassagen, mit Peeling und Masken. Sie lernt eine Menge neuer Begriffe.

Dann wird sie geschminkt. Die nette, junge Frau erklärt ihr genau, wie sie sich schminken muss, um bestimmte Konturen ihres Gesichtes zu verdecken und andere hervorzuheben. Maurice lässt es sich nicht nehmen, ihre Haare, die während der Behandlung etwas gedrückt wurden, wieder in die ursprüngliche Fasson zu bringen. Ein erneutes Trinkgeld lehnt er überschwänglich und entschieden ab.

Annekatrin ersteht noch einige Kosmetikartikel und verlässt nach drei Stunden den Salon mit einem sehr veränderten Aussehen und um einige Hundert Euro leichter.

Zuerst geht sie etwas verunsichert durch die Mönckebergstraße, über den Jungfernstieg und biegt schließlich mit schon beschwingteren Schritten in den Neuen Wall ein.

Hier haben sich in den vergangenen Jahren einige Nobelboutiquen niedergelassen. Sie schaut zum ersten Mal nicht an diesen Schaufenstern vorbei, sondern bewusst hinein, prüfend, ob irgendetwas zu ihrem neu erworbenen Äußeren passt.

Als sie in einem Schaufenster einen schicken Hosenanzug aus leichtem hellem Leinen sieht, betritt sie den Laden und lässt ihn sich zeigen.

Die Verkäuferin, eine Dame in edelsten Klamotten aus der Kollektion dieser berühmten Hamburger Modedesignerin, meint, dass sie mit ihrer jugendlichen Figur mit Leichtigkeit die Größe 38 tragen könne.

Annekatrin hat ihren Körper durch verschiedene Sportarten, die sie intensiv betrieben, und den Sportunterricht in der Schule, den sie jahrelang gegeben hat, schlank erhalten. Ihre Muskeln sind stramm, kein überflüssiges Fett oder wabbeliges Fleisch, vor dem sie sich ekelt, verunstaltet ihre Arme und Beine.

Sie probiert den Anzug an. Er sitzt wie für sie geschneidert. Dazu empfiehlt ihr die Dame eine dezente lila Bluse, die wirklich hervorragend dazu passt. Ein Rock, aus demselben Material gefertigt, wird alles noch vervollständigen, meint die Dame. Auch den ersteht sie und zu guter Letzt noch ein sportliches, weißes Kleid, das, vorn geschlitzt, ein gutes Stück ihrer tadellos geformten Beine sehen lässt.

Annekatrin hat an diesem Tag so viel Geld für Friseur und Kleidung ausgegeben wie in den vergangenen zehn Jahren nicht. Zu Hause probiert sie die Sachen noch einmal an und bewegt sich wie ein Mannequin vor dem Spiegel. Sie gefällt sich außerordentlich gut.

In der Sonnabendausgabe des Hamburger Abendblattes studiert sie den Automarkt. Sie hat sich entschlossen, mit dem Auto in den Urlaub zu fahren. Ihr Wagen ist alt und wird kaum eine größere Reise überstehen.

Sie überrascht sich dabei, dass sie sich nicht, wie früher üblich, die Verkaufsannoncen für gebrauchte Kleinwagen anschaut. Nur die billigsten dieses Genres waren bisher für sie infrage gekommen. Sie sieht nach den besseren Marken.

Bei der Rubrik für Porsche-Gebrauchtwagen verweilt sie. Es wird einer angeboten, schwarz, ein schon älteres Modell, aber mit nur wenigen Kilometern auf dem Tacho. Nur aus der augenblicklichen guten Laune heraus ruft sie die Nummer an. Aber ehe sie es sich versieht, sitzt sie in ihrem kleinen, schäbigen Auto und fährt zu dem verabredeten Platz, nicht ohne sich vorher in ihre neu erstandene Kleidung zu werfen. Sie parkt ihren Wagen einige Straßen entfernt.

Ein älterer Mann steht schon vor dem am Telefon genannten Haus. Er ist gut gekleidet, aber nicht unbedingt so, wie Annekatrin sich einen Porschefahrer vorgestellt hat. Der Wagen steht in der Garage. Der Besitzer fährt ihn heraus und empfiehlt eine kleine Probefahrt.

Er ist Erstbesitzer. Der Wagen ist gepflegt und hat viele Extras. Nach dem Grund für den Verkauf gefragt, meint er, er sei nicht mehr an dieser Art Sportwagen interessiert. Aus dem Alter sei er heraus. Er habe sich einen kleineren Wagen für den täglichen Gebrauch bestellt.

Annekatrin vergisst zu handeln, um den Preis noch etwas zu drücken, so begeistert ist sie von dem Gefährt. Der Gedanke, zukünftig in diesem Auto zu fahren, nimmt sie ganz gefangen.

Sie wollen sich in zwei Tagen bei der Zulassungsstelle treffen. Bis dahin habe sie das Geld besorgt, verspricht sie.

Auf dem Heimweg überlegt sie, wie sie das Geld am besten flüssigmachen kann. Sie muss einige Aktien verkaufen. Welche das sein sollen, wird sie ihrer Beraterin in der Bank überlassen. Außerdem muss sie ihren Wagen in der Zeitung zum Verkauf anbieten. Für dieses alte Modell und dazu noch Billigwagen wird sie nicht viel bekommen.

So fährt Annekatrin den, gemäß ihrem neuen Selbstgefühl,für sie passenden Wagen.

Die Wohnung ist gerichtet. Frau Herringhaus wird in ihrer Abwesenheit die Blumen versorgen und den Briefkasten leeren. Außerdem hat Annekatrin ihr versprochen, sie in regelmäßigen Abständen anzurufen. Ihre Handynummer wird sie in ihrer Wohnung hinterlegen, sodass Frau Herringhaus sie jederzeit erreichen kann. Ein Handy ist genau das Utensil, das noch zu ihrem neu erworbenen Persönlichkeitsbild fehlt. Also erwirbt sie es.

Eines Morgens füllt sie ihren leider sehr knapp bemessenen Kofferraum mit allen neuen Kleidungsstücken. Einige weniger teure haben die Garderobe noch vervollständigt. Nun ist sie auf dem Weg nach Süden. Zuerst will sie ihren Bruder in München aufsuchen.

Es bereitet ihr Vergnügen, in diesem Wagen zu fahren. Früher hatte sie es abgelehnt, schnell zu fahren, weil sie die Geschwindigkeit fürchtete. Jetzt tritt sie das Pedal durch. Der Wagen beschleunigt sehr schnell auf 160 Stundenkilometer. Noch ein bisschen schneller wagt sie zu fahren. Als der Tacho 180 anzeigt, löst sie den Fuß und gönnt ihren schweißnassen Händen eine Entspannung. Sie erreicht München am frühen Abend, nachdem sie sich unterwegs einige Pausen von der ungewohnten Anspannung genehmigt hat. Sie lässt diese kurzen Aufenthalte Revue passieren.

Wenn sie sich nach den kleinen Unterbrechungen der Fahrt auf dem Rastplatz wieder ihrem Wagen näherte, verlangsamte sie ihre Schritte, um den Anblick so recht zu genießen. Annekatrin meinte die Blicke der Leute zu spüren, die ihr nachschauten, wenn sie lässig ihr Auto bestieg. Das Geräusch der zuschlagenden Tür, dieses satte Klack, begeisterte sie. Schon deshalb lohnten sich die wiederholten Pausen. Wie anders, blechern, hatte das scheppernde Zuschlagen der Tür ihres Kleinwagens geklungen?

Annekatrin hat ihrem Bruder, Helmut, mitgeteilt, dass sie ihn in nächster Zeit aufsuchen wird, aber kein Datum genannt. Es soll eine Überraschung werden.

3

Helmut erreicht seine Wohnung am frühen Abend. Er hat die Universität heute rechtzeitig verlassen, weil das Wetter, nach einer ausgedehnten Regenperiode, endlich wieder schön ist. Ein Spaziergang die Isar entlang wird ihm guttun. Unterwegs legt er eine Rast in einem Bierlokal ein. Er sitzt im Garten, und seine Gedanken sind ausnahmsweise nicht mit den Seminaren, die er zu halten, und den Gutachten, die er anzufertigen hat, beschäftigt. Sie weilen bei einer seiner Studentinnen. Sie besucht seine Vorlesungen, sitzt immer in der ersten Reihe im Hörsaal und meldet sich eifrig in seinen Seminaren zu Wort.

Es ist seltsam, er kennt sie, hat sie aber nie richtig wahrgenommen. Heute jedoch war sie nach der Vorlesung zu ihm gekommen. Die Studenten hatten alle den Hörsaal verlassen, und er war damit beschäftigt gewesen, seine Manuskripte zu ordnen. Sie hatte ihn etwas gefragt. Als er es ihr erklärte und mit schnellen Strichen eine Skizze und einige Formeln zu Papier brachte, hatte sie sich zu ihm heruntergebeugt und leicht mit dem Arm seine Schulter berührt. Ihr Haar war nach vorn gefallen, und er hatte den Duft bemerkt. Es war kein Parfum, sondern der Geruch von sauberer Wäsche, die an der Luft getrocknet wurde. In seiner Kindheit waren die Waschmittel nicht parfümiert gewesen, und die Wäsche hatte nach Sonne und Wind geduftet. Das scheinbar unbedeutende Ereignis hatte ihn seltsam berührt.

Seit fast 20 Jahren lebt er allein in seiner riesigen Vierzimmerwohnung im oberen Stockwerk einer alten Villa. Zwischen seinen wissenschaftlichen Büchern, welche die dunklen Borde bis zur Decke füllen, alten Stichen, antiken Möbeln und Teppichen ist die Luft stickig. Selbst wenn Frau Weber – die alte Reinmachefrau, die zweimal wöchentlich zu ihm kommt, aufräumt, Wäsche wäscht und alle Arbeiten verrichtet, die nötig sind, wenn eine Frau im Haushalt fehlt – während der vier Stunden ihrer Anwesenheit die Fenster weit geöffnet hat, ist der muffige Geruch nicht zu vertreiben.

Helmut versucht, sich an den Namen der Studentin zu erinnern. Es gelingt ihm nicht. Vielleicht hat er ihn nie gewusst. Sie ist jung. Zu jung für ihn, ungefähr im Alter seiner Tochter. Er könnte sie vielleicht zum Essen einladen. Helmut schüttelt seine Träumereien ab, steht abrupt auf, bezahlt und setzt seinen Weg fort. Was ist nur los mit ihm? Er hatte gedacht, er wäre aus dem Alter heraus, in dem Frauen beunruhigen und Wünsche wecken können.

Heute findet er seine Wohnung besonders trist. Er reißt alle Fenster auf und lässt die Abendsonne hereinströmen. Frau Weber war heute hier. Seine Post hat sie aus dem Briefkasten genommen und auf seinen Schreibtisch gelegt. Er vergisst es häufig, den Briefkasten zu leeren. Fast widerwillig nimmt er einige Briefe hoch. Reklame, Rechnungen, Bittbriefe von Hilfsorganisationen und ein Brief aus Hamburg von Annekatrin, seiner Schwester. Er kann sich nicht vorstellen, was sie veranlasst haben könnte, ihm zu schreiben. Zuletzt hat er sie bei der Beerdigung ihrer Mutter gesehen und wenige Jahre davor bei der Bestattung der Großmutter.

Er überfliegt den Brief. Sie hat sich also pensionieren lassen und will ihn in den nächsten Tagen auf der Fahrt in den Süden besuchen. Kein bestimmtes Datum!

Es verbindet ihn nichts mit seiner Schwester, so wie ihn nichts mehr mit Mutter und Großmutter verbunden hat. Zu sehr hatte er unter diesen drei Frauen in seiner Familie gelitten. Sie hatten in sein Leben eingegriffen, wann immer sie Gelegenheit dazu fanden, hatten seine Liebe, seine Ehe zerstört. Er kann an keine von ihnen ohne Bitterkeit denken.

Seine Großmutter Dina war mitschuldig am Scheitern der Ehe seiner Eltern. Dina und seine Mutter hatten sich in seine Ehe eingemischt. Annekatrin war ihnen behilflich gewesen bei dem schändlichen Unternehmen. Bernhardina, seine Großmutter, hatte sich von allen Dina nennen lassen. Großmutter oder Oma, diese Namen hatte sie abgelehnt, verband sich doch mit diesen Benennungen das ungeliebte Altern.

Sie war die Witwe eines Offiziers mit preußischen Idealen und hatte es nie verwunden, dass ihr Mann nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Frankreich bei seiner Geliebten geblieben war. Sie zögerte die Scheidung hinaus. Gott sei’s gedankt, lange genug! Ihr Mann starb rechtzeitig an einer Typhuserkrankung, sodass sie voll in den Genuss der Pension kam.

Die Geliebte – selbst Schuld hatte sie! – ging leer aus. Eigentlich gefiel Bernhardina das Leben ohne ihren Mann recht gut, schließlich redete ihr nun keiner mehr in ihre Angelegenheiten hinein. Sie konnte ein ungezwungenes, angenehmes Leben in Wohlstand in ihrem Haus in Potsdam verbringen.

Dina war eine große, knochige Erscheinung, mit strengem Gesicht, unduldsam, selbstgerecht im Charakter. Ihre Garderobe war damenhaft, elegant. Die schwarzen, gefärbten Haare trug sie streng zurückgekämmt und zu einem Knoten gesteckt.

Die einzige Tochter, Ranghild, besuchte eine höhere Töchterschule und absolvierte danach das Lehrerseminar mit ausgezeichneten Noten. Sehr zum Verdruss ihrer Mutter heiratete sie, wie diese meinte, weit unter ihrem Stand, einen Vertreter für Haushaltsgeräte.

Fritz, ihr Auserwählter, war klein, untersetzt, hatte rötliche Haare, Sommersprossen und sehr flinke Augen, die unentwegt die Lage zu sondieren schienen. Es hatte ihn aus dem Rheinland nach Berlin verschlagen. Dort fand er bei einer bekannten Firma eine Anstellung. Man sah ihm die sprichwörtliche rheinische Frohnatur an. Ranghild genoss es, dem Regiment der Mutter entfliehen zu können. Die Ehe war sicher anfangs glücklich. Die Tochter Annekatrin wurde ein Jahr nach der Hochzeit geboren, der Sohn Helmut nach weiteren drei Jahren.

Als das Ende des Zweiten Weltkrieges abzusehen war, floh die Familie vor den anrückenden Russen aus Berlin. Dina, Ranghild und ihre zwei Kinder landeten in der Nähe von Hamburg. Sie wohnten in einem Haus zur Untermiete in zwei Zimmern.

Fritz kämpfte an der Westfront. Es gelang ihm, nach der Kapitulation einer Gefangennahme und Internierung zu entgehen. Er machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hamburg und stand eines Tages vor der Tür. Die Familie war glücklich vereint.

In Hamburg meldete er sich bei der britischen Militärregierung. Da er an TBC erkrankt war, wurde er schnell entlassen. Fritzens kräftige Natur half ihm, bald gesund zu werden.

Bei seiner alten Firma in Berlin fand er wieder eine Anstellung. Er zögerte es hinaus, seine Frau und die Kinder aus Hamburg nach Berlin zu holen. Eine Weile waren seine Ausflüchte akzeptabel. Es sei schwer, eine Wohnung zu besorgen, und außerdem müsse er erst richtig Fuß fassen, ließ er sich vernehmen.

Dina, argwöhnisch in Bezug auf Männer, verdächtigte ihn bei seinen Besuchen in Hamburg ohne Umschweife der Untreue. Ihre Anschuldigungen zerstreute er mit vergnügtem Lachen und der Bemerkung, nicht alle Männer seien wie ihr verflossener Ehemann. Dina fand seine Anspielung unverschämt.

Bei Ranghild fand Dina jedoch nach einiger Zeit mit ihren Unterstellungen Gehör. Auch sie empfand es mittlerweile als seltsam, dass er keine Sehnsucht nach Frau und Kindern verspürte und seine Besuche immer seltener wurden. Eines Tages machte sie sich auf den Weg nach Berlin. Sie suchte die Wohnung auf, in der ihr Mann ein Zimmer gemietet hatte. Eine junge Frau öffnete die Tür und war sehr erstaunt, der Frau ihres Untermieters gegenüberzustehen. Fritz hatte nie eine Familie erwähnt. Dass sie mit ihm ein Verhältnis hatte, leugnete sie nicht.

Auch sie war auf Fritzens Frohnatur und seinen Charme hereingefallen. Er hatte stets beteuert, ungebunden zu sein. Ranghild hörte auf den Rat ihrer Mutter und reichte umgehend die Scheidung ein. Fritzens Versuche, seine Ehe zu retten und alles auf die ungeordneten Verhältnisse der Nachkriegszeit zu schieben, stießen nur auf Dinas höhnisches Lachen, in das Ranghild beklommen mit einstimmte. Sie brauchten keinen Mann! Sie beide kamen allein zurecht.

Ranghild fand eine Anstellung als Lehrerin. Lehrkräfte wurden gesucht. Zu Fritz hielten die Kinder eine lose Verbindung aufrecht. Er heiratete wieder, aber nicht die junge Frau aus Berlin, sondern eine Angestellte aus der gleichen Firma.

Die Kinder besuchten Gymnasien und gerieten ganz nach Wunsch der beiden Frauen. Annekatrin und Helmut bestanden das Abitur und studierten in Hamburg. Annekatrin wurde Lehrerin und Helmut studierte Archäologie.

4

Helmut lernte auf einem Universitätsfest die junge Medizinstudentin Helma kennen. Sie gefiel ihm außergewöhnlich gut. Er beobachtete sie eine Weile. Sie tanzte jeden Tanz mit einem anderen Mann. Alles waren Medizinstudenten, die ihre bestandenen Examina feierten, wie er später erfuhr, als es ihm endlich gelang, einen Tanz zu ergattern. Ihre schwarzen Augen blitzten lustig, wenn sie lachte, und sie lachte gern und oft. Helma war kleiner als Helmut, von graziler Gestalt und sehr temperamentvoll. Sie hatte schwarze Haare, die sich kurz geschnitten in Locken um ihr Gesicht ringelten.

Helmut wirkte wie ein tumber Bär gegen dieses lebendige Geschöpf. Er hatte die große, grobknochige Statur von Großmutter und Mutter geerbt und wirkte schwerblütig. Helmas und Helmuts Gespräch hatte eine Weile die Ähnlichkeit ihrer Namen zum Inhalt. Helma war eine Abkürzung von Wilhelmine. Diesen Namen hatte sie den kaisertreuen Großeltern zu verdanken. Sie verabscheute ihn ebenso wie auch das Kürzel Wilma oder Mine. Sobald sie selbst entscheiden konnte, ließ sie sich Helma nennen.

Helmut traf sich von nun an regelmäßig mit Helma. Sie war seine erste feste Freundin. Aber Helma hatte viel zu wenig Zeit für ihn. Die Arbeit im Krankenhaus als Assistenzärztin nahm sie sehr in Anspruch. Als Helmut sie einige Male mit anderen Männern in Restaurants oder Cafés antraf, reagierte er mit Eifersucht. Es seien junge Ärzte aus dem Krankenhaus, Kollegen, beruhigte Helma ihn. Sie gab zu, vor ihrer beider Beziehung auch mit anderen Männern, hauptsächlich Studienkollegen, geschlafen zu haben. Das sei aber nun vorbei.

Helmut bestand sein Examen und arbeitete als Doktorand an der Universität. Endlich verdiente er eigenes Geld und mietete sich ein Zimmer, um der Kontrolle seiner drei Frauen zu entfliehen. Drei Monate, nachdem er Helma zum ersten Mal getroffen hatte, gestand sie ihm, dass sie schwanger sei. Helmut stellte seine zukünftige Frau seiner Familie vor. Zu diesem Zweck war die Großmutter extra aus Cuxhaven, wo sie vor einiger Zeit eine Eigentumswohnung bezogen hatte, herbeigeeilt.

Helma war fröhlich und ungezwungen, wie es ihrer Natur entsprach, zu dem ersten Treffen mit Helmuts Familie gekommen. Unter den eisigen, prüfenden Blicken der drei Frauen wurde sie zunehmend ruhiger und zog sich in sich zurück. Sie beantwortete die Fragen bezüglich ihrer Schwangerschaft, fand sie aber indiskret und unangemessen.

Und dann muss das Unglaubliche geschehen sein. Immer wenn Helmut an diesen Tag zurückdachte, merkte er, wie die Wut erneut von ihm Besitz ergriff. Helma und er hatten in der Zeit zwischen dem Nachmittagskaffee und dem Abendessen einen Spaziergang unternommen, um der Familie für eine Weile zu entkommen. Helmas Tasche war auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen geblieben.

Helmut hatte nie erfahren, wer das Notizbuch aus Helmas Tasche entwendet hatte, um darin herumzuschnüffeln. Jedenfalls wurde er einige Tage nach dem gemeinsamen Treffen vor die drei Frauen zitiert. Sie taten ihm, ohne Skrupel zu haben oder Schuldgefühle zu empfinden, kund, was ihre Nachforschungen ergeben hatten.

Aus Eintragungen in dem Kalender war ersichtlich, jedenfalls für die drei Frauen, dass Helma mit mindestens zwei anderen Männern zur selben Zeit wie mit Helmut intime Beziehungen unterhalten hatte. Diese beiden Männer waren, so hatten ihre Erkundigungen ergeben, Kollegen aus dem Krankenhaus, mit denen sie sich, wieder laut Notizkalender, in deren Wohnungen getroffen hatte.

Helma hatte auch Daten betreffs ihres Zyklus vermerkt. Aus dem Vergleich der Notizen zogen die drei Anklägerinnen den Schluss, dass das zu erwartende Kind nicht unbedingt von Helmut stammen musste.

Helmut tobte. Er fühlte sich gedemütigt, bevormundet, nicht als erwachsener Mann von 26 Jahren akzeptiert. Er nahm Helma in Schutz, erklärte ihnen, dass er über Helmas Beziehungen zu anderen Männern vor seiner Zeit unterrichtet sei, dass sie offen über alles gesprochen hätten. Im Übrigen sei es eine Unverschämtheit von Dina, Ranghild und Annekatrin, fremder Leute private Eintragungen zu lesen.

Die drei Frauen übergingen seine Vorhaltungen und gaben ihm dreist den Rat, eine Blutuntersuchung vornehmen und die Blutgruppe des Kindes feststellen zu lassen.

Helmut verließ die Wohnung seiner Mutter unter Protest. Aber das Fatale war, dass sie Misstrauen in ihm geweckt hatten. Wie gut kannte er Helma eigentlich? Er wusste nichts über ihr Leben und ihre Familie. Das Beste würde es sein, er erzählte Helma von der Unterredung.

Helma war erbost. Sie hatte ihm ihre intimen Beziehungen zu anderen Männern vor ihrer beider Zeit gestanden, aber auch deutlich gemacht, dass es seither keine sexuellen Verbindungen zu anderen Partnern gegeben hatte. Er müsse ihr trauen, oder sie müssten sich trennen. Das Kind wolle sie auf jeden Fall zur Welt bringen, erklärte sie.

Als der Sohn Jean geboren wurde, triumphierten die Frauen der Familie. Der Junge kam 14 Tage zu früh zur Welt. Er war voll ausgetragen, keine Frühgeburt. Diese Tatsache schien ihnen Recht zu geben, dass Helmut nicht der Vater sein konnte, laut Eintragung der intimen Zusammenkünfte mit den verschiedenen Partnern im Kalender der Beschuldigten.

Helmut verlor kein Wort darüber. Er akzeptierte Jean als seinen Sohn. Er liebte Helma. Die junge Familie verließ Hamburg, als sich Helmut die Möglichkeit bot, seinem Professor nach München zu folgen.

Hier wurden noch die beiden Töchter Jasmin und Ina-Maria geboren. Helma nahm die erste Gelegenheit wahr, die sich bot, um wieder in ihrem Beruf zu arbeiten. Die Kinder blieben in der Obhut einer Kinderfrau.

Helmut erinnerte sich nicht genau, wann die Entfremdung ihren Anfang genommen hatte. Helma lebte ihr Leben und ließ ihn, der oft abwesend auf Exkursionen oder Tagungen war, nicht daran teilhaben. Sie gab verschwenderisch Geld aus für Kleidung, Theaterbesuche und vieles mehr, was nicht genau für ihn nachzuprüfen war. Es war nicht nur ihr eigenes, selbst verdientes Geld. Das empfand Helmut, der immer sparsam gelebt hatte, schmerzlich. Er liebte es, sich ein kleines, pekuniäres Polster zu schaffen, wie er es nannte, und dieses, wenn möglich, stetig zu vermehren. „Man weiß nie, was kommen wird und wann man es brauchen kann“, war seine Devise.

Wenn er es recht überlegte, waren es die immer wiederkehrenden Streitereien ums Geld, die endlich die Trennung herbeiführten. Eines Tages verkündete Helma ihm, dass sie eine Stellung in einem bekannten Privatsanatorium in der Nähe von München angenommen habe.

Die Familie trennte sich. Jean blieb zuerst bei seinem Vater. Die beiden kleinen Mädchen nahm Helma mit. Als Jean die Grundschule beendet hatte, folgte auch er seiner Mutter, weil der Vater zu wenig Zeit für ihn hatte. Für Helmut begann eine einsame Zeit, in der er sich immer mehr seiner Arbeit verschrieb. Er hatte inzwischen eine Professorenstelle übernommen.

Helma hatte Erfolg in ihrem Beruf. Sie war ehrgeizig, bestand die Facharztprüfung für Lungenheilkunde und wurde die Vertreterin des Chefarztes. Als der Leiter der Klinik, ein betagter Mann, Witwer wurde, reichte Helma die Scheidung ein, um für diesen frei zu sein. Sie heirateten. Die Leitung der Klinik teilten sie sich fortan, und als er aus Altersgründen ausschied, übernahm sie diese vollständig.

5

Annekatrin hatte ihren Bruder nicht von unterwegs angerufen. Es sollte eine Überraschung werden. Vor seiner Wohnung angekommen, parkt sie ihren Wagen vor der Tür. Da sie Helmut nicht zu Hause antrifft, bummelt sie noch ein wenig durch München. Vor Einbruch der Dunkelheit kehrt sie zurück.