VERSUCHSREIHE 17 - Rainer Fuhrmann - E-Book

VERSUCHSREIHE 17 E-Book

Rainer Fuhrmann

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In einer Kleinstadt an der Ostsee kommt es zu einer Explosion in einem Chemiebetrieb. Den Kriminalisten Olsen und Knecht erscheinen die Ursachen zunächst rätselhaft. Ungeklärt bleibt anfangs auch das Verschwinden der Chemiker Dr. Kiefer und Dr. Banger, bis deren mysteriöser Tod festgestellt wird. Im Laufe der Ermittlungen verdichtet sich immer mehr die Vermutung, dass beide Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht haben, die sich zu einer Bedrohung der Menschheit ausweiten könnte. Ein Einbruch in der Wohnung der Doktoren zeigt, dass sich bereits andere für die Forschungsunterlagen interessieren... VERSUCHSREIHE 17 von Rainer Fuhrmann (* 11. September 1940; † 3. November 1990) ist ein Klassiker aus der Spätphase der DDR-Krimi-Literatur und erschien erstmals im Jahr 1988: ein spannender Kriminalroman mit Science-Fiction-Elementen und verblüffender Lösung. VERSUCHSREIHE 17 erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag.

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RAINER FUHRMANN

 

 

Versuchsreihe 17

 

 

IM DUNKEL DER NACHT – KRIMIS AUS DER DDR, Band 5

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

VERSUCHSREIHE 17 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

In einer Kleinstadt an der Ostsee kommt es zu einer Explosion in einem Chemiebetrieb. Den Kriminalisten Olsen und Knecht erscheinen die Ursachen zunächst rätselhaft. Ungeklärt bleibt anfangs auch das Verschwinden der Chemiker Dr. Kiefer und Dr. Banger, bis deren mysteriöser Tod festgestellt wird. Im Laufe der Ermittlungen verdichtet sich immer mehr die Vermutung, dass beide Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht haben, die sich zu einer Bedrohung der Menschheit ausweiten könnte. Ein Einbruch in der Wohnung der Doktoren zeigt, dass sich bereits andere für die Forschungsunterlagen interessieren...

 

Versuchsreihe 17 von Rainer Fuhrmann (* 11. September 1940; † 3. November 1990) ist ein Klassiker aus der Spätphase der DDR-Krimi-Literatur und erschien erstmals im Jahr 1988: ein spannender Kriminalroman mit Science-Fiction-Elementen und verblüffender Lösung.

Versuchsreihe 17erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag. 

 

Der Autor

 

Rainer Fuhrmann,  (* 11. September 1940; † 3. November 1990).

Rainer Fuhrmann war ein deutscher Science-Fiction-Schriftsteller.

Fuhrmann erlernte den Beruf des Drehers, arbeitete als Mechaniker, erwarb den Meisterbrief als Mechaniker-Meister, brach ein Studium der Maschinenbautechnologie ab, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, und arbeitete als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter und Konstrukteur, bevor er 1980 freischaffender Schriftsteller wurde. Viele Jahre seines Berufslebens war er in der Orthopädietechnik tätig, und seine dabei gewonnenen Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen sind in einigen seiner Werke spürbar.

Rainer Fuhrmann galt als einer der herausragenden Autoren der Science Fiction in der DDR. Er thematisierte 1977 unter anderem Gen-Manipulation am Menschen in dem Roman Homo Sapiens 10-2, in welchem das Experiment eines skrupellosen Wissenschaftlers dazu führt, dass eine Gruppe von Menschen miniaturisiert wird, bis sie an die Grenzen der Physik stoßen.

Zu Fuhrmanns bekanntesten Werken zählen die SF-Romane Homo Sapiens 10-2 (1977), Das Raumschiff aus der Steinzeit (1978), Planet der Sirenen (1981), Medusa (1985) sowie Kairos (1996), der erst nach dem Tod des Autors erschien und welcher gemeinhin als Fuhrmanns Abrechnung mit der DDR gilt.

Darüber hinaus schrieb er – neben zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen – die utopischen Kriminalromane Per Kippschalter (1981), Herzstillstand (1981),  Zweimal vierundzwanzig Stunden (1982) und Kantharidin (1985), die allesamt in der legendären Reihe Blaulicht erschienen.

 

Der Apex-Verlag widmet Rainer Fuhrmann eine umfangreiche Werkausgabe. 

VERSUCHSREIHE 17

 

 

 

 

   

 

  Erstes Kapitel

 

 

Olsen schob die leere Kaffeetasse an den Rand des Schreibtisches, lehnte sich zurück. Wickelte einen in grellfarbenes Papier verpackten Kaubonbon aus und steckte ihn in den Mund. Gnautschte. Betrachtete das Büro, als hätte er es soeben zum ersten Mal gesehen, obwohl sein Name auf dem immer noch provisorischen Schild an der Tür bereits seit Jahren vergilbt war. Es hatte sich nichts verändert, von gelegentlichen Renovierungen abgesehen. Neben der Tür stand ein Garderobenschrank, ein Terminal, auf der anderen Seite ein Aktenschrank und zwei Hängeregale. Zwischen den Fenstern zwei mit der Stirnseite aneinandergeschobene Schreibtische, davor zwei Besucherstühle. Im Übrigen ein Telefon, eine Wechselsprechanlage, ein grünlackierter Panzerschrank und ein dahinsiechender Gummibaum. Nüchtern, ungemütlich. Der Gedanke, in diesem Büro sein Leben bis zum Ruhestand zu verbringen, hatte wenig Erhebendes an sich. Und trotzdem war es eine Art Zuhause. Vielleicht, weil man zwischen seinen Ansprüchen eine scharfe Grenze zog: Zu Hause war es zu gemütlich, um zu arbeiten - und hier wollte man nicht wohnen.

Er betrachtete den emsig schreibenden, keine Sekunde aufblickenden Kollegen gegenüber. Der zweiunddreißigjährige Joachim Knecht war erst vor vier Wochen aus der Hauptstadt gekommen. Versetzt worden. Wohl kaum freiwillig, denn welchen Grund könnte es für den durch die Mittel eines gut ausgerüsteten Apparates verwöhnten und von einer Vielzahl von Experten und Kriminaltechnikern unterstützten Kollegen geben, sich in ein ereignisloses Kreisstädtchen an der Küste versetzen zu lassen? Von den Annehmlichkeiten einer Großstadt mit ihren Theatern, Kinos, Restaurants, Konzerten und sonstigen Veranstaltungen abgesehen! Wegen der - zugegeben - schönen Landschaft war der sicherlich anspruchsvolle Mann gewiss nicht gekommen. Warum dann? War Knecht den Kollegen in der Hauptstadt unangenehm aufgefallen, hatte er etwas verbockt? Ein Mann, der so sachlich und mit preußischer Akribie seine Aufgaben erledigte? Schwer vorstellbar. Jedenfalls stellte sich der Chef, Hauptmann Packer, auf vorsichtige Fragen kurz angebunden. Also wusste er auch nichts.

Olsen löste den Blick von dem über sein Papier geneigten dunkelblonden, bereits schütteren Haarschopf gegenüber, stand auf und trat zum Fenster. Obwohl es in der ersten Etage lag, war es überflüssigerweise vergittert. Das zweistöckige Gebäude lag an der Haupt- und Geschäftsstraße des Städtchens, das man mit dem Wagen innerhalb von fünf Minuten in voller Länge durchfahren konnte. Die Querstraße auf der anderen Seite führte zur Mole hinunter. In dem schmalen Durchblick, den die niedrigen Häuser gestatteten, sah Olsen zwei Kutter der Küstenfischerei einlaufen.

Er blickte auf die Uhr. In einer Viertelstunde war Dienstschluss. Die Sonne stand noch hoch über der See, aber über Land zogen bereits die ersten niedrig hängenden Abendwolken heran. Es stand ein langes Wochenende bevor. Kein Dienst. Mal sehen, was man anstellen konnte. Nachher rüber zur Mole gehen und den Fischern der Genossenschaft für morgen Mittag einen interessanten Beifang abschwatzen. Wäre kein Problem, da jeder jeden kannte. Abends vielleicht ins einzige Kino des Ortes oder in die Disco, ein bisschen tanzen und - mit ein wenig Glück - 'ne Freundin an Land ziehen. Wäre allerdings ein Problem, weil jeder jeden kannte. Es wäre sofort herum, von einem Ende zum anderen, dass diese oder jene jetzt mit Olsen, dem Bullen, ging. Darin unterschied sich dieses Städtchen nicht von seinem Geburtsort, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Hier wie dort interessierten sich die Menschen zunächst für fremde und erst später für die eigenen Belange. Wobei dieses Interesse durchaus gute Seiten zeigte. Es verlieh den Menschen das Gefühl, zu einer großen Familie zu gehören. Das war wärmer als die Anonymität in einer Großstadt, gab das Empfinden, daheim zu sein. Er könnte sich aus diesem Grunde niemals an eine Großstadt gewöhnen. Seine Welt waren Orte wie dieser, auch wenn sie zuweilen langweilig schienen, weil nichts geschah. Ja, was geschah hier schon: Tötung nachbarlicher Hühner, weil sie in fremden Beeten gescharrt hatten. Dagegen wirkte ein kürzlich aufgeklärter Scheckbetrug wie der absolute Gipfel krimineller Verworfenheit. Vor fünfzehn Jahren soll es zwischen zwei Fischern wegen einer Frau - natürlich wegen einer Frau! - zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, die zu einer schweren Körperverletzung führte. Und im Dezember des vergangenen Jahres gab es angeblich sogar einen missglückten Entführungsversuch. Ausgerechnet als er sich in Urlaub befand! Ein paar dürftige Beweise, Zeugenaussagen... Aber hier wurde ja alles aufgebauscht, jeder noch so lächerliche Vorfall in den Rang einer Sensation gehoben, jeder Möwenschiss zur Staatsaktion gemacht.

Im Nordosten, über der im weichen Bogen verlaufenden Küstenlinie, leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde die Wolkendecke auf, als wäre sie von unten mit einem Blitzlicht angestrahlt worden.

Einen Augenblick später rollte ein gedämpfter, aber scharfer Knall über das Städtchen hinweg.

Olsen riss das Fenster auf.

Das war im Chemiewerk!

Nach einer Atempause schwang sich irgendwo eine Sirene zu einem nervtötenden Dauerton auf. Aus dem Friseursalon auf der anderen Straßenseite stürzten zwei Männer. Einer trug noch einen Latz und wirre nasse Haare, der andere versuchte sich im Laufschritt den Kittel vom Leib zu reißen. Die freiwillige Feuerwehr. Aus allen Richtungen hetzten noch einige Männer heran, folgten dem Friseur und seinem Kunden um die Ecke in die Querstraße. Gleich darauf grellte ein Signal und ein Löschzug bog auf die Hauptstraße in nördlicher Richtung ein.

Es war kein Rauch zu entdecken, obwohl Olsen starrte, bis ihm die Augen zu schmerzen begannen. Er spürte neben sich eine Bewegung.

Knecht war zu ihm getreten. »Sagen Sie, könnte etwas geschehen sein?«

Olsen warf ihm einen kühlen Blick zu. »Vermutlich macht die Feuerwehr einen Betriebsausflug.«

»Sie standen die ganze Zeit am Fenster. Es läge doch im Bereich des Möglichen, dass Sie etwas gesehen haben«, erwiderte Knecht.

Olsen schämte sich einen Moment für die patzige Antwort. Warum rutscht mir so was raus, fragte er sich, ich kann mich doch über Knecht nicht beklagen. Jedenfalls gibt er mir niemals solche Antwort. »Anscheinend hat's im Chemiewerk geknallt. Im Ort sind wir uns alle darüber einig, dass die Bude eines Tages in die Luft fliegen wird, auch wenn dort nur Pflanzenschutzmittel hergestellt werden.« Er blickte auf die Uhr. »Fünf Minuten vor Dienstschluss. Schätze, das Wochenende dürfen wir getrost streichen.«

Aus den Seitenstraßen ertönte ein Signal und wenig später fuhr ein Krankenwagen im hohen Tempo die Hauptstraße hinunter in die gleiche Richtung, die der Löschzug eingeschlagen hatte.

Die Wechselsprechanlage auf dem Tisch knarrte. Die Stimme des »Alten«: »Olsen - zu mir!«

Er seufzte. »Bitte, was habe ich gesagt?«

 

Als sie vor dem zurückgeschobenen Gitter am Pförtnerhäuschen hielten, fuhr gerade der Löschzug vom Gelände. Der Pförtner trat heran, lehnte sich ins offene Wagenfenster, streifte Knecht mit einem uninteressierten Seitenblick, reichte Olsen die Hand. »Ah - der Herr Kriminalhauptdirektor!«

»Puh«, sagte Knecht und kurbelte hastig das Fenster hinunter.

»Tag, Bertold. Was ist bei euch los?« Olsen wandte das Gesicht zur Seite, denn er kannte den Pförtner als einen Menschen, der durch den Umstand, dass Zwiebeln und Knoblauch den ersten Platz seiner Lieblingsspeisen hielten, für seinen Atem eigentlich einen Waffenschein benötigte.

Bertold blies die Backen auf. »Es hat mächtig gewaltig gescheppert.« Er zeigte auf den Löschzug. »Aber nicht gebrannt, Gott sei's gelobt. Unsere Betriebsfeuerwehr ist auch schon wieder abgerückt.«

»Wo ist das geschehen?«, fragte Knecht mit verkniffenem Mund.

»Drüben, in der Forschungsabteilung«, erwiderte Bertold, als hätte Olsen die Frage gestellt. »Ziemliche Hektik gerade.«

Quer über den Rasen eilte ein untersetzter Mann im offenen weißen Kittel heran, riss die hintere Wagentür auf und schob sich auf den Rücksitz. »Tag, Olsen! Ich habe schon auf Sie gewartet. Wahrscheinlich 'ne Bombe. Gebäude Nummer vier. Fahren Sie, schnell!«

Die Chemiefabrik Alfred Nobel befand sich außerhalb des Ortes in einem parkähnlichen Gelände, das sich parallel zum Strand auf eine Länge von fast einem Kilometer erstreckte. Es war von einem hohen Zaun umgeben, von vielen kleinen betonierten Fahrbahnen durchzogen. Auf der einen Seite befand sich ein Kindergarten, zweihundert Meter weiter ein barackenähnlicher Verwaltungsbau, danach ein lichter Buchenhain, hinter dem das Produktionsgebäude lag. Viele Springbrunnen und Gartenbänke. Am Nordende des Geländes, als würde es nicht dazugehören, stand ein Flachbau von etwa dreißig mal zehn Metern, mit der schmalen Seite zum Strand. Dort war eine Terrasse vorgelagert, auf die in der vollen Breite des Hauses die Glasfront des Sitzungssaales blickte.

Der schmale Weg endete vor dem Forschungsgebäude auf einem Parkplatz. Eine Anzahl Menschen lief scheinbar ziellos in der Umgebung herum. Auf dem Geländer der Terrasse saß ein Mann und ließ sich von einem Sanitäter ein Heftpflaster an die Stirn kleben. Zwei andere fochten auf dem Rasen trotz der unübersichtlichen Situation scherzhaft mit ihren Besen. In mehreren Gruppen standen Neugierige herum, gafften und debattierten heftig.

Die Terrasse war in die mit Büschen und hohen Gräsern befestigten Dünen hineingebaut. Ein Schild forderte auf, nur die Wege zu benutzen.

Der weißbekittelte Mann sprang aus dem Wagen und hastete vor ihnen die aus Wegeplatten gefügte Treppe zur Terrasse hinauf.

Knecht blickte ihm nach. »Wer ist eigentlich dieser Herr?«

»Lindert, der Hauptabteilungsleiter Forschung und Entwicklung«, antwortete Olsen. »Wenn Sie ein paar Jahre hier sind - falls Sie bleiben -, werden Sie es auch nicht mehr nötig haben, sich die Personalausweise zeigen zu lassen.«

Knecht presste die Lippen zusammen.

Lindert blieb oben stehen und breitete theatralisch die Arme aus.

Die Türen vom Konferenzraum zur Terrasse standen offen und waren alles, was heil geblieben schien. Die gesamte Front der von der Decke bis zum Boden reichenden Fenster bestand aus leeren Höhlen. Der Boden der Terrasse war bis zum Geländer voller Glasscherben, Papierfetzen und zerbrochener Stühle. Einige waren sogar bis in die Dünen geflogen.

Sie blieben in der Eingangstür stehen. Der Konferenzsaal sah verwüstet aus: Umgeworfene Stühle und Tische, zerbrochene und unversehrte Gläser und Flaschen - aber keine Splitter von den Fenstern. Die Tür zum Korridor hing in einer Angel - seltsamerweise in den Saal hinein. An der Wand daneben befand sich ein schwarzer Fleck, der sich kegelförmig bis zur Decke hinaufzog und dort ein kreisförmiges Feld bildete.

Durch die Terrassentür drängte eine Anzahl Mitarbeiter, offenbar mit der Absicht, aufzuräumen. Lindert scheuchte sie mit einer Handbewegung zurück. »Unangenehme Sache«, sagte er, »ausgerechnet eine Stunde vor Schluss der Veranstaltung musste das passieren. Verdammt unangenehm.«

»Was für einer Veranstaltung?«

»Eine Konferenz, ein Symposium mit internationaler Beteiligung«, erwiderte Lindert.

Knecht räusperte sich. »Sagen wir treffender: Eine Tagung, ein Erfahrungsaustausch auf halb offizieller, halb privater Ebene, zu dem einige ausländische Gäste geladen wurden. Die Zusammenkunft Konferenz zu nennen, wäre zu hoch angebunden.«

Olsen drehte ihm steif den Kopf zu. »Woher wissen Sie das?«

»Es stand in der Zeitung.«

Olsen nickte. Er konnte sich zwar nicht erinnern, darüber eine Notiz gelesen zu haben, aber das wollte nichts besagen. Er blätterte eine Zeitung stets nur von hinten auf, las zuerst den Witz, die Sportseite und die Lokalnachrichten mit gespanntem, das übrige Weltgeschehen mit erlahmendem Interesse und schließlich nur noch die Schlagzeilen. Gut möglich, dass ihm dadurch der Bericht über die Tagung durch die Lappen gegangen war. »Die Explosion hat in diesem Raum stattgefunden«, sagte er, »daran ist nicht zu zweifeln. Die Fenster sind nach außen gedrückt worden.« Er wandte sich an den Hauptabteilungsleiter und zeigte auf den schwarzen Fleck. »Was stand hier?«

»Das Rednerpult«, erwiderte Lindert. Er wies mit dem Kinn auf den Pfeiler zwischen zwei Fenstern. »Dort liegt es. Sieht nicht gut aus.«

Olsen stieg über einige umgeworfene Tische hinweg und hockte sich nieder. Die innere, dem Redner zugewandte Seite des Pultes war rußgeschwärzt. Es war massiv gebaut und, obwohl es mit gewaltiger Kraft an den Pfeiler geschmettert wurde, nicht zersplittert.

Er fasste mit spitzen Fingern zu, zog einen elastischen dünnen Fetzen vom Holz und betrachtete ihn. Er hinterließ einen hellen Fleck auf dem unbeschädigt aussehenden Furnier.

»Das ist ein Stück Stoff«, sagte er. »Könnte von einem Kleidungsstück stammen.«

Lindert zog schweigend die Schultern hoch.

»Wir sollten nichts berühren, bevor Herr Doktor Brambach, den uns der Chef nachzuschicken versprach, die Untersuchung nicht abgeschlossen hat.«

Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, trat Doktor Brambach durch die Tür. Ein Mann, dem schalkhaft nachgesagt wurde, dass, wenn er sich aus dem Fenster beuge, seine Frau im Zimmer das Licht einschalten müsse. Eine Gestalt, die alle Menschen neben ihm als kleinwüchsige Vertreter derselben Spezies erschienen ließ: Zwei Meter zehn Körperhöhe, das Format einer Betonmischmaschine, breites, freundliches Gesicht mit geröteter Nase, Arme wie der Ausleger eines Autokranes, Hände wie Schaufeln, ein ungeheurer, vorquellender Bauch. Der Boden dröhnte unter seinen Schritten. Ein menschlicher Berg. Aber mit einer hellen, pfeifenden Fistelstimme, die man bei ihm zuletzt erwartet hätte. Kriminaltechniker, seit zwei Jahren im Ruhestand. Er bewohnte ein kleines Haus auf der Anhöhe, mit Blick knapp über die Dächer des Städtchens und auf das Meer. An sein Grundstück grenzte das Gelände der vier Touristenhotels, der sogenannten Hotelstadt - geschmackvoll in die hügelige Küstenlandschaft gestellte Zweiundzwanziggeschosser im freundlichen Grau, die von weitem wie Felsen wirkten. Wegen Brambach wurde ihnen bisher die Zuweisung eines Kriminaltechnikers verweigert. »Ihr habt doch Brammi«, hieß es stets aus der Bezirkshauptstadt. »Er ist zwar im Ruhestand, aber für die Bagatellen, die bei euch passieren, könnt ihr ihn auf Honorarbasis verpflichten.«

Brammi - Brambach warf einen prüfenden Blick in die Runde, schniefte und drückte Knecht den Bereitschaftskoffer, den er wie ein Reisetäschchen geschwenkt hatte, in die Hand. Knecht ging mit einem Ruck in die Knie.

»Hübsch hässlich, min Jung«, sagte Brambach mit einem spöttischen Blick zu Knecht, der sich mit knallrotem Kopf bemühte, den Koffer anzuheben. »Na, an die Arbeit.« Er richtete einen umgestürzten Tisch auf, nahm den Koffer wie eine Feder, stellte ihn auf die Platte und klappte ihn auf. »Mir wäre lieber, ihr schleicht euch.«

»Was liegt dahinter?«, fragte Olsen und zeigte auf die in nur einer Angel hängende Tür.

»Ein Korridor. Von ihm gehen die Labors, das Archiv, ein Lagerraum und Doktor Kiefers Büro ab«, erwiderte der Hauptabteilungsleiter.

Olsen blickte sich suchend um. »Was muss man hier tun? Es hochziehen und ausspucken?«

»Ich glaube, die Toilette...«, begann Knecht mit erhobenem Zeigefinger, verstummte jedoch nach einer heftigen Handbewegung Olsens.

Lindert stieg über einige mit gekreuzten Beinen am Boden liegende Tische hinweg und öffnete eine Tür deren Umrisse in der Holztäfelung nur schwach zu erkennen waren. Olsen blickte hinein. Ein kleiner Toilettenraum, schwarz gefliest. Unbeschädigt. »Kiefer ist der Forschungsleiter, nicht wahr? Wo finde ich ihn?«

Lindert kehrte die Handflächen nach oben und schob die Unterlippe vor. »Keine Ahnung. Nach der Explosion ging hier alles drunter und drüber. Wir hatten ein paar Verletzte, die ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Vielleicht befindet er sich unter ihnen. Auch seinen Mitarbeiter, Doktor Banger, habe ich nicht gesehen. Übrigens sind sie nicht verpflichtet, sich bei mir abzumelden.«

»Wo hielten Sie sich auf, als es passierte?«

Lindert drehte sich um und zeigte in die entfernteste Ecke. »Dort saß ich, am Ende der Tischreihe. Ich hatte zwar weder etwas zu sagen noch sonst beizutragen, musste aber als offizieller Vertreter des gastgebenden Betriebes präsent sein.«

»Wieviel Leute hielten sich im Raum auf?«

»Zwölf Gäste, Kiefer und ich, also vierzehn.«

»Und Banger?«

»Der ging einige Sekunden vor dem Big Bang raus. Doktor Kiefer hatte ihn nach hinten geschickt, um irgendwelche Unterlagen oder eine Notiz zu holen.«

»Nach hinten? Ins Büro?«

»Ins Büro.«

»Aha. Was war der Zweck der Veranstaltung?«

»Doktor Kiefer hatte im Herbst vergangenen Jahres zu einer Tagung beziehungsweise zu einem Erfahrungsaustausch eingeladen. Thema: Der gegenwärtige Stand im Modus der Schadinsektenbekämpfung und Ablösung klassisch-chemischer durch chemisch-biologische Maßnahmen und Verfahren. Es waren Wissenschaftler aus allen Himmelsrichtungen gekommen, sogar ein Physiologe und ein Biologe.«

»Bei einem Erfahrungsaustausch von Chemikern? Das finde ich aber merkwürdig«, sagte Olsen.

»Ich habe es aufgegeben, mich über irgendetwas zu wundern«, gab Lindert zurück. »Doktor Kiefer gab mir eine Namensliste, ich ließ die Einladungen drucken und verschicken. Ich habe keine Fragen gestellt. Er würde sie mir auch nicht beantwortet haben.«

»Ihnen - als Hauptabteilungsleiter? Ich meine...«

Lindert seufzte tief. »Der Initiator der Veranstaltung war Doktor Kiefer. Er ging den offiziellen Weg, holte zuerst das Einverständnis der Betriebsleitung ein - für ihn problemlos -, danach das der Behörden und schließlich die Befürwortung des Forschungsministeriums. Alles ein bisschen großartig für die vergleichsweise kleine Gesprächsrunde, aber - nun ja. Sie sehen also, dass der Betrieb nichts mit der Tagung zu tun hatte und lediglich die Räume bereitstellte. Die Organisation freilich blieb mir überlassen. Ich ließ die Zimmer in den Hotels reservieren, die Mahlzeiten in den Restaurants sichern und sorgte für sonstige Zerstreuungen der Herren Wissenschaftler. Ich nenne mich zwar Hauptabteilungsleiter, und so steht es auch in meiner Kaderakte und auf dem Schild an meiner Bürotür, aber das ist nichts als ein Titel, um meine Gehaltsgruppe zu rechtfertigen. Die übliche Praxis, um subalterne Positionen zumindest finanziell attraktiver zu machen. Ein Kollege von mir - Ingenieurökonom wie ich - nennt sich Hauptabteilungsleiter für Investitionen, obwohl sämtliche Abteilungen nur aus ihm selbst bestehen und seine Arbeit die eines normalen Ökonomen ist. Doch als Hauptabteilungsleiter steht ihm natürlich eine höhere Gehaltsstufe zu. Punkt. Und bei mir musste sich die Leitung ebenfalls eine Lösung einfallen lassen, weil sie sonst niemanden gefunden hätte, der dämlich genug wäre, meine Arbeit zu machen.«

»Junge, Junge«, sagte Olsen, »bei Ihnen hat sich allerlei angestaut.«

Lindert tat einen wütenden Schnaufer. »In Wirklichkeit bin ich Mädchen für alles und Laufbursche der Doktoren Kiefer und Banger. Ich erledige den organisatorischen und verwaltungstechnischen Kram, der die Herren Akademiker über die Maßen belästigt, und ich schaffe herbei, was sie wünschen. Wenn mir Kiefer gesagt hätte, ich solle ihm ein paar Steine vom Planeten Pluto besorgen, wäre ich vom Betriebsdirektor abgebürstet worden, hätte ich nicht innerhalb von vierzehn Tagen geliefert.«

»Raus jetzt«, fistelte Brambach.

Olsen schob die in der Angel hängende Tür zur Seite und trat in den Korridor. Ihm auf den Fersen folgte Lindert. Knecht trottete wie ein Hündchen schweigend hinterher.

Der zwei Meter breite Gang zog sich durch die gesamte Länge des Gebäudes. Am oberen Ende leuchtete das Rechteck der Eingangstür. Sie war vollständig aus dem Rahmen gerissen und lag auf dem Rasen. Die Lampen waren sämtlich zersplittert. Überall auf dem Boden lagen Scherben.

Olsen blieb an der nächsten Tür stehen. Sie stand weit geöffnet. Das Holz des Rahmens war in der Höhe der Klinken ausgerissen, als hätte sich jemand dagegen geworfen.

»Sie geht nach innen auf«, sagte Knecht, »sonst wäre sie wahrscheinlich ebenfalls aus dem Rahmen gedrückt worden. Ich nehme an, dass die Druckwelle der Explosion auch durch den Korridor fegte.«

»Scharf beobachtet«, erwiderte Olsen. »Aber wie erklären Sie, dass die Eingangstür«, er zeigte auf das vordere Ende des Korridors, »nach draußen geflogen ist, aber die Tür zum Konferenzsaal nach innen, also in Richtung zur Explosion, steht?«

»Vielleicht schwang sie zurück. Auch könnte die Druckwelle aus dem Saal die Tür zunächst in den Korridor gepresst und der anschließend entstandene Unterdrück sie wieder zurückgezogen haben.«

»So ein starker Unterdrück?«, fragte Olsen spöttisch. »Obwohl alle Saalfenster auf der Terrasse lagen? Wo soll der Unterdrück hergekommen sein - bei dem Ventil? Das glauben Sie wohl selbst nicht.«

»Oh - das habe ich nicht erwogen.« Knecht rieb sich die Nase.

Olsen blieb auf der Schwelle stehen und blickte sich um. Ein normales chemisches Labor. Die Verwüstungen waren gering, die Fenster heil. Der Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors war ebenfalls ein Labor. Auch hier stand die Tür innen an der Wand. Der Anblick war der gleiche. Einige Meter weiter befand sich ein drittes Labor und auf der anderen Seite ein Vorratsraum. Im Labor war der quer zur Tür stehende Experimentiertisch leergefegt worden. Alles, was darauf gestanden hatte, bildete zwischen Fenster und Tisch ein Durcheinander von heilen und zerbrochenen Laborgläsern, Halterungen, Flaschen und Bunsenbrennern.

Ein warmer Windstoß fegte durch den Korridor, wirbelte kleine Stofffetzen, Staub und Papierstreifen auf.

Die beiden letzten Räume befanden sich neben dem Eingang. Rechts das Archiv. Hier war die Tür vollends aus dem Rahmen gerissen und lag an der Fensterfront, in der sich keine Scheibe mehr befand. Die Vorderseite der Tür war ebenso wie der Boden, die Decke und die Wände des Korridors an dieser Stelle von einer dünnen Rußschicht bedeckt.

Olsen blieb stehen. Wie im Sitzungsraum zog sich die schwarze Schicht kegelförmig nach oben und bildete an der Decke einen runden Fleck. In der Wand steckte ein Schlüsselbund wie ein Messer in der Butter.

»Wie kommt das darein?«

Lindert zuckte die Achseln.

Links lag Kiefers und Bangers Büro. Und von dort führten zwei Fußspuren durch die Rußschicht vom und zum Eingang des Hauses.

»Das erscheint mir interessant. Es sieht ganz so aus, als hätte sich jemand vor uns hier befunden. Wer könnte das Gebäude betreten haben?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Lindert verwundert. »Wir haben das Gelände noch nicht abgesperrt. Vielleicht jemand, der nach Verletzten gesucht hat.«

»Treten Sie nicht drauf«, mahnte Olsen. »Brammi wird sich das nachher ansehen.« Er tastete sich langsam an der Korridorwand entlang und blickte ins Büro. Die Tür stand innen, war aber offensichtlich unversehrt. Dafür bot der Raum einen verwüsteten Anblick. Das Fenster war herausgedrückt, die Schreibtische leergefegt. In der Ecke lagen zwei Sessel. Auf der anderen Seite befand sich zwischen den unbeschädigten Aktenschränken ein kleiner Tresor. Seine Tür stand offen, das oberste Fach war leer.

Knecht zeigte auf die Mitte des Korridors, zwischen den beiden gegenüber liegenden Türen. »Es sieht aus, als hätte sich an dieser Stelle eine zweite Explosion ereignet.«

Olsen lächelte dünn. »Ihnen bleibt wirklich nichts verborgen.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die Terrasse wurde geräumt. Hinter ihm fegten drei Männer die Glasscherben zu großen Haufen zusammen und schütteten sie mit nervtötendem Getöse in eine Mülltonne.

Olsen beugte sich über das Geländer und blickte in die Dünen. Die dort liegenden Stühle hatte man bereits fortgeschafft. Die Zuschauer waren verschwunden, denn seit einer Stunde war Feierabend. Weshalb noch gaffen, wenn es nicht mehr bezahlt wurde? Hinter den sanft abfallenden Dünen begann ein mit großen runden Felsbrocken übersäter Strand. Ein massiv gebauter Landungssteg stieß etwa zehn Meter hinaus in die See. An ihm vertäut, lag eine träge in der Dünung schaukelnde Pinasse mit einem schwedischen Heckmotor. Am Heck trug sie das Zeichen der Fischereigenossenschaft. Draußen auf der See, einen drittel Kilometer entfernt, zeichneten sich gegen die Sonne die dunklen Umrisse der Kanincheninsel ab. Ein kleines Eiland von wenig mehr als fünftausend Quadratmetern, bis zum Ufer mit Bäumen und Büschen bestanden, dicht wie ein Dschungel, und von Kaninchenhöhlen durchlöchert. Dort konnte man sich die Beine brechen. Die Insel gehörte offiziell zum Gelände des Chemiebetriebes, wurde aber nicht genutzt. Vor Jahren hatte - nach einem Artikel in der Lokalzeitung - die Betriebsleitung den Plan erwogen, dort ein Kinderferienlager einzurichten. Wie bei vielen Plänen, die anfangs mit gewaltigem Getöse propagiert wurden, war die Umsetzung in die Realität zunächst lau, dann wurde sie auf unbestimmte Zeit verschoben, und schließlich geriet alles in Vergessenheit. In der Mitte der Insel hatte man eine Lichtung geschlagen. Das war alles. Inzwischen war diese kahle Stelle von Himbeergestrüpp überwuchert. Das Gelände mochte für ein Ferienlager einfach zu klein sein. Außerdem hatte die Sturmflut vor sechs Jahren, als die anstürmenden Wogen die nur zwei Meter über dem Meeresspiegel liegende Insel fast völlig überrollten, vermutlich den Rest dazu beigetragen, dass der Plan endgültig begraben wurde.

Knecht hatte sich eine Pfeife gestopft und versuchte, sie trotz der steifen Brise in Brand zu setzen. Vergeblich. Er runzelte die Stirn. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Jeden Tag hatte er beobachtet, wie bei den Fischern an der Mole beim Abladen des Fanges das Streichholz trotz des stürmischen Nordostwindes ruhig und ohne zu flackern in der hohlen Hand brannte. Was die konnten, musste er eigentlich auch können.

Olsen wandte den Kopf. Auf Linderts Gesicht zeigte sich ein spöttischer Zug, während er Knechts Bemühungen betrachtete. Dann stützte er sich neben Olsen auf das Geländer, rammte sich ein Zigarillo in den Mund, fuhr mit einer Hand in die Tasche und zog ein Feuerzeug hervor. Der Wind wehte Olsen den stechenden Tabaksrauch in die Nase. Knecht zögerte, warf einen unsicheren Blick zu Lindert und steckte die Pfeife ein.

Um Olsens Mundwinkel zuckte es.

»Allem Anschein nach hat es zwei Explosionen gegeben«, sagte Knecht. »Beide fanden innerhalb geschlossener Räume statt. Mein Kollege hingegen schilderte, er hätte einen blauweißen Widerschein in den Wolken gesehen. Das kann eigentlich nach Lage der Dinge nicht sein. Was meinen Sie?«

»Dafür muss ich ja wohl keine Erklärung liefern«, erwiderte Lindert frostig. »Ich bin froh, dass das Gebäude nicht den Hut abgenommen hat und dass es keine ernstlich Verletzten oder sogar Tote gab.«

»Gehen wir noch einmal das Ereignis durch«, sagte Olsen.

Lindert wandte ihm das Gesicht zu. Er wurde sofort wieder freundlich. »Wie gesagt, ich saß hinten in der Ecke, gewissermaßen als Staffage. Ich verstand kein Wort und langweilte mich wie nie zuvor in meinem Leben, denn die Konferenzsprache war Englisch. Doktor Kiefer stand hinter dem Pult, bereits seit etwa einer Stunde. Er war der letzte Redner.«

»Und dann?«

Lindert zog die Mundwinkel nach unten. »Es ging alles rasend schnell. Kiefer hielt einen schwarzen Gegenstand in der Hand, sortierte in den Notizen, die er sich im Laufe des Tages während der Besprechungen gemacht hatte, und sprach unablässig. Dann musste er auf irgendetwas aufmerksam gemacht haben, denn alle Mann drehten geschlossen die Köpfe und blickten zum Fenster. Da sie es taten, tat ich es auch. Im nächsten Moment sah ich - ja, was sah ich? Eigentlich nichts. Alles um mich herum war plötzlich in blauweißes blendendes Licht getaucht. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl es gewiss nicht länger dauerte als der Blitz eines Fotoapparates. Ich hatte das Gefühl zu schweben - und fand mich auf der Terrasse zwischen dem Gerümpel und wie Brummkreisel drehender Stühle wieder, inmitten sich in Glasscherben wälzender fluchender Gäste.«

»Vermochten Sie in der Situation zu unterscheiden, ob es sich um eine oder mehrere Explosionen handelte?«

»Ich nahm nur den Blitz wahr und einen unverschämten Knall, in den sich alle möglichen Geräusche mischten: Das Splittern von Holz, Glas... Ich bin jetzt noch halb taub.«

Olsen legte beide Hände auf das Terrassengeländer und blickte auf die See. In den anrollenden Wogen glitzerte das rötliche Sonnenlicht. Der ablandige Wind kräuselte die Oberfläche; die Pinasse am Steg schaukelte friedlich. Im Gegensatz zu sonst waren keine Möwen zu sehen. Nicht eine. Sie kreisten schrill schreiend im westlichen Teil der Bucht, wo die Hotels standen, Touristen und Urlauber den Strand bevölkerten. Die Hochsaison lief.

Er hatte von Lindert nicht mehr erfahren, als ohnehin auf den ersten Blick zu sehen war. Immerhin war das die Aussage eines Mannes, der durch nichts abgelenkt worden war und schon aus Langeweile seine Umgebung beobachtet hatte. Ohne Zweifel war im Konferenzsaal eine Bombe hochgegangen. Im Korridor, dicht vor dem Eingang, allem Anschein nach zum gleichen Zeitpunkt eine zweite. Von den Tagungsteilnehmern war sicherlich wenig zu erfahrend Bestenfalls, warum sie wie auf Kommando zum Fenster starrten. Befragen musste er sie trotzdem. Das konnte Knecht erledigen.

Sein Blick blieb auf der Pinasse haften. »Macht die Genossenschaft die Boote neuerdings bei euch fest?«

»Wir haben die Schüssel ausgeliehen. Das heißt, ich habe es - wer sonst?«

Olsen drehte den Kopf. »Wozu?«

Lindert klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Brust. »Doktor Kiefer gab mir vor ein paar Tagen den Auftrag, ein Boot zu organisieren, in dem vierzehn Mann - die zwölf Gäste, Banger und er - Platz fänden. Der Termin war kurz, doch mein Schwager ist der Vorsitzende der Genossen...«

»Wie lange ist das Boot ausgeliehen?«

»Ich habe es gestern Abend geholt, und morgen früh bringe ich’s zurück, sonst blasen mir die Fischer 'nen Marsch.«

»Demnach nur für einen Tag. Für heute.« Olsen rieb sich nachdenklich das Kinn. »Zu welchem Zweck?«

»Ich habe nicht den blässesten Dunst vom Schimmer einer Ahnung«, erwiderte Lindert. »Ich erledige meine

Aufträge - und damit basta. Vielleicht eine Abendfahrt auf der See. Ein Picknick gewiss nicht, denn gegen zwanzig Uhr war das Abschlussbankett im Restaurant Horizont vorgesehen. Die Organisation war kein Problem, denn der Boss dort ist der Bruder unseres Betriebsfürschten.«

»Wollte Kiefer die Leute eventuell zur Karnickelinsel bringen?«

»Er weihte mich nicht in seine Absichten ein. Das sagte ich schon.«

Olsen löste sich vom Geländer. Winkte Knecht. »Ich will rüber, gleich, bevor es dunkel wird.«

Lindert hob ergeben die Schultern. »Von mir aus - bitte.«

»Ich bin der Meinung, dieses Vorhaben ist überflüssig. Zwischen der Insel und der Explosion besteht kein ursächlicher Zusammenhang. Das Ereignis hat hier stattgefunden - nicht dort drüben. Letztlich haben die Gäste der Tagung Doktor Kiefers Plan, falls es einen gab, nicht durchgeführt.«

Olsen starrte ihn an. War Knecht nicht beigebracht worden, dass es Meinungen, Spekulationen oder Schlussfolgerungen grundsätzlich nicht vor den Ohren Dritter zu erörtern galt?

Aber Lindert hatte sich bereits abgewandt. Er stieg die Treppe hinunter, folgte dem mit farbigen Wegplatten ausgelegten Pfad durch die Dünen, stelzte über den steinigen Strand und betrat den Steg. Er hieß sie, in die Pinasse einzusteigen, löste die Taue und sprang hinterher. Riss geübt den Motor an. Am Heck schäumte das Wasser auf. Das Land schob sich schwankend zurück.

Nach einigen Minuten legte Lindert im Windschatten der Kanincheninsel an einem morschen Steg an, sprang hinaus und vertäute das Boot. Sie betraten die knarrenden, ausgesplitterten, vom Salzwasser zerfressenen Bohlen. Der Steg war offenbar alles, was von den früheren Bauvorhaben erhalten geblieben war. Er endete in einer Himbeerhecke. Ein Weg, der ins Innere der Insel geführt hätte, war nicht zu sehen.

»Dort vorn befindet sich eine...«, sagte Lindert, aber Olsen unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung.

Nach einem kurzen Kampf durchs dichte Unterholz, in dem ihnen Zweige ins Gesicht schlugen und die Hosen an tückischen dornigen Ranken Fäden gezogen hatten, standen sie am Rand der Lichtung in der Mitte der Insel. Sie war von geduckt liegenden Himbeer- und Brombeersträuchern überwuchert, verfilzt und undurchdringlich. Der Küstenwind rauschte in den Blättern und gedämpft konnten sie den Wellenschlag hören. Darüber hinaus herrschte Stille. Weder das Summen von Insekten noch das Zwitschern eines Vogels war zu vernehmen. Nun, zwar war es Juli, Hochsaison, aber der Frühling war in diesem Jahr spät gekommen, nach einem ungewöhnlich harten Winter. Hier im Norden kam alles später als anderswo. Nur der Herbst kam früher.

Olsen hob den Kopf. Knapp über die Baumwipfel schwebte ohne Flügelschlag schweigend eine Lachmöwe hinweg, im Flug aufmerksam den Kopf nach allen Seiten wendend.

Er hatte keine Vorstellung von dem, was er suchte. Einfach so, auf gut Glück. Vielleicht fand er eine Kleinigkeit, ein Indiz, das er erst viel später würde einordnen können. Hatte Kiefer von Lindert das Boot beschaffen lassen, um mit seinen Gästen eine Abendfahrt an der Küste entlang zu unternehmen? Wenig wahrscheinlich, denn zu dieser Zeit liefen die Kutter der Küstenfischerei ein, und die wären wenig erbaut davon gewesen, wenn vor ihnen eine Pinasse kreuzte. Obwohl, der dünkelhafte Kiefer - Olsen kannte ihn flüchtig wie die meisten Einwohner des Ortes - hätte sich vermutlich wenig um die Probleme anderer gekümmert. Außerdem war für einen längeren Ausflug die Zeit bis zum Abendbankett zu kurz. Blieb also nur die Insel. Doch was war an diesem noch nicht einmal ursprünglichen Dschungel sehenswert, dass man die Gäste herüber brachte?

Sie hätten es leichter haben können! Nach Minuten zähen Kampfes, sich von Dornranken zu befreien, trat Olsen auf eine drei Meter breite Schneise hinaus, an deren beiden Enden die rötlich glitzernden Wellen der See zu erkennen waren. Sie führte also durch die Mitte der Insel, von einem Ufer zum anderen. Frisch geschlagen, sicherlich noch keine Woche alt. Das Laub der Büsche und Bäume, die in regelmäßigen Abständen zu großen Haufen geschichtet waren, schien noch nicht vergilbt.

»Ich wollte es vorhin sagen, aber Sie haben mich ja nicht zu Worte kommen...«

»Wann wurde die Schneise angelegt - und zu welchem Zweck?«

Lindert zog sich einen Dorn aus dem Handrücken. »Letztes Wochenende. Ich musste ein paar Mitarbeiter des Betriebes mit Überstunden plus Erfolgsprämie ködern... Doktor Kiefer hat mich dazu beauftragt. Mehr weiß ich nicht.«

Olsen blieb vor einem mannshohen Fliedergebüsch stehen. Am Boden darunter befand sich eine flache trichterförmige Mulde. Einige Schritte weiter sah er die Öffnung einer Kaninchenhöhle. An den ineinander verstrickten Zweigen des Busches über der Mulde hing nicht ein einziges Blatt.

Er knickte einen Zweig. Weißliches gelbes Holz, unter der glitschigen Rinde grüner Bast. Der Busch lebte. Vielleicht Insektenfraß. Obwohl es angeblich auf der Insel vor Kaninchen wimmelte, war nirgendwo ein Huschen oder ein Geräusch im Blätterwerk zu bemerken. Freilich nicht verwunderlich, da sie wie Elefanten in der Gegend herumstampften.

Die Insel. Das Boot. Die Schneise. Bestand da ein Zusammenhang? Alles deutete darauf hin, dass Kiefer die Gäste der Tagung hatte hierher bringen wollen. Doch was schien an diesem ungepflegten, verwahrlosten Eiland so interessant, dass man zwölf Leute zur Besichtigung einlud, von denen einige mit Sicherheit weitaus attraktivere Inseln gesehen hatten?

Sollte ihnen etwas vorgeführt werden?

Olsen verwarf den Gedanken. Für eine Vorführung hätte es gewiss nicht der kleinen Insel bedurft. Zu großer Aufwand, zu geringer Nutzen! Nun, die Fragen würden beantwortet, sobald er mit Kiefer und Banger gesprochen hatte.

Er drehte sich um. »Wir fahren zurück.«

Auf der Bank des gemütlich in der Dünung schwingenden Bootes sitzend, kratzte er sich nachdenklich das Kinn. »Mit der Insel stimmt etwas nicht, verdammt noch mal, und ich kann nicht sagen, was es ist. Etwas fehlt. Aber was? Ich muss etwas übersehen haben.«

»Und was könnte das gewesen sein?«, forschte Knecht.

»Wenn ich das wüsste, hätte ich es nicht übersehen«, entgegnete Olsen schroff.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Der Pförtner schob das Fenster zurück, als er ihn aus dem Wagen steigen und auf sich zukommen sah.

Olsen hielt respektvollen Abstand. »Tag, Bertold!«

»Ah - der Herr Polizeioberchef!« Der Mann warf einen prüfenden Blick zum Wagen. »Wo issen Ihr Gehilfe?«

»Der ist unterwegs.«

»Ohne Auto? Der Fußmarsch soll seine Glieder stärken, hä?« Bertold lächelte. »Wir haben alle klein angefangen.«

Olsen hatte Knecht eine halbe Stunde zuvor losgeschickt, die Teilnehmer der Tagung zu vernehmen. Routinearbeit. Bis auf weiteres kam es Knecht zu, solche Arbeiten zu übernehmen. Oder hatte der vielleicht geglaubt, die Alteingesessenen würden ihn bevorzugen, nur weil er aus der Hauptstadt kam? Mag sein, dass Knecht Verdienste hatte, aber hier musste er wieder bei Null anfangen. Selbstverständlich zu Fuß.

Teufel auch! Einige der Gäste sprachen ja nur Englisch! Er hatte völlig vergessen, Knecht die Hilfe der Apothekerin zu empfehlen, die sich als Sprachkundige in solchen Fällen zur Verfügung stellte. Nun gut, interessant zu erfahren, wie Knecht dieses Problem meistern wird.

Es nieselte. Der Himmel war bleigrau und verhangen. Über die See fegten kurze heftige Böen. Weder am Strand noch in den Straßen ließen sich Touristen blicken. Falls sie zu dieser Stunde bereits aufgestanden waren, hatten sie sich vermutlich nach einem ärgerlichen Blick in die Wolken wieder ins warme Bett begeben oder zum Frühstück in die nasskalten Hotelrestaurants. Dieses Wetter hätten sie auch zu Hause haben können.

Die Ostsee war nun einmal nicht die Adria.

»Ich höre, Chef!«

»Hatten Sie gestern nicht Tagesdienst? Was treiben Sie zu so früher Stunde in Ihrer Loge?«

»Vertrete Emil, Chef. Sein lütten Schieter hat heute Geburtstag. Ist mir doch wurscht, wann und wieviel ich Dienst habe. Sie wissen ja, ich bin Junggeselle.«

Olsen nickte grimmig. »Das wundert mich nicht. - Haben Sie Kiefer oder Banger gesehen?«

»Nö. Der Direktor hat um sieben alle Abteilungsleiter zu sich bestellt, obwohl es Sonnabend ist. Kiefer und Banger gehören nicht dazu, also werden sie zu Hause sein.«

Olsen lehnte sich an die Pförtnerloge. Gegen die Windrichtung. »Ich wollte gestern wegen des Durcheinanders keine Fragen stellen. Wann hat die Veranstaltung begonnen?«,

»Sie fing am Mittwoch um zehn an. Auf die Minute pünktlich.«

»Sind in den drei Tagen unangemeldete Besucher gekommen?«

»Nö.«

»Sind Sie sicher, Bertold?«

Der Pförtner kramte unter dem Tisch, zog einen Bogen Papier hervor und wedelte demonstrativ. Ein Schwall Zwiebelduft mit einer scharfen Knoblauchkomponente wehte aus der Logenöffnung. »Hier ist die Liste der Tagungsteilnehmer. Ich ließ mir von jedem den Pass oder den Ausweis zeigen und hakte seinen Namen ab. Das habe ich auch gemacht, wenn sie nachmittags wieder vom Hof gingen. Hier kommt keiner durch, ohne dass ich ihn sehe. Normale Besucher kriegen von mir einen Passierschein, ich rufe in der entsprechenden Abteilung an. Dann kommt einer und holt ihn ab. Hinterher bringt man ihn und den vom Abteilungsleiter unterschriebenen Wisch, und ich hefte ihn ab. Aber in den letzten Tagen kam keiner.«

»Angenommen, vor drei oder vier Tagen betrat jemand das Gelände und hat es bis heute nicht verlassen.«

»Fällt auf. Passierscheine sind nummeriert, werden mit Durchschlag abgeheftet. Is'n Ding der Unmöglichkeit.«

»Sie haben noch zwei Kollegen, die...«

»Bei uns geht's rund um die Uhr. Emil und Jan müssen's genauso machen wie ich. Und jemanden ohne Schein auf's Gehöft zu lassen... Wenn Sie nicht wissen, wie wichtig mein Posten ist - ich weiß es!«

»Nun gab es gestern nach der Explosion ein ziemliches Durcheinander...«

Bertolds Gesicht leuchtete auf. Er reckte das Kinn vor. »Jetzt weiß ich, was Sie meinen, Chef. Ich habe nur den Löschzug der Feuerwehr und den Krankenwagen ohne Kontrolle durchgelassen. Ansonsten kam keiner ohne Schein oder Betriebsausweis vom Hof.«

»Haben Sie die Fahrer der Wagen erkannt?«

»Klar«, erwiderte der Pförtner gedehnt und nicht ohne Stolz, »ich kenne jeden in unserem Kaff. Fünf Figuren haben 'se ins Krankenhaus gebracht, sieben gingen auf eigenen Beinen hinaus. Die habe ich abgehakt. Kann also genau sagen, wer die fünf waren.«

»Donnerwetter, Sie haben den Daumen drauf!«

Bertold kniff verschwörerisch ein Auge zusammen.