PLANET DER SIRENEN - Rainer Fuhrmann - E-Book

PLANET DER SIRENEN E-Book

Rainer Fuhrmann

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Beschreibung

Man könnte diesen Roman, ohne fehlzugehen, als eine Weltraum-Odyssee bezeichnen und würde ihm damit doch nicht gerecht werden: Denn er enthält mehr, als die oft benutzte Klassifikation vermuten lässt. Drei am Ende ihres Lebens auf einem fremden und für sie lebensfeindlichen Planeten gestrandete Männer können nicht anders, als den Kampf gegen die manchmal übermächtigen Gegner aufzunehmen: gegen die unbekannten Gefahren ihrer Zwangsheimat, gegen die durch Temperament und Charakter bedingte gegenseitige Unverträglichkeit und gegen die eigene Verzagtheit. Sie entschließen sich, die ihnen verbleibende Zeit zur Erkundung ihrer Umgebung zu nutzen, aber immer wieder bedrängt sie die Frage, ob das, was sie tun, überhaupt einen Sinn hat... Mit den Mitteln der utopischen Verfremdung antwortet der Verfasser auf Fragen nach dem Wert des Lebens und des menschlichen Umgangs miteinander in dramatischen Situationen. Rainer Fuhrmanns Roman PLANET DER SIRENEN (erstmals im Jahr 1981 veröffentlicht) erscheint im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR.

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RAINER FUHRMANN

 

 

Planet der Sirenen

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 6

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

PLANET DER SIRENEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Man könnte diesen Roman, ohne fehlzugehen, als eine Weltraum-Odyssee bezeichnen und würde ihm damit doch nicht gerecht werden: Denn er enthält mehr, als die oft benutzte Klassifikation vermuten lässt.

Drei am Ende ihres Lebens auf einem fremden und für sie lebensfeindlichen Planeten gestrandete Männer können nicht anders, als den Kampf gegen die manchmal übermächtigen Gegner aufzunehmen: gegen die unbekannten Gefahren ihrer Zwangsheimat, gegen die durch Temperament und Charakter bedingte gegenseitige Unverträglichkeit und gegen die eigene Verzagtheit. Sie entschließen sich, die ihnen verbleibende Zeit zur Erkundung ihrer Umgebung zu nutzen, aber immer wieder bedrängt sie die Frage, ob das, was sie tun, überhaupt einen Sinn hat...

 

Mit den Mitteln der utopischen Verfremdung antwortet der Verfasser auf Fragen nach dem Wert des Lebens und des menschlichen Umgangs miteinander in dramatischen Situationen.

 

Rainer Fuhrmanns Roman Planet der Sirenen (erstmals im Jahr 1981 veröffentlicht) erscheint im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR.

 

Der Autor

 

Rainer Fuhrmann,  (* 11. September 1940; † 3. November 1990).

Rainer Fuhrmann war ein deutscher Science-Fiction-Schriftsteller.

Fuhrmann erlernte den Beruf des Drehers, arbeitete als Mechaniker, erwarb den Meisterbrief als Mechaniker-Meister, brach ein Studium der Maschinenbautechnologie ab, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, und arbeitete als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter und Konstrukteur, bevor er 1980 freischaffender Schriftsteller wurde. Viele Jahre seines Berufslebens war er in der Orthopädietechnik tätig, und seine dabei gewonnenen Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen sind in einigen seiner Werke spürbar.

Rainer Fuhrmann galt als einer der herausragenden Autoren der Science Fiction in der DDR. Er thematisierte 1977 unter anderem Gen-Manipulation am Menschen in dem Roman Homo Sapiens 10-2, in welchem das Experiment eines skrupellosen Wissenschaftlers dazu führt, dass eine Gruppe von Menschen miniaturisiert wird, bis sie an die Grenzen der Physik stoßen.

Zu Fuhrmanns bekanntesten Werken zählen die SF-Romane Homo Sapiens 10-2 (1977), Das Raumschiff aus der Steinzeit (1978), Planet der Sirenen (1981), Medusa (1985) sowie Kairos (1996), der erst nach dem Tod des Autors erschien und welcher gemeinhin als Fuhrmanns Abrechnung mit der DDR gilt.

Darüber hinaus schrieb er – neben zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen – die utopischen Kriminalromane Per Kippschalter (1981), Herzstillstand (1981),  Zweimal vierundzwanzig Stunden (1982) und Kantharidin (1985), die allesamt in der legendären Reihe Blaulicht erschienen.

 

Der Apex-Verlag widmet Rainer Fuhrmann eine umfangreiche Werkausgabe.

  PLANET DER SIRENEN

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Raumschiff Argo, 30. Dezember 2103 

»Kommandant Ulixes Merser an Bordbuch:

Heute Morgen, neun Uhr, verstarb Christian Jason, bisher Leiter der Raumfahrtexpedition Argo, im Alter von sechsundachtzig Jahren. Möglicherweise allgemeine physische Schwäche. Genaueres kann nicht gesagt werden, da wir seit fünfzehn Monaten über keine medizinische Kader mehr verfügen. 

In Anbetracht meiner beruflichen Erfahrung und Qualifikation wurde mir von meinen Mitarbeitern zusätzlich zur Aufgabe des ersten Navigators die Leitung der Expedition übertragen. Damit wurde meine Funktion der letzten sieben Jahre offiziell bestätigt.

Meine Annahme, dass wir uns auf einer linearen Bahn dem Sonnensystem Xerxes A mit einem, relativen Tangentialabstand von siebzehn AE nähern, erweist sich nach den neuesten Messungen als nicht haltbar. Ich schlussfolgere, dass meine früheren Angaben durch Überlagerungen interstellarer Magnetfelder und daher verfälschter Messwertergebnisse zustande kamen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine bessere Abschirmung der Instrumente für die Zukunft wünschenswert.

Wir nähern uns auf leicht gekrümmter Bahn einem Stern der Spektralklasse M fünf V, dessen Gravitation bereits vor zwei Monaten zu einer geringfügigen Abweichung unserer Flugrichtung führte. Der Stern hat eine erheblich geringere Eigenrotation, als er gemäß Energiezustand, Masse und Volumen haben dürfte. Ich nehme an, dass er seinen Drehimpuls an einen Planetengürtel abgegeben hat. Wir haben in der Tat bisher sechs dunkle Begleiter feststellen können. Einer von ihnen dürfte annähernd eine jupiterähnliche Masse besitzen. Bis auf den äußeren Planeten, dessen Bahn wir vor zehn Minuten überschnitten, befinden sich alle Begleiter in einer Rotationsebene.

Meine ursprüngliche Vermutung, dass es sich um das System des Barnard'schen Pfeilsterns handelt, hat sich nach den letzten Erkenntnissen als richtig erwiesen. - Ende.«

 

Das Mikrofon des Bordbuchs glitt in die Halterung zurück. Merser blickte auf und musterte sein Spiegelbild in einem der erloschenen Bildschirme. Die Notbeleuchtung ließ sein Gesicht geisterhaft erscheinen, hohläugig, mit dunklen Ringen unter den Augen. Seine Wangen waren eingefallen, und die Haut war von ungesunder Blässe. Arm- und Beinmuskulatur hatten sich wegen des mangelnden körperlichen Trainings zurückgebildet. Wozu noch sich sportlich betätigen, wo doch alles keinen Zweck mehr hatte? Die Ärmel der Kombination schlotterten bei jeder Bewegung wie die Segel eines Bootes bei Windstille.

Traurig siehst du aus, sagte er sich, du könntest etwas Höhensonne vertragen. Aber die Energiesituation des Raumschiffs hatte ein bedrohliches Stadium erreicht. Sechsunddreißig Jahre waren seit dem Tag der Katastrophe vergangen. Sechsunddreißig Jahre Odyssee ohne Hoffnung auf eine Rückkehr zur Erde. Und nun war die Energieerzeugung des Schiffs am Ende. Jedes Anschalten nicht unbedingt notwendiger Geräte - auch der Beleuchtung - bedeutete Energieentzug und verkürzte Lebenserwartung. Das Schiff lag bis auf wenige Räume in völliger Dunkelheit.

Merser klopfte mit den Knöcheln gegen die Scheibe des Messinstruments für den Energievorrat. Die Nadel stand unbeweglich einige Grade über der Null. Beim jetzigen Verbrauch waren sie noch für einige Zeit in der Lage, gefahrlos zu leben.

Merser lachte auf. Die beiden Gefährten fuhren herum und sahen ihn fragend an.

Gefahrlos leben! Seitdem er das Sparprogramm angeordnet hatte, war in den Vorstellungen seiner Mitarbeiter eine Ahnung aufgetaucht, was sie erwartete. Ende der Energieversorgung! Nach einer Überschlagsrechnung konnte er abschätzen, dass das Lebenserhaltungssystem in achtzehn Monaten seine Funktion einstellen würde. In achtzehn Monaten, keinen Tag später, eher früher. Die Temperaturen werden zunächst bis auf den Gefrierpunkt absinken, dann ihn unterschreiten. Als letztes stellen die Algenkammern die Atemluftregeneration ein. Erfrieren oder ersticken - so sah ihre Perspektive aus.

Seine Gefährten wirkten äußerlich nicht viel anders als er, nur war keiner von ihnen so stark ergraut. Aber dafür war er mit einundsechzig Jahren der Älteste von ihnen.

Keine Prahlerei, bitte. Gay Anderson, der Biologe, war nur ein knappes Jahr jünger, und Ingomar Lindner, der Ernährungswissenschaftler, gerade zwei. Richtig, der hatte übermorgen Geburtstag. Grund zum Feiern. Feiern, ha!

Als sie vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten die Erde verließen, gehörten sie zu den verzärtelten Nesthäkchen der Expedition, den ganz jungen, die sich erst die Hörner abstoßen mussten, Erfahrungen sammeln auf einem Flug im jupiternahen Raum. Drei Jahre sollte es dauern, sechsunddreißig waren es geworden.

Nun hatten sie alle anderen überlebt. Als letzten den Kommandanten Christian Jason. Sechsundachtzig Jahre. Erstaunlich, wie lange sich das Leben in diesem schwächlichen, ausgemergelten Körper halten konnte, unvorstellbar, kaum glaubhaft, dass nach jeder Nachtruhe von neuem seine brüchige Stimme aus dem Dunkel der Kabine ertönte.

Seit heute Morgen nicht mehr.

Ein leises Geräusch störte ihn. Lindner hatte sich an den Computer gesetzt und beobachtete ausdruckslos den Bildschirm. An dessen leuchtendem Mittelpunkt führte eine dünne Linie vorbei, kaum sichtbar gekrümmt.

Auf dem ersten Blick sah Merser, dass Lindner die Flugbahn des Raumschiffs berechnet hatte und eine Modellfunktion auf den Bildschirm zeichnete.

Das hätte Ingomar sich sparen können. Er wusste es längst. Man konnte es sich an den Fingern abzählen. Das

Raumschiff würde in verhängnisvolle Nähe der heißen Sonne geraten. Die Gravitation des Pfeilsterns würde das Schiff zwar nicht in die glühende Hülle hineinziehen, aber bei dem geringen Abstand von nur fünf Radien musste es verbrennen.

Erfrieren, ersticken, verbrennen - groß war die Auswahl wirklich nicht. Nur das Ende war sicher, nach sechsunddreißig Jahren Hoffnung. Der Teufel mochte wissen, woher man sie die ganze Zeit genommen hatte.

»Die Sonne ist trotz ihrer Größe nicht in der Lage, uns einzufangen. Wir werden durch das ganze Planetensystem im Winkel von zwölf Grad über der Rotationsebene buchstäblich hindurchgeschossen«, sagte Lindner müde. Er rieb sich die Augen und blinzelte in die Notbeleuchtung.

»Und ich dachte immer«, ließ sich Andersons knarrende Stimme vernehmen, »wir würden eines Tages gleich dem Fliegenden Holländer von einer bedingungslos liebenden Seele erlöst.« Er lachte freudlos.

»Du hast dich nicht geirrt?«, fragte Merser.

»Ich habe den Rechenvorgang dreimal wiederholt.«

Merser versuchte die Stimmung aufzulockern. »Und wie lauten die drei Ergebnisse?« Es klang arrogant.

»Das Energieaufkommen garantiert uns bestenfalls noch siebzehn Monate«, fuhr Lindner nach längerer Pause fort, »danach werden sich alle Systeme des Raumschiffs lautlos verabschieden. Zu dieser Zeit ist die Sonne nur noch ein helles Fünkchen im Gewirr der Sterne hinter uns. In genau vierundfünfzig Stunden haben wir das Gravitationszentrum, den Pfeilstern, mit der relativ größten Nähe von eins-Komma-eins Astronomischen Einheiten erreicht. Rund siebzig Stunden später verlassen wir das Planetensystem. Die Wärmestrahlung ist kein Problem. Dafür sind wir viel zu schnell aus der Gefahrenzone heraus. Wir werden spurlos zwischen den Welten verschwinden.«

»Du dürftest dich verrechnet haben«, sagte Merser. Er war bei seinen letzten Messungen zu anderen Ergebnissen gelangt. Lindner war Ernährungs-Wissenschaftler - nicht Navigator. Woher sollte er das wissen. Überhaupt: »Wissenschaftler...«

»Ich hatte sechsunddreißig Jahre Gelegenheit, alle Fähigkeiten zu erlernen, die ein Mensch in meiner Situation benötigt«, gab Lindner mit leichter Schärfe zurück.

Anderson kicherte.

Merser spürte einen brennenden Druck in den Augäpfeln. Es konnte und durfte nicht ein so unrühmliches Ende nehmen, nicht nach so vielen Jahren. Er hatte das undeutliche Gefühl, dass eine Chance auf sie zukam, die man um nichts in der Welt verpassen durfte. Aber wie in den meisten Fällen musste man erst erkennen, worin sie bestand.

Wer mochte nur auf den Gedanken gekommen sein, die Notbeleuchtung blau zu färben? Weil die Kardin-Leuchtstäbe kaum messbare Leistungsaufnahme hatten, klar. Aber warum ausgerechnet blau?

Müßige Gedanken!

Wie hoch waren die Treibstoffreserven?

0,05? Ein einziger Tank der Starttriebwerke war noch intakt. Der letzte.

Für eine größere Operation zu wenig, aber vielleicht ausreichend, um eine Bahnkorrektur vorzunehmen. Man könnte möglicherweise die vom Pfeilstern verfälschte Flugbahn in eine annähernd kreisförmige umwandeln. Das Raumschiff könnte dann als Satellit des Sterns seinen Energiebedarf aus Solarzellen decken. Könnte, könnte...

Merser beugte sich vor und tippte die Frage in den Computer ein. Den Bruchteil einer Sekunde später bestätigte dieser auf dem Datensichtgerät die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Unternehmens.

Lindner betrachtete ihn gelassen. Anderson hatte sich abgewandt. Zusammengekrümmt starrte er vor sich hin. Er litt unter Magenbeschwerden, wie so häufig.

»Grundsätzlich ist eine Kreisbahn möglich«, begann Merser. »Die Treibstoffreserven sind ausreichend. Der Computer sichert zu, dass wir in der Lage wären, im Lebenskreis dieser Sonne eine Satellitenbahn anzunehmen und sogar zu stabilisieren. Die Operation würde acht Monate dauern. Eine echte Chance.«

»Ein Silberstreif am Horizont, was?«, höhnte Lindner.

Merser nickte unsicher, da ihn Lindner überlegen anlächelte.

»Ein helles Köpfchen, unser Computer. Fünfmal repariert - und gibt noch immer dumme Antworten. Hat er dir auch gesagt, dass das Schiff wegen seiner katastrophalen Energiesituation nicht einmal in der Lage ist, die Triebwerke zu zünden? Selbst wenn es möglich wäre, käme ein ungesteuerter Verbrennungsprozess zustande. Innerhalb von vier Sekunden hinge uns das flüssige Metall am Hintern. Hat er das auch gesagt?«

»Das weiß ich selbst!«, fuhr Merser auf. »Ich habe lediglich eine Möglichkeit erwogen, als Diskussionsbasis. Keine Rede davon, dass wir meinen Vorschlag bis ins Detail realisieren können.« Er verstummte ärgerlich. Freilich, das hatte er nicht bedacht. Der Computer konnte nur auf der Grundlage ihm zugeführter Informationen entscheiden.

Die beiden Landefähren!

Es müsste doch machbar sein, deren unverbrauchte Energievorräte anzuzapfen. Die Dinger waren unbenutzt, die Kernsätze der Reaktoren noch nicht in die Brennkammern geschraubt. Auf diese Weise wären wir wenigstens für dreißig Jahre bevorratet. Wenn man die Stäbe in die Brennkammersätze des Schiffs brächte oder eine Kabelübertragung installierte?

»Die Energievorräte der Landefähren...«, begann er. Sein hageres Gesicht leuchtete auf.

Lindner fiel ihm barsch in die Rede. »Das haben wir in den letzten Jahren wenigstens tausendmal diskutiert. Die Fähren arbeiten mit Niederspannung. Ein Auswechseln der Kernsätze bringt wegen der Verschiedenartigkeit einen so starken Leistungsabfall mit sich, dass wir den bisherigen Zustand auch beibehalten können.«

In dieser Sekunde hatte Merser den rettenden Einfall. »Ich verbitte mir, den Sinn meiner Ausführung im Voraus umzudrehen«, rief er scharf. »Die Energievorräte der Fähren zusammen sind auf sechzig Jahre bemessen. Wir werden bei Annäherung an die Sonne in die Fähren umsteigen und uns von der Argo abtrennen. Eine Satellitenbahn anzunehmen wird uns immer gelingen.«

»Theoretisch wäre das drin«, erwiderte Lindner nachdenklich. Er betrachtete das bleiche Gesicht seines Gefährten, dessen scharfe, energische Züge, das eisgraue Haar. Mersers Meinungsäußerungen erinnerten häufig fatal an Rechthaberei, aber seine Ideen hatten überwiegend Hand und Fuß. Und als einziger noch lebender Techniker verfügte er über eine dreidimensionale Phantasie. Eine Fähigkeit, die Anderson und ihm abging.

Er erhob sich, reckte die Arme, dass es in den Gelenken knackte, und verließ wortlos die Zentrale.

Merser drehte kaum den Kopf. Er fühlte sich verantwortlich für die Expedition, obwohl es tatsächlich keine mehr war. Ein kümmerlicher Rest. Überlebende auf einer einsamen Insel. Und schlimmer, denn solche Menschen hatten immer noch eine Chance, ein Schiff am Horizont zu sichten, sich bemerkbar zu machen. Aber sie nicht. Zwischen der heimischen Erde und ihnen lag die ungeheure Entfernung von sechs Lichtjahren. Für die technischen Mittel dieser Zeit unüberbrückbar. Vielleicht in ein- oder zweihundert Jahren zu bewältigen, aber nicht heute.

Andersons Magenkrämpfe schienen nachzulassen. Er richtete sich aus seiner verkrümmten Haltung auf, warf ihm einen vorsichtigen, fast verschämten Blick zu. Von Gestalt ein Hüne, dachte Merser, geistig aber ein Schwächling, der fehlende Argumente durch mehr oder weniger eingebildete Krankheitsbilder zu ersetzen, Kritik durch Leiden zu entschärfen suchte. Jeder Fehler, den man ihm nachwies, löste Anfälle dieser Art aus. Kein schlechter Kerl, es ließ sich mit ihm leben, aber die Verzagtheit und übersteigerte Sensibilität seines Charakters konnte einen zur Verzweiflung treiben. Ein Mensch von nervtötender Gutmütigkeit, aber ein Simulant und hochgradiger Hypochonder.

Merser nickte ihm zu. »Geht’s wieder?«

»Es hat nachgelassen.«

Auf dem Steuerpult leuchtete eine Signallampe auf. Der ungewohnte gelbliche Schein blendete sie. Dann knarrte die Sprechanlage. Lindner forderte sie auf, in die astronomische Station zu kommen.

»Idiot«, fauchte Merser, »dieser Spaß kostet uns wenigstens eine Stunde Leben.«

Sie verließen die Steuerzentrale, traten in den Gang und kletterten an einer Leiter den Schacht zur Station empor. Der Lift war seit Monaten abgeschaltet.

Die kreisrunde Tür stand offen. Dahinter erblickten sie Lindner. Mit geübtem Griff verband er das Lichtleitkabel des Projektors mit dem Teleskop, warf einen prüfenden Blick auf die Nachführautomatik und tippte auf die Auslösertaste des Projektors.

Auf der Projektionsfläche neben der Tür erschien das Abbild eines kosmischen Körpers, so hell, dass sie die Augen schließen mussten.

»Sei vernünftig. Das kostet Energie...«, fuhr Anderson auf, aber Merser brachte ihn mit einem Rippenstoß zum Schweigen.

»Anstatt in der Steuerzentrale die Beine auszustrecken und die verschiedenen Spielarten unseres Endes durchzukauen, habe ich mich mit den dunklen Begleitern des Pfeilsterns beschäftigt. Wir haben schon alles ausdiskutiert, jede Möglichkeit einer Rettung ins Auge gefasst. Seit Jahren jonglieren wir mit den unmöglichsten Vorschlägen und Ideen, bisher haben wir kaum etwas ausgelassen, nichts ist wirklich neu. Nicht einmal das Projekt, bei Annäherung an einen Stern mit den Fähren auf einen geeigneten Planeten zu landen. Aber wie sehen nun diese Objekte aus?

Der Aufbau des Planetensystems ist dem unseren ähnlich. Auch hier befinden sich fast alle Kreisbahnen in einer Rotationsebene. Zwei Satelliten bewegen sich rückläufig, einer hat jupiterähnliche Zustandsform und Masse. Sie scheiden aus. Hier nun der innere und sonnennächste Planet.«

»Nimm wenigstens die Helligkeit zurück«, mahnte Anderson.

»Würdest du einem, der aus dem vierzigsten Stockwerk fällt, zurufen, er solle den obersten Kragenknopf schließen, damit er sich bei der Zugluft nicht erkälte?«

Anderson hob gekränkt die Augenbrauen. Merser lächelte amüsiert.

»Der innere Planet - übrigens habe ich bisher zwölf entdecken können. Merkur-ähnlich, nur etwas größer. Eine glühende Kraterwüste. Keine Atmosphäre. Toter geht’s nicht.« Er drückte auf den Auslöser, und auf der Projektionsfläche erschien eine zweite Kugel von gelblicher Farbe mit scharfen Rändern. »Nummer zwei. Durchmesser etwa siebzehntausend Kilometer. Oberflächentemperatur global um dreihundert Grad Celsius. Ich halte mich nicht weiter auf. Wir wollen uns ja nicht grillen. Interessant wird es erst jetzt. Nummer drei.«

Es erschien eine rötliche, diffuse Abbildung, eigentlich mehr ein unscharfer Fleck.

»Atmosphäre mit bloßem Auge erkennbar. Dieser Planet besitzt Venusgröße und befindet sich an der inneren Peripherie des sogenannten Lebenskreises der Sonne, der Ökosphäre«, er lächelte flüchtig, was Merser schon seit Jahren nicht mehr bei ihm gesehen hatte, »nämlich dem Bereich mit einem Temperaturgefälle zwischen plus hundert und null Grad Celsius. Befindet sich in dieser Zone ein Planet, so ist grundsätzlich eine Voraussetzung für die Entwicklung von Leben in unserem Sinne gegeben. In besagtem Lebenskreis befinden sich nun drei Planeten. Das hier ist der innere. Atmosphäre vornehmlich Kohlendioxyd. Temperaturen um hundertzwanzig Grad. Wahrscheinlich Sandwüsten, starke Gebirgsbildung, Vulkanismus und so weiter. Hier der äußere.«

Der Farbwechsel war überraschend. Beide Hälften des Planeten schimmerten weiß, nur die Äquatorlinie bildete einen schmalen, dunklen Gürtel. Die Konturen waren ebenfalls verwaschen, Wolkenbildungen wegen der Helligkeit der Polkappen nicht zu erkennen.

»Machen wir uns nichts vor«, erklärte Lindner, der die Daten auf dem Bildschirm des Sichtgeräts im Auge hatte, »dieser Planet ist ein Eisstall. In Äquatornähe Temperaturen um acht Grad Celsius, und das auf kaum mehr als tausend Kilometer Breite. Dazwischen noch ausgedehnte weiße Flächen. Anscheinend Gebirgsketten mit starker Vergletscherung. Es gibt Anzeichen für biologische Aktivitäten.«

Er legte eine Kunstpause ein und schaltete auf das nächste Bild. Räusperte sich.

Die Farbe war grünlich, eine helle, streifenförmige Struktur, die stellenweise Flächencharakter angenommen hatte. Die Umrisse des Planeten erschienen unscharf und dunstig. Am Rande der Nachtgrenze glitzerten Reflexe. An den Polen saßen winzige weiße Kappen von unterschiedlicher Größe.

»Atmosphäre eindeutig vorhanden. Stickstoff und Kohlendioxyd herrschen vor, freier Sauerstoff um zehn Prozent, eventuell ein wenig mehr. Wolkenformationen erheblich. Temperaturen in Äquatornähe zwischen fünfzig und siebzig Grad Celsius. Die hellen Flecken an der Nachtgrenze sind Sonnenreflexe auf - offenen Wasserflächen. Nun?«

Er schaltete den Projektor ab. Das Bild erlosch, und die astronomische Station fiel in die blaue Dunkelheit der Notbeleuchtung zurück. Es dauerte lange, bis sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten.

»Die Fähren sind nur für Landungsoperationen geeignet und im freien Raum schwer lenkbar.« Merser kratzte sich die Wange. »Ein waghalsiger Versuch, ist dir das klar? Bisher hat es noch niemand versucht.«

»Dann wird es Zeit, dass jemand den Anfang macht. Ein Risiko, ich weiß, aber wenigstens mit dem Schimmer einer Chance.«

Merser schwieg. Im Grunde stand sein Entschluss bereits fest, doch er meldete Zweifel an, um Lindner das Gefühl zu geben, ihn überzeugt zu haben. »Die beiden Landefähren in eine Umlaufbahn um den Pfeilstern zu katapultieren dürfte nicht ganz einfach sein. Und das ist bei weitem nicht alles. Wir müssen unsere Rotation und unseren Bahnverlauf mit dem Planeten synchronisieren. Dazu das Einschwenken in die Parkbahn. Von der Landung will ich gar nicht erst reden.«

»Der Computer wird das Steuerprogramm errechnen. Kein Problem.« Lindners Stimme klang triumphierend.

»Können wir bei unserem Energiemangel noch dem Computer vertrauen? Ein Rechenfehler genügt.«

»Wenn wir uns mit den Landefähren absetzen wollen - und das müsste in den nächsten Stunden geschehen gibt es auch keine Notwendigkeit mehr, mit Energie zu sparen. Der Computer kann so viel Leistung aufnehmen, wie er will.«

Mersers Antwort bestand in einem breiten Lächeln.

Anderson nagte an der Unterlippe. Die beiden Gefährten diskutierten doch über eine bereits beschlossene Sache. Ein Spiel von Rede und Gegenrede, um ihn zu überzeugen, nein, zu überfahren. Spiegelfechterei, nichts weiter. »Und wenn es uns nicht gelingt?«

Merser drehte steif den Kopf und musterte ihn, als bemerke er seine Anwesenheit erst jetzt. Seine Augen wirkten gläsern. »Was, bitte?«

»Wenn uns keine der Operationen gelingt, wir ewig in einer Umlaufbahn um die Sonne kreisen oder zum Satelliten des Planeten werden, zu keiner Landung imstande, da unser Treibstoff verbraucht ist? Oder schlimmer noch, wenn unsere Bremsschübe nicht ausreichen und wir gleich dem Raumschiff das Sonnensystem verlassen werden?«

»Ich vertraue unserer Technik wie mir selbst.«

»Es könnte doch aber...«

»Könnte, wenn, aber«, zählte Merser unwillig auf, »damit nenne ich die häufigsten Vokabeln, mit denen du deine permanenten Ängste und Bedenken, ja deine gesamte Art zu argumentieren würzt. Zu mehr bist du offenbar nicht imstande. Ich denke nicht daran, deiner hasenfüßigen Zweifel wegen die mir vielleicht noch verbleibenden zwanzig Lebensjahre in völliger Sinn- und Tatenlosigkeit zu verbringen. In die Fähren müssen wir so und so. Aber ich will wenigstens einen Versuch unternehmen, unsere Lage zu verändern. Ohne Risiko keine Veränderung. Lethargie bringt uns nicht weiter, sondern um. Ich denke, Ingomar teilt meine Ansicht.«

Lindner nickte, und Anderson verstummte.

»Noch etwas«, meldete sich Lindner nach einer längeren Pause wieder. »Dieser Planet ist größer als die Erde. Folglich werden wir einige Kilo mehr auf die Waage bringen. Und um das Bild abzurunden, habe ich noch die erforderliche Entweichgeschwindigkeit errechnet: sechzehn Kommadrei Kilometer pro Sekunde. Wenn wir landen, und das wird nicht ohne einen harten Stoß abgehen, haften die Fähren auf dem Boden, als wären sie angeschweißt. Nach meiner Überschlagsrechnung kostet uns die Operation derart viel Treibstoff, dass wir nie wieder nach oben kommen. Nie wieder!«

Merser winkte ab, fast verächtlich. »Sei’s drum.«

Seit dreieinhalb Jahrzehnten die erste Möglichkeit, aktiv etwas an ihrem vorausschaubaren, unbeirrbar ablaufenden Schicksal zu verändern. Die erste und sicherlich die letzte Chance. Sollten sie diese Gelegenheit wahrnehmen oder wegen Andersons lächerlicher Komplexe verstreichen lassen?

Nie! Egal, wie es ausgehen sollte. Wennschon ein Ende, dann wenigstens mit festem Boden unter den Füßen.

Übermorgen würde Ingomar Lindner seinen neunundfünfzigsten Geburtstag haben. Haben, nicht feiern. Nach sechsunddreißig verlorenen Jahren vielleicht ein neuer Anfang, ein neuer Start - möglicherweise auch das Ende. Beides ist wahrscheinlich, aber zugleich brachte auch beides Veränderung, einen Ausweg, der sie zwangsweise aus ihrer Apathie herausriss, eine neue Perspektive in Aussicht stellte. Lindner würde zugleich mit seinem Geburtstag ein neues Leben beginnen, noch einmal jung werden, von vorn beginnen. Ein anderer Planet, eine fremde Umwelt - viele Menschen würden für solch eine Chance zwanzig Jahre ihres Lebens geben.

Merser räusperte sich, plötzlich seltsam berührt. Ein neuer Anfang nach .sechsunddreißig Jahren Trostlosigkeit und langsamen Absterbens, nicht nur ein Geburtstagsgeschenk für Lindner, nein, für sie alle.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Hinter ihm verklang das metallische Geklapper der Schritte, die Rufe seiner Gefährten. Dunkelheit umgab ihn. Aber keine Dunkelheit, die das Gefühl von Ruhe und Sicherheit verlieh. Gay Anderson verspürte den beinahe tierischen Drang, sich mit dem Rücken in eine Ecke zu zwängen und mit den Händen eine auf ihn zu schleichende Gefahr abzuwehren.

Am oberen Ende des Korridors zuckte der schwankende Lichtschein einer Handlampe auf. Eine Gestalt kletterte ungelenk die Wendeltreppe hinab, beugte sich vor und leuchtete in den Gang hinein. »Wo bist du, Gay, du Idiot!«

Mersers Stimme, schrill, befehlend wie immer.

Anderson drückte sich in die Türnische und drehte das Gesicht zur Wand, damit ihn der schwache Widerschein nicht verriet. Er brauchte noch Zeit, um mit sich ins Reine zu kommen, Klarheit und Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Nur ein wenig Zeit noch.

Ulixes Merser schien nichts bemerkt zu haben. Er richtete seine Handlampe abwärts und stieg in die nächste Etage hinunter. Einen Augenblick noch tanzten an der Decke des Treppenschachtes gelbliche Lichtreflexe, dann kehrte die Dunkelheit zurück.

Diesen Trakt des Schiffs hatten sie in den letzten Jahren nur noch selten betreten, aus Scheu gemieden. Nicht einmal die Notbeleuchtung arbeitete. Bereits zu Beginn des Energiesparprogramms waren die Kardin-Leuchtstäbe entfernt worden. Nur gestern waren Ingomar und er hier unten und hatten die in eine Plastfolie eingeschweißten sterblichen Überreste des alten Kommandanten Christian Jason in die Kältekammer gebracht - zu den anderen.

Anderson betätigte die mechanische Verriegelung. Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich die Tür aus ihrer Kautasit-Dichtung.

Eisige Kälte schlug ihm entgegen.

Beklommen, fast zaghaft schlüpfte er hindurch und drückte die Tür sanft hinter sich ins Schloss. Jedes Geräusch würde in der Totenstille des Raumschiffs über Hunderte von Metern zu hören sein. Und ihm war ganz und gar nicht daran gelegen, dass ihn die Gefährten fanden. Jetzt noch nicht.

Unschlüssig stand er in der Finsternis. Die Kälte drang durch die Kombination, lähmte, verursachte ein taubes Gefühl in den Lippen. Im aufflammenden Lichtkegel der Handlampe zuckte die Dampfwolke seines Atems. Minus zwanzig Grad Celsius. Es war hier drinnen wärmer als erwartet. Die Kälteaggregate arbeiteten nicht, klar. Hinter der Wand begann die Unendlichkeit des Alls.

Anderson glitt zu Boden und kauerte sich zusammen.

Zwei scheinbar endlose Reihen von Regalen, in denen längliche, in undurchsichtige Plastfolie eingehüllte Pakete lagen. Regungslos, von beklemmender Stille umgeben. Breite Riemen hielten sie in ihrer Stellung. Am Fußende baumelten kleine Schildchen mit dem Namen und dem Datum des Todes versehen. Zuunterst, eine Armlänge von ihm entfernt:

Christian Jason, 30. Dezember 2103.

Sechsundachtzig Jahre. Der Älteste von allen. Zu Anfang der Expedition hatten sie gerade seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Mit allem, was dazu gehörte: gefüllte Eier, Currysuppe, gebratene Pute mit gerösteten Kartoffeln, Schinken, Würstchen, Rosenkohl und gebackene Zwiebeln, Pudding in Weinbrandsauce als Dessert und zum Abschluss Mokka, der so stark war, dass man um die Tassen fürchten musste. Und später Unmengen armenischen Weinbrands, den Jason in seinem persönlichen Gepäck mit sich geführt hatte.

Was für Pläne! Unmittelbar nach der Heimreise wäre dieser Mann in den Ruhestand getreten. Nahe der Küstenstraße zwischen Port Bou und Port Vendres hatte er ein Haus gebaut, mit dem Blick aus vierzig Meter Höhe von der Terrasse aus über den Golfe du Lion. Eine neue Weintraubensorte wollte er züchten und sich trotzdem noch wissenschaftlicher Arbeit widmen.

Gestern war er gestorben. Und hier. Morgens neun Uhr. Zu einer Tageszeit, die man nicht mit blinzelnden Augen nach dem Stand der Sonne einschätzen konnte - sondern nach der Uhr ermittelt. Eingehüllt in das dunkelblaue Licht der Notbeleuchtung. Zeitlos. Tage wie Monate, wie Jahre, Jahrzehnte...

Der Lichtkegel seiner Handlampe schwebte höher, erfasste ein anderes Bündel:

Marano Luandro, 2. Oktober 2102.

Der Arzt aus Ghana. Wurde mehr als achtzig Jahre alt. Er hatte noch ein Jahr vor seinem Tode eine Operation an sich selbst durchgeführt. »Ich kann euch doch nicht vor der Zeit im Stich lassen«, hatte er gesagt. Ein Mann von eiserner Energie. Eines Morgens war er nicht mehr aufgewacht. Vor fünfzehn Monaten.

Ein drittes Bündel. In den Falten schwammen die Schlagschatten wie eine schwarze Flüssigkeit.       

Jaqueline Donan.

Aus seiner Erinnerung tauchte der dunkelblonde Kopf der Navigatorin auf, das herbe Gesicht, die grauen Augen, ihre aufrüttelnde Munterkeit. Die für sie typische Kopfbewegung, mit der sie eine in die Stirn fallende Locke zurückwarf...

Zurückhaltend konnte man sie nicht nennen. Anderson lächelte plötzlich. Jaqueline hielt weder ihre Meinung noch ihr Gefühl verborgen. Sie interessierte sich für ihn, gab das ohne Umschweife zu. Ein Jahr vor der Expedition hatten sie sich kennengelernt. Seltsam, dass die Erinnerung an die Zeit mit ihr so farbig, so lebendig war. Freilich war sie auch das stärkste Erlebnis in seinem Leben. Anderson seufzte.

Und die Zeit nach der Katastrophe? Als feststand, sie würden nie wieder zur Erde zurückkehren? Jaqueline wurde mutlos, von Depressionen erschüttert. Es war ihm nicht gelungen, ihre innige Vertrautheit zu erhalten. Er konnte nicht trösten. Vielleicht eine Aufgabe für sie beide? »Ein Kind?« Sie lachte schrill, brach in Tränen aus. »Welch ein Wahnsinn, für welche Zukunft?« Barg ihren Kopf an seiner Schulter, strich ihm über den Nacken. »Verzeih mir, verzeih mir alles, was ich tue.«

Als Navigatorin hatte sie von allen Mitarbeitern ihre Chancen am genauesten zu berechnen, aber am wenigsten zu tragen gewusst. Nach fünf Jahren Flug: Tod am 15. September 2072, vor mehr als dreißig Jahren, kurz nach Vollendung ihres neunundzwanzigsten Lebensjahres. Er hatte ihr keinen Halt zu geben vermocht. Ein Augenblick tiefster Depression. Überdosis Paranon. Schlaftabletten.

Der Lichtkegel wanderte weiter. Über lange Reihen der Regale. Sechzig Pakete, sechzig Menschen.

Leise öffnete sich neben ihm die Tür. Ingomar Lindner steckte den Kopf hindurch und leuchtete ihm ins Gesicht. Dann trat er wortlos in den Raum, packte den vor Kälte erstarrten Anderson unter die Arme und schleifte den regungslosen und apathischen Mann hinaus auf den Gang, wo er die Verbindungstür zur Kältekammer schloss und sich neben ihm niederhockte. Er betrachtete den stummen und in sich gekehrten Gefährten.

»Ich bemerkte, dass die Temperatur in diesem Trakt um einige Grade gefallen war. Mir war klar, dass jemand die Tür zur Kältekammer geöffnet haben musste, und das konntest nur du sein.«

»Wo ist Ulixes?«

»Er klappert alle Räume der unteren Etage nach dir ab. Ich werde ihn informieren.«

»Ich will ihn jetzt nicht sehen.« Andersons Blick wurde abweisend. »Ich könnte ihn manchmal umbringen.«

Lindner ließ seine Hand von der Rufanlage herabsinken. »Warum bist du geflohen? Wir haben nicht viel Zeit.«

Anderson lächelte verkrampft. »Wir sind in diesem Schiff sechsunddreißig Jahre unterwegs. Zeit ist das, worüber wir am meisten verfügen.«

»Auch jetzt, wo wir die Landeoperation vorbereiten?«

Anderson schlug plötzlich in einem Anfall wilder Energie mit der Hand auf den Boden. »Das hier, dieses Schiff, ist für mich im Laufe der Jahre aus einem Gefängnis zum Inbegriff der Heimat geworden. Hier bin ich sicher, nur hier! Und ich sehe nicht den geringsten Anlass, dass wir die letzte Lebensspanne riskieren, um uns in ein fragwürdiges Landemanöver zu stürzen. Was soll es? Dort werden wir sterben, und hier sterben wir - dort aber vielleicht noch eher, sofern wir den Planeten überhaupt erreichen. Die gewohnte Umgebung aufgeben für eine Vision - welch ein Irrsinn!«

»Die Energie reicht noch für siebzehn Monate. Danach wird es hier drinnen ebenso kalt werden wie im kosmischen Raum und ebenso lebensfeindlich.«

»Was macht das schon? Wir steigen in die Landefähren. Dort können wir bis ans Ende unserer Tage leben.«

»Warten«, korrigierte ihn Lindner. »Ein Dahindämmern ohne Ziel und ohne weiteren Sinn als den, die uns von der Natur zugemessene Lebensspanne auszuschöpfen. Mehr wäre es nicht.«

»Aber wir wären am Leben«, widersprach Anderson nun wieder zaghaft. »Ob wir auf dem Planeten leben können, ist ungewiss. Hier, dieses Schiff, ist unsere Heimat. Warum uns jetzt noch Gefahren aussetzen, wozu, wozu?«

»Vielleicht glückt uns das Landeunternehmen, vielleicht auch nicht. In die Landefähren umsteigen müssen wir so oder so. Doch ich ziehe gegenüber einer Spanne von zwanzig hoffnungslosen Jahren das auf wenige Monate zusammengedrängte Risiko vor. Ich will ein Ziel vor mir haben, ein neues Betätigungsfeld und eine Aufgabe, die mich erkennen lässt, dass ich nicht umsonst gelebt habe.«

Als Anderson nicht antwortete, fuhr Lindner nach einer kurzen Pause fort: »Sollen wir zwanzig Jahre in der Landefähre sitzen und uns nur hin und wieder die Beine im toten Raumschiff vertreten? Was kann uns schon geschehen?

Glückt das Landeunternehmen nicht, würde sich prinzipiell nichts ändern. Wir wären ein Satellit der Sonne. Dann würde sich bis auf die Möglichkeit des Beinevertretens grundsätzlich nichts wandeln. Auch dann leben wir vielleicht noch zwanzig Jahre wie in einer Telefonzelle. Ich denke daran, dass gerade du bei früheren Diskussionen zum eifrigsten Verfechter einer Lande-Theorie zähltest.«

»Schon wahr«, murmelte Anderson, »man sollte niemals einen Wunsch zu sehr hegen - er könnte in Erfüllung gehen. Im Grunde sind wir doch schon tot.«

»Wenn wir hierbleiben, gewiss. Selbst wenn wir uns jeden Morgen fragend ins Gesicht sehen, ob wir leben. Lieber nur einen Tag noch, aber etwas Sinnvolles getan haben. Und denke daran: Es ist die erste Chance, die wir bekommen - doch gleichzeitig auch die letzte.«

»Ich habe Angst«, sagte Anderson. Seine Stimme sank zum Flüstern herab. Er starrte mit weitgeöffneten Augen vor sich auf den Boden. »Wer garantiert mir mein Leben, wer? Hier behalte ich es. Mag es auch nutzlos vertan werden - ich hänge daran. Dort aber«, er deutete eine unbestimmte Richtung an, »wird mir nur noch eine kurze Spanne bleiben, einige Wochen oder Monate. Nur wenig Zeit. Hier kann ich die mir bestimmte Frist ausschöpfen, sicher nicht sinnvoll, aber ich lebe. Dort jedoch...« Er verstummte einen Augenblick, setzte mit halb erstickter Stimme hinzu: »...werde ich als erster gehen. Nach dem Verlassen der Argo habe ich nicht mehr lange zu leben, ich spüre es genau.«

»Das ist doch Unsinn«, unterbrach ihn Lindner, »der blanke Unsinn. Du steigerst dich aus Furcht vor dem Risiko in eine Todesahnung hinein, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als gewöhnliche Angst. Du legst deine Ahnung falsch aus. Die Landung auf einen fremden Planeten ist unter unseren Bedingungen ein fragwürdiges Unternehmen, das gebe ich zu, aber die Wahrscheinlichkeit eines Misslingens ist nach Angabe des Computers gering. Warum wehrst du dich dagegen? Soll denn alles so weitergehen wie bisher? Bis einer nach dem anderen von uns sterben wird? Willst du allen Ernstes, dass wir so weiterleben? Das kann nicht dein Wunsch sein, das glaube ich nicht.«

Eine Weile lang war nur ihr Atem zu hören. Lindner lehnte sich gegen die Wand, betrachtete seinen Gefährten forschend. War diese seltsame Todesahnung echt oder nur ein Mittel, das Landeunternehmen zu verhindern, da ihm keine vernünftigen Gegenargumente mehr einfielen? Nein, sie waren sicherlich echt. Nur falsch bezeichnet. Gay Anderson hatte panische Angst, aus dem stereotypen Gleichmaß der letzten sechsunddreißig Jahre auszubrechen. Zuerst mochte der chronologische Ablauf des Lebens im Raumschiff als bedrückend empfunden worden sein, mit der Zeit jedoch wurde diese Last weniger schwer, und die Monotonie bekam den Charakter von Sicherheit. Gay wehrte sich gegen jede Veränderung, die ihm zwangsläufig Unsicherheit bringen musste. Das war der eigentliche Grund in Andersons Verhalten, aus seiner psychischen Schwäche heraus geboren: Er hatte keine Todes-, sondern Lebensangst.

Er spürte einen Anflug von Beklemmung. Das durfte Ulixes Merser nicht erfahren. Um keinen Preis ihm etwas davon berichten. Einem Tatmenschen wie Merser würde jegliches Verständnis abgehen, ihm sogar Gelegenheit bieten, mit ätzendem Hohn darauf zu reagieren.

Mit dem Gedanken an Mersers mögliche Reaktion bekamen Lindners Überlegungen eine neue Richtung. Die physische und psychische Überlegenheit von Merser und Anderson befand sich im umgekehrten Verhältnis. Der um mehr als einen Kopf größere Anderson hatte, Angst vor Merser. Vielleicht war das der unausgesprochene Grund für Gays Ahnung und seine Weigerung, das Raumschiff zu verlassen. Die Angst vor Merser! Hier im Raumschiff hatte er ausreichend Gelegenheit, Merser aus dem Wege zu gehen, ihn zu meiden, in einen entlegenen Winkel des Schiffs zu fliehen, unerreichbar für Mersers psychische Brutalität. Aber auf dem Planeten waren sie voneinander abhängig, auf Hautnähe in die Fähre zusammengedrängt, stets in unmittelbarer Nähe, Mersers Einfluss und seinen Kränkungen schutzlos ausgesetzt. Das waren Andersons Ahnungen und Ängste. »Du fürchtest dich vor dem Zusammensein mit Merser?«

Anderson blickte überrascht auf.

»Ich meine, du fürchtest nach der Landung den hautnahen Kontakt zwischen uns?«

»Ich weiß nicht, vielleicht«, stammelte Anderson.

»Fühlst du dich schutzlos gegenüber Ulixes ständigen Angriffen? Warum, in drei Teufels Namen, wehrst du dich nicht, warum lieferst du ihm nicht den Streit, den er gelegentlich zu seiner Selbstbestätigung benötigt? Warum weichst du immer aus?«

»Ich kann nicht.« Anderson unterbrach sich, setzte stockend fort: »Mir fehlen die Worte, mir ist die Kehle wie zugeschnürt. Schutzlos, das ist wahr. Ich kann nicht so schnell denken wie er, bin unbeweglich und... ich kann ihn doch nicht dauernd verprügeln, nur weil mir die Worte im Halse steckenbleiben. Ich kann auch nicht dafür, dass ich empfindlich bin. Ich möchte es nicht sein, aber ich kann es nicht ändern, sosehr ich mich darüber ärgere.«

»Gay! Wir haben zwei Landefähren und sind drei Menschen. Wir beide werden uns selbstverständlich in der gleichen Fähre befinden. Ich werde immer dabei sein. Angst haben wir alle. Jeder versucht auf seine Weise, mit ihr fertig zu werden. Der eine flieht in die Kältekammer, der andere spielt den Draufgänger. Vielleicht gelingt es uns, unbeschadet auf den Planeten zu landen. Werden nicht Aufgaben, Entdeckungen und Erkenntnisse auf uns warten, die schwerer wiegen als zwanzig Jahre trägen Dahindämmerns in einer nicht gestarteten Fähre? Vielleicht finden wir auch eine Möglichkeit, unser gesammeltes Wissen an Menschen weiterzugeben, die irgendwann in den nächsten zweihundert Jahren hier auftauchen. Die uns als Pioniere betrachten werden - und nicht als die bedauernswerten Opfer einer technischen Katastrophe.«

Der geisterhafte gelbliche Schein der Lampe beleuchtete ihre Gesichter. Anderson nagte an der Unterlippe. Aus der Tiefe des Treppenschachtes ertönten halblaute Schritte,

Türenklappen und eine endlose Kette von Flüchen. »Ich gebe dir noch fünfzehn Minuten«, hörten sie Merser bellen, »dann kannst du von mir aus in diesem Schiff verschimmeln!«

»Ich verspreche dir«, sagte Lindner ruhig, mit einer Kopfwendung zum Treppenschacht, »so wie es ist, wird es nicht bleiben. Für uns alle, gibt es eine neue Chance.«

»Du hast recht«, brachte Andersen zögernd hervor. Er fasste Lindners vorgestreckte Hand und stellte sich mit einem Ruck auf die Beine.

Mersers Stimme entfernte sich wieder. »Du Schwächling, du Schlappschwanz...«

Im Leitstand des Raumschiffs herrschte Ruhe. Lindner ließ sich Zeit. Auf dem Hauptbildschirm war die glänzende Kugel des Barnard'schen Pfeilsterns merklich näher gerückt. Mit bloßem Auge waren Protuberanzen zu erkennen. Die Dichte der auf die Außenhaut des Schiffes prallenden Strahlung hatte sich um eine Zehnerpotenz erhöht. Es war bereits tödlich, sich dieser Strahlung ungeschützt auszusetzen.

»In sechsundzwanzig Stunden befinden wir uns in der nächsten Nähe der Sonne«, bemerkte Lindner. »Dann bleibt uns maximal noch ein halber Tag bis zum Start. Aber - ich würde dich nicht allein lassen.«

»Meinetwegen würdest du - hierbleiben?« Anderson stockte. Seine Stimme wurde fest. »Ich habe mich entschieden.«

Lindner nickte.

Aus dem Hintergrund tauchte Merser auf. Seine Schuhe klapperten hart auf dem Boden. Als er in die Tür trat, erstarrte er bei Andersons Anblick, stemmte die Fäuste in die Hüften und atmete tief ein.

Lindner schnitt ihm das Wort ab. »Wir können mit den Startvorbereitungen fortfahren.« Er klinkte den Recorder des Bordbuchs aus der Halterung und begab sich, gefolgt von seinen Gefährten, durch ein Gewirr von Korridoren und Treppenschächten in den Außenbezirk des Raumschiffs. Dort lag bereits ein Stapel von Gerätschaften, Kisten und Algenkolonien in gläsernen Ampullensätzen. Lindner schraubte in den beiden Landefähren die Kerne in die Brennkammern ein. Der Algenansatz begann, wie erwartet, nach einer halben Stunde Sauerstoff auszuscheiden. Keinerlei Komplikationen. Energievorräte bei normalem Verbrauch für dreißig Jahre. Die Nadeln der Messgeräte belebten sich.

Alles war vorbereitet.

Lindner und Anderson richteten sich in der Landefähre ein, während Merser durch den Verbindungstunnel zum Leitstand des Raumschiffes zurückkehrte.

Noch eine Nacht.

 

Am Morgen brannte ihnen von allen Bildschirmen und aus allen Fenstern die glühende Sonne entgegen, ein Kranz von lodernden Schlangen und riesenhaften Gasausbrüchen, die in schneller Folge die gesamte Farbskala durchspielten.

Eine Erschütterung durchlief das Schiff. Einige Sekunden später eine zweite.

»Meteoritentreffer im Sektor vierzehn und elf«, meldete Merser vom Leitstand. »Glatter Durchschuss. Schotten zum angrenzenden Bereich geschlossen. Temperaturerhöhung im Abschnitt elf. Wahrscheinlich brennt es dort.«

»Löschen?«, fragte Anderson heiser.

»Wozu die Mühe?« Merser blickte ihm vom Bildschirm spöttisch entgegen. »Die Abschnitte sind voneinander isoliert. Aber selbst wenn sich das Feuer ausbreiten könnte, wir würden frühestens in einer Woche etwas davon bemerken. Der Leitstand ist nicht gefährdet, mein Rückweg in die zweite Landefähre nicht abgeschnitten, unsere ganze Aktion nicht in Frage gestellt. Das ist die Hauptsache. Warum sollten wir da noch großartig löschen? Mag doch alles zum Teufel fahren. Ich schalte jetzt die Automatik für die Katapultierung der Fähren ein und komme zurück.«

Der Bildschirm erlosch. Wenig später sah Anderson, wie Merser aus dem Verbindungstunnel auftauchte, sich der

Landefähre 2 näherte und hinter deren Einstiegluke verschwand.

Irgendwo arbeiteten Pumpen. Der Boden vibrierte. Nach einigen Minuten rollte das Dach mit dumpfem Dröhnen zur Seite. Der mit hellen Sternen besäte, scheinbar um das Schiff rotierende Himmel erschien. Wie von Geisterhand hoben sich die beiden Landefähren aus ihrer Halterung. Pressluft zischte und umwogte die goldfarbenen Titankörper wie Dampfschwaden.

Der Computer begann mit fleischloser Stimme zu zählen: »Sechzig, neunundfünfzig...«

Sie hatten sich bereits mehr als hundert Meter vom Raumschiff Argo entfernt, rotierten mit dem riesigen, tausendvierhundert Meter langen Metallklotz von unsymmetrischer Gestalt um eine unsichtbare Achse. Die durch die Rotation des Schiffs künstlich erzeugte Schwerkraft hatte als einziges in den vielen Jahren nicht nachgelassen. Das grelle Sonnenlicht schien um die kugelförmigen Treibstoffbehälter und die wie hilfesuchend nach allen Seiten gereckten Antennen zu taumeln. Auf den erloschenen, wie tot liegenden Fenstern blinkten Reflexe.

»Die Argo«, stammelte Anderson plötzlich. »Sechsunddreißig Jahre, ein halbes Leben...«

»Das ist nicht die Argo von früher.« Lindners Stimme schien unwirklich, weit entfernt. »Sie hat ihren Zweck erfüllt, nicht gut, aber erfüllt. Sie hat uns am Leben erhalten. Nun können wir sie entbehren. Sieh sie dir genau an. Das ist kein Raumschiff - das ist ein Friedhof.«

Unter ihren Füßen ertönte ein stotterndes Donnern, jede Sekunde an Gewalt und Umfang zunehmend, anschwellend zu einem ungeheuren Brausen, das jede Wahrnehmung auslöschte.

Die Triebwerke zündeten.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

4. März 2104, Landefähre Argo 1 

»Ingomar Lindner an Bordbuch:

Das Bremsmanöver verlief erfolgreich. Die Flugbahn unserer Fähren war der vorausberechneten weitgehend angenähert. Lediglich am achtzehnten Januar und am vierundzwanzigsten Februar waren kleinere Korrekturen notwendig. Am neunzehnten Januar erreichten wir das Apogäum unserer Bahn. Von dort aus näherten wir uns wieder der Sonne. Totale Bremsschübe in den ersten Wochen durchschnittlich dreimal täglich, danach Einschwenken in die Kreisbahn des vorgesehenen Planeten. Wurde vom Computer gesteuert. Keinerlei technische Defekte. Vor einer Stunde haben wir einen Satelliten auf eine stabile Umlaufbahn abgesetzt. Von ihm erhofften wir uns eine wesentliche Unterstützung hinsichtlich der auf uns wartenden Aufgaben. Darüber hinaus wird er es sein, der nach uns kommenden Pionieren der Raumfahrt die Ergebnisse unserer Arbeit übermittelt, ja die Nachricht von unserer Existenz überhaupt.

Die physischen Belastungen des Fluges lagen an der Grenze des Erträglichen. In den Phasen der negativen Beschleunigung trat Anderson und mir das Blut durch die Haut und aus der Nase. Wir sind durch Blutverluste geschwächt, leiden an Konzentrationsmangel und sind apathisch.

Merser, der die Landefähre 2 steuert, klagte bisher über keine Beschwerden. Er befindet sich auf Sichtweite in etwa zwei Kilometer Entfernung von uns auf der Parkbahn um den Planeten. Alle Apparaturen arbeiten normal. Die Verhältnisse auf dem Planeten decken sich mit dem, was wir von Bord der Argo aus festgestellt haben. Damit ist das Annäherungsmanöver abgeschlossen. Landeoperation wird morgen früh um sechs Uhr eingeleitet. Unsere zusammengeschmolzenen Treibstoffvorräte dürften gerade noch reichen. - War noch was?« 

«Der Name», bemerkte Anderson. Er wischte sich die Nase, die schon wieder zu bluten begann. Sein Gesicht war schneeweiß. Die Augen lagen in tiefen Höhlen.

»Ach ja, richtig: Wir haben uns nach Mersers Vorschlag übereinstimmend darauf geeinigt, den Planeten mit dem Namen Sirena zu belegen. Ende.«

 

Lindner schaltete den Recorder ab. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht Mersers, unzufrieden, tadelnd den Kopf schüttelnd. »Bist du fertig?«

»Wieso, gab es noch etwas zu sagen?«

»Das nicht. Prinzipiell hast du alles gesagt. Aber das Wie finde ich nicht besonders glücklich. Das ist kein Bericht, sondern eine Story, wie man sie im Kreise seiner Freunde vorträgt, bei einigen Flaschen Wein und Sandwiches - aber nichts für ein Bordbuch. Kurz, knapp, gerafft, sich auf das Wesentliche beschränken. Fakten, mein Freund, Fakten. Im Übrigen ist es meines Wissens nur Sache des Kommandanten und des Arztes, das Bordbuch zu führen. Und ersterer bin ich. So wäre es korrekt.«

Lindner verzog keine Miene. »Ich kenne die Bestimmungen. Eine davon lautet - du wirst dich erinnern -, dass das Bordbuch von dem Schiff geführt wird, das rangmäßig an erster Stelle steht. Nach dem Verlust des Raumschiffs ist das die Fähre eins. Wenn es dich so sehr nach Führung des Bordbuchs verlangt, hättest du dich nicht für den zweiten Landeapparat entscheiden dürfen.« Lindners Stimme hatte bei den letzten Sätzen an Schärfe zugenommen.

Merser verzog belustigt die Mundwinkel. »Ich stelle fest, dass deine Persönlichkeit im Gegensatz zu den letzten Jahren erheblich an Profil gewonnen hat. Sollten die auf uns wartenden Aufgaben so viel ausgemacht haben?« Er schnitt Lindners Entgegnung mit einer unwilligen Kopfbewegung ab. »Ich werde jetzt schlafen und empfehle euch, dass gleiche zu tun.«

Der Bildschirm erlosch.

Anderson stand auf und kletterte schweigend durch den Schacht zu den Schlafkabinen hinunter.

Lindner blieb sitzen. Er lockerte die Anschnallgurte, stützte sich auf das Steuerpult und betrachtete die im grünlichen Licht liegende Halbkugel des Planeten auf dem Hauptbildschirm. Ausgedehnte, bizarre Wolkenformationen. Tatsächlich schien es Meere zu geben, aber nicht als einheitlich geschlossene Wasserflächen, wie man sie von der Erde kannte. Eine unübersichtliche Vielzahl an Seen und Binnenmeeren, die sich wie Perlenketten um den Planeten wanden. Gebirge waren ebenfalls mit bloßen Augen zu erkennen. Wenig vergletschert, was auch für die Polkappen zutraf. Eine tropische Welt mit tropischen Temperaturen.

Hatte Merser recht? Begann er, die Depressionen der letzten Jahre zu überwinden?

Wochenlang hatte er im Observatorium gesessen und wie gebannt auf den schwachen Stern im Fadenkreuz geblickt, auf den das Raumschiff zuflog, kein Auge von dieser entfernten Sonne gelassen. Erst Fotografien zeigten gewisse Veränderungen, die eine langsame Annäherung verrieten. Fotografien, die im Abstand von mehreren Jahren aufgenommen wurden. Mit unendlicher, kaum erkennbarer Langsamkeit hatte dieser Stern an Größe und Helligkeit zugenommen.

Die Menschen aber waren gestorben. In den letzten zehn Jahren bestand die Besatzung aus zitternden Greisinnen und Greisen. Ja, viele Selbstmorde. Menschen, denen zum Leben die Erde fehlte. Manche wurden wahnsinnig, siechten über Jahre dahin.

Lindner hob den Kopf und blinzelte in die ungewohnte helle Beleuchtung des Leitstandes.

Was für ein Leben in den letzten sieben Jahren! Der größte Teil der Besatzung war tot, befand sich in der Kältekammer des Raumschiffs. Der Rest kannte sich seit seiner Jugend, war mit den Charakteren und Gewohnheiten der anderen vertraut, besaß bis ins Detail die gleichen Erlebnisse. Man kannte die Antworten, bevor die Fragen gestellt wurden. Die Zeit sonderte im Laufe der Jahre eine Anzahl Menschen heraus, deren charakterliche Anlagen sich nicht miteinander vertrugen. Es gab Spannungen, da der ausgleichende Einfluss der Umwelt fehlte, tödliche Langeweile. Immer wieder Phasen engen Zusammenrückens und solche, in denen man sich mied, ganze Trakte des Schiffs als persönliches Territorium beanspruchte, die niemand betreten durfte. Diese Zustände wurden von Zeiten abgelöst, in denen man wieder eng beieinander hockte, krampfhaft die Nähe der anderen suchte und doch bei jeder Gelegenheit in Streit geriet. Lag es daran, dass man sich zu genau kannte, dass keine Impulse von außen eintrafen?

Selten waren Gespräche entstanden. Was gesagt werden konnte, war schon gesagt worden. Ein unaufhörliches Suchen und Meiden der Gefährten. Und man litt unter beidem.

Mehr und mehr hatte Kommandant Jason, in den letzten Jahren schwächlich geworden, Merser mit seinen Aufgaben betraut. Ulixes, der einzige überlebende Techniker, stand unter einem permanenten Betätigungsdrang und litt darunter, keine Aufgabe zu haben. Das hatte der Menschenkenner Jason sehr wohl erkannt, ebenso die Gefahren, die sich daraus für das Verhältnis der wenigen noch lebenden Menschen ergaben. Die Betrauung mit der Leitungsfunktion er- öffnete dem rastlos tätigen Merser ein Ventil, die eigenen Spannungen abzubauen.

Doch worin bestanden schon seine Aufgaben, seine Verantwortung? Kontrollen der Computer und Lebenserhaltungssysteme, Entscheidungsgewalt über das Verhalten in Situationen, die nie eintreten würden. Es war abzusehen, dass Merser eines Tages sein Betätigungsfeld als zu eng empfinden und die Unzufriedenheit darüber an seinen Gefährten abreagieren würde. Fast zwangsläufig musste sich sein Unmut an dem psychisch schwächeren, übersensiblen, immer an sich zweifelnden Anderson abkühlen. Merser ließ keine Gelegenheit aus, Anderson zu demütigen.

Was geschieht nur mit Männern, wenn sie alt werden?

Lindner seufzte.

Ihr Verhältnis zueinander war unhaltbar geworden. Vielleicht würde es sich nach einer Landung wieder festigen. Eine neue Form des Zusammenlebens finden.

Wenn die Landung glückte, bot sich ihnen vielleicht eine Gelegenheit.

Lindner betrachtete nachdenklich den Hauptbildschirm. Lautlos war die Landefähre in die Nachtgrenze des Planeten eingetaucht.

Er drückte auf den Auslöser. Langsam verlängerte sich die Brennweite des Objektivs der elektronischen Kamera. Die gewölbte Schattengrenze schien heranzufahren. In der Schwerelosigkeit der Fähre verspürte Lindner fast das Gefühl eines Sturzes. Der seit dem Bremsmanöver empfindliche Magen reagierte nervös.

Keine Lichter oder sonstige Anzeichen einer technischen Zivilisation. Ein unberührter Planet, auch wenn im Spektrum nicht zu übersehende Spuren beträchtlicher biologischer Aktivitäten zu erkennen waren. Vielleicht hochentwickeltes Pflanzenleben.

Was war das?

Eine Zone hellroter und gelblicher Lichter, die dunkler werdende Leuchtbänder nach allen Seiten gleich einem Spinnennetz ausbreiteten.

Lindner warf sich vor, umklammerte den Handhebel der Kameraführung. Das Bild taumelte, kehrte auf den Schirm zurück.

Die jähe Hoffnung zerstob.

Nicht die Signale einer fremden Zivilisation. Ein Vulkanausbruch. Nichts weiter.

»Es ist fünf Uhr«, ertönte plötzlich Mersers Stimme. »Ich sehe, Ingomar, du bist bereits auf deinem Posten. Ich sehe es mit Freuden. Wo ist Gay? Will er in seiner Kabine überwintern?«

Lindner drückte auf den Knopf der Weckanlage und wartete schweigend, bis Anderson müde und teilnahmslos aus dem Schacht geklettert war und sich in seinem Sessel angeschnallt hatte.

»Der Planet ist ein Monstrum«, fuhr Merser nach einer Pause fort. »Ich hege die Befürchtung, dass er unsere nicht eben gut trainierten Körper nach der Landung wie Laubfrösche an den Boden nagelt. Übrigens habe ich ein günstiges Zielgebiet ausgewählt. Liegt in der gemäßigten Zone auf einem etwa sechzig Kilometer breiten Küstenstreifen, der das Meer von einem alpinen Hochgebirge trennt. Das Programm habe ich bereits errechnet und in den Steuerungscomputer eingegeben. Einwände?«