Verurteilt zum Leben - Isabella Müller - E-Book

Verurteilt zum Leben E-Book

Isabella Müller

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Beschreibung

Sylviane Marie-Françoise wurde als Nachzüglerin in ein überbehütetes Elternhaus hineingeboren. Ihr Vater war ein gut betuchter, angesehener Mann, welcher jedoch unter seinen eigenen früheren Konditionierungen litt und es nicht schaffte die alten Muster abzulegen. Mit fatalen Folgen... Ihre Mutter, die sich nicht durchzusetzen vermochte, sah schweigend zu, um den Schein nach aussen hin zu wahren. Sylviane Marie-Françoise hatte von Anfang an keine Chance. Ihr wurde das Recht, eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln, genommen. Sie wurde zum Opfer von Missbrauch, Macht und Manipulation, was schwerwiegende Auswirkungen auf ihre Psyche nach sich zog. Auf der Suche nach Liebe, verlor sie sich selbst...

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Verurteilt zum Leben

 

 

 

 

Sylviane Marie-Françoise

 

04.06.1945

-

13.12.1974

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Kapitel      1:      Der Eintritt      Seite       4

Kapitel      2:      Die Kindheit      Seite       10

Kapitel      3:      Der grosse Urlaub      Seite       15

Kapitel      4:      Das Spiel und das Versprechen      Seite      31

Kapitel       5:      1968      Seite      41

Kapitel       6:      Die grosse Liebe      Seite      48

Kapitel       7:      Die Familie      Seite      68

Kapitel       8:      Manipulation und Missbrauch      Seite      75

Kapitel       9:      Die Verlobung      Seite      82

Kapitel      10:      Der Patriarch      Seite      85

Kapitel      11:      In guten wie in schlechten Zeiten      Seite      88

Kapitel      12:      Carlo      Seite      92

Kapitel      13:      1973      Seite      98

Kapitel      14:      Die Taufe      Seite      106

Kapitel      15:      Traumafolgestörung      Seite      112

Kapitel      16:      Der Anfang vom Ende      Seite      120

Kapitel      17:      Medikamentenversuche      Seite      135

Kapitel      18:      Schuldwahn oder Intoxikation      Seite      138

Kapitel      19:      Der Austritt      Seite      145

Kapitel      20:      Die letzten Tage      Seite      149

Kapitel      21:      Freitag, der 13.      Seite      162

Nachwort                  Seite      168

 

 

Kapitel 1 – Der Eintritt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erklärung

 

Die Unterzeichnende bezeugt hiermit unterschriftlich, dass sie heute freiwillig als Patientin in die psychiatrische Universitätsklinik Basel eingetreten ist und dass sie gewillt ist, den Anordnungen der Ärzte

und des Pflegepersonals nachzuleben.

 

 

Basel, den 8. August 1974

Aufnahmestatus

 

 

Datum: 8. August 1974

Uhrzeit: 16.00 Uhr.

Diensthabender Arzt: Dr. med. Sebastian Böhlen.

 

 

 

Ursache der Aufnahme:

 

Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Sittlichkeit

und / oder

Selbstgefährlichkeit

und / oder

Pflege- und Aufsichtsbedürftigkeit

und / oder

Behandlungsbedürftigkeit

und / oder

Feststellung des Gesundheitszustandes / Begutachtung

 

 

 

Körperliche und psychische Feststellungen bei der Aufnahme (Befund):

 

Depressive, verzagte, 29-jährige Patientin. Kann ein bisschen Lächeln, meist aber weinerlich. Macht hilflosen, ratlosen Eindruck, in jeder Beziehung verunsichert.

Die Patientin wurde vorbehandelt mit zuerst Deanxit, dann Valium und Mogadon und schliesslich mit Noveril und Schlafmitteln. Trotz medikamentöser Therapie verschlechterte sich ihr Zustand weiter zunehmend.

 

«Wie heissen Sie?» fragte der diensthabende Arzt.

«Mein Name ist Sylviane Marie-Françoise.»

«Nachname?»

«Abandonado.»

«Wissen Sie, wo Sie hier sind und weswegen Sie hier sind, Frau Abandonado?»

«Ja.»

«Erklären Sie es mir.»

«Ich bin hier in der Irrenanstalt und ich wurde hergebracht, weil ich eine Zumutung bin für meinen Mann, mein Kind und alle anderen.» Meine Stimme brach.

«Weshalb glauben Sie das?»

«Weshalb glaube ich was? Dass das hier die Irrenanstalt ist oder dass ich eine Zumutung bin für alle?», gab ich verzweifelt zurück.

«Dass Sie für Ihren Mann und Ihr Kind eine Zumutung sind.»

«Wissen Sie, ich kann es nicht mehr. Ich kann nichts mehr. Alles ist zu schwer geworden. Die Hausarbeit, die Versorgung meiner Tochter, sogar das Aufstehen am Morgen bereitet mir Mühe. Ich fühle mich schuldig meinem Mann und dem Kind gegenüber. Mein Mann arbeitet den ganzen Tag und muss danach auch noch die gesamte Hausarbeit erledigen, weil ich es einfach nicht mehr schaffe. Meine Tochter ist gerade erst 8 Monate alt. Die meiste Zeit über lebt sie bei meinen Schwiegereltern oder bei meiner Schwägerin, weil ich mich nicht mehr um sie kümmern kann. Ich bin nur noch eine Last für alle.», erklärte ich dem Arzt.

«Frau Abandonado», sagte der Arzt, «Sie sind hier, damit man Ihnen helfen kann und Sie wieder gesund werden. – Schwester Christine zeigt Ihnen nun erstmal Ihr Zimmer und wir sehen uns dann später nochmal. Ich werde zwischenzeitlich noch ein Gespräch mit Ihrem Ehemann führen, wenn das für Sie so in Ordnung ist.»

«Ja», krächzte ich.

 

Schwester Christine war eine überaus grosse und stattliche Frau, mit schulterlangem, blondem, lockigem Haar. Eine markante Brille mit markantem, schwarzem Rahmen, triumphierte fast heroisch auf ihrer Nase, was der Frau eine stark autoritäre Ausstrahlung verlieh. Hinter der Brille verbargen sich wässrig-blaue Augen, welche mich mitfühlend ansahen. Ihre Nase war gross und knollig und dominierte ihr Gesicht, ebenso wie ihr mit knallrotem Lippenstift angemalter, wohlgeformter Mund. Sie trug die Uniform der Anstalt: eine weisse Hemdenbluse mit dunkelblauem Kragen und Ärmelbund, sowie einen dunkelblauen Jupe, welcher bis knapp über die Knie reichte. «Guten Tag, Frau Abandonado. Ich bin Schwester Christine und heute für Sie zuständig. Ich werde Sie nun auf Ihr Zimmer begleiten und Ihnen beim Einräumen helfen. Ihr Zimmer befindet sich in Haus B» sprach sie zu mir.

Mir war mulmig zu Mute. Ich fühlte mich hier nicht wohl. Aber ich fühlte mich auch sonst wo nicht wohl. Hier war jedoch alles zusätzlich noch fremd und wirkte einschüchternd auf mich. Wortlos folgte ich Schwester Christine. Jeder Schritt war anstrengend und brachte mich ausser Atem. Wir liefen den Gang entlang. Auf beiden Seiten befanden sich im Abstand von etwa zwei Metern Türen. An der Decke hingen Halogenlampen, deren grelles Licht mich schier in den Boden zu drücken schien. Es war wie ausgestorben hier auf der Notfallstation. Nur unsere Schritte hallten bedrohlich laut wider. Schwester Christine sah mich hin und wieder von der Seite an und schenkte mir ein freundliches Lächeln.

Am Ende des Gangs kamen wir in das Hauptgebäude über, wo sich der Empfang befand. Von hier aus gingen wir nach draussen, die wenigen Treppenstufen hinunter. Vor mir lag der Parkplatz, wo unser Auto stand. Ich atmete schwer. «Wir sind gleich da, es ist nicht weit», sagte Schwester Christine zu mir. Wir liefen links weg, einen verschnörkelten Weg entlang. Das ganze Areal war in eine Parkanlage eingebettet, mit viel Grün. Es gab Bänke, wo man sich setzen konnte und an jeder Ecke standen diverse Säulen, Statuen und sonstige kunstvoll gestalteten Gegenstände in allen Farben und Formen. Die zahlreichen schwerfälligen Gebäude, verliehen dieser Anstalt ein etwas gruseliges Ambiente, da half auch die ganze bunte Kunst nichts. Es war auch hier wie ausgestorben und keine Menschenseele zu sehen.

Wir gingen auf ein weisses, dreistöckiges Landhaus zu, welches im Vergleich zu anderen Gebäuden, noch einen einigermassen einladenden Eindruck machte. Hinter dem Haus gab es eine Veranda mit Sesseln und eine kleine Wiese. «Da wären wir», sagte Schwester Christine mit einem Lächeln und nahm ihren bunt bepackten Schlüsselbund hervor, griff nach einem der zahlreichen Schlüssel und öffnete. Hinter der Eingangstür lag ein kleiner Flur, gefolgt von vier Treppenstufen, welche bereits zur nächsten verschlossenen Tür führten. Einer Tür aus Panzerglas. Schwester Christine griff nach dem nächsten Schlüssel, schloss auf und liess mich eintreten. Ich sah mich um. Es war eine Art Entrée, wo ich mich nun befand. Der Boden war aus schwarz-weiss kariertem Marmor. Über mir triumphierte an der hohen Decke ein riesiger Kronleuchter. Schwarze Ledersessel standen im Entrée sowie zwei Regale. Eines mit Büchern, ein anderes mit Informationen über die Anstalt und Broschüren über psychische Erkrankungen. Von diesem Raum aus führte eine Tür geradeaus in einen Wohnbereich mit Sofas und Fernseher. Vom Wohnbereich aus, gelangte man auch auf die Veranda hinter dem Haus. Ein offener Torbogen verband das Entrée mit dem Treppenhaus, welches in die oberen Stockwerke führte. Links davon führte eine weitere Tür in den Essensraum, wo sich lange Tische und Stühle befanden, sowie ein Kühlschrank, Küchenschränke und eine Ablage mit Spültrog.

Wir gingen die Wendeltreppe nach oben in den 1. Stock. Schwester Christine steuerte geradeaus auf eine Tür zu, welche mit 105 gekennzeichnet war und öffnete diese.

«Bitte sehr, Frau Abandonado. Das ist Ihr Zimmer, treten Sie doch ein.» Ich ging in das Zimmer. Es standen sechs Betten im Zimmer, fünf davon waren belegt mit Frauen unterschiedlichen Alters. Das Bett, welches linkerhand am nächsten zur Tür lag, war noch frei. Es war meines.

«Guten Tag die Damen», sagte Schwester Christine an die anderen Patientinnen gewandt, «ihr bekommt Besuch. Das ist Frau Abandonado. Sie bezieht das Bett hier für die kommende Zeit», erklärte sie den anderen Frauen und deutete auf mein Bett. Ich versuchte freundlich zu lächeln, was mir jedoch misslang, denn ich bekam es mehr und mehr mit der Angst zu tun. Unmöglich konnte ich hier mit fünf mir fremden Frauen nächtigen und die Tage verbringen. Wieder begann ich zu weinen.

«Aber, aber», sagte Schwester Christine. «Wer will denn hier nun weinen? Sie werden sehen, es ist hier nicht so schlimm, wie es den Anschein erwecken mag. Man wird Ihnen helfen und Sie werden wieder gesund. Ganz bestimmt. Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles wieder gut.»

Es wird alles wieder gut? Schwester Christine hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Nichts konnte je wieder gut werden…

 

 

Kapitel 2 – Die Kindheit

 

Ich kam als Zweitgeborene zur Welt. Meine Schwester, Lauriane, war bereits erwachsen, als ich das Licht der Welt erblickte. Sie ist exakt zwanzig Jahre älter als ich. Ich wurde kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 geboren. In Europa hatte der Krieg bereits vor ein paar Wochen geendet. Wenige Monate später kapitulierte Japan nach dem Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und der blutige Krieg, welcher mehr als 60 Millionen Todesopfer forderte, galt somit weltweit als beendet.

Mein persönlicher Krieg, der Krieg des Lebens, hatte gerade erst begonnen.

 

Wohlbehütet von meinen Eltern, wuchs ich die ersten Lebensjahre in Zürich auf. Zürich war die Heimat meines Vaters. Meine Mutter war Französin. Meinen Vater lernte sie in Le Havre in Frankreich kennen, der Heimatstadt meiner Mutter. Le Havre ist die zweitgrösste Hafenstadt Frankreichs, befindet sich in der Normandie im Nordwesten Frankreichs, direkt am Ärmelkanal und an der Mündung der Seine.

Nachdem sie meinen Vater kennen und lieben lernte, war bald einmal klar, dass sie zu ihm in die Schweiz übersiedeln würde, um den weiteren Lebensweg mit ihm gemeinsam zu bestreiten.

Meine Mutter war eine stolze Frau. Klein und zierlich, mit blauen Augen und dunkelblondem Haar. Sie legte grossen Wert auf ihr Äusseres und eine sehr gepflegte, tadellose Erscheinung. So war sie stets fein säuberlich zurecht gemacht. Jedes Haar sass an seinem Platz, die Augenbrauen waren sorgfältig gezupft, das Make-Up war dezent und teuer, der Lippenstift akribisch genau aufgetragen. Sie trug teure, ja manchmal extravagante Kleidung und Schuhe und die Handtasche, welche sie auf sich trug, war jeweils farblich exakt auf die Kleidung abgestimmt. Sie war eine Frau von Welt, keine Kuh-Schweizerin, welche in Schürze und ausgelatschten Schuhen durch die Strassen lief, um es überspitzt zu sagen. Zu Hause wurde meist Französisch gesprochen. Meine Mutter beherrschte zwar die deutsche Sprache gut, aber sie legte Wert auf ihre Muttersprache und darauf, diese Lauriane und auch mir weiterzuvermitteln. Meine Mutter war gerade mal zwanzig Jahre alt, als sie Lauriane gebar. Bei meiner Geburt war meine Mutter dann allerdings bereits vierzig Jahre alt, was in jener Zeit doch eher seltsam war. Seltsam war auch der Altersunterschied zwischen Lauriane und mir. Als ich klein war, war mir Lauriane mehr Mutter als meine wirkliche Mutter.

Mein Vater war, in einem Wort gesagt, ein Patriarch. Er war das herrschende Oberhaupt der Familie. Was er sagte, das galt und da wurde kein Widerspruch geduldet. Er hatte beruflich einen hohen Rang inne und war entsprechend sehr angesehen. Er war im Weiteren ein sehr grosser, schlanker Mann, mit haselnussbraunen Augen und schwarzem, dünnem Haar, welches er streng nach hinten gekämmt trug, was seine markanten Gesichtszüge noch unterstrich. Das alles verlieh ihm zusätzlich eine gewisse Autorität, welche er ohnehin schon innehatte. Auch er war stets sehr gepflegt und achtete penibel auf sein Äusseres. Ob bei der Arbeit oder in der Freizeit, er war stets in einen teuren Anzug mit Krawatte gekleidet und trug dazu die jeweils passenden Schuhe.

Ich war das Nesthäkchen der Familie und so galt mir besondere Aufmerksamkeit. Ich wurde wie eine Trophäe gehandelt und umsorgt. Mein Vater war zwar ein Patriarch, aber in Bezug auf mich war er äusserst sanft und liebevoll. Für Lauriane hingegen wurde das mit der Zeit alles ziemlich nervig und als sie gerade mal 21 Jahre alt war, zog sie von zu Hause aus. Da war ich erst ein Jahr alt.

Wir zogen ein paar Jahre später von Zürich weg in einen Vorort von Basel, da mein Vater eine neue Stelle in der Region angetreten hatte. Meine Mutter arbeitete nicht, sie war für Haus und Garten zuständig und den ganzen Tag zu Hause. Lauriane war regelmässig zu Hause zu Besuch und verbrachte auch, nach familiärer Tradition, die Urlaube mit den Eltern und mir.

Wir lebten zu jener Zeit in deutlich besser situierten Verhältnissen als die Mehrheit der Menschen in der Nachkriegszeit. So hatte ich als Kind schon das Privileg, mit meinen Eltern und Lauriane unzählige Urlaube in fernen Ländern zu machen.

Mein Vater liebte es, Erinnerungen bildlich und auch schriftlich festzuhalten. So schoss er zu jeder nur möglichen Zeit, ob im Urlaub oder zu Hause, Fotos, welche er dann auf der Rückseite mit Datum und Memos beschriftete. Ich war sein liebstes Fotoobjekt. Wöchentlich, wenn nicht fast täglich, kam er mit seiner Kamera angetanzt und sagte mir, wie ich mich wo positionieren soll, damit er wieder schöne Bilder von mir schiessen konnte. Die Bilder von mir hingen zahlreich an der Wand über seinem Schreibtisch in seinem Büroraum zu Hause. Portraits, Bilder mit allerlei verschiedenen wunderschönen Blumen, Bilder in den unterschiedlichsten Posen und den ausgefallensten Kleidern, welche er mir auferlegte anzuziehen, Bilder aus Urlauben, Bilder von Ausflügen, Bilder von Feierlichkeiten und so weiter.

Ich war sein Goldstück, sein Ein und Alles. Wir waren uns sehr nah und sehr verbunden. Er liebte mich über alles und behütete mich wie seinen Augapfel.

 

Eines Abends, ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, kam er zu mir in mein Zimmer, um mir Gute Nacht zu sagen. Er sagte «Sylviane, du bist ja noch auf. Was machst du denn hier noch?»

«Ich zeichne noch ein wenig, Papa. Ich kann noch nicht schlafen» antwortete ich.

«Aber Schatz, du hast doch morgen Schule und du weisst doch, nur wer ausgeruht und ausgeschlafen ist, kann gute Leistungen in der Schule erbringen. Und nur wer gute Leistungen in der Schule erbringt, aus dem wird später auch einmal etwas werden. Und du möchtest doch, dass etwas aus dir wird. Du möchtest doch deinen Papa stolz machen, oder?»

«Ja natürlich, Papa. Ich lege mich nun schlafen.»

«Gut so, Sylviane. Komm, ich deck dich zu. Hast du dir denn schon die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen?»

«Ja Papa, das habe ich schon erledigt.»

«Aber du hast dir die Haare noch nicht gekämmt. Komm, ich mach das für dich. Setz dich nochmals auf. Du möchtest doch schön gebettet schlafen und nicht mit zerzaustem Haar in deine Träume schweifen.»

«Ja Papa.»

Mein Vater setzte sich zu mir auf den Bettrand und kämmte mir mein Haar. Ich hatte dickes, schwarzes, langes Haar und musste es jeden Tag mindestens morgens und abends kämmen.

Während mein Vater mir das Haar kämmte, summte er leise eine Melodie vor sich hin. Dann sagte er zu mir «Mein Schatz, mein süsser Schatz. Du bist mein Engel, das weisst du doch, oder?»

«Ja natürlich, Papa. Und du bist mein allerliebster Papa.»

«Ich weiss, meine süsse Prinzessin. Ich weiss. Ich tue alles für dich. Alles, was ich kann und alles was dir guttut.»

«Ich weiss, Papa. Vielen Dank, Papa. Ich weiss das sehr zu würdigen.»

«Komm, leg dich hin, mein Engel. Dein Haar ist seidenfein gekämmt.»

«Danke, Papa.»

«Gerne, mein Engel.»

Mein Vater sah mich liebevoll lächelnd an und strich mir übers Gesicht.

«Du weisst nicht, wie sehr ich dich liebe, Sylviane Marie-Françoise Abandonado. Ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt. Mehr als die Sonne, den Mond und die Sterne. Mehr als das gesamte Universum.»

«Ist ja gut, Papa. Ich dich auch.»

Ich legte mich auf die linke Seite, um einzuschlafen und mein Vater strich mir weiter liebevoll über meinen Kopf und mein Haar. Er machte das oft so lange, bis ich eingeschlafen war. Es gab mir ein Gefühl von völliger Sicherheit und Geborgenheit und ich mochte es, wenn er mir geduldig über mein Haar strich. Ich schloss meine Augen und sagte «Gute Nacht, Papa, schlaf schön. Aber streiche zuvor noch eine Weile durch mein Haar. Ich mag das sehr.»

Mein Vater lächelte und antwortete «Klar, mein Engel. Solange du willst.»

Ich war kurz davor einzuschlafen, als er sagte «Sylviane, du wirst nun bald ein grosses Mädchen sein. Du bist hübsch. Du bist klug. Du bist eine Südseeperle. Viele junge Männer werden sich die Köpfe nach dir umdrehen

. Verschwende dich nicht an sie, lass dich nicht von ihnen beschmutzen.»

«Was redest du denn da, Papa?»

«Ach, das verstehst du noch nicht. Vergiss es gleich wieder.» Mein Vater seufzte. Ich schlief ein.

 

Kapitel 3 – Der grosse Urlaub

 

Ein paar Wochen später begannen die Sommerferien. Endlich. Ich freute mich schon so lange darauf. Das lange Schulsemester war endlich vorüber und ich würde mit meinen Eltern und Lauriane, sowie ihrem Verlobten Emanuel, nach Orlando fliegen, um mit ihnen gemeinsam einige schöne Ferienwochen in Florida zu verbringen. Mein Vater besass die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er hatte zwar nie in den USA gelebt, aber sein leiblicher Vater, mein Grossvater, war Amerikaner und lebte in New York.

Kurz bevor mein Vater damals meine Mutter kennenlernte, plante er eigentlich zu seinem Vater nach New York zurückzukehren und dort bei ihm zu leben. Er vermisste seinen Vater zeitlebens, denn er wuchs ohne ihn bei Pflegeeltern in Zürich auf. Das war ein dunkles Kapitel in der Lebensgeschichte meines Vaters, über welches er auch kaum spricht und ich entsprechend wenig darüber weiss.

Ich packte meinen Koffer, schmiss alles rein, was ich dort in der Sonne Floridas so brauchen würde. Badeanzüge, Sonnenhut, Sonnencrème, Sonnenbrillen, Strandschuhe, Turnschuhe, Ballerinas, luftige Kleidchen und auch etwas für die allenfalls kühleren Abende. Nicht fehlen durften zwei, drei Bücher, welche ich dann beim Faulenzen am Strand verschlingen konnte. Ich war sehr aufgeregt und etwas nervös bezüglich des bevorstehenden, langen Fluges. Nicht, dass ich das erste Mal fliegen würde, aber es machte mich immer wieder aufs Neue nervös. Am Vorabend des Abfluges konnte ich nur schlecht einschlafen. Viel zu aufgeregt war ich. Dann war der grosse Tag endlich da. Eine lange Reise stand uns bevor. Mein Vater rief uns ein Taxi, welches uns frühmorgens abholte, um uns zum Flughafen nach Zürich zu bringen. Lauriane und Emanuel trafen wir direkt dort, vor dem Eingang des Flughafengebäudes. Freudig und gut gelaunt begrüssten wir uns und gingen dann in die Empfangshalle, um unser Gepäck aufzugeben und unsere Reisepässe vorzuzeigen. Im Anschluss hatten wir noch genügend Zeit, auf der Terrasse des Flughafenrestaurants, welches gleich linkerhand lag, ein gutes Frühstück zu uns zu nehmen. Von hier aus konnte man aus nächster Nähe direkt auf den Flugplatz sehen, wo sechs oder sieben Flugzeuge in Reih und Glied standen, bereit für den Abflug. Es war bereits sehr warm und der Geruch von Kerosin lag in der Luft. «Schau mal, Mama» sagte ich «da stehen alle Flugzeuge! Welches ist unseres?»

«Ah, ma petite pousse, du kannst Fragen stellen. Das weiss ich jetzt wirklich nicht» antwortete meine Mutter.

«Kommt», sagte mein Vater «wir gehen zum Ausgang und dann werden wir gleich sehen, in welches Flugzeug wir einsteigen müssen. Es ist jedenfalls eine DC-6. Das ist der modernste Flugzeugtyp der Swissair.»

«Wow!» sagte ich. Lauriane verdrehte die Augen. Ihr war das Rumgeplänkel schon zu viel. So erhoben wir uns und gingen zum Ausgang. Dort mussten wir uns noch eine Weile gedulden bis uns eine Dame vom Bodenpersonal aufforderte mit ihr mitzugehen. Wir gingen mit gut einem Dutzend anderer Passagiere hinter der Flughafenangestellten her, über den Flugplatz zu einem grossen Flugzeug, welches unweit geparkt war. SWISSAIR prangte in grossen, silbernen Lettern oberhalb des Flügels des Flugzeuges. Hinter der Tragfläche befand sich eine mobile Treppe, welche vom Boden aus zur Tür der Maschine reichte und am Heck standen die Ziffern HB-IBO. An der Höhenflosse triumphierte das Schweizerkreuz. An der Treppe stand das Flugbegleitpersonal, welches uns herzlich lächelnd begrüsste und unsere Boardkarten kontrollierte. Zwei Damen, identisch in ein dunkelblaues Kostüm mit weisser Bluse und weisser Schleife verpackt. Dazu trugen sie weisse Handschuhe und einen weissen Hut, welcher von der Form her eher einem Nähkörbchen glich, das man da kopfüber platziert hatte. Darauf prangerte, dieses Mal in roten Lettern, SWISSAIR.

«Guten Morgen, sehr verehrte Damen, Herren und Kinder. Herzlich Willkommen an Board der Swissair. Bitte steigen Sie ein.» sagte eine der beiden Damen mit zauberhaftem Lächeln im Gesicht.

Wir stiegen die Stufen der Treppe hoch zum Flugzeug. Oben erwartete uns der Flugkapitän, welcher uns über den weiten Ozean bringen würde, der Co-Pilot und der Maitre de Cabine.

«Grüezi, herzlich Willkommen an Board der SR22. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein, wir starten in ein paar Minuten.» begrüsste uns der Kapitän.

Wir nahmen in den vordersten beiden Reihen Platz. Ich setzte mich ans Fenster und Papa setzte sich neben mich. Auf der gegenüberliegenden Seite setzten sich Lauriane und Emanuel hin und meine Mama befand sich auf dem Sitz direkt hinter mir. Die Sitze waren aus grauem Leder, die Armlehnen in rotes Leder eingefasst. Am Fenster gab es rot-weiss gemusterte, kurze Vorhänge. Ich sah mich um. Die Sitze waren nicht mal zur Hälfte belegt, als die Flugbegleiterinnen hinten die Tür verriegelten. Alle Passagiere an Board also. Es gab dreizehn Sitzreihen à je vier Sitze, je zwei links und zwei rechts des schmalen Gangs gelegen. Die Sitzreihen waren jeweils mit 1A, 1B, 1D, 1E, 2A, 2B und so weiter gekennzeichnet. Nur die 13. Reihe war nicht als diese, sondern als 14A, B usw. angeschrieben. 13 war eine Unglückszahl, weswegen man sie in Flugzeugen, Hotels, Etagen etc. nicht verwendete.

Eine Flugbegleiterin nahm ganz hinten auf einem separaten Sitz Platz, die Zweite sowie der Maitre de Cabine kamen nach vorne und instruierten die Sicherheitsvorkehrungen.

Der Pilot startete den Motor und die vier Propeller fingen laut an zu dröhnen, während sie zu rotieren begannen.

«Guten Morgen, sehr verehrte Damen und Herren, hier spricht Ihr Pilot. Mein Name ist Hans Widmer und ich werde Sie heute nach Chicago, Illinois fliegen. Die Flugzeit beträgt 12 Stunden und 10 Minuten. Das Wetter unterwegs ist gut, wir erwarten keine erwähnenswerten Turbulenzen und keine Verspätung. Wir starten in etwa zwei Minuten. Bitte schnallen Sie sich für Start und Landung an. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.» ertönte es durch einen Lautsprecher.

Es ging also los.

«Mein Engel, nun fliegst du mit deinem Papa in dessen Heimatland. Freust du dich?» wandte sich mein Vater an mich.

«Ja, Papa. Ich freue mich so sehr.

---ENDE DER LESEPROBE---