Himmelslaterne - Isabella Müller - E-Book
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Himmelslaterne E-Book

Isabella Müller

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Beschreibung

Das Einzige, was zählt, ist das Hier und Jetzt. Das Gestern ist vorbei und wird nie mehr wiederkehren. Wir können daran nichts mehr ändern, ausser unserem Blickwinkel dazu. Verletzungen und Traumata werden womöglich immer ein Teil von uns sein und wir werden sie immer ein Stück weit mittragen. Sie gehören in unseren Rucksack des Lebens, der jeder von uns trägt. Und selbst wenn wir nie ganz davon heilen werden, so können wir daran wachsen. Durch Verzeihen, uns selbst und anderen. Dann können wir im Hier und Jetzt auch wieder das Schöne im Kleinen betrachten und erkennen plötzlich, dass die kleinen Wunder doch die Grossen sind. Und es schon immer waren. So wie die Himmelslaterne, welche durch ihr hell scheinendes Licht in ihrer Mitte am Nachthimmel erstrahlt. Wir alle sind so eine Himmelslaterne, wir alle tragen dieses helle Licht in unserer Mitte. Dieses Buch handelt von durchlebten Traumata und deren Folgestörungen. Es handelt von Verrat, Manipulation, Missbrauch und von der grossen Lebenslüge, an welcher die Autorin fast zerbrach. Anschaulich schildert sie die tiefen, dunklen Täler von Depression, Erschöpfung, Verzweiflung und Angst, welche es zu durchschreiten gab und wie sie Schritt für Schritt einen Weg fand, das Vergangene hinter sich zu lassen. Sie möchte anderen dadurch Mut machen und zeigen: DU bist nicht allein! Du bist nicht zu viel, nicht zu wenig. DU BIST WERTVOLL UND EINZIGARTIG! Und sie möchte mit diesem Buch ein letztes Stück an Gerechtigkeit für ihre Mutter einfordern, indem sie ihr eine Stimme verleiht…

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Inhaltsverzeichnis

** Kapitel 1: So soll es sein **

** Kapitel 2: Wie alles begann **

** Kapitel 3: Der weitere Weg **

** Kapitel 4: Das Chamäleon **

** Kapitel 5: ICD-Code 41.1, Generalisierte Angststörung **

** Kapitel 6: Charlie **

** Kapitel 7: Trauma **

** Kapitel 8: Neuzeit, Endzeit, Freiheit **

** Kapitel 9: Der Zusammenbruch **

** Kapitel 10: Erschöpfungsdepression **

** Kapitel 11: Die Lebenslüge **

** Kapitel 12: Ich verleihe dir meine Stimme **

Nachwort

****

Das Schrecklichste ist nicht ohne jemandes Liebe gelebt zu haben.

Das Schrecklichste ist, ungeliebt geboren und auf den Weg geschickt worden zu sein.

Das Schlimmste ist nicht keinen Glauben zu haben.

Das Schlimmste ist, wenn der Glaube an alles versiegt ist.

Das Quälendste ist nicht die Erinnerung an manch schlimmen Moment.

Das Quälendste ist das Gefühl, welches auf so eine Erinnerung folgt.

Das Fürchterlichste ist nicht Angst zu verspüren.

Das Fürchterlichste ist die Einsamkeit, welche dich während dieser Angst zusätzlich ummantelt.

Das Sinnloseste ist nicht, nicht alles nach Plan gelebt zu haben.

Das Sinnloseste ist im Leben keinen weiteren Plan mehr zu haben.

Das Bitterste ist nicht nie geträumt zu haben.

Das Bitterste ist die Träume zu Grabe zu tragen.

Das Leidvollste ist nicht die Sehnsucht nicht stillen zu können.

Das Leidvollste ist die Sehnsucht zu spüren aber nicht definieren zu können.

Das Schmerzlichste ist nicht die Hoffnung zu verlieren.

Das Schmerzlichste ist die Erkenntnis, dass die Hoffnung nur eine Illusion ist, um das Leben tröstlicher erscheinen zu lassen.

Das Traurigste sind nicht all diese Erkenntnisse.

Das Traurigste ist es mit den Gefühlen und Emotionen um diese Erkenntnisse herum zu leben.

Denn wer glaubt, Trauer dauert nur eine bestimmte Zeit, hat nie einen Teil seines Herzens verloren und nie gespürt, wie die Seele zerbricht.

**

Ich widme dieses Buch

… meinen beiden wundervollen Kindern.

Ihr habt meinem Leben einen Sinn gegeben.

Ich liebe euch ewig und darüber hinaus!

… meinen wahren Freunden, ihr wisst, dass ich euch meine.

Ihr, die bedingungslos zu mir gestanden habt und steht.

Danke, dass ihr Teil meines Lebens seid!

… Nikita & Hernan, wie ich euch im Buch nennen werde.

Euch gebühren mein Dank und meine Bewunderung für alle Zeit.

Ich ziehe meinen Hut vor euch!

…Charlie, wie ich dich im Buch nennen werde.

Danke für deine sanftmütige Güte und dein grosses Herz.

Du bist und bleibst mein Engel auf Erden!

… den vielen wertvollen Schicksalsbekanntschaften,

aus welchen teils Freundschaften entstanden sind.

Es ist mir eine Ehre, euch auf meinem Weg begegnet zu sein!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 So soll es sein Seite 4

Kapitel 2 Wie alles begann Seite 8

Kapitel 3 Der weitere Weg Seite 20

Kapitel 4 Das Chamäleon Seite 36

Kapitel 5 ICD-Code 41.1,

Generalisierte Angststörung Seite 42

Kapitel 6 Charlie Seite 48

Kapitel 7 Trauma Seite 51

Kapitel 8 Neuzeit, Endzeit, Freiheit Seite 65

Kapitel 9 Der Zusammenbruch Seite 71

Kapitel 10 Erschöpfungsdepression Seite 79

Kapitel 11 Die Lebenslüge Seite 84

Kapitel 12 Ich verleihe dir meine Stimme Seite 96

Nachwort Seite 97

* Die Namen sämtlicher im Buch vorkommenden Personen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert. Es können keine Rückschlüsse zur jeweiligen realen Person gezogen werden. *

** Kapitel 1: So soll es sein **

Ich werde an einem kühlen Dezembermorgen im Jahre 1973 in Southport, North Carolina, geboren. Southport ist eine Kleinstadt in Brunswick County und grenzt an den Atlantik sowie den Cape Fear River. Das Klima in Southport ist subtropisch und es herrschen im Winter milde Temperaturen um +/- 18 Grad und die Sommer sind mit durchschnittlichen Temperaturen um 32 Grad ziemlich heiss. Durch den nahen Atlantik ist die Hitze im Sommer jedoch erträglich.

Mein Vater ist ein grosser Typ - Modell «Brummbär», im lieben Sinne, mit einer steten Ruhe ausstrahlend und einem herzerwärmenden Lächeln. Meine Mutter ist ebenfalls gross, sehr natürlich und etwas flippig zugleich, vor allem aber trägt sie das Herz am richtigen Fleck.

Meine Eltern sind glücklich über meine Geburt, sie hatten sich mich gewünscht und sind sehr stolz auf mich. Ich habe einen älteren Bruder, welcher ziemlich nach meinem Vater kommt: ruhig, Modell «Brummbär», was mir jedoch ganz angenehm ist.

Wir leben in einem schönen, aber nicht prunkvollen, Haus am Wasser mit grossem Garten. Früh lerne ich schwimmen, das Meer und dessen Bewohner kennen. Ich liebe die Sonne und das Meer, die milde Seeluft. Wir fahren oft zum Strand, lassen Drachen steigen, spielen im Sand, schwimmen, machen Picknick. Wir fahren mit unserem Boot aufs Meer hinaus zum Angeln und abends bereitet Mama den gefangenen Fisch über dem offenen Feuer zu. Wir können fast immer draussen essen, weil es fast immer warm ist und nur selten regnet. Überall zeigt sich die wunderschöne Natur. Im Frühjahr blüht alles. Es gibt unzählige Kirschblütenbäume hier. Ich liebe Kirschblütenbäume - sie sind meine Lieblingsbäume!

Ich habe ein eigenes, schön und gemütlich eingerichtetes Zimmer im oberen Stockwerk und ich habe zwei Katzen, welche ich über alles liebe. Draussen haben wir ein Gehege mit Hühnern und ein anderes noch mit Kaninchen. Ich habe ein wunderschönes Zuhause und eine grossartige Familie, plus noch viele Tiere, mit welchen ich mich gerne abgebe. Mama ist Schriftstellerin und arbeitet meist von zu Hause aus, ist also immer da. Und Papa geht tagsüber auswärts arbeiten und ist nur abends und an den Wochenenden sowie in den Ferien zu Hause.

In unserer Familie herrscht eine angenehme und lockere Stimmung. Es wird nicht geschrien und geschlagen schon gar nicht. Natürlich gibt es auch hin und wieder Probleme und Krach, wie überall. Aber meine Eltern legen Wert auf konstruktive Gespräche und Lösungsansätze, auch wenn mal einer der beiden das Haus verlassen muss, um wieder runterzukommen. Das ist im Bereich des normalen und völlig in Ordnung. Wir pflegen ein liebevolles, offenes und vertraunsvolles Verhältnis innerhalb der Familie. Meine Eltern behandeln meinen Bruder und mich ebenbürtig und sie lieben uns beide gleich fest. Kein Kind wird dem andern gegenüber bevorzugt. Das finde ich richtig so. Meine Mama ist für mich die engste Vertraute und ich finde in allem immer Trost und Geborgenheit bei ihr. Sie gibt mir nie das Gefühl, allein gelassen zu werden und nie das Gefühl, nicht wichtig zu sein. Sie sorgt und kümmert sich sehr um mich und meinen Bruder. Lernt uns gleichermassen auch viel und so werden wir selbständig. Ich muss nie Angst haben, weil ich Mama vertraue und sie da ist. Mir geht es gut. Mein Papa ist nicht so oft da, aber wenn doch, dann spielt er Spiele mit mir oder geht mit mir zum Angeln oder Fussball spielen, Skateboarden, schwimmen, Rollerbladen usw. Auch mal in den Freizeitpark oder sonst an eine Veranstaltung. Mit ihm läuft immer etwas, was ich auch sehr gerne mag. Mit ihm kann ich auch viel Quatsch und Risikoreiches tun - was meine Mama natürlich nicht wissen darf, weil sie sonst einen Herzinfarkt erleiden würde - aber ich mag den Quatsch und das Risiko, genau wie er. Und dies ist unser Geheimnis, jenes von Papa und mir. Er passt auch immer gut auf mich auf und natürlich habe ich auch bei ihm das volle Vertrauen und die Sicherheit, dass wenn er da ist, die Welt zusammenbrechen könnte und es dennoch nicht schlimm wäre. Denn er ist ja da. Mir kann folglich gar nichts Schlimmes passieren.

Ich - ich bin ein aufgewecktes Mädchen und mache mein eigenes Ding. Ich habe meinen eigenen Kopf und kann zuweilen echt stur sein. Was ich mir in den Kopf gesetzt habe, strebe ich an und versuche ich durchzuboxen, wenn es denn nötig sein sollte.

Ich liebe die Natur und die Tiere ganz besonders. Ich bin manchmal gerne allein am Strand und schaue einfach den Wellen zu oder grabe im Sand und sammle Muscheln, oder ich beobachte Krebse und die Möwen, welche sich vom Wind auf- und abtragen lassen. Es ist herrlich hier am Meer, hier zu Hause. Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber sein möchte.

Während der Sommermonate finden regelmässig Festivals und Barbecues statt. Das gefällt mir besonders gut, weil da auch immer viele andere Kinder sind, mit welchen ich mich gut verstehe und spielen kann.

Meine Kindheit trägt keine Schatten, alles ist so wie es sein sollte. - Wie es für jedes Kind auf dieser Welt sein sollte!

Nachdem ich die Schule abgeschlossen habe, studiere ich Biologie an der staatlichen Universität in Raleigh, um im Anschluss mit vier weiteren Semestern noch den Master in Meeresbiologie zu absolvieren. Meeresbiologin ist mein Traumberuf, welchen ich später auch ausüben werde.

An der Uni lerne ich auch meinen zukünftigen Mann kennen. Ich halte nichts von «Liebe auf den ersten Blick» oder sowas. Es ist nicht der erste Blick oder eben die Optik, welche mein Gefühl von Liebe überzeugen. Ich möchte damit nicht sagen, dass die Optik irrelevant ist, jedoch braucht es für eine grosse Liebe mit Beständigkeit weitaus mehr, gegenseitig, meiner Meinung nach. Auf den ersten Blick, folgt ja bald einmal der Zweite, Dritte und so weiter. Und meist merkt man rasch einmal, dass sich die Vorstellung des «ersten Blicks» nicht mit der Tatsache des Ist-Zustandes deckt. Wie auch immer. Mit meinem zukünftigen Mann verband mich von Anfang an viel. Wir hatten dieselben Themen und Ansichten, wir hatten dieselbe Abenteuer- und Unternehmenslust, wir konnten stundenlang zusammen reden, über Gott und die Welt, und wir konnten viel zusammen lachen. Humor ist mir sehr wichtig. Ebenso wie Intelligenz. Ich muss mich mit meinem Partner auf Augenhöhe unterhalten können. Ich möchte mich von ihm niveauvoll unterhalten, verstanden, getragen, unterstützt und mich bei ihm geborgen fühlen. Er ist mein Mann, meine Liebe, mein Vertrauter und mein bester Freund in einer Person. Er ist mein Pendant, meine Seelenliebe. Ich finde das ein sehr schönes Wort: Seelenliebe, denn so eine Liebe ist einzigartig und übersteht alles, auch den Tod. Und die Ewigkeit.

Ich strebe nach Ewigem, nach Vollkommenheit und das hat seinen Grund.

** Kapitel 2: Wie alles begann **

An einem Tag im Dezember 1974 war mein erster Geburtstag. Und an diesem Tag starb meine Mutter. Sie starb, weil sie es selbst so wählte. Sie stürzte sich frühmorgens aus dem Schlafzimmerfenster unseres Wohnhauses in Basel. Draussen war es noch stille Nacht und stockfinster. Mein Vater war, während das geschah, im Bad nebenan, um sich für den Tag fertig zu machen. Er musste zur Arbeit und würde erst später mit seiner Frau und der gesamten Familie den Geburtstag der Tochter, mir, feiern. Ich schlief währenddessen noch tief und fest in meinem Bettchen, welches im Elternschlafzimmer neben dem Ehebett stand. Ich kann kaum Details nennen, weil ich nur erzählen kann, was mir meine Familie Jahre später darüber erzählt hatte. Und das ist nicht viel.

Von Fotos entnehme ich, dass meine Mutter eine grosse, sportliche Frau mit schwarzem, langem Haar und braunen Augen war. Sie legte viel Wert auf Ästhetik, war immer perfekt frisiert und gekleidet. Mit ihrem Style war sie ihrer Zeit definitiv voraus. Aus Erzählungen kann ich berichten, dass sie eine sehr sanftmütige und bedachte Frau war. Sie lachte gerne und viel. Ihr Lachen war bezeichnend.

Ich weiss, dass meine Mutter nach meiner Geburt an einer postpartalen Depression litt und in der Folge mit einer Psychose zu kämpfen hatte. Eine postpartale Depression entsteht innert einer Zeitspanne von etwa vier Wochen nach der Entbindung. Die starken hormonellen Veränderungen, welche eine Entbindung mit sich bringt, lösen bei einem kleinen Teil der Frauen so etwas aus. Die abgeschwächte Form davon ist der Babyblues, welcher die ersten Tage nach der Entbindung das Glück der frischgebackenen Mütter trübt und sehr viel häufiger ist als die postpartale Depression. Letzteres ist eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung, welche eine umgehende, engmaschige und professionelle Behandlung erfordert. In den 1970er-Jahren erkannte man dies jedoch noch nicht so an, wie allgemein psychische Erkrankungen nicht. Die Frau galt einfach als verrückt und es wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt und urteilend mit dem Finger auf die Erkrankte gezeigt.

Meine Mutter wurde stationär in eine Klinik eingewiesen und durfte hin und wieder stundenweise nach Hause. Sie hat an diesem Dezembermorgen, wo sie sich dazu entschlossen hatte, ihrem Leid und ihrem Leben ein Ende zu setzen, keinen Abschiedsbrief hinterlassen und liess uns Hinterbliebene somit über alles im Ungewissen. Es ist nur klar, dass sie das Datum ihres Freitodes natürlich bewusst gewählt hatte. Und das wirft bei mir immer wieder Fragen auf. Ich weiss, dass ich diese Tat nicht verurteilen sollte, aber ich tue es. Sie hat mir damit ein Denkmal gesetzt, an welches ich jedes Jahr an meinem Geburtstag erinnert werde. Immer wieder aufs Neue. Das ist nicht fair, das macht man nicht. Ganz egal was sie dazu bewegt hat. Ich empfand so oft eine unbändige Wut ihr gegenüber. Und manchmal heute noch. Nämlich dann, wenn mich meine Kinder nach ihr fragen und um sie weinen, obschon sie sie nie gekannt hatten. Ich selbst hatte sie nicht mal gekannt. Sie war zwar meine Mutter, aber ich hatte keinen Bezug und keine Bindung zu ihr aufbauen können. Sie blieb im Grunde genommen eine Fremde für mich. Ihr selbstgerechtes Handeln hat weite Kreise gezogen, wie es die unruhigen Wellen an der Oberfläche tun, nachdem man einen Stein ins Wasser geworfen und versenkt hat. Meine Mutter war weg, aber wir sind geblieben und müssen damit leben.

Mein Vater war eine imposante Figur. Sehr gross, blond, blauäugig, kräftig und er besass ein gewinnendes und entwaffnendes Lächeln. Er hatte einen Fulltime-Job als Abteilungschef irgendeiner Speditionsfirma. Wochentags war er rund um die Uhr beschäftigt. Und fortan mit einem Kleinkind allein. Er brachte mich jeden Morgen zu meiner Grossmutter, bei welcher ich den Tag verbrachte, abends holte er mich wieder ab. Dann wurde geduscht oder gebadet und mein Vater bereitete das Abendessen zu, welches wir im Wohnzimmer auf dem Sofa einnahmen, währenddem er etwas im Fernsehen schaute. Vor dem zu Bett gehen durfte ich mir jeweils auf dem uralten Plattenspieler ein Märchen der Gebrüder Grimm anhören. Ich mochte das gerne, mir eine Schallplatte aussuchen und dann gespannt der Geschichte lauschen, zum mysteriösen Knistern des Plattenspielers hin. Jedoch schauderte es mich doch meist aufgrund der gruseligen Geschichten mit bösen Hexen, Tieren und Fabelwesen. Ich war schon immer ein eher ängstliches Kind. Nachts schlief ich meist unruhig und träumte wild. Oft fand ich mich am kommenden Morgen mitsamt der Bettdecke auf dem Zimmerboden liegend wieder. Manchmal erwachte ich auch mitten in der Nacht aus einem Albtraum und traute mich dann kaum noch zu atmen. Dann rief ich jeweils meinen Vater herbei, welcher im Zimmer nebenan schlief. An den Wochenenden war mein Vater immerzu mit mir unterwegs. Wir erkundeten die Natur, waren im Ferienhaus oder sonst wo. Wir gingen wandern, grillieren und oft auch in die Freiberge, wo ich auf Pferden reiten konnte. Das gefiel mir besonders gut. Irgendein Abenteuer gab es immer zu erkunden. Und er machte viel Blödsinn und Spass mit mir, vergötterte mich. Und ich ihn.

Dann wurde er krank. Ich habe das nicht bewusst mitbekommen, musste dann jedoch vorübergehend ganz bei meiner Grossmutter wohnen, da er hospitalisiert wurde. Wir gingen ihn besuchen und das war für mich sehr befremdlich. Er lag im weissen Spitalhemd im Bett und versuchte noch immer gute Laune zu versprühen und Spässe zu machen. Mir machte das jedoch Angst ihn da so zu sehen. Und ich wusste gar nicht was los ist. Ich war sehr froh, als er wieder zu Hause war und ich wieder bei ihm sein konnte. Daraufhin hatte er eine Haushaltshilfe engagiert, welche sich zusätzlich auch um mich kümmerte. Ihr Name war Ina. Ina war eine jüngere Frau, Studentin, wie ich später erfuhr, welche ihren Nebenjob mit Leidenschaft ausübte. Sie bügelte all die Berge von Wäsche, machte sauber, kochte Essen und kümmerte sich liebevoll um mich. Manchmal verbrachte sie die Wochenenden und sogar die Ferien mit uns. Wahrscheinlich damit mein Vater auch etwas Erholung für sich selbst fand und sich währenddessen jemand um mich kümmerte. Ich liebte Ina. Sie war unglaublich nett und liebevoll und hatte eine lebendige, erfrischende Art. Heimlich hatte ich mir gewünscht, sie würde meinen Vater heiraten und könnte meine Mutter sein. Dann hätte ich endlich mal eine richtige Mutter, die auch da wäre. Leider hatte das nicht funktioniert.

Fortan lag ein weisses Blatt Papier auf dem Salontisch im Wohnzimmer. Auf dem Blatt standen in grossen Ziffern zwei Telefonnummern geschrieben. Mein Vater erklärte mir, dass jene Nummer oben die meiner Grossmutter und jene unten die seiner Schwester, meiner Patentante, ist. Er lernte mir die Zahlen und wie ich diese anhand der Wählscheibe auf dem Telefon eingeben konnte. «Wann immer etwas sein sollte, wählst du eine der beiden Nummern, rufst deine Grossmutter oder deine Patentante an. Merke dir das, ja? Egal was ist, hier kannst du dich zu jeder Tages- und Nachtzeit hinwenden. Immer. Okay?» Ich hatte verstanden, aber nicht begriffen, worauf es hinauslief.

Ich war noch nicht ganz sechs Jahre alt, als ich es herausfinden sollte.

Es war Ende November und ich hatte inzwischen eine wirklich blöde Angewohnheit, wonach ich nachts immer aufwachte und Durst hatte. Immer. Jede Nacht. Wenn ich wach wurde, traute ich mich jedoch nicht im Dunkeln aufzustehen und in die Küche rüberzutapsen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Ich hatte Angst im Dunkeln. Und vor allem Angst vor Einbrechern, Mördern und all dem Kram. Letzteres wohl aufgrund meiner Albträume und diese wohl wiederum wegen diesen schaurigen Märchen, welche ich mir jeden Abend anhören durfte.

Also rief ich bei Nachtdurst jeweils nach meinem Vater. Kurz darauf trat er dann für gewöhnlich in mein Zimmer und brachte mir ein Glas Wasser, woraufhin ich wieder zufrieden weiterschlafen konnte.

Nicht so diese Nacht. Ich rief nach ihm und es tat sich nichts. Ich rief nochmals und nochmals und nochmals. Stille. Keine Schritte, keine Stimme, die zu hören war und auch meine Zimmertür öffnete sich nicht. Ich rief lauter. Nichts tat sich. Er schien mich nicht zu hören, redete ich mir ein. Intuitiv hatte ich jedoch ein ganz anderes Gefühl: hier stimmte etwas nicht. Wahrscheinlich sind Einbrecher im Haus, welche uns Böses wollen. Oh mein Gott, Hilfe. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was wenn sie mich finden? Wo kann ich mich verstecken? Wo ist Papa? Warum kommt er nicht?

Ich stand leise auf und schlich auf Zehenspitzen zur Zimmertür, was sich nicht ganz einfach gestaltete, denn der Fussboden war über und über mit einer Modelleisenbahn und weiteren Spielsachen belegt. Ich griff nach der kühlen Türklinke und versuchte diese so leise und unauffällig wie nur möglich nach unten zu drücken, damit sich die Tür öffnen würde und ich einen Blick in den Gang werfen könnte. Bloss kein Knacken nun vom Öffnen der Tür. Bitte! Ich schaffte es einigermassen leise und zog die Tür ein klein wenig auf. Nur so weit, damit ich mir einen ersten Überblick verschaffen und sehen konnte, ob sich da jemand im Gang aufhält. Ich glaubte fest, da wären Einbrecher am Werk. Ich sah, dass das Licht im Wohnzimmer noch brannte. Ansonsten konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Im Rest der Wohnung war es dunkel, was zu dieser Uhrzeit ja durchaus normal war. Es war gegen 2.30 Uhr in der Früh. Aber warum brannte im Wohnzimmer noch Licht? Wäre mein Vater noch wach, hätte er mich doch rufen gehört und wäre mit einem Glas Wasser zu mir gekommen. Mir war flau im Magen. Ich hatte Angst. Etwas stimmte hier nicht. Ich nahm all meinen Mut zusammen, öffnete die Tür nun ganz und trat vorsichtig in den Gang hinaus. Sofort schaute ich nach rechts zur Wohnungseingangstür hin. Alles schien wie gewohnt zu sein, nichts Verdächtiges. Ein nächster Blick meinerseits ging geradeaus, zur Küche hin. Dort war es stockfinster und niemand hielt sich darin auf, soweit ich erkennen konnte. Plötzlich nahm ich ein gleichmässiges Rauschen wahr. Es rauschte gleichmässig laut und ohne Unterbruch. Schnell stellte ich fest, dass dies der Fernseher sein musste, welcher um diese Uhrzeit zu jener Zeit (Ende der 1970-er Jahre) kein Programm mehr lieferte. Stattdessen lief ein «Ameisenrennen», wie wir es nannten damals. Ein Flattern von kleinen schwarzen und weissen Punkten, welche spielerisch über den gesamten Fernsehschirm tanzten und dabei dieses laute Rauschen erzeugten.

Ich wandte meinen Blick nach links, woraufhin ich direkte Sicht ins Wohnzimmer und auch zum Fernseher hin erhielt. Das Licht schien grell und erhellte den gesamten Raum. Und tatsächlich, es war der Fernseher, welcher noch lief und dieses Geräusch erzeugte.

Und dann sah ich ihn. Meinen Vater. Er lag längs ausgestreckt vor dem Fernsehmöbel auf dem Rücken am Boden. Den Kopf hatte er in der gelben Wäschezeine liegend, welche vor dem Möbel stand. Sämtliche durch Ina fein säuberlich gefaltete Wäsche, lag kreuz und quer neben ihm am Boden verstreut. Ich war starr vor Schreck. Waren doch Einbrecher da? Haben sie ihn umgebracht? Befindet sich womöglich noch jemand in der Wohnung? Oh mein Gott! Was soll ich nur tun? Hilfe! Ich brauche Hilfe! Nackte Angst kroch in mir hoch. Rationale Angst. Reale Angst. Eine schrecklich beklemmende Angst. Ich bin allein hier. Allein mit meinem Vater, welcher vollkommen regungslos auf dem Wohnzimmerboden liegt und keinerlei Reaktion zeigt. Langsam, zögerlich, lief ich zu ihm hin. «Papi, hörst du mich? Was ist passiert?» flüsterte ich unsicher und mehr zu mir selbst als zu ihm. Er rührte sich nicht, seine Augen waren geschlossen, sein Mund ganz leicht geöffnet, die Arme lagen regungslos neben seinem Körper am Boden, die Handinnenflächen zeigten nach oben. Ich sehe dieses Bild heute noch vor meinem inneren Auge.

Ich kniete mich neben ihn, rüttelte ihn und flehte ihn an, er möge doch bitte aufstehen. Er solle keine solchen Spässchen machen, es sei doch überhaupt nicht lustig, weil es mich sehr erschreckt und ängstigt. Aber er reagierte nicht. Ich schrie ihn an «steh auf, steh jetzt endlich auf! Komm schon, bitte! Steh doch bitte einfach auf!» Aber ich wusste, dass er das nicht tun würde. Ich setzte mich rittlings auf seinen Bauch und hämmerte wie wild auf seinen Brustkorb ein und flehte ihn weiter an, er möge bitte aufwachen. Ich zog seine geschlossenen Augenlider hoch. Die Augäpfel waren nach oben hin weggedreht und ich konnte seinen Blick nicht mehr einfangen, sah kaum noch etwas vom Blau seiner Augen. Ich war mir sicher, er war tot, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich drückte mein Ohr auf seine Brust, an sein Herz und versuchte auch nur den leisesten Herzschlag zu erhaschen. Aber da war nichts. Aus seiner Nase und aus seinem Mund entwich keine Luft. Er atmete nicht mehr. Mit beiden Fäusten trommelte ich weiter auf seinen Brustkorb ein und schrie ihn an «Nein! Wach auf! Steh auf! Bitte!» Ich rüttelte und zog an ihm, schrie und weinte, keine Ahnung wie lange. Irgendwann war mir klar, dass ich damit nichts erreichen konnte. Mir fielen das weisse Blatt Papier auf dem Salontisch mit den beiden Telefonnummern und die Worte meines Vaters dazu ein. Ich musste eine Telefonnummer wählen. Das hatte er mich gelernt. Nun musste ich also umsetzen, was er mir beigebracht hatte. So ging ich zum Salontisch hinüber, nahm das graue Telefon mit der Wählscheibe zur Hand und wählte die obere Nummer, welche mir auf dem Blatt Papier entgegenschimmerte. Es war die Nummer meiner Grossmutter. Ich liess es drei, vielleicht vier Mal klingeln, dann legte ich auf.

---ENDE DER LESEPROBE---