Verwöhnte Kinder fallen nicht vom Himmel - Peter Angst - E-Book

Verwöhnte Kinder fallen nicht vom Himmel E-Book

Peter Angst

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Beschreibung

Peter Angst berichtet von Kindern und ihren Eltern. In Beratungsstunden und bei Vorträgen trifft er immer mehr Verzweifelte an, die am Limit ihrer Erziehungskapazität angelangt sind. Er beleuchtet das gesellschaftliche Umfeld und die Ursachen der Verwöhnung, in die man hineinrutscht, ohne es zu merken. Er ist – als Vater von acht Pflegekindern – jedoch nicht nur in der Lage, die Situation zu beklagen, sondern auch empathisch und pragmatisch Wege zum Tun aufzuzeigen. Konkretes Handeln ist angesagt.

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VerwöhnteKinder

fallen

nicht

vom

Himmel

Peter Angst

Dieses Buch widme ich unseren Pflegekindern,mit denen wir lehrreiche und unvergessliche Jahreverbringen durften.

Alle Rechte vorbehaltenCopyright by Zytglogge Verlag Bern, 2003

Lektorat: Bettina Kaelin

Illustrationen: Peter Angst

e-Book: mbassador GmbH, Luzern

ISBN 3-7296-0654-9eISBN 978-3-7296-2002-5

Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am [email protected], www.zytglogge.ch

Schenkt euren Töchtern und Söhnen wieder eine eigene Kindheit. Sie können noch lange genug erwachsen sein.

Schenkt ihnen wieder ein eigenes Übungsfeld mit Langeweile, Forderungen, Problemen, Widerständen und Grenzen.

Haltet sie möglichst fern vom Konsumieren. Kinder brauchen kein Konsumparadies, aber ihre eigene Jugendzeit!

Inhalt

Einleitung

Heutige gesellschaftliche Umstände: ein Biotop für die Verwöhnung

Konsumrausch: «Das ist geil, das muss ich haben! »

Spass- und Unterhaltungsgesellschaft: «Mega-Ägschen! »

Pädagogische Verunsicherung:«Zu viele Köche verderben den Brei

Das Dilemma der Schulen: «Schule macht zu wenig Spass! »

Abschaffung von alten Werten: «Hoppla, jetzt komme ich! »

Verwöhnung: eine heimtückische, schleichende Erziehungserkrankung

Was ist Verwöhnung?

Verwöhnung entsteht leise

Schleichender Übergang vom Mogeln zur Sucht

Bis hin zu Erpressungen und zur Gewalt

Verwöhnung hat viele Masken

«Ich sage, wie es geht, Mami! »–Tyrannische Häuptlingskinder

«Niemand hat mir das gesagt! »– Abweisende Teflon-Jugendliche

«Mich scheisst alles an! »– Null-Bock-Jugendliche

«Ich bin masslos erschöpft! »– Zu engagierte Mütter

«Nein, das ess ich nicht, ich will lieber ein Eis!» – Weiches Nachgeben

«Nein, ich gehe nicht in den Kindergarten! »– Falsche Spuren

«Dann zertrümmere ich dein Auto! »– Grenzenlos fordernde Kinder

«Ihr habt mir nichts mehr zu sagen! »– Verspielte Autorität

«Oma, gehorch jetzt endlich! »... und weitere kuriose Beispiele

Ursachen der Verwöhnung

«Kinder im Mittelpunkt»– Die Tücken der Kleinfamilie

«Sie sollen es besser haben! »– Zu kurz gekommene Eltern

«Wir wollen nicht streiten! »– Angst vor Ablehnung und Konflikten

«Hotel Mama – immer geöffnet»– Vernarrt in die eigenen Kinder

«Psychologisieren statt handeln!»– Falsch verstandene Heftlipsychologie

«Du bist doch unser Ein und Alles! »– Elternschaft als Lebenssinn

«Gell, du bist mein Prinzchen! »– Um die Liebe der Kinder buhlende Eltern

«Sie haben es doch so schwer! »– Kranke und behinderte Kinder

«Wir wollten es besonders gut machen! »– Adoptiv- und Pflegeeltern

«Ein wenig wollte ich es ihr heimzahlen! »– Zerbrechende Familien

«Hast du genügend Taschengeld, Schätzchen? »– Reiche Eltern und gekaufte Kinder

«Sie lernen es schon noch! »– Falsche Beruhigungsstrategien

«Warum hat uns das niemand gesagt? »– Blinde Flecken

Was ist zu tun?

Gesunde Partnerschaft vor Elternschaft

Ein Recht auf Kindheit

Exaktes Hingucken und Vergleichen

Kindern vertrauen und vieles zutrauen

Wehret den Anfängen

Grenzen setzen und Konsequenzen ziehen

Klare Worte, weniger Wiederholungen

Sich nicht anbiedern, sondern Eltern sein

Toleranz nicht mit Naivität verwechseln

Nehmen und Geben einüben

Verzicht und Frustration ertragen lernen

Hierarchien einhalten: Mut zum letzten Wort!

Mütter, holt die Väter zurück!

Mass und Abstand halten – bevor Kinder Mütter schlagen

Hilfe beanspruchen, aber Autorität nicht aus den Händen geben

Allein Erziehende und Patchworkfamilien

Konkrete Erziehungsgedanken vom Aufstehen bis zum Schlafengehen

Ablösung muss sein!

Beispiele, die zum Handeln ermutigen

Schlussworte

Literatur

Peter Angst

Einleitung

Um es vorwegzunehmen: Eltern, die mit ihren Kindern in die Verwöhnungsfalle geraten, sind in der Regel liebenswerte und engagierte Menschen. Sie haben gute Absichten und wollen nur das Beste für ihre Kinder. Mit diesem Buch möchte ich diese betroffenen Eltern weder anschuldigen noch verurteilen. Vielmehr möchte ich aufzeigen, wie leicht man in unserer Zeit in diese krank machenden Fehlentwicklungen gleiten kann, und mithelfen, die heute so weit verbreitete Erziehungskrankheit besser zu erkennen und früher zu stoppen.

Für die Zukunft sind wir wieder auf lebenstüchtige Töchter und Söhne von engagierten Eltern angewiesen. Viele Anzeichen weisen auf härtere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zeiten hin. Wenn aber ein Grossteil unserer jetzigen Jugend weiterhin verwöhnt wird, dann steht uns diese dringend gebrauchte ‹Elite› einer engagierten Erziehung nicht mehr zur Verfügung.

Sollte es mir daher gelingen, ein paar nachdenkliche Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder weniger zu verwöhnen, dann hat sich dieses Buch gelohnt. Der Schmerz für betroffene Eltern ist gross, wenn sie später einmal erkennen müssen, dass ausgerechnet sie diese Fehlentwicklung ihrer Töchter und Söhne mitverschuldet haben. Denn: Verwöhnung ist hausgemacht.

Tatsache ist auch, dass man die Verwöhnung im fortgeschrittenen Stadium fast nicht mehr oder nur sehr mühsam korrigieren kann. Es ist, als wären zu viele Spuren falsch gelegt worden.

Wöchentlich kommen erschöpfte Paare zu mir, die sich einmal liebevoll verstanden haben, nun aber kurz vor dem Auseinanderbrechen sind. Die Ursache ihrer Erschöpfung liegt oft weniger in ihrem gescheiterten Eheleben als in der Überforderung durch das Elternsein. Sie alle haben zu sehr nur in den Rollen von Mama und Papa gelebt, sich jahrelang extrem um ihre Sprösslinge gekümmert, wollten es besonders gut machen und stehen nun vor einem Scherbenhaufen. «Wenn ich gewusst hätte, was es heisst, Kinder zu erziehen, hätte ich keine gezeugt!», klagte kürzlich ein enttäuschter Vater.

Und wenn meine Behauptung stimmt, dass verwöhnte Kinder nicht vom Himmel fallen, dann könnten wir ja hier auf Erden etwas dagegen tun. Ich habe daher versucht, im zweiten Teil dieses Buches möglichst konkret zu werden, um Sie, liebe Mütter und Väter, ‹handfest› beim Tun zu unterstützen, damit ihre Himmelskinder wieder eine echte Chance bekommen, selbständige Erwachsene zu werden. Versuchen wir es doch!

Noch etwas, worum ich Sie, liebe Leserin, bitten möchte: Verzeihen Sie mir, dass ich auch in diesem Buch wieder zu wenig die Gleichberechtigung der Sprache berücksichtige. Aber es ist einfach furchtbar holprig und langweilig, wenn immer beide Geschlechtsformen erwähnt werden. Somit verstehe ich zum Beispiel unter ‹Partnern› natürlich immer auch die ‹Partnerin›.

Danke für Ihr Verständnis!

Heutige gesellschaftliche Umstände:ein Biotop für die Verwöhnung

Früher wurden unzählige Kinder in kinderreichen und verarmten Familien fürchterlich vernachlässigt. Die Liebe ihrer Eltern mussten sie mit zu vielen anderen zu kurz kommenden Kindern teilen. Viele Kinderseelen verkümmerten oder wuchsen mit unheimlich vielen Defiziten heran, was teils zu tragischen Handlungen bis hin zu schlimmem Blutvergiessen führte. Generation um Generation wurden das Kinderelend und die Jugendmängel weitergegeben.

In unseren Tagen könnte nun endlich jedes Kind sorgfältig genügend Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen für einen wunderbaren Lebensbeginn. Wir hätten die Mittel, den Wohlstand und das Wissen dazu. In unserer Gesellschaft könnten viele Kinder endlich eine gesunde und kinderfreundliche Jugend erleben mit optimalen Startbedingungen: behütete, liebevolle Familien und eine gute Schulbildung. Eine tolle Chance für ein erfolgreiches Leben – die Möglichkeit für eine bessere Welt!

Doch nun kippen wir in ein anderes Extrem: Wir übersättigen diese unschuldigen Geschöpfe mit einer Flut von materiellen Konsumgütern, mit massloser Unterhaltung und Überbehütung dermassen, dass sie träge, frustrationsunfähig oder gar lebensuntüchtig werden. Nun entstehen Defizite anderer Art, was ein gesundes Aufwachsen ebenso behindert. Welch eine Tragik!

Verwöhnung ist aber nicht nur eine Angelegenheit der Eltern, sondern auch ein Problem unserer jetzigen Gesellschaft, mit ihrer noch nie da gewesenen Masslosigkeit. Kein unterstützendes Klima für junge Mütter und Väter, die versuchen, ihre Kinder zu lebenstüchtigen und sozialen Wesen zu erziehen. Sie alle müssen gegen eine Flut von widrigen Umständen und sich einmischenden Kräften ankämpfen. Einige davon möchte ich in den folgenden Kapiteln erwähnen, um die Eltern ein wenig zu entlasten und gleichzeitig wachzurütteln. Es ist kein leichter Job, in unserer Gesellschaft Kinder zu erziehen.

Die gegenwärtige gesellschaftliche Masslosigkeit ist sogar ein hoch politisches Problem: Wenn nämlich eine weitere Generation ihre Jugend verwöhnt und dadurch teilweise lebensuntüchtig macht, ist unsere gesellschaftliche Zukunft gefährdet. Fast könnte man von einer kollektiven Kindsmisshandlung sprechen. Wie weit sich Verwöhnung fortpflanzt in die nächste Generation, weiss ich nicht. Zu beobachten ist, dass verwöhnte Kinder gar keine Kinder mehr haben wollen. Sie scheinen bei Fun und Konsumation zu stören. Der deutsche Sozialpädagoge Albert Wunsch schreibt in seinem Buch ‹Die Verwöhnungsfalle›: «Aus diesem Hintergrund entlarvt sich die Verwöhnung als Todfeind einer tragfähigen Investition in die Zukunft.»

Konsumrausch:«Das ist geil, das muss ich haben!»

Es ist mir bewusst, dass schon einige besorgte Pädagogen auf die Problematik des masslosen Konsumierens hingewiesen haben. Wenn ich dieses Thema ebenfalls aufgreife, dann im direkten Hinblick auf die familiäre Verwöhnungsproblematik.

Ganze Industrien versuchen, mit unseren Kindern ins Geschäft zu kommen. Und das nicht diskret und anständig leise, sondern mit fiesen, groben Mitteln. Jeder Psychotrick wird angewendet. Mittels knallharter Marketingstrategien und Werbung werden die noch leicht beeinflussbaren Kinder und Jugendlichen bearbeitet. Die Werbeblöcke im Fernsehen sind bereits hauptsächlich den jungen Konsumenten gewidmet. Tagtäglich prasselt jungen Familien über alle Kanäle eine Flut von Angeboten und zuckersüssen Verlockungen in die gute Stube, sodass es fast unmöglich ist, diesem Wahnsinn entgegenzutreten und diese Konsumspirale zu stoppen. Wenn nun vernünftige und kluge Eltern sich gegen all diese Verführungen wehren wollen, müssen sie den eigenen Kindern gegenüber ständig Nein sagen. Und dieses ewige Nein sagen ermüdet eben, daher brechen viele Mütter und Väter ein, und schon beginnt ein unvernünftiger Konsumrausch, der oft sogar in einem schrecklich grenzenlosen Suchtverhalten enden kann.

Leider rutschen auch viele Eltern selbst in diese Masslosigkeit, weil rundherum Konsumgeilheit herrscht. Wir alle konsumieren viel zu viel. Das Dilemma ist heute bereits so gross, dass auch vernünftige Eltern zum Teil diesem Trend nachgeben müssen, damit ihre Kinder nicht zu hoffnungslosen Aussenseitern werden. So werden nun auch ihre Kinder überhäuft mit zu vielen Konsumgütern. Durch diese gegenwärtige Überschwemmung geht auch vielen Kindern und Jugendlichen die Liebe zum Detail verloren.

Und noch schlimmer: Das Konsumieren kann zur Droge werden. Um sich selbst gut zu fühlen, muss soundso viel Neues angeschafft werden. Wir alle stecken bereits in diesem Teufelskreis und treiben einander noch an. Wer nicht einen gewissen Standard hat, ist out! Und unter den Jugendlichen herrscht oft ein knallharter Wettbewerb in zu sein. Dazu kommt ein idiotisches Marken-Zwangverhalten: Nur diese und jene Marke ist jugendtauglich. Der deutsche Erziehungswissenschaftler Peter Struck beschreibt den Wahnsinn ‹Marken machen Kinder› in seinem Buch ‹Wie viel Marke braucht mein Kind?›.

Vor allem verunsicherte Kinder und Jugendliche sind den heutigen Konsumzwängen ausgeliefert, weil sie Angst vor Ausgrenzung haben. Angst, nicht mehr dazuzugehören. Ein jugendbedrohlicher Wahnsinn ist voll im Gange! Schlimm ist zudem, dass fast tagtäglich neue Bedürfnisse und Märkte geschaffen werden, um die Lust nach Neuem anzutörnen. Dies wiederum speist das Suchtverhalten unserer Töchter und Söhne. Viele Jugendliche kaufen und konsumieren mehr, als sie selbst verdienen können. Das treibt sie in die Verschuldung. Unsere Betreibungsämter haben im vergangenen Jahr eine Zunahme von mehr als 50 % an Betreibungen bei jungen Erwachsenen im Alter von 18 – 25 Jahren festgestellt.

Beunruhigend sind auch folgende Fakten: Bereits besitzen in der Region Zürich 75 % der Knaben und 81 % der Mädchen im Alter von 12–16 Jahren ein Handy.* Sie haben die Erwachsenen ‹handymässig› sogar überholt! Einige Jugendliche sind schon dermassen Handy-besessen, dass die geplagten Eltern Hilfe suchen. Ein neues Erziehungsproblem ist geboren ...!

Spass- und Unterhaltungsgesellschaft:«Mega-Ägschen!»

Masslos ist auch unser Unterhaltungsverhalten geworden. Tagtäglich werden junge Kinderseelen überfüttert mit zu seichter und zu grober Unterhaltung. Immer schneller werden die Bilder und Töne geschnitten. Immer schreiender und lauter wird der Inhalt. Viele Kinder und Jugendliche sind umzingelt von zu vielen Bildern der Gewalt. Und was für unsere Jugend vor allem zerstörend ist: das Quantum des Konsumierens. Wie eine Studie des Zweiten Deutschen Fernsehens aus dem Jahre 2001 aufzeigt, gucken bereits 3–5-jährige Kinder mehr als 1½ Stunden fern pro Tag, Kinder von 6–12 Jahren täglich etwa zwei Stunden, Buben übrigens mehr als Mädchen. In Italien sind die Zahlen noch bedrohlicher: Durchschnittlich sitzen Kinder zwischen 4 und 14 Jahren etwa 21/2 Stunden vor der Glotze. Wobei fairerweise dieselbe Studie auch deklariert, dass die Eltern selbst etwa 31/2 Stunden täglich vor den Kisten höckeln. Der Amerikaner Neil Postman warnte bereits im Jahre 1985 in seinem Bestseller ‹Wir amüsieren uns zu Tode›, dass die Jugend besonders anfällig und gefährdet sei in dieser krank machenden ‹Guck-Guck›-Gesellschaft.

Die empfindlichen Kinderseelen sind dieser gegenwärtigen Reizüberflutung nicht gewachsen. Sie zerstört die Entwicklungsmöglichkeiten der inneren Werte eines jungen Menschen! Es ist nur teilweise wahr, dass all das seichte Fernsehwissen unsere Kinder bereichern würde. Denn das Lernen bei Kindern geht immer noch über das Tun: Kinder müssen etwas selber tun und einüben, damit es verinnerlicht wird. Beim untätigen stundenlangen Konsumieren werden weder eigene Erfahrungen gemacht noch wird eine Handlung eingeübt und vertieft. Ausserdem müsste man sich auch Sorgen machen um die physische Gesundheit unserer Kinder. Dieses stundenlange bewegungsarme Hocken vor den Flimmerkisten ist schädlich für die heranwachsenden Körper.

Die gegenwärtige Spass- und Unterhaltungskultur ist auch in Bezug auf eine sinnvolle Lebensvorbereitung unserer Kinder und Jugendlichen zu hinterfragen: Muss wirklich alles subito Fun sein und Spass machen? Zur Entwicklung von lebenstüchtigen Menschen gehören die Erfahrungen mit anderen Werten auch dazu: der Umgang mit Verzicht, Ernst, Unlust, Langeweile, Geduld, Trauer, Frustration ...

Eine weitere Gefahr unserer verrückten Unterhaltungsgesellschaft besteht darin, dass zu vieles zu perfekt und zu vollkommen präsentiert wird. Folglich verlieren viele Kids den Mut, etwas selbst zu probieren, überhaupt selbst etwas zu tun oder sich selbst zu unterhalten. Diese totale, perfekte und übermässige Unterhaltung kann lähmend wirken auf die erst startende Jugend. Sie trainiert gar nicht mehr die ‹Muskeln› der eigenen Fantasie, wegen der Überdosis an fixfertigen Bildern.

Das alles übersättigt und verwöhnt unsere Kinder. Die Folgen können vor allem bei sensiblen Jugendlichen verheerend sein: Resignation, Passivität bis hin zum Suchtverhalten.

Pädagogische Verunsicherung:«Zu viele Köche verderben den Brei»

Fast nichts mehr in der Erziehung ist heute noch selbstverständlich. Fachleute sprechen bereits von einer Erziehungskatastrophe. Welche Erziehung soll es denn sein? Der alte autoritäre Stil – ‹die Struwwelpeter- und die Teppichklopfer-Pädagogik› –, der partnerschaftliche, demokratische Erziehungsstil – alles soll und muss mit den Kindern besprochen werden – oder der antiautoritäre, bewusste ‹Laisser-faire-Ansatz› nach dem Motto: Erziehung schadet nur, lasst die lieben Kinderlein gedeihen und alles wird gut?

Gegenwärtig tummeln sich viele eigenartige Psychologen in der Pädagogik herum. Sie rufen auf, das Verhalten der Kinder stets zu hinterfragen und zu analysieren. Das alles erscheint so klug, verständnisvoll, human und so notwendig. Deshalb wohl beginnen viele junge Eltern immer alles zu hinterfragen und zu erklären, statt zu handeln. Sie sind verunsichert und reagieren nicht mehr. Verprügelt ihr kleiner Mikli das Nachbarmädchen, dann sprechen sie vorerst besorgt mit Klein Mikli, reden mit der Kindergärtnerin, fragen den Kinderpsychologen um Rat, während der kleine Mikli in der Zwischenzeit munter weiter um sich schlägt. Niemand stoppt ihn wirklich, niemand packt zu und lässt Klein Mikli auch ein wenig handfesten Schmerz fühlen, damit die kleine Bubenseele begreift, dass es eigentlich keine gute Sache ist, anderen Schmerzen zuzufügen. Ein Fehlverhalten sollte aber schleunigst korrigiert und nicht immer nur verstanden werden. Das heisst: Fehlverhalten müsste wieder Konsequenzen haben. Erklärungen allein heilen eben selten. Handeln statt plaudern!

Meine Kritik geht auch an meine Berufskollegen. Wenn Eltern schon in die Verwöhnungsfalle geraten, sich aber rechtzeitig bemühen, bei den Fachleuten Hilfe zu holen, dann passiert leider oft Folgendes: Ein ganzes Heer von Helfern und Beratern schaltet sich ein. Das Kind wird zum vielschichtigen interessanten Fall gemacht. Aber niemand übernimmt wirklich Verantwortung und handelt. Es spielt sich oft das gleiche Muster ab: Alle reden mit den Eltern klug um den Brei herum, alle entlasten ein bisschen ihr Gewissen, aber nur selten werden die verwöhnenden Eltern auch konfrontiert. Vielleicht aus Angst, die Zuwendung der Hilfesuchenden zu verlieren, es könnte ja ein Auftrag verloren gehen ... Viele Menschen in therapeutischen und sozialen Berufen sind selbst sehr harmoniesüchtig und zu wenig konfliktfreudig. Und so köchelt diese Fehlentwicklung munter weiter. Die Therapeuten schreiben zwar wacker sinnlose, lange Akteneinträge, bleiben ‹neutral› und mogeln sich sachlich-bürokratisch weg, aber aus kleinen Miklis werden bald bitterböse, fordernde Mikes, sozial schwierig und eher lebensuntüchtig. Zu viele Köche verderben heute den Brei!

Zudem verbreiten gegenwärtig zu viele Fachleute mit klugen Worten falsch verstandene Individualtheorien. Sie rufen bücherweise auf, den Kindern beizubringen, Nein zu sagen, damit diese eigenwillig und stark werden. Das alles tönt gut: tolle ‹Selbstverwirklichungen› für den Einzelnen, aber weniger für das familiäre und fürs soziale Wohl. Da werden buchstäblich Theorien über die Bildung von egozentrischen und egoistischen Wesen verbreitet, dass einem angst und bange werden könnte. Recht und gut, wenn Kinder das Neinsagen lernen. Aber wir leben nun mal in Gemeinschaften, und da müsste wieder mehr das Bejahende für das Miteinander und das Wir eingeübt werden. Sehr oft führt das verbreitete ‹Bauchnabel-Denken› in die Einsamkeit. Mit sozialem Denken und echten Kompromissen müsste den Kindern wieder aufgezeigt werden, wo das Du beginnt und das Ich aufhört. Die Sozialisation beginnt in den Familien. Die heute weit verbreitete Kuschelpädagogik hingegen fördert egozentrisches und verwöhntes Verhalten.

Das Dilemma der Schulen:«Schule macht zu wenig Spass!»

Auch die Schulen erleben eine schwierige Zeit. Das Buhlen um die Aufmerksamkeit der heutigen Schüler ist gross. Wie wollen Lehrer einen teils mässig interessanten Stoff ihren Kindern beibringen, wenn diese bereits übersättigt sind von vielen Fernsehbildern, Videos, Tonbändli, Computerspielen und anderen ‹spannenden› Freizeitaktivitäten? All diese Programme sind intensiv beladen mit wenig kindergerechten Inhalten. Kein Wunder, dass die überforderten Kinderseelen all diese unverdauten Geschichten erst verdauen müssen und folglich weniger frei sind für den Stoff der Schule.

Viele gute Lehrer geben auf, weil sie diese jugendlichen Konsumenten nicht mehr ertragen, die da gelangweilt in den Bänken hängen und ab und zu dazwischenbrüllen: «Haben Sie nichts Spannenderes auf Lager?» Der Wind hat sich gedreht. Früher konnte doch ein guter Lehrer mit Leichtigkeit die Kinder für neues Wissen begeistern. Es brachte Abwechslung in die kleine, neugierige Welt. Heute können sich anscheinend viele Schüler locker ausserhalb der Schule selbst unterhalten, auf welchem Niveau auch immer.

Ausserdem quatschen zu viele Eltern in die Schulstuben rein. Sie alle sind ja auch einmal in die Schule gegangen und fühlen sich daher als Experten. Die einen fordern subito mehr Leistung, die anderen subito weniger Leistung. Keine einfache Sache, heute ein Lehrer zu sein. Gegenwärtig erhalten in meiner Region fast die Hälfte aller Schüler Sonderunterricht. Einerseits ist dieses individuelle Fördern lobenswert, andererseits aber zeigt es auch eine bedenkenswerte abnorme Entwicklung: Es gibt immer mehr Sonderfälle! Schade, wenn wir bald aus jedem Kind einen psychologischen Fall machen.

Immer wieder wird den Schulen auch vorgeworfen, die Kinder zu stressen. Nach meinen Beobachtungen entsteht aber der grösste Teil des Stresses in den Elternhäusern selbst. Neben der Schule laufen heutzutage noch die unterschiedlichsten Programme elektronischer Medien munter nebeneinander her, dazu kommt eine geladene Portion Freizeit-Aktionismus: Tennis, Reiten, Judo, Ballett, Klavierstunden etc. Nichts darf fehlen, alles sei wichtig, rechtfertigen dann die eifrigen Eltern, die ihren Kindern ‹nur› optimale Möglichkeiten bieten wollen ...

Es wird auch viel geklagt wegen der zunehmenden Gewalt und dass die Lehrerschaft dagegen zu wenig tun würde! Leider kommen aber zu viele Kinder mit schlecht verdauten Bildern in den Köpfchen aggressiv zur Schule, weil sie stundenlang falsche Helden ‹reingezogen› haben. Oder sie üben daheim zu wenig, wie man miteinander fair umgehen könnte. Nun wird also auch diese Fehlentwicklung vorwiegend den Schulen selbst angelastet. So ein Blödsinn! Vielmehr bringen die abgestumpften Kinder diese groben Vehaltensmuster von zu Hause mit. Die Schule kann doch gar nicht für alles verantwortlich sein.

An den Gewalteskalationen sind viele verwöhnte Kinder und Jugendliche beteiligt. Oft leiden diese an zu wenig Frustrationstoleranz: Sie können nicht umgehen mit dem Anderssein, mit kleinen Ungerechtigkeiten oder Benachteiligungen. Zu schnell sind sie verletzt, fühlen sich leicht provoziert und meinen nun, im Recht zu sein, losschlagen zu müssen und ihren Frust an andern auszulassen. Die zunehmende Gewalt in den Schulen hat auch etwas mit der zunehmenden Verwöhnung zu tun!

Abschaffung von alten Werten:«Hoppla, jetzt komme ich!»

Eigentlich schade, in der Kindererziehung gäbe es viele pädagogische Grundsätze, die sich schon tausendfach bewährt haben und auf die wir heute noch bauen könnten, aber wir sind daran sie zu vergessen, zu verdrängen und abzuschaffen. Natürlich gab es auch fürchterliche Entgleisungen und schrecklich untaugliche erzieherische Mittel, die es nicht verdienen, heute noch hochgehalten zu werden, wie den unnötigen Drill, falsche Autoritäten, die heuchlerische Moral etc.

Es wird viel von der sozialen Kompetenz gesprochen, statt nach ihr zu handeln. Wie geschickt ein Mensch mit anderen Menschen umgehen kann, ist oft entscheidend für sein eigenes Wohlsein und seine Entfaltungsmöglichkeiten. Noch brauchen wir einander. Der Mensch wird nun mal erst am Du zum wertvollen Ich! Doch wir sind auf dem besten Weg, allesamt zu fürchterlichen Egoisten zu werden und zu vereinsamen. So nimmt zum Beispiel Jahr für Jahr die unentgeltliche Freiwilligenarbeit massiv ab. Niemand scheint mehr gross Interesse für das gemeinsame Wohl zu haben. Engagement für andere Menschen ist out. Ebenfalls brechen gegenwärtig viele Jugendvereine und Jugendorganisationen zusammen. Es fehlt an Nachwuchs. Niemand geht mehr regelmässig hin. Null Bock auf dieses Miteinander mit seinen freiwilligen Verpflichtungen. Es wimmelt von ‹Ichlingen›, die alle von einem Egotrip zum anderen hetzen. Konsumieren auf Zeit – ja. Regelmässig mitmachen – nein!

So nach dem Motto: «Hoppla, jetzt komme ich!» Oder wie Eva Zeltner in ihrem Buch ‹Generationenmix› geschrieben hat: «Jeder denkt an sich. Nur ich denke an mich!» Selbstverwirklichung um jeden Preis. Viele Familien zerbrechen daran. Für die notwendigen Kompromisse scheinen wenig Goodwill und Verständnis mehr da zu sein. Oft kommt es mir vor, als konsumierten Menschen bereits auch die Mitmenschen. Das heisst, man benützt den anderen nur, solange er etwas nützt und Spass macht. Und dann: Der Nächste bitte! Langzeitfreundschaften und lange Beziehungen liegen nicht im Trend. All diese gesellschaftlichen Umstände fördern das Milieu, wo Verwöhnung gedeihen kann.

Vielleicht werde ich auch als alter Moralist abgetan, wenn ich nach einigen alten Werten wie freundliche Umgangs- und vernünftige Anstandsformen frage. Könnten nicht auch gute Manieren den Jugendlichen künftig noch viele wichtige Türen öffnen?

Autorität, Konsequenz, Gewöhnung, Anstand, Wertschätzung des Mitmenschen, Durchhaltevermögen etc. waren durchaus sinnvolle Lernziele. Nehmen wir zum Beispiel das Durchhaltevermögen: Gegenwärtig bricht in unserem Lande jeder vierte Lehrling seine Lehre frühzeitig ab. Betroffene Jugendliche geben dazu dann Kommentare ab wie: «War nicht zum Durchhalten.» – «Die Arbeit war doof.» – «Der Stutz stimmt nicht.» – «Zu viel Chrampferei.» – «Zu viel Stress, wir sind doch nicht blöd! Nicht mit uns!» Sicher ist es erlaubt nachzudenken, ob unsere Ausbildungen noch zeitgemäss sind. Wenn Jugendliche aber auch künftig in unsere Arbeitswelt eintreten möchten, müssen sie wohl oder übel auf deren Ansprüche bezüglich Leistungen und Normen vorbereitet werden. Wir haben nun mal eine harte Arbeitswelt – und es sieht so aus, als würde sie noch härter werden –, die dementsprechend nach einer ‹realistischeren› Vorbereitung verlangt.