Verzeihung, sind Sie mein Körper? - Christl Lieben - E-Book

Verzeihung, sind Sie mein Körper? E-Book

Christl Lieben

4,8
13,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Für viele von uns muss der Körper vor allem funktionieren. Störungen werden oftmals lange ignoriert, bis irgendwann die Schmerzen oder Krankheiten nicht mehr zu übersehen sind.

Achtsame Körper- und Symptomaufstellungen sind eine hilfreiche Möglichkeit, die Botschaften des Körpers zu verstehen.

Anhand vieler Beispiele aus der Praxis zeigen die erfahrenen systemischen Therapeutinnen, dass Aufstellungen der Beginn heilsamer Prozesse sein können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 233

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Schutz unserer Klienten und Klientinnen wurden alle Namen und persönlichen Details anonymisiert.

Wir haben uns entschieden, weibliche und männliche Formen im Text nach dem Zufallsprinzip zu verwenden, und möchten klarstellen, dass wir jeweils das andere Geschlecht mit bedenken.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Matthias Varga von KibédVorwortVerzeihung, sind Sie mein Körper? Die generalisierte Form einer häufig vorkommenden FallgeschichteI - ERFAHRUNGEN MIT KÖRPER – UND SYMPTOMAUFSTELLUNGE
Wozu Körper – und Symptomaufstellungen?Grundlagen meiner Arbeit mit Körper – und SymptomaufstellungenDie innere Haltung bei der Arbeit mit Körper – und SymptomaufstellungenDas Vorgespräch zur Aufstellung
Copyright

Geleitwort von Matthias Varga von Kibéd

Liebe LeserInnen,

machen Sie sich auf etwas gefasst! Denn Achtung: Ihr Körper liest mit! Schließlich haben wir ihn meistens dabei. Und wenn Ihr Körper nur annähernd so viel auf sich bezieht wie der meine, als ich dieses Buch las, wenn er auch Ihnen so viele Erinnerungen und Erfahrungen, Beunruhigungen und Hoffnungen, Schmerzhaftes und Anrührendes, vergessen Geglaubtes und gerade erst sich Abzeichnendes ins Bewusstsein kommen lässt wie mir, dann haben Sie eine intensive Zeit vor sich. Dieses Buch ist mit Herz und Verstand geschrieben und darum kann der ganze Mensch mitlesen.

Christa Renoldner hat hier aus der eigenen reichen Praxis und Erfahrung in der Arbeit mit körperlichen und psychosomatischen Problemen ihrer KlientInnen eine Sammlung ungewöhnlicher und bewegender Fallbeispiele zusammengestellt und die Grundlagen ihres Vorgehens verständlich und zugänglich gemacht. Darüber hinaus ist es ihr gelungen, Christl Lieben dazu zu bewegen, wesentliche Grundideen von Christls eigenen ungewöhnlichen Formen der therapeutischen Arbeit mit Körperthemen mit den LeserInnen zu teilen – einer Arbeit, die in großer Tiefe und Menschlichkeit wurzelt und von Christl Lieben oft mit einem gehörigen Schuss Wiener Humor serviert wird.

Eine der Wurzeln von Christl Liebens Arbeit ist die philosophische und therapeutische Sicht von der Doppelnatur des Menschen bei Karlfried Graf Dürckheim, der das Wesen als die Weise sieht, wie sich das »überraumzeitliche Sein« durch uns in der Welt verwirklichen will. Christl Lieben würdigt den Körper nicht nur als das »Gefäß dieser Verwirklichung«, sondern lehrt aus der Erfahrung der Wegweisung durch den Körper, dem sie das Wissen um den »Segen einer Krankheit im Sinn eines Gesamtkonzeptes des Weges« zuschreibt, was uns intensive Reifungsprozesse ermöglichen kann.

Christa Renoldner schreibt aus dem Bewusstsein des Unterschieds vom Körper, den wir haben, zum Leib, der wir sind, und sie verdeutlicht ihre bescheidene und professionelle Haltung, wenn sie schreibt, dass »nicht wir heilen, sondern, falls Heilung stattfindet, (diese) ... in unseren Klienten und Klientinnen (geschieht) durch Kräfte, auf die wir nur aufmerksam machen können«; diese Klarheit hat etwas ungemein Befreiendes.

Liebe LeserInnen, Christl Lieben und Christa Renoldner werden Sie durch ein gefährliches Krisengebiet führen, das Christl in dem Bereich der Kommunikation zwischen Geist und Körper verortet und für das sie den entscheidenden Prozess darin sieht, »Emotionen einerseits als sekundäre Gefühle zu erkennen, sie aufzulösen oder zu verwandeln, andererseits der Kraft, Tiefe und Wahrhaftigkeit primärer Gefühle zu vertrauen«; und die beiden AutorInnen geben uns ein gutes kundiges Geleit durch dieses Krisengebiet. Dabei sieht Christl Lieben die Gefühle als »aus der Tiefe unseres Mensch-seins kommend«, während sie Emotionen als Abspaltungen von Grundgefühlen betrachtet, da, wo diese nicht zugelassen werden.

Ihr habt mich jedenfalls wieder auf diese schon begonnene Reise mitgenommen, liebe Christl und liebe Christa. Nicht nur intensiv und lebendig waren die Empfindungen, Erinnerungen und Impulse bei Eurem engagierten Buch; Ihr habt mich auch eingeladen und teilnehmen lassen an Eurer langen hingabevollen Praxis, Eurem außergewöhnlichen Einsatz für die Menschen, Eurer Sorgfalt und Eurem unermesslichen Inte resse, Eurer Freude, wenn es Euch gelang, für die einen von Euren KlientInnen von Nutzen zu sein oder, wie Ihr es vielleicht noch vorsichtiger sagen würdet: wenn in Eurer Gegenwart etwas Nützliches geschah. Zugleich seid ihr Vorbilder in Eurer Bescheidung auf ein gutes Geleitgeben bei den anderen, ohne letztlich in Mutlosigkeit oder Hadern zu verfallen, und in Eurem achtungsvollen Nach-vorne-Tasten auf noch kaum oder gänzlich unbeschrittene Pfade der Verbindung von systemischer Aufstellungsarbeit mit psychosomatischen Themen.

Ich bin durch Euer Buch angeregt, Ideen aus Eurer Arbeit in die Strukturaufstellungsarbeit mit Körperthemen aufzunehmen, und ich habe durch Christls tiefgründige Ideen zu freiem (unserer ursprünglichen Natur entsprechenden) Bewusstsein und gebundenem (durch Krankheit in sich verstricktem) Bewusstsein Fragen für mich selbst grundsätzlich neu zu überdenken begonnen; ich habe dabei auch neue Ideen bekommen, wie die autopoietischen Aufstellungen Siegfried Essens und seine Ich-Selbst-Aufstellungen mit der Strukturaufstellungsarbeit zusammengefügt werden können. Ich freue mich schon auf den Austausch mit Euch über die neuen Erfahrungen und Überraschungen, die die unerschöpfliche Welt der transverbalen Sprache sicher weiter bereichert.

Eine ganz subjektive Auswahl einiger weiterer Ideen, die ich aus Eurem Werk besonders hervorheben möchte, sei hier angefügt: zwei hypnotherapeutisch gesehen besonders einladende Ressourcenbezeichnungen durch

■ die Idee, in der Symptomaufstellung (als Variante der Aufstellung des ausgeblendeten Themas) den »Weg heraus (aus dem Symptom)« durch einen eigenen Repräsentanten zu symbolisieren (CL), und■ die Einführung der Position dessen, »was heilt«, mit der methodischen Begründung, »damit wir uns in der Begleitung nicht gemeinsam mit unserer Klientin ganz an (deren) Thema verlieren« (CL); ferner■ die Verwendung systematisch mehrdeutiger Bezeichnungen und ihre Utilisation zum Beispiel in der Bezeichnung des »Wegweisers« (»Weg« vs »weg (von)«), wobei die körperliche Wirkung verbaler Rahmensetzungen deutlich wird (CR),■ die Aufstellung von RepräsentantInnen für gebundenes und freies Bewusstsein und ihre Befragung vor(!) Einführung des Fokus, mit einer methodisch besonders interessanten Begründungsidee für dieses Vorgehen (CL),■ die wunderbare Fallgeschichte vom gregorianischen Choral im Kniegelenk beim imaginierten Hineingehen in die Kniearthrose (CR) (von der ich meinen Knien sogleich berichtete), und schließlich■ die drei Varianten (Arbeit in einem Körperraum, Zellarbeit, Stimmarbeit), wie in der Einzelarbeit Vorgespräch und Ouvertüre die Oper der expliziten Aufstellung ersetzen können. (CL)

Sehr interessant finde ich Christls These, dass in eine (reguläre) geometrische Figur gestellte Positionen in einer Strukturaufstellung schon dadurch einen Abstand vom aktuellen Thema und eine erweiterte Sicht bekommen; ich werde dieser Idee auf jeden Fall experimentell weiter nachgehen.

Liebe Christl, Du weißt aus unseren vielen Gesprächen dazu, wie schwer ich mir mit Deiner Bezeichnung für Deine Idee einer »Liebe frei von Mitgefühl« tue, so sehr mir auch die Idee einer Liebe zusagt, die »den Anderen in der Fülle seiner Möglichkeiten und in seiner Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen« sieht, wie Du schreibst. Ich bin überzeugt, dass die Form, wie Du sie anwendest, für deine KlientInnen stärkend und erfrischend ist. Bisher meine ich jedoch immer noch, dass der durch die europäische Übersetzungsliteratur zum Buddhismus geprägte Begriff des Mitgefühls dort eben dieser von Dir betonten klaren und unverwickelten Form der Liebe entspricht – , doch vielleicht zeigt das ja eben noch einen Teil einer eigenen Verwicklung bei mir. Jedenfalls überzeugt mich Deine Anwendung dieser Haltung gerade dann besonders, wenn Du von der Arbeit im Grenzbereich mit schwer behinderten KlientInnen berichtest. Deine in Dürckheims Idee vom doppelten Ursprung des Menschen wurzelnde These, dass, wenn »der Körper sich in seinem Bewusstsein im Zug einer existenziellen Erkrankung ganz eng zusammenzieht ... der Geist ein freies Potenzial zu sein (scheint), das den Körper am Leben erhält, damit ... der Körper in seinem Kern die Sinnhaftigkeit seiner Verfassung erkennt, um den Weg zu ertragen« ist jedenfalls für mich eine der philosophisch und anthropologisch aufregendsten und bewegendsten Thesen, die ich seit Langem hörte. Und sehr dankbar bin ich Dir auch, liebe Christl, für Deine tiefgründige Einsicht in das klare äußere Bestätigen eigener Schuld als Voraussetzung der Selbstvergebung von Tätern.

Erlaubt mir noch, liebe Christa und liebe Christl, den Ausdruck der Freude über die entschiedene und nachvollziehbare, klare Weise, wie Ihr Eure Haltung zum therapeutischen Vorgehen und zu den KlientInnen zum Ausdruck bringt, wenn ihr zum Beispiel betont:

■ Es geht hier nicht um »richtig« oder »falsch«, sondern um gewollte Mehrdeutigkeit, die der komplexen Geschichte eines jeden Klienten gemäß ist. (CR)■ Ich lasse nicht zu, dass sich in mir Hypothesen verfestigen, denn schon das nächste Wort eines Repräsentanten kann alles ändern. (CL)■ Ich habe noch nie eine Aufstellung abgebrochen oder Systemmitglieder, die zum Beispiel eine schwere Schuld auf sich geladen haben, ausgegrenzt. Das schlägt meines Erachtens eine tiefe Wunde in das Bewusstsein der Klientin. (CL)■ Alle Symptome reagieren ungünstig darauf, wenn sie missachtet. . . oder einfach zum Verschwinden aufgefordert werden. (Sie) ... verhalten sich wie Menschen ... deren Einsatz für andere gesehen werden soll und die sich nicht mit Schimpf und Schande verjagen lassen wollen. (CR)

Ich habe beim Kapitel »Verzeihung, sind Sie mein Körper?« über das posthypnotische Suggestionstrommelfeuer liebevoll, doch frei von Mitgefühl, Tränen gelacht und freue mich, wenn das in einer späteren Auflage vielleicht ausgebaut wird ...

Vielleicht gelingt es ja Christa, ein erneutes Wunder zu tun und Christl, wenn wieder gerade die »Rosen blühen und duften«, zu weiteren Gaben aus ihrer Fülle zu bewegen.

Ich danke Euch beiden für Euer Geschenk, Eure KlientInnen und uns als Leser dazu einzuladen, die eigene Tiefe zuzulassen.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich von Herzen so viel Gewinn aus der Lektüre dieses Buches, wie ich daraus gezogen habe.

Im Kloster Fischingen am 29. März 2011

Matthias Varga von Kibéd

Vorwort

»Den großen Haufen von längst Gedachtem trotzig schwängern mit eig’nem Trachten.« Dieser Satz eines befreundeten Komponisten, Otto M. Zykan, der wunderbare Musik geschrieben und erfolgreich aufgeführt hat, kommt mir jetzt in den Sinn, in einem Augenblick, in dem ich mich vor den Computer setze, um an einem Buch zu arbeiten bzw. damit zu beginnen. Hiermit breche ich meinen Schwur, die Büchertische auf den Kongressen niemals mit meinem »eignen Trachten« zu beschweren.

Es werden ja auch nur Teile eines Buches, rechtfertige ich mich. Christa Renoldner wird Eigenes hinzufügen. Das Ganze ist ihre Idee. Sie hat sie mir an einem sonnigen Vormittag im August unterbreitet, auf meiner Lieblingsbank mit Blick über Wiesen und Wald. Die Rosen haben geduftet, es war warm und friedlich. Aus dieser Stimmung heraus begann ich zu schreiben.

Im Laufe meines Schreibprozesses ist mir immer klarer geworden, dass ich für Alexandra, meine Tochter, schreibe. Sie und ihre Kinder sind die Menschen, die ich am meisten liebe auf dieser Welt. In ihrem Haus in Los Angeles unter ihrem Sonnenschirm und zwischen ihren Rosenbüschen habe ich den Großteil meiner Texte geschrieben.

Dir, mein geliebtes Kind, widme ich meinen Teil dieses Buches, in inniger Dankbarkeit für Deine Liebe.

Christl Lieben

Guggenberg/Los Angeles, Frühjahr 2011

Aufstellungsarbeit fasziniert mich seit Langem. Ich praktiziere sie in meiner Praxis und in Seminaren, lehre sie, schaue Kollegen und Kolleginnen über die Schulter, habe von »Großen« und weniger Berühmten eine Menge gelernt. Christl Lieben aber wird für mich immer ein ganz besonderes Vorbild sein.

»Eine Meisterin des Understatements in eigener Angelegenheit«, hab ich sie neulich genannt. Und das trifft den Nagel auf den Kopf.

So musste ich sie erst gewinnen, mit mir dieses Buch zu schreiben, das überfällig ist. Bei niemandem sonst habe ich diese Tiefe und Genauigkeit in der Arbeit mit psychosomatischen Themen gesehen.

Bei niemandem sonst finde ich diese hohe Kompetenz in der Kombination von systemischem Denken, Körper-Wissen, eigener Lebenserfahrung und Aufnahme von neuen Erkenntnissen, beispielsweise aus der Gehirnforschung der letzten Jahre. Kaum habe ich einmal ein halbes Jahr nicht mit ihr gearbeitet, überrascht sie mich schon wieder mit einem neuen Format oder neuen Ideen zu alten Formaten.

So ist es mir Freude und Ehre zugleich, gemeinsam mit ihr an diesem Buch zu arbeiten und diesen Erfahrungsschatz einem größeren Leserinnen – und Leserpublikum zugänglich zu machen.

Christa Renoldner

Guggenberg/Salzburg, Frühjahr 2011

Verzeihung, sind Sie mein Körper? Die generalisierte Form einer häufig vorkommenden Fallgeschichte

»Verzeihung, sind Sie mein Körper? Ich will nicht aufdringlich sein, aber man hat mir gesagt, Sie seien mein Körper. Wissen Sie etwas davon? Hat man Ihnen das auch gesagt? Wie bitte, Sie wissen nicht, wer ich bin? Ja, haben Sie noch nie von mir gehört? Nein? Wie können Sie so ungebildet sein! Ich bin Frau Müller, Vorstandsvorsitzende vom größten Unternehmen weit und breit. Ich entscheide täglich über Menschen mit einem Federstrich – au, mein Rücken ... wissen Sie, ich kann mich in letzter Zeit nicht mehr bücken. Warum grinsen Sie so schadenfroh? Wenn Sie sich so schlecht benehmen, werde ich mich nicht weiter mit Ihnen befassen. Wie bitte? Das habe ich nie getan? Natürlich nicht, Sie gefallen mir nicht. Sie grinsen an der falschen Stelle und außerdem haben Sie zu kurze Beine. Und bei Ihren Beinen kann man eigentlich nur wegschauen. Ich verstehe nicht, was wir miteinander zu tun haben sollten. Am besten gehe ich jetzt, ich muss zu einer Pressekonferenz, wo man auf meine Meinung zur politischen Situation von Frauen in Männerberufen wartet. Aber was machen Sie denn? Warum hängen Sie sich denn wie ein Mehlsack an mich dran, das ist ja unverschämt, zudringlich – Sie wollen zu mir gehören? Glauben Sie wirklich, dass ich mich mit so einem Mehlsack zeigen werde? Um die Mitte herum kann Sie ja der stärkste Mann nur schwer umfassen, und die Beine, wie gesagt. … Und haben Sie eigentlich auch einen Hals? Jetzt heulen Sie doch nicht! Was ist mit Ihrem Hals, ich kann ihn nicht finden. Der Kopf sitzt auf den Schultern, wie haben Sie denn das gemacht? Also all diese Angriffe lasse ich nicht auf mir sitzen, das ist ja ungeheuerlich! Während ich den ganzen Tag an meinem Schreibtisch sitze und die Welt bewege, na ja, einen Teil der Welt jedenfalls, muss ich mir das anhören. Warum schauen Sie mich so flehend an? Was, Ihre Nerven, Sie können nicht schlafen? Was hat das mit mir zu tun? Nehmen Sie halt eine kleine weiße Tablette, oder … was weiß ich, ich weiß überhaupt nichts mehr! Ich verstehe nicht, was ich mit Ihnen zu tun haben sollte. Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe? Sie sehen doch, ich habe es eilig. Man hat mir gesagt, Sie seien mein Körper und ich soll mich jetzt mit Ihnen herumschlagen. Ich weiß wirklich nicht, wozu ich einen Körper brauchen sollte. Sie gefallen mir nicht, gehen Sie mir endlich aus den Augen! Und schauen Sie mich nicht an wie ein verloren gegangener Hund. Irgendwer wird sich schon um Sie kümmern, ich kann es nicht, ich bin mit der Verwaltung von Menschen beschäftigt, eine einflussreiche Aufgabe. Ich habe Macht über das Leben anderer. Was, die haben einen Körper, der krank werden könnte? Was geht mich das an, was die für einen Körper haben … Ich brauche keinen, der ist nur lästig, merken Sie sich das! Ich fahre jetzt in mein Büro. Hören Sie, wieso sitzen Sie auf meinem Stuhl? Wie bitte? Meine Sekretärin grüßt Sie und nicht mich? Verzeihung, wer sind Sie wirklich …? Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Ich weiß nichts über Sie ... Schauen Sie mich nicht so an ... Was, jetzt trinken Sie meinen Morgenkaffee? Auf den habe ich mich schon die ganze Zeit gefreut, eine der wenigen Freuden an diesem Ort. Wo bin ich, wo sind Sie … sind Sie übrigens eine Frau? Aber Sie sitzen ja in einem Männersessel. Sind Sie am falschen Platz? Sind Sie eine Frau? Woran kann ich erkennen, dass Sie eine Frau sind? Außerdem, was ändert’s, ob Sie Mann oder Frau sind … die Männer haben das Sagen. Wer sind Sie denn? So sagen Sie es mir doch endlich. Irgendwie schauen Sie meiner Mutter ähnlich … Hilfe … meiner Mutter, wie gibt’s denn das? Das Unding auf meinem Stuhl schaut aus wie meine Mutter! Sind Sie? Nein, Sie sind nicht, ja wer denn sonst? Sie wollen nur angenommen werden, egal wie Sie ausschauen? Oh Gott, wie komme ich wieder los? Meine Mutter will angenommen … Ah nein, dieses Ding hier ja von wem denn? Frau Bauer, bitte kommen Sie schnell herein und rufen Sie eine soziale Einrichtung an oder den Verein für Asylbewerber, dieses Ding in meinem Stuhl muss weg ... ich halt’s nicht mehr aus! Warum reden Sie denn mit dem Ding in meinem Stuhl, Frau Bauer, und nicht mit mir? Ich hab mich doch redlich bemüht, Frau Bauer, um dieses Ding. Man hat mir doch gesagt, es sei mein Körper, aber ich habe ihn verweigert, diesen Körper. Frau Bauer, Sie werden mich sicher verstehen. So ein hässliches Ding soll zu mir gehören? Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, wer mir das gesagt hat. Ich war höflich am Beginn mit dem Ding, aber jetzt will ich es loswerden. Erst hat es nicht gewusst, wer ich bin, und jetzt weicht es mir nicht mehr von der Seite. Aber warum reden Sie denn auf das Ding ein und beachten nicht mich? Ich bin doch Ihre Chefin ... Hilfe, mir wird schwarz vor den Augen!

Wieso liege ich in einem Bett? Wo bin ich? Hier ist alles so weiß … Unter der Decke schauen meine Beine heraus. Der Arzt hat gesagt, ich soll meine Beine bewegen, diese kurzen Beine, meine Beine … Aber sie bewegen sich tatsächlich, wenn ich will, meine kurzen Beine. Oh Gott, ich bin das Ding, meine Beine, meine Beine … die Krankenschwester hat mich angeschaut … mich, ich und das Ding … gehören wir zusammen? Verzeihung, sind Sie also tatsächlich mein Körper? Muss das sein? Aber diese Beine helfen mir aus dem Bett. Ihr seid meine Beine und steigt jetzt mit mir aus dem Bett ... Laufen die Tränen gerade über Ihre Wangen, oder sind es meine Wangen, oder gehören sie dem Ding? Die Hand der Krankenschwester hat mir die Tränen weggewischt, sie hat mich angeschaut, nicht das Ding ... Verzeihung, das Ding bin ich, ich, Franziska Müller, habe einen Körper und kein Ding. Der Doktor hat mir gesagt, dass Sie zu mir gehören und dass nur kranke Leute ihren Körper nicht finden und nicht einmal suchen. Hier, in dem weißen Zimmer ist es so schön still, hier muss ich nichts tun. Eigentlich ist krank sein ganz schön, finden Sie nicht? Sie sind empört. Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich verstehe Sie nicht. Das wird sich ändern, ich sollte mich Ihnen zuwenden, hat man mir gesagt. Wie macht man das, sich seinem Körper zuwenden? Also gut, ich versuche es – mit aller Höflichkeit, wie es sich gehört:

Sehr geehrtes Ding, darf ich Ihnen nun ganz feierlich das Du antragen. Wo wir doch offensichtlich ab nun zusammenbleiben!

Ja, Sie sind jetzt gerührt, Verzeihung, du bist gerührt, deine Tränen, meine Tränen auf deinen Wangen, meinen Wangen ... die Menschen schauen jetzt mich und dich gleichzeitig an, Verzeihung ›uns‹, wir sind ja jetzt zu zweit. Was, wir sind eins? Geht das nicht etwas zu weit? Etwas, nein … deine Beine, – ach was! Wir werden um die Mitte abnehmen … wir beide, du und ich, ich und du. Den Hals nehmen wir, wie er ist, sagst du.

Schau, die Sonne scheint auf uns, bald können wir nach Hause gehen und – Nervenzusammenbrüche wird es keine mehr geben. Ich werde mich mit einem Federstrich entlassen. Mein Körper, wir beide ... wir versuchen unser neues Leben ... versuchen wir es?

Schau, die Sonne scheint.« (CL)

I

ERFAHRUNGEN MIT KÖRPER – UND SYMPTOMAUFSTELLUNGE

Wozu Körper – und Symptomaufstellungen?

Fast alle Menschen in beratenden und therapeutischen Berufen kennen Familienaufstellungen. Zu dieser Materie gibt es Literatur in Hülle und Fülle, die hier nicht referiert werden muss.

Wenn wir von Körper – und Symptomaufstellungen sprechen, meinen wir explizit eine eigene Form, man könnte sagen, ein eigenes Format von Aufstellung.

Wenden wir uns diesem Format zu, so können wir feststellen, dass nur ganz wenige Therapeuten und Therapeutinnen sich damit ausdrücklich beschäftigen.

Dennoch machen viele, die mit Familienaufstellungen arbeiten, indem sie beispielsweise eine Krankheit oder ein erkranktes Organ »dazu«-stellen, gute Erfahrungen damit. (Vgl. Baxa u.a. 2002)

Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd (am SYST-Institut in München) haben mit ihren Strukturaufstellungen (Varga von Kibéd 2003) eine großartige Systematik begründet und Aufstellungsarbeit damit für die Forschung leichter überprüfbar gemacht. Peter Schlötter hat in seiner Studie Vertraute Sprache und ihre Entdeckung (Schlötter 2005) ein erstes Ergebnis gezeigt.

Innerhalb der Gruppe der Strukturaufstellungen findet sich eine Sparte »Körper – und Symptomaufstellungen«.

Insa Sparrer hat dafür eine eigene Kategorie gebildet, die sie »Aufstellungen zu psychosomatischen Themen« nennt. In diese Kategorie fallen:

■ Die Körperaufstellung: Dabei werden einzelne Körperteile (zum Beispiel Arme, Beine, Nase, Hals ...), Organe (zum Beispiel Herz, Leber, Lunge ...) oder Körpersysteme (zum Beispiel das Immunsystem, der Blutkreislauf), die die Klienten und Klientinnen für ihr Anliegen relevant halten, aufgestellt.■ Die Körper-Strukturaufstellung: Hier kommen noch zusätzlich ausgeblendete Familienmitglieder, die für das Anliegen relevant sein können, hinzu.■ Aufstellung der fünf Funktionskreise nach der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM): Es werden Repräsentanten für die fünf Funktionskreise aufgestellt. Diese Aufstellungsbilder können für Akupunkturärzte Hinweise zum Setzen von Nadeln geben.■ Homöopathische Systemaufstellungen (nach Matthias Varga von Kibéd und Friedrich Wiest)■ Chakrenaufstellung (mehr dazu in dem Buch Wunder, Lösung und System von Insa Sparrer, 2002).

Sparrer und Varga von Kibéd verdanken wir u.a. den Hinweis, dass es bei Körperteilen, die doppelt vorkommen (zum Beispiel Arme, Beine, Augen, Ohren, Brüste usw.) günstig ist, beide aufzustellen, auch wenn die Klienten und Klientinnen nur über Beschwerden in einem der beiden berichten.

Eine andere Vorgangsweise wählt Ilse Kutschera, Ärztin für psychosomatische Medizin. Sie beschreibt in ihrem Buch Was ist nur los mit mir? (Kutschera/Schäffler 2010) ebenfalls, dass psychosomatische Sichtweisen eng mit Familiengeschichten verknüpft sind, und hat dazu ein eigenes Aufstellungsformat entwickelt, das sie in ihren Seminaren eindrücklich vermittelt. Bei ihr finden wir einen engen Zusammenhang mit Familienaufstellungen. Ähnliches gilt für Stephan Hausner (Auch wenn es mich das Leben kostet!, Hausner 2010).

In allen diesen Fällen spielt die Familiengeschichte – meist die des Herkunftssystems – eine wichtige Rolle. Eltern, manchmal Großeltern oder Onkel und Tanten, verstorbene, verheimlichte, wenig geachtete Familienmitglieder oder tragische Schicksalsschläge, zum Beispiel Opfer – oder Tätergeschichten aus der Kriegszeit, »tauchen auf« und wirken scheinbar über Krankheiten weiter. Bert Hellinger hat dies – in Anlehnung an Ivan Boszormenyi-Nagy – als »Bindungsliebe« bezeichnet. Es scheint, dass wir »aus Liebe« zu Eltern, Großeltern usw. Krankheiten und Beschwernisse auf uns nehmen.

Einen ganz eigenen Ansatz möchte ich noch gesondert anführen, nämlich den von Siegfried Essen, der mit seinen »Autopoietischen Aufstellungen« (vgl. Essen 2005) einer konstruktivistischen Aufstellungsform meiner Meinung nach viel mehr Beachtung verdienen würde. Beeinflusst von Psychosynthese und religionsphilosophischen Ansätzen (vor allem des Buddhismus) geht Essen davon aus, dass ein System jeweils ganz ist, dass die Teile einer Aufstellung jeweils frei sind und die Selbst-Erschaffung (Autopoiese) kein Ende hat. Ohne hier im Einzelnen darauf eingehen zu können, erwähne ich in diesem Zusammenhang nur die sogenannte »Ich-Selbst-Aufstellung« mit einem zusätzlichen Element.

Im Falle von Körperaufstellungen wird also Folgendes aufgestellt:

■ das Ich (der Teil von uns, der sich anders als die anderen und getrennt erlebt)■ das Selbst (der Teil von uns, der sich verbunden fühlt; auch vorstellbar als bedingungslose Liebe)■ das Symptom

Auch dieses Format verwende ich mit großem Erfolg bei vielen meiner Klienten und Klientinnen. Christl Liebens Ansatz basiert jedoch – neben der Erfahrung mit Familien – und Strukturaufstellungen – vor dem Hintergrund verschiedener körpertherapeutischer Verfahren.

Wichtig ist mir im Zusammenhang mit dieser Art von psychosomatischen Verfahren, dass mit unserer Arbeit kein Anspruch auf Heilung verbunden wird. Auch die geglückteste Symptomaufstellung garantiert keine Heilung, ja nicht einmal in jedem Fall Besserung. Was wir aber oft feststellen:

In manchen Fällen (ich würde aufgrund meiner Arbeit schätzen, dass es etwa 25 Prozent sind) folgt auf eine Körper – oder Symptomaufstellung tatsächlich so etwas wie eine Heilung oder deutliche Besserung des Symptoms. Vergleichen Sie dazu auch unsere Praxisfälle im zweiten Teil. In einigen Fällen wird zwar das Symptom nicht gebessert, jedoch ändert sich der Umgang der Patienten und Patientinnen mit ihrem Körper, sie wählen andere Behandlungsmöglichkeiten, ernähren sich gesünder, achten auf andere Bereiche der Gesundheit und fühlen sich so auch besser oder manchmal sogar »gesünder«.

In einigen Fällen gibt es so etwas wie das tatsächliche Annehmen einer Krankheit, eines Symptoms. Dies ist dann wie ein tiefes Anerkennen »dessen, was ist« zu verstehen. Hier ist es ganz wichtig, dass wir Therapeutinnen abstinent bleiben mit unserem Wunsch zu heilen oder zu lindern, sondern nur die Klienten und Klientinnen auf ihrem Weg begleiten.

Abschließend möchte ich noch festhalten, dass wir in unserer Arbeit ein Konzept vertreten, das Geist und Körper als Einheit sieht. Wir sagen nicht, wir haben einen Körper, sondern wir sind unser Körper, das meint Körper und Geist in einem. Die englische Wortschöpfung »bodymind«, die auch im Ayurveda verwendet wird, drückt das recht gut aus. (CR)

Grundlagen meiner Arbeit mit Körper – und Symptomaufstellungen

Ich bin Karlfried Graf Dürckheim nur einmal begegnet, in einer unvergesslichen Stunde in seiner Studierstube in Todtmoos-Rütte, aber er blieb über lange Zeit mein innerer Dialogpartner.

Dürckheim war Philosoph, Psychologe und Zen-Meister. Er gründete gemeinsam mit Maria Hippius 1948 die Existentialpsychologische Bildungs – und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte im Schwarzwald, die es bis heute gibt. Von ihm stammt der Begriff des »doppelten Ursprungs«. Damit sagt er, dass wir Menschen aus Geist und Materie geboren sind. Unser Leben entfaltet sich im Spannungsfeld dieser beiden Pole. Geist und Körper bedingen einander auf dem Weg der Verwirklichung unserer Existenz. Diese Sichtweise hat zunehmend mein Leben verändert und meine Arbeit mit Menschen bestimmt.

Graf Dürckheim war nach dem Ersten Weltkrieg Assistent von Felix Krueger in Leipzig am Institut für Ganzheits – und Gestaltpsychologie. Auf der Suche nach »Ganzheit« war das Denken dort sehr beeinflusst von der Deutschen Mystik, allen voran Meister Eckhart. Was Meister Eckhart den »Wesensgrund« nennt, ist bei Krueger der »Lebensgrund« – Geist als Lebenswirklichkeit und Lebensordnung. Dürckheim spricht vom »Wesen als die Weise, wie das ›Überraumzeitliche Sein‹ sich durch uns in der Welt verwirklichen will«. Der Körper, aus Materie geboren, ist Gefäß dieser Verwirklichung. Meine Erfahrung ist: Geist und Körper steuern gemeinsam den Prozess des Lebens.

Im Körper sind Biografie und Ahnenwissen mit der dazugehörigen emotionalen Erfahrung gespeichert. Der Körper weiß genau, was er braucht, um Lösung und Befreiung möglich zu machen. Und er kennt den stimmigen Zeitpunkt. Andererseits weiß er auch um den »Segen« einer Krankheit im Sinn eines Gesamtkonzeptes des Weges. Mit anderen Worten, wenn wir Menschen uns für einen Erfahrungsweg entscheiden, den wir am wirkungsvollsten über unsere Körperebene gehen können, dann übernimmt der Körper die ungeliebte Rolle der Krankheit und kann uns so einen intensiven Reifeprozess ermöglichen.

Der Körper zeigt uns immer wieder die Begrenztheit der Materie, die wir angenommen haben.

Wenn ich hier von »Geist« spreche, dann meine ich das, was wir Menschen vom »großen, unnennbaren Geist« erahnen können und in uns tragen. Dieser, »unser« Geist also ist grundsätzlich frei, kennt Lösung und Bestimmung und unser Eingebettetsein in das »überraum-zeitliche Sein«. Der Geist ist losgelöst von Zeit und Raum, der Körper ist davon gehalten und gefordert. Der Geist kennt unser Schicksal, der Körper lebt es – im Dialog mit dem Geist.

Wir sind über Jahrhunderte sozialisiert, den Geist in den Himmel zu heben und den Körper gering zu achten. Damit verzerren wir unseren natürlichen Zugang zu Geist und Körper. Wer treibt dieses üble Spiel? Ich meine, es sind unsere Emotionen und deren Begleiterscheinungen. Sie breiten sich dort aus, wo Geist und Körper einander begegnen könnten.

Ich unterscheide zwischen Gefühlen und Emotionen. Die Psychologie spricht von »primären« und »sekundären« Gefühlen. Primäre Gefühle sind die aus der Tiefe unseres Mensch-Seins kommenden Grundgefühle, die einem starken, kontinuierlichen Strom folgen, wie Liebe, Angst, Wut etc. Emotionen sind Abspaltungen von Grundgefühlen und entstehen dort, wo Grundgefühle nicht zugelassen werden. Sie nehmen uns auf einen Schaukelkurs mit, der für unsere Entwicklung unfruchtbar ist, weil er uns in ständige Selbsttäuschungen hineinführt. In unseren Gefühlen haben wir Kontakt zu unserer Realität, sie erden uns, die Emotionen verschleiern und verzerren den Zugang zu unserem Körper, wie er ist, und zu unserem Geist, wie wir ihn erahnen könnten, wenn wir es zuließen. Sie trennen uns von uns selbst. Emotionen können vergnüglich, spannend und kreativ sein, aber dort, wo es um Wesentliches geht, verstellen sie uns den Weg zu unserer eigenen Wahrheit.

Kann es sein, dass wir in Bezug auf unsere Emotionen in einer Art kollektiver Unreife stecken? Wir haben nicht gelernt, bei unseren Gefühlen zu bleiben, sondern verlieren uns in ihren Abspaltungen.

Woher diese Unreife? Haben wir uns zu wenig um die Entwicklung unserer Emotionen gekümmert? Zu wenig vielleicht nicht, aber wir tun es noch nicht lange genug.

Der Körper wird seit jeher trainiert, zum Beispiel durch Sport – oft ohne wirklich verstanden zu werden. Der Geist wird seit Jahrtausenden in unzähligen religiösen Disziplinen geschult. Den bewussten, direkten Umgang mit Emotionen gibt es in unserem Kulturkreis erst seit Beginn der Psychotherapie, einer vergleichsweise sehr jungen Disziplin.

Emotionen einerseits als sekundäre Gefühle zu erkennen, sie aufzulösen oder zu verwandeln, andererseits der Kraft, Tiefe und Wahrhaftigkeit primärer Gefühle zu vertrauen, das scheint ein Lernprozess zu sein, in dem wir alle noch sehr befangen sind. Da liegt, meines Erachtens, das Krisengebiet in der Kommunikation zwischen Geist und Körper.

Emotional gesteuert von übernommenen bzw. gesellschaftlich oder religiös vorgeschriebenen Glaubenssätzen, die wir nicht hinterfragen, projizieren wir Trugbilder auf Geist und Körper. So verhindern wir einen fruchtbaren Kontakt zwischen diesen beiden Bewusstseinsebenen. Es ist selbstverständlich, dass es einen Kontakt zwischen Geist und Körper gibt, sonst wären wir nicht am Leben. Ebenso selbstverständlich ist es, dass wir diesen Kontakt auch über weite Strecken für uns nutzen. Was uns aber mangelt, ist der bewusste Entschluss, unser Leben in seiner vollen Realität und damit Begrenztheit anzunehmen, so wie es ist. Immer wieder versuchen wir, mit dem Schicksal zu verhandeln, und verhindern auf diese Weise, dass aus dem Reichtum an vorhandenen Möglichkeiten unsere Lebenswirklichkeit entsteht. Diese Wirklichkeit suchen wir von Geburt an. Warum verweigern wir uns selbst den Weg dahin?

Wie diese Überlegungen, Beobachtungen und Gedanken in meine psychotherapeutische Praxis einfließen, werde ich im nächsten Kapitel erläutern. (CL)

Die innere Haltung bei der Arbeit mit Körper – und Symptomaufstellungen

Die Ros’ blüht ohn warum,Sie blühet weil sie blühet.Sie acht nicht ihrer selbst,Fragt nicht, ob man sie siehet.Angelus Silesius (1624 – 1677)

Dieses Gedicht von dem Arzt Angelus Silesius beschreibt in einer wunderbaren Weise den Zustand des ganz »Bei-sichselbst-angekommen-Seins«. In unserer Auseinandersetzung mit uns selbst und mit unseren Klienten ist das ein Ziel, das fern und doch ganz nah ist. Wir tragen es in uns.

Wie bei anderen Aufstellungen auch, legen wir auf die Haltung großen Wert. Sie sollte gekennzeichnet sein von folgenden Aspekten:

■ Abstinenz von Deutungen■ Kein Anspruch auf Heilung■ Demut vor dem Schicksal der Klienten■ »Unwissenheit« und Unvoreingenommenheit

Abstinenz von Deutungen

Psychotherapeuten und – therapeutinnen sind oft gewohnt, den Geschichten von Klienten eigene Deutungen entgegenzuhalten. In der Aufstellungsarbeit ist gerade das Gegenteil erwünscht. Wenn wir uns jeglicher Deutung enthalten, ist das System frei, aus sich heraus Lösungen zu entwickeln. So vermeidet man, dass sich jemand bloßgestellt fühlen könnte. Es geht hier nicht um »richtig« oder »falsch«, sondern um gewollte Mehrdeutigkeit, die der komplexen Geschichte eines jeden Klienten gemäß ist. Varga von Kibéd und Sparrer verweisen immer wieder darauf.

Dies entspricht auch der Luhmann’schen Kommunikationstheorie von der Komplexität von Kommunikation und den jeweiligen autopoietischen Anteilen jedes Partners in der Kommunikation.

Kein Anspruch auf Heilung

Gerade Menschen in Gesundheitsberufen werden mit den Erwartungen konfrontiert: »Mach du mich gesund!« – »Zeig du mir den Weg aus meiner Krankheit!« – »Hilf mir zu verstehen, warum ich krank geworden bin!« – »Warum gerade ich?«. Wir müssen uns als Therapeuten klar darüber werden, dass Heilung nicht in unserer Macht liegt. Wenn wir das akzeptieren, haben wir es leichter und können uns unbefangener unseren Klienten und Patientinnen zuwenden. Allerdings ist dieser Anspruch auf Heilung ja auch in der rein körperlich orientierten Medizin nicht unumstritten. Heilt der Arzt oder das Medikament? Oder heilt sich die Patientin selbst? Kann nicht das Verstehen, in welchem Zusammenhang die Krankheit einen Sinn ergibt, oder eine Bewusstseinsveränderung manchmal auch als Heilung verstanden werden? Und wie würden unsere Leserinnen und Leser das sehen?

Demut vor dem Schicksal der Klienten

Daraus ergibt sich eine Haltung, die ich nur mit dem etwas aus der Mode gekommenen Wort »Demut« beschreiben kann. Ich habe in unserer moderneren Sprache kein besser passendes Wort gefunden. Mit »Demut« meine ich den Respekt vor allem Leben und die Gleichwertigkeit gesunden wie kranken, behinderten wie nicht behinderten, alten wie jungen Lebens. Ich möchte damit keineswegs einer biologistischen Einstellung das Wort reden. Nein, ganz im Gegenteil! Ich meine eine eindeutige, demokratische, den Menschenrechten entsprechende Einstellung zur Gleichwertigkeit aller Menschen.

Unwissenheit und Unvoreingenommenheit

Es gibt kein allgemeingültiges Gesetz, keine Regeln, die immer für jeden und in jeder Situation passen. Wir müssen uns jedem Menschen so nähern, als wären wir völlig »unwissend«, als würden wir zum ersten Mal eine solche Situation antreffen. Und tatsächlich finden wir bei allen Wiederholungen eine immer neue Situation vor, die Zusammenhänge sind jedes Mal anders. Es scheint, dass die Milliarden und Abermilliarden Synapsen, die unser Gehirn bilden kann, immer wieder andere und ungewohnte Blickwinkel eröffnen und unsere dann neu erwachte Neugierde, Behutsamkeit und Aufmerksamkeit herausfordern. So wird unser Beruf nie langweilig oder zur Routine.

Unsere innere Haltung unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Arbeit mit jeder anderen Art von Aufstellungen, und ich, Christl Lieben, kann sie nur so beschreiben, wie sie im Lauf meiner Praxisjahre geworden ist. Wenn ich an einem System arbeite, dann begleite ich es und werde gleichzeitig von dem System begleitet.

Eine Klientin kommt zu mir und erzählt mir einen Ausschnitt aus ihrem Leben. Wir führen ein Gespräch und schließlich einigen wir uns auf die Fragestellung und die Positionen, die zu dieser Frage gehören. Ich führe das Vorgespräch unter vier Augen. Zurück in der Gruppe, sagt meine Klientin den anderen mit knappen Worten, um was es geht, und ich benenne die Positionen, auf die wir uns geeinigt haben.

Die Repräsentanten für diese Positionen werden gewählt und an ihre Plätze geführt. Damit steht ein inneres Bild der Klientin aufgefächert im Raum, ein feines Seelengespinst. Der Raum zwischen den einzelnen Positionen ist fragil, ein potenzielles Wissen liegt dort, das im Zuge der Aufstellung immer mehr Gestalt annehmen wird. Daher betrete ich diesen Raum zunächst nicht, später nur sehr behutsam. Ich wähle für mich einen Ort, von dem aus ich alles überblicken kann, setze mich nieder und bitte die Klientin an meine Seite. Ich möchte sie neben mir haben, wenn die erste Runde beginnt. Ich denke, das gibt ihr Schutz in einer nicht einfachen Situation, und ich bin bei Bedarf bei ihr, wenn die Texte ihrer Repräsentanten sie beispielsweise stark berühren, überraschen oder ihr fremd sind. Ich stehe in ihrem Dienst und im Dienst ihres inneren Wissens, das sich zunehmend Raum nimmt. Nach einem kurzen Informationsaustausch mit meiner Klientin darüber, wie die ersten Texte bei ihr angekommen sind, stehe ich auf und beginne am System zu arbeiten. Dabei bleibe ich einerseits mit meiner Klientin verbunden, andererseits bin ich mit dem System in Kontakt, sonst kann ich mich von ihm nicht führen lassen. Abgesehen davon muss ich auch Kontakt zu dem neutralen Raum außerhalb des Systems halten, damit ich nicht im System verloren gehe. Ich stehe daher mit einem Fuß im Feld und mit dem anderen bleibe ich draußen. Das ist metaphorisch zu verstehen. Ich erreiche diese Wirkung, indem ich mich durch den Raum bewege und immer nur kurz an einem Ort verweile. Während ich das tue, bin ich innerlich leer und weit, ja nicht einmal sehr neugierig. Durch den Feldkontakt und aufgrund meiner langjährigen Erfahrung entstehen in mir schemenhafte Bilder, welche Richtung der Aufstellungsprozess nehmen könnte. Das ist nicht zu vermeiden. Aber ich halte diese Bilder nicht fest, sie ziehen vorüber wie die Laufschrift an der Kasse eines Supermarktes. Ich lasse nicht zu, dass sich in mir Hypothesen verfestigen, denn schon das nächste Wort eines Repräsentanten kann alles ändern. Ich habe »alle Antennen ausgefahren« und nehme mit allen Sinnen auf. Von diesen aufgenommenen Informationen lasse ich mich führen. Mit den oben geschilderten schemenhaften Ahnungen bin ich dem System einen Schritt voraus, im Aufnehmen der aus dem System kommenden Impulse werde ich geführt. Und genau um diesen Spagat geht es. Es ist wie ein Tanz – ein gemeinsamer Tanz mit dem sich entwickelnden Wissen meiner Klientin. Der Tanz bleibt nur dann im Fluss, wenn ich jedes Wort, jede Bewegung ernst nehme. Nicht ich bin es, die hier weiß, das System weiß. Gemeinsam mit den außen sitzenden Gruppenteilnehmern bilde und halte ich den Rahmen des Systemfeldes, um komplexe und tief gehende Prozesse zu ermöglichen. Nur wenn das Gefäß die Spannung hält, kann es drinnen kochen, ohne dass es zu einer Explosion kommt.

Ich lasse mich berühren, aber nicht ergreifen von dem, was sich entwickelt. Ich darf nicht Teil des Geschehens werden und nichts davon auf mich oder mein Leben beziehen, selbst wenn es Resonanzen geben sollte. Das verlangt einen tiefen Respekt vor der Einmaligkeit jedes Menschen und seines Schicksals. Geführt von diesem Respekt muss ich auch hinnehmen, wenn sich eine Aufstellung nur unvollständig löst oder nicht die Antwort gibt, die sich die Klientin erhofft hat. Ich kann versuchen, mein Bestes zu geben, und es wird immer nur das Beste sein, das mir im jeweiligen Augenblick zur Verfügung steht.

Die Lösungsbereitschaft einer Aufstellung hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sehr entscheidend ist, in welcher Phase seines Lebens ein Mensch mit seinem Anliegen zu mir kommt. Hat dieser Mensch noch kaum Eigenerfahrung, wird in der Aufstellung sehr wahrscheinlich die Ursprungsfamilie auftauchen, und erste Problemstellungen in diesem Zusammenhang wollen gelöst werden. Darüber hinaus ist oft nichts möglich, selbst wenn sein Anliegen weiterführend gewesen wäre. Das müssen wir akzeptieren und auch dem Klienten klarmachen. In den meisten Fällen spüren es die Klienten selber, sind erschöpft und nicht mehr aufnahmefähig. Es sollte über einen gewissen Zeitraum hinweg zu diesem Thema keine weitere Aufstellung gemacht werden, denn die erste braucht Zeit, um zu wirken und sich im inneren Haushalt der Klientin ordnend niederzulassen. Solche Aufstellungen sind dann oft ein eher schwerfälliger Tanz.

Wenn wir hingegen eine selbst-erfahrene Klientin vor uns haben, dann verbleiben die Positionen in ihrem inneren System, das heißt, sie ist bereit, Eigenverantwortung für ihr Thema zu übernehmen und es kreativ in ihr Leben zu integrieren. Die Lösung ihres Anliegens ereignet sich wie von selbst im Raum. Solche Aufstellungen zu begleiten ist Freude, Vergnügen und Leichtigkeit. Das kennen und lieben wir alle, die wir unser Leben mit der Begleitung von Aufstellungen verbringen.

Zwischen diesen beiden Polen gibt es alle nur denkbaren Varianten. Eine dieser Varianten möchte ich im Folgenden beschreiben. Manchmal gibt es Themen, die scheinbar nicht greifbar sind oder weit zurückliegen, die nur allmählich heraufdämmern.

Die Aufstellung der Klientin dauert lang, ist zäh und über weite Strecken lähmend. Alle fühlen sich wie betäubt, langweilen sich oder werden ungeduldig. In solchen Fällen sind wir als Begleiter besonders gefordert. Wir halten emotional und energetisch den Stimmungspegel im Raum, damit er nicht ganz abfällt, denn unsere unterstützenden Teilnehmer am Rand des Geschehens haben es sich längst bequem gemacht und den Faden verloren. Wir können dankbar sein, wenn sie nicht zu schnarchen beginnen. Gleichzeitig gehen wir mit der Klientin und ihren Repräsentanten immer tiefer in den Nebel ihrer Erinnerungen, die manchmal über Generationen zurückreichen. Die bleierne Schwere im Raum kommt aus den noch unformulierten belasteten Regionen ihres Unbewussten.

In solchen Fällen hilft wieder der Respekt vor dem Menschsein schlechthin und das Wissen um den Auftrag, unsere Klientin auf einer schwierigen Strecke zu begleiten, wo auch immer ihr Weg hinführen mag.

Ich habe noch nie eine Aufstellung abgebrochen oder Systemmitglieder, die zum Beispiel eine schwere Schuld auf sich geladen haben, ausgegrenzt. Das würde, meines Erachtens nach, eine tiefe Wunde in das Bewusstsein der Klientin schlagen. Es würde wie ein Urteil, unheilbar zu sein, wirken. An dieser wunden Stelle verliert das Seelensystem der Klientin in der Folge Kraft, weil es dort wie aufgerissen bleibt. Wenn hingegen die augenblickliche Schwierigkeit, zu einer Lösung zu kommen, oder die Existenz der »schuldhaften« Gestalt im System der Klientin angenommen und bejaht werden kann als das, was sie derzeit sind, dann beginnt genau an dieser Stelle Heilung auf vielen Ebenen. Ich sage »derzeit«, weil alles im Fluss ist und es keine endgültigen Seelenbilder gibt.

Mich unterstützt bei dieser Haltung eine Zugangsweise, die ich im Lauf der Jahre gefunden habe. Sie macht Aufstellungsbegleitung auch in sehr schwierigen Fällen erträglich.

Ich lasse mich am Anfang, noch vor dem Beginn der Arbeit, mit meinem Atem in die Tiefe meines Herzraumes sinken und begleite den Prozess von dort aus. Dort ruht jedes Menschenwissen um die Geborgenheit in der Liebe des Universums und um die daraus erwachsende mögliche Heilung. Als Symbol für diese Geborgenheit stelle ich in Krisensituationen während einer Aufstellung brennende Kerzen in den Raum. Sie haben eine stärkende und beruhigende Wirkung und nehmen mir auf diese Weise Arbeit ab. Auch lasse ich Lasten, die das innere System der Klientin von Vorfahren übernommen hat, an das heilende Licht zurückgeben, verbunden mit der Bitte, dass sich die Last dort auflösen möge. Es wirkt.

Wenn schließlich ein Inhalt aus der Vergangenheit auftaucht, der möglicherweise eine enorme Wucht hat, dann kann dieser Inhalt, umrahmt vom Licht, seinen ersten Platz im Seelenhaushalt meiner Klientin finden. Selbst wenn sie diesen Inhalt noch nicht ganz begreift, so ist er nicht mehr verdrängt und damit beginnt Heilung. Wir müssen die Dunkelheiten, die auftauchen, nicht bis ins Letzte analysieren, sondern nach einer grundsätzlichen Begegnung das Innersystem der Klientin davon befreien. Es kostet uns Menschen eine nicht zu beschreibende Anstrengung, diese Dunkelheiten »draußen« zu halten. Wenn das System befreit ist, kann dieselbe Kraft, die bisher der Verdrängung gedient hat, in die Heilung fließen.

Alles bisher Gesagte gilt natürlich auch für Körperthemen. Auf dem Gebiet der Körperaufstellungen habe ich für mich Wesentliches gelernt durch meine Beobachtungen und Erfahrungen in der Arbeit mit geistig und körperlich schwer behinderten Menschen. Wie wir später noch sehen werden, ist bei diesen Menschen meiner Ansicht nach der Ich-Kern nicht entsprechend vorhanden, hingegen ist das »freie Bewusstsein« von einer wunderbaren Klarheit. Siegfried Essen würde es wahrscheinlich das »Selbst« nennen. Der Bewusstseinsanteil, der mit dem Körper identifiziert ist – ich habe ihn das »gebundene Bewusstsein« genannt – hat zu dieser Klarheit keinen Kontakt. Eine Verbindung dieser beiden Bewusstseinsebenen schafft erst einmal Erkenntnis über das eigene Leben und das eigene Schicksal. Bei behinderten Menschen schmerzt dieses Erkennen in einem Ausmaß, das die Tragfähigkeit des inneren Systems völlig überfordert. Die Verarbeitungsebene des Ich fehlt, wie schon gesagt, weitgehend. Daher ist die Arbeit mit diesen Menschen eine Gratwanderung. Es geht darum, in kleinsten Schritten das schmerzende Erkennen zuzulassen und sie gleichzeitig mitzunehmen an einen inneren Ort, wo sie Schutz und Beruhigung finden. Ihr Entwicklungsweg ist eine Millimeterbewegung (siehe das Kapitel Arbeit im Grenzbereich Behinderung, S. 100ff.). Aber für diese Menschen sind Millimeter eine Rennbahn, denn sie sind jahrzehntelang gezwungenermaßen stillgestanden. Bei Menschen mit einem vorhandenen Ich-Kern und der Fähigkeit zu reflektieren ist das anders, das Ziel bleibt jedoch dasselbe: die möglichst weitgehende Integration von freiem und gebundenem Bewusstsein im Sinne einer heilenden Ganzheit. Im letzten Kapitel des ersten Teils über die Formate von Aufstellungen wird Folgendes deutlicher werden: Es ist immer ein Fokus, also eine Repräsentanz, für den Ich-Kern mit im Spiel, und die dazugestellten, variierenden anderen Positionen umschreiben das Anliegen und differenzieren es aus.

Im Unterschied dazu werden in der Arbeit mit Behinderten schlicht zwei Foki – frei und gebunden – gemeinsam mit ganz sparsamen weiteren Angeboten aufgestellt. Welches Format auch immer wir wählen, unsere Intention als Begleiterin bei der Körperarbeit ist jeweils dieselbe: Geist und Körper einander näher zu bringen in Richtung einer möglichen Integration. Das meint, den Hindernissen, wie Glaubenssätzen, abgespaltenen Emotionen, Ängsten etc., die Geist und Körper voneinander trennen, die Chance einer Verwandlung zu geben. Wenn wir als Begleiter während der Arbeit die Möglichkeit der Verwandlung als Gewissheit in uns haben, dann übertragen wir dieses Vertrauen auf die Klienten und unterstützen damit den Prozess.

Auch das schon geschilderte Ungleichgewicht der Wertung von Geist und Körper kann sich für unsere Klienten ändern, wenn wir beiden Polen innerlich denselben Respekt erweisen.

Allein die Idee, zur Abwechslung den Geist in den Dienst des Körpers zu stellen und nicht umgekehrt, wie wir es gewöhnlich tun, kann in den Menschen, die wir begleiten, Welten verändern. Voraussetzung ist, dass wir diese Erfahrung bereits selbst in uns tragen. Nur dann können wir sie glaubhaft vermitteln.

Ich denke, es wird deutlich, wie konsequent wir an uns selbst arbeiten sollten, wenn wir andere Menschen wirksam begleiten wollen. Und es schließt sich die Frage an: Welche Erfolgschancen haben Körperaufstellungen? Es ist legitim, dass wir uns diese Frage stellen.

Was können wir als Therapeuten dazu beitragen – und – welche Haltung hilft uns, uns selbst zu schützen?

Wir sind als erfahrene Begleiterinnen von Aufstellungen weitgehend imstande, uns von den Schicksalen unserer Klienten emotional zu distanzieren. Aber wie ist das mit unserem Körper? Wir bestehen zu 70 Prozent aus Flüssigkeit, Blut und Lymphe. Der Japaner Masaru Emoto hat herausgefunden, dass Wasser seine Kristallstruktur verändert, wenn man es lobt, verflucht, darüber gebeugt betet etc. Unsere Körperflüssigkeiten reagieren mit Sicherheit genauso. Wenn wir einen Tag lang Schicksale begleitet haben, dann tragen wir die »Abbilder« dieser Schicksale im Blut, und das Blut verteilt sie in unserem Körper. Das ist nicht gesund, und viele psychosomatische Reaktionen scheinen eine Folge davon zu sein. Diese Gedanken sind eine bislang nicht verifizierte Vermutung, die dazugehörigen Untersuchungen stehen noch aus und werden vielleicht nie meine Theorie bestätigen.

Wie auch immer, wir sollten uns schützen als ständige Begleiterinnen von fremden Schicksalen, die immer wieder aufs Neue im Raum aufgespannt auf uns warten.

Das Vorgespräch zur Aufstellung

Der gemeinsame Weg in die Aufstellung beginnt für uns und unsere Klienten mit dem Vorgespräch. Ich führe diese Gespräche immer (außer in meinen Lehrgängen) unter vier Augen in einem Nebenzimmer. Das hat zwei Gründe: Erstens möchte ich meiner Klientin, meinem Klienten, die Möglichkeit geben, sich so weit zu öffnen, wie es gerade für den Augenblick stimmt, und das ist leichter unter vier Augen. Zweitens bekommt die Gruppe anschließend nur ein paar Sätze als Information von der Klientin, bevor sie ihre Repräsentanten wählt. Dadurch werden die Aussagen der Repräsentanten freier, unbefangener und oft wesentlich präziser. In meinen Seminaren kreiere ich gemeinsam mit den Teilnehmern einen »wertfreien Raum«. Ich spreche regelmäßig am Anfang des Seminars darüber. Obwohl es selbstverständlich und ein integraler Bestandteil unserer Arbeit ist, tut es allen gut, es ausgesprochen zu hören. Wir werden draußen im Leben dauernd bewertet und bewerten dauernd selbst. Daher ist es eine große Befreiung, sich gemeinsam in dem wertfreien Raum niederzulassen.

Diese Wertfreiheit bestimmt auch das Gespräch. Ich wähle eine Sitzanordnung, die nicht direkt gegenüber, sondern im stumpfen Winkel zueinander gewandt ist, sodass die Klientin mit ihrem Anliegen die Wahl hat, sich mir zuzuwenden oder in den freien Raum vor uns zu schauen, um dort das zu finden, was sie mir erzählen möchte. Meine Fragen dienen dazu, dass sie sich in ihrer Erzählung auf das Wesentliche konzentriert oder auftauchende scheinbare Nebenimpulse als zentral erkennt. Meine Fragen machen Mut, aber verhindern auch, sich in wiederholenden, unfruchtbaren Schleifen zu verlieren. Ich lasse berichten, aber nicht klagen. Unser gemeinsames Ziel ist es, das Anliegen möglichst stimmig und präzise zu formulieren. Damit geht die Klientin dann in die Aufstellung. Die Zeit, die der Suchprozess nach dieser Formulierung braucht, ersparen wir uns anschließend in der Aufstellung.

Ich gehe davon aus, dass wir alle die Antworten auf unsere Fragen in uns tragen. C. G. Jung hat diese Tatsache in den Begriff des »Kollektiven Unbewussten« gekleidet. Während wir uns auf den Suchprozess einlassen, richtet sich unser Bewusstsein wie ein Scheinwerferkegel auf unser ruhendes Wissen und wählt diejenigen Informationen aus, die zu dem Thema gehören. Das erklärt auch, warum in Aufstellungen oft nur ganz bestimmte Aspekte eines Menschen oder einer Situation zur Sprache kommen. Es sind die Informationen, die zum Anliegen gehören. Stellt derselbe Mensch eine andere Frage, ergibt das ein anderes Informationsgebilde, selbst wenn dieselben Positionen im Raum stehen.

Aus diesen Gründen ist mir die Präzision des Themas ein zentrales Anliegen. Dabei muss die endgültige Formulierung ausschließlich von der Klientin kommen. Wir können Vorschläge machen, damit sie ihre Spur findet, aber mehr nicht, denn die Kraft der eigenen Worte wirkt in die Aufstellung hinein.

Ich habe hier eine Interview-Situation geschildert, die oft – aber nicht immer – vorkommt. Es gibt auch Klientinnen, die nur eine vage Vorstellung haben von ihrem Anliegen oder die mehrere Anliegen gleichzeitig bedienen wollen, also scheinbar richtungslos sind. Trotzdem wissen sie, dass sie heute und hier in diesem Seminar mit diesem Thema richtig sind. Dann gehören sie auch hierher. Klientinnen, die sich auf kein Thema festlegen, kann man damit trösten, dass unser inneres System einem Puzzle gleicht, das sich aus vielen Teilen zusammensetzt und wenn ein Aspekt dieses Systems eine Antwort bekommen hat, dann wirkt das ins ganze System hinein.

Den vagen Anliegen widme ich mich erst gegen Ende des Seminars, weil sich sehr oft durch die Erfahrung der anderen Aufstellungen das eigene Thema zu klären beginnt. Wenn das nicht der Fall ist, dann bitte ich meine Klientin im Gespräch, ihren Körper spüren und auswählen zu lassen. So eine Gesprächssequenz fordert auch uns als Fragende heraus.

Folgendes gilt für unsere ganze Arbeit, speziell auch für unsere Gesprächsführung: Wir sind mit allen Sinnesorganen bei dem anderen. Wir hören nicht nur die Worte, sondern auch den Stimmduktus und die Stimmqualität. Sitzt die Stimme nur in der Kehle, ist sie gepresst, rau, unsicher, kindlich, vage oder ist sie gut und ruhig im Körper verortet und hat damit einen tragenden Klang? Wir sehen die Gestik: Ist sie fahrig, eckig, gar nicht vorhanden oder ruhig und natürlich? Wir nehmen den Muskeltonus in Körper und Gesicht wahr: Fällt das Gewebe in sich zusammen oder wirkt es wie von innen getragen? Wir betrachten die Gesichtsfarbe und – sehr wichtig – beobachten den Atem. Ist der Atem flach und schnell, sitzt er oben unter den Schlüsselbeinen oder geht er langsam und ruhig und sitzt tiefer im Körper? Das alles kann schnell wechseln und ist immer in Verbindung mit dem, was die Klientin berichtet, gemeinsam wahrzunehmen. Wir spüren die wechselnde Atmosphäre im Raum: gespannt, schwer, befreit, fallend oder steigend.

Und wenn wir alle Antennen ausfahren, dann bekommen wir auch atmosphärische Informationen aus dem Raum, die wir nicht benennen können, die aber oft entscheidend für ein Gesamtbild sind.

Das alles klingt endlos kompliziert, ist es aber nicht. Viele Menschen nehmen alles von mir Benannte längst und ganz selbstverständlich wahr. Ich schreibe es hier nur auf, damit

Copyright © 2011 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Fuchs_design, München Umschlagmotiv: iStockphoto/Kirsty Pargeter

Redaktion: Silke Uhlemann, München

eISBN 978-3-641-06362-7

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter www.koesel.de

www.randomhouse.de

Leseprobe