Die Liebe kommt aus dem Nichts - Christl Lieben - E-Book

Die Liebe kommt aus dem Nichts E-Book

Christl Lieben

4,5

Beschreibung

Vom Öffnen seelischer Räume Die erfahrene Wiener Psychotherapeutin Christl Lieben wagt sich mutig in neue Bereiche vor und erweitert ihren therapeutischen Kontext. In ihrer über 30-jährigen Erfahrung ist sie zunehmend einer universalen Liebe begegnet, deren Herkunft wir zwar gedanklich nicht fassen können, die wir aber unmittelbar spüren, und zwar in allen Aspekten des Lebens. "Die Liebe frei von Mitgefühl", die weit über den therapeutischen Kontext hinaus einen neuen, gleichberechtigten, von Wertungen befreiten Umgang zwischen Menschen ermöglicht. Und "Die Liebe, die mich wollte", eine ursprüngliche Elementarkraft, auf welche Christl Lieben bei ihrer Suche nach einer "anfänglichen Gestalt" und einem heilenden Konzept stieß. Welche konkreten Auswirkungen diese kraftvoll, im "Bodenlosen" wurzelnde und verankerte Liebe, die aus dem Nichts kommt, haben und wie sie in die systemische Aufstellungsarbeit integriert werden kann, zeigt Christl Lieben anhand vieler Beispiele. Bei der "Liebe frei von Mitgefühl" handelt es sich um eine von Christl Lieben eingeführte Haltung in die therapeutische Arbeit. Sie ist eine Liebe, die bereit ist, uns selbst als Teil der Schöpfung anzuerkennen. Diese Liebe macht uns größer, strahlender und erwachsener unserem Schicksal gegenüber. Was immer uns widerfährt, es ist stimmig auf einem Weg, den wir bejahen. Mitgefühl postuliert einen Mangel beim anderen; Liebe sieht den anderen in der Fülle seiner Möglichkeiten. Ergänzt werden die Texte durch Gespräche, die der Autor und Journalist Gerald Schmickl mit Christl Lieben geführt hat. Darin geht es u. a. um die Lust am Bösen, die Unterschiede zwischen Religion, Spiritualität und Esoterik, den Respekt vor dem Schicksal des Klienten und darum, wie die Gegenwart des Todes uns für das Leben öffnen kann.

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Christl Lieben

DieLiebe

kommt aus dem

Nichts

Wenn sie uns berührt, nehmen wir Gestalt an

In Zusammenarbeit mit

1. eBook-Ausgabe 2015

© 2014 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/Commission

ePub: 978-3-943416-80-0

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Liebe frei von Mitgefühl

Der Mensch im Wasserlicht

Das Öffnen innerer Räume

Zerbrechliche Fragen – namenlose Schicksale

Frei von Anhaftung

»Alles Walzer!« – Der Tanz von Geist und Körper

Geist und Körper im Dialog

2. Die Anfängliche Gestalt und Die Liebe, die mich wollte

Die Anfängliche Gestalt

Die Liebe, die mich wollte

3. Die Lust am Bösen

Ein Gespräch über das Dunkle, das Hässliche und die Kreativität von Zerstörung

4. Innere Wahrheiten

Ein Gespräch über Religion, Spiritualität und Esoterik

5. »Mir ist immer alles zugefallen«

Erinnerungen an Badezimmergespräche und andere biografische Stationen.Ein Lebensmosaik

Nachwort

Danksagungen

Glossar

Stimmen zum Buch

Vorwort

In diesem Buch spreche ich über meine sehr persönlichen Bilder und Vorstellungen und erhebe in der Auseinandersetzung mit den Themen der »Liebe frei von Mitgefühl«‚ der »Anfänglichen Gestalt« und der »Liebe‚ die mich wollte« keinerlei Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Besonders mit der Anfänglichen Gestalt betrete ich einen mir völlig unbekannten Boden: Ich suche – und ich meine zu finden. Ob ich tatsächlich einer Wahrheit nähergekommen bin‚ weiß ich nicht. Ich kann nur meine inneren Erlebnisse erzählen und die Schlüsse schildern, die ich ganz persönlich daraus gezogen habe. Ich erspare Ihnen und mir aber‚ davon dauernd nur in der Möglichkeitsform zu schreiben, denn das wäre zu mühsam. Ich schildere meine Phantasien als Tatsachen, aber – ganz wichtig – es sind eben nur meine Tatsachen. Die Menschen, die dieses Buch lesen, sind daher gebeten, nur diese Inhalte anzunehmen, die sie selbst von innen her bejahen können. Dann wird in ihnen ihre eigene Wahrheit wach werden – und darum geht es mir. Ich möchte teilen und nicht predigen.

Da meine Augen wenig sehen, ist dieses Buch zum Großteil im Gespräch mit dem Autor und Journalisten Gerald Schmickl entstanden; seinen einfühlsamen Fragen habe ich sehr gerne geantwortet. Er war mir auch eine wunderbar präzise Kontrollinstanz für die Texte, die ich geschrieben und nicht gesprochen habe. Darüber hinaus hat er dem Buch Rahmen und Struktur gegeben. Er hat einfach mehr Erfahrung, wie man ein Buch konzipiert.

Unsere Zusammenarbeit war leicht, heiter und fließend. Mein ganz großer Dank begleitet ihn. Inzwischen sind wir Freunde geworden.

Einleitung

Die Liebe kommt aus dem Nichts

Irgendwann, in meiner Lebensmitte, begegnete ich diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke:

»… Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken.

Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.

Lass dich von mir nicht trennen.

Nah ist das Land,

das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen

an seinem Ernste.

Gib mir die Hand.«

Weiter oben in diesem Gedicht heißt es:

»… geh bis an Deiner Sehnsucht Rand …«

(Den vollen Wortlaut des Gedichts siehe Glossar, Anm.)

Ich konnte dieses Gedicht lange nicht lesen, ohne dass mir die Tränen der Berührtheit über die Wangen liefen, bis ich begriff, dass ich, seit ich denken konnte, auf dem Weg zu meiner Sehnsucht Rand unterwegs war. Das stärkste Charakteristikum dieses Weges ist, dass man nie ankommt. Der Rand bewegt sich vor mir, ich gehe auf ihn zu und gehe und gehe und der Rand bewegt sich vor mir … manchmal verschwimmt er in den Tränen meiner Sehnsucht, manchmal ist er ganz klar und wie zum Greifen nahe.

Ich ließ mir alles geschehen, Schönheit und Schrecken. Die Schrecken kamen in Abständen und sehr geballt. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihnen gewachsen war, aber ich überlebte. Die Existenz meines geliebten Kindes, Freunde und mein Beruf, der mir so wichtig ist und in den meine Erfahrungen einflossen, halfen mir.

Es ist ungefähr 30 Jahre her, da packte mich mein Leben mit festem Griff und ließ mich lange nicht mehr los. Jahrelang nicht. Zuerst kam mein Lebensmensch, der Vater meiner Tochter, in eine existenzielle Krise, die ihn mehrmals fast das Leben kostete. Meine Tochter, der wichtigste Mensch in meinem Leben, wanderte nach Amerika aus, wo sie noch immer lebt. Mein innig geliebter Bruder starb an Krebs, und ich verlor zu allem Überfluss mein gesamtes Vermögen. Der Wirtschaftsanwalt meiner Familie entsorgte es (zusammen mit dem Vermögen vieler anderer Menschen) an der Londoner Börse. Er war ein Spieler, niemand wusste es. Ich wurde herzkrank, und auch meine Augen reagierten. Die Diagnose einer »Makuladegeneration« auf beiden Augen wies mir mit unerbittlicher Klarheit den Weg in die Dämmerung.

Mein Leben lag scheinbar in Trümmern. Da geschah etwas. Erst im Rückblick kann ich es benennen. Aus den Rissen und Abgründen dieser Trümmer strömte mir eine Qualität entgegen, wie klares, leuchtendes Wasser. Dieses Wasserlicht, dem ich später in meinem Leben in einem inneren Bild wieder begegnete, verbarg die Bruchstücke meines Lebens nicht, löste sie nicht auf und beschönte sie nicht. Es war einfach nur da – gleichzeitig mit den Brüchen meines Lebens. Das Wasserlicht tröpfelte, es floss, es quoll mir entgegen, und staunend ahnte ich: das ist Liebe. Ich versuchte, hinter dieses Geschehen zu blicken, auf die Hinterbühne meines Lebens sozusagen. Ich fand nichts. Die Liebe kam scheinbar aus diesem Nichts.

War der Zerfall meines Lebens Voraussetzung für das Auftauchen dieser Liebe? Immer noch wehre ich mich gegen diese Vorstellung, aber »sachlich« gesehen, schien es so zu sein. In den Texten zu diesem Buch nenne ich mein erkranktes Herz meine »Lebenswunde«. Sind Lebenswunden die Voraussetzung für die Begegnung mit dieser Liebe?

Inzwischen ist es Teil meiner inneren Wahrheit geworden, dass wir immer von dieser Liebe durchströmt und getragen sind, aber wir wissen es nicht. Wir haben es vergessen. Muss erst der Panzer unserer Vorstellungen bersten, bevor wir beginnen zu erkennen und uns zu erinnern? Bei mir scheint es so zu sein – und bei vielen anderen Menschen auch. Aber ich hoffe und wünsche mir, dass es andere Wege gibt und geben wird, dieser Liebe zu begegnen, sich mit ihr zu verbinden und durch sie zu leben.

Während ich das schreibe, taucht ein ganz anderes Bild in mir auf, das eine erste Antwort auf meine Frage sein könnte. Ich stehe irgendwo in der Landschaft, die Wiesen duften, die Sonne scheint und der Himmel ist weit und offen. Liebe strömt in mich ein, sie kommt von allen Seiten, aus allen Richtungen. Alles ist von ihr durchflutet. Es ist diese Liebe, die aus dem Nichts kommt, aber diesmal wird sie von meinem Glück gerufen und nicht von meinem Leid. Ich nehme sie an, ich erfahre sie, aber ich hinterfrage sie nicht. Hier, in diesem wunderbaren Moment, scheint sie selbstverständlich zu sein. Sie macht mich glücklich, aber sie verändert mich nicht. Die Liebe aber, die mir aus dem Leid entgegenkommt, setzt gewaltige Prozesse in Gang, wirft Fragen auf und verändert mein Weltbild. Es ist beide Male die gleiche Liebe. Im Leid bin ich bis in meine Tiefe aufgerissen. Da erlebe ich, wie die Liebe aus dieser Tiefe aufsteigt und mich nachhaltig bewegt. Warum geschieht das nicht in Augenblicken großen Glücks? Wäre es nicht ein empfehlenswerter Lernprozess, mich von der Liebe des Glücks ebenso tief und verändernd berühren zu lassen wie von der Liebe, die Angst und Leid begleitet?! Es wäre eine Befreiung aus einer fatalen Konditionierung, die durch ein Jahrhunderte währendes Missverständnis der christlichen Idee entstanden zu sein scheint.

In diesen Jahren damals war mir das alles nicht klar. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was mir da aus den Abgründen meiner Existenz entgegenkam. Ganz allmählich nur erkannte ich, dass es Liebe war. Eine Liebe, die ich auch nur zögerlich zulassen konnte, so verstrickt war ich in mein Schicksal. Nur in kleinen Schritten begriff ich über eine lange Zeit hinweg das Wunder, das mir geschah, und begann zu vertrauen.

Jetzt wusste ich: »Ich muss nur gehen, kein Gefühl ist das fernste …«

Ich bin sicher, Rilke hat diese Liebe gekannt. Mein Vertrauen ging mir oft genug verloren, das änderte aber nichts an meinem Vertrauen. Dieses mächtige Paradoxon erlebte ich damals zum ersten Mal. Inzwischen ist es ein Grundpfeiler meiner inneren Welt geworden, und ich muss jedes Mal lachen, wenn ich daran denke. Ich kann es nicht erklären, ich kann es nur erleben und annehmen.

Ich begann, dem Nichts zu vertrauen.

»Tief verwurzelt im Bodenlosen«, heißt es im Zen.

Das Bodenlose ließ mich schaudern, machte mir aber keine Angst. Ich hatte es ja bereits in verschiedenen Ausdrucksformen – zumindest andeutungsweise – kennengelernt. Und ich hatte überlebt. Es war mir klar, dass mein beginnendes »Erkennen« immer nur eine ferne Ahnung einer unfassbaren Wirklichkeit sein kann. Irgendwann unterwegs begriff ich, dass es nichts zu begreifen gibt. Das Nichts kann man nicht begreifen, man kann nur seine eigene Vorstellung davon wahrnehmen. Die Vorstellung einer vorstellungslosen Vorstellung befreite mich – und mein Vertrauen wuchs. Ich musste mir keinen Gott mehr zurechtzimmern.

War ich wieder gott-los geworden wie in meiner Jugend? Nein, im Gegenteil. Aus der Liebe kam mir eine Gewissheit entgegen, die ich nicht weiter hinterfragen musste, um ihr zu vertrauen. Meine theologischen Freunde reagierten unterschiedlich auf mein sich im Nichts auflösendes Bild von Gott. Sie sprachen von der Kostbarkeit eines persönlichen Gottes und der Möglichkeit einer dialogischen Beziehung mit ihm. Ich gestand ihnen, dass ich mit dem Nichts wunderbar dialogisieren kann. Es ist mir bewusst, dass ich da zwei sich ausschließende Konzepte miteinander verbinde, aber das kümmert mich nicht. Ich lasse mich von der Liebe führen, die mir aus dem Nichts entgegenkommt. Das Nichts ist für mich der einzig legitime Name für die Instanz, die Gott genannt wird. Der Begriff des Nichts befreit Gott weitgehend von meinen Projektionen. Als ich das vor Kurzem meiner Tochter sagte, fragte sie: »Weiß Gott das?« – Eine spannende Frage.

Meine tiefe Zugehörigkeit zur Kultur der Zen-Meditation trägt mein Gottesbild. Und dennoch tat es mir gut, Zustimmung aus dem christlichen Raum zu bekommen. Eines Tages hörte ich in der Wiener Innenstadt den Jesuitenpriester Gustav Schörghofer predigen. Er sprach von der Liebe zwischen den Menschen, und plötzlich machte er einen Schritt darüber hinaus und sprach von einer Liebe, die aus dem Nichts kommt … dieselben Worte … unglaublich. Stand eine ähnliche Erfahrung dahinter? Ich ging mit dieser Rückenstärkung voller Dankbarkeit nach Hause.

Vor einem halben Jahr erst begegnete ich dann dem Zitat des Theologen Dietrich Bonhoeffer aus den Gefängnisbriefen: »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.«

Ein Weltbild – mein Weltbild – in acht Worte gefasst. Genial. Diese Worte klingen und schwingen in mir wie die schönste Musik. Und mit der Haltung dieser beiden Männer fühle ich mich auch von der Kultur verstanden, in die ich hineingeboren bin.

Aus dem kristallklaren Licht der Liebe, die aus dem Nichts kommt, ist die Schöpfung entstanden, und auch wir, als Teil dieser Schöpfung, verdanken unsere Existenz einem kreativen Impuls der Liebe, die sich aus Freude an sich selbst ständig neu erschafft. Alles Geschaffene entspringt dieser freudigen Liebe, die am Anfang unseres Werdens steht und mit uns geht und bleibt und uns trägt.

Die Liebe aus dem Nichts wird durch Milliarden und Abermilliarden Prismen aufgefächert in alle Schattierungen des Schöpfungsbewusstseins. Selbst in den schrecklichsten Verzerrungen, die der menschliche Geist zustande bringt, ist noch eine Ahnung dieser Liebe enthalten und kann, wenn sie zugelassen wird, heilend wirken.

In diesem Buch spreche ich von zwei Aspekten der Liebe, die aus dem Nichts kommt. Eigentlich sind es zwei Gestaltwerdungen. Wir können dieser Liebe ja nur in einer Gestaltwerdung begegnen, in ihrer reinsten Form ist sie vom menschlichen Geist nicht erfassbar. Wenn man aus dem Meer einen Krug Wasser schöpft, dann nimmt dieses Wasser die Form des Kruges an. Wir sind das Gefäß, in dem die Liebe Gestalt erhält. Es ist immer die Gestalt, die unserem gegenwärtigen Fassungsvermögen entspricht. Die Gestalten sind wandelbar. Schon morgen kann mein Fassungsvermögen zu einem anderen Gefäß werden. Wir begegnen dieser Liebe ständig neu und wir erfassen sie ständig anders – das ist die Bewegung des Lebens.

Indem ich die Gestalt benenne, fixiere ich sie bis zu einem gewissen Grad. Das geht gar nicht anders, wenn man damit arbeiten will. Es muss aber klar sein, dass es innerhalb dieser Gestalten unzählige Abwandlungen gibt. Und das ist wieder die Bewegung des Lebens, die mich so begeistert.

»Die Liebe frei von Mitgefühl« ist eine dieser Gestaltwerdungen. Über sie spreche ich in der ersten Hälfte des Buches. Sie ist mir in meiner Lebenschronologie zuerst begegnet.

Die nächste Gestaltwerdung habe ich »Die Liebe, die mich/uns wollte« genannt. Ich war und bin auf der Suche nach einem heilenden Konzept und stieß – gespeist von den Gedanken von Plato und Aristoteles – auf die Idee eines ursprünglichen Entwurfes von uns. Ich nannte unseren Ursprung »Die Anfängliche Gestalt«. Bald aber war mir klar, dass es hinter dieser Anfänglichen Gestalt noch etwas anderes geben müsse, etwas, aus dem unser Ursprung entstanden ist. Und dann war sie da, »Die Liebe, die uns wollte«. Die Kraft dieser Tatsache macht unser Leben erst zu dem, was es ist, und vor allem zu dem, was es sein kann.

1.  Liebe frei von Mitgefühl

Der Mensch im Wasserlicht

Der eigentliche Auslöser für meine Annäherung an die »Liebe frei von Mitgefühl« war, dass ich gespürt habe, dass mein Körper mit meinem Arbeitspensum nicht mehr mithielt. Zuerst schob ich es nur aufs Pensum, aber bald begann ich zu vermuten, dass die Last, die meine Klienten mit ihren Geschichten ins therapeutische Setting mit hereinbrachten, auch etwas damit zu tun hat. Was mich überraschte, weil ich schon Jahrzehnte lang arbeite und mich immer ganz klar distanzieren konnte, vor allem emotional: Ich weine nicht mit den Klienten, steige nicht in ihre Geschichten ein, und am Abend habe ich meistens vergessen, wer überhaupt da war. Das lernt jeder in diesem Beruf.

Die Überlegung, ob es unseren Körper aber nicht doch belastet, ist mir gekommen, weil viele meiner Kollegen körperlich ähnliche Reaktionen hatten wie ich. Entweder reagierte, wie bei mir, das Herz – oder andere Organe meldeten sich. Und dann begegnete ich den Erkenntnissen des Japaners Masaru Emoto, der über Wasser geforscht hat und darauf gekommen ist, dass Wasser, das »beflucht« oder »beschimpft« wird, spitze Kristalle, und Wasser, das »liebevoll« angesprochen wird, Blumenformen macht. Davon leitete ich ab – da wir ja aus rund 70 Prozent Flüssigkeit bestehen –, dass unser Körper unter Umständen auf einer Ebene, die uns nicht bewusst ist, nämlich auf der Ebene unseres Blutes, Informationen aufnimmt und durch den Blutkreislauf im ganzen Körper verteilt. Das Organ, das für Belastungen besonders empfänglich ist, reagiert darauf. Oft ist es das Herz.

Bei mir wurde in diesem Jahr – es war 2007 – ein Herzeingriff vorgenommen, um Rhythmusstörungen zu beheben. Ich war ziemlich geschwächt, aber durch diese Schwächung sehr offen und begann, mir Fragen zu stellen. Ich war auf dem Land, um mich zu erholen, und eines Nachts hatte ich einen Traum.

Ich träumte sozusagen »Informationen«, und die »Botschaft« war folgende: Wir leben auf der Erde in einem Stadium, in dem wir neue Heilweisen einführen sollten, die schneller und direkter wirken. Es gibt eine Heilkraft, die von weither kommt und eine völlig andere Energie hat. Sie kommt aus einem anderen Zeitsystem, wo sie in Sekundenschnelle wirkt: Verwandlung passiert also nicht in einem Prozess, sondern in einem Augenblick. Wir aber haben ein anderes Zeitmaß auf der Erde, und bei uns würde diese schnelle intensive Energie tödlich wirken. Das heißt, wir müssen sie auf unsere Bewusstseinsebene herunterbringen, quasi konvertieren, und auf die Gesetze unserer Materie einstellen. Das Organ, das uns dabei hilft, ist das Herz. Also müssen wir über das Herz transformieren. Das war der erste Traum.

Ich wachte auf und schrieb mir das sofort auf. Aber ich wusste noch nicht, was ich damit anfangen sollte. Offensichtlich hat mein Unbewusstes angefangen, seine eigenen Wege zu gehen, um für mich Lösungen zu suchen.

Ein paar Tage später träumte ich eine »Fortsetzung«. Und in diesem Traum wurde mir mehr über die Transformationsnotwendigkeit des Herzens erklärt: Wir hier auf der Erde sind auf Mitgefühl konditioniert; diese neue heilende Energie hingegen kennt kein Mitgefühl, denn dort, wo sie entsteht und aktiv ist, gibt es kein Mitgefühl, sondern nur Liebe. Ich revoltierte zuerst einmal, habe in einer Art von innerem Dialog zu mir selbst gesagt: »Es gibt doch so viel Leid auf der Welt, das Mitgefühl braucht.« Aber sogleich und sehr bestimmt kam im Traum die Antwort: »Kein Mitgefühl, sondern Liebe!« Unser Herz muss demnach lernen, in einer neuen Weise zu lieben. Das ist offenbar die Transformation, die unser Herz machen muss: Es muss sich vom Mitgefühl befreien – nicht generell, aber in vielen Situationen.

Dann wachte ich auf, schrieb mir wieder alles auf – und blieb ratlos.

Am Tag darauf ging ich im Wald spazieren – langsam, suchend, fragend und weiterhin ratlos. Ich blieb an einer Stelle stehen, an der ich durch Bäume hindurch das Glitzern eines Sees sah. Noch immer war ich mit der Frage beschäftigt: Was mache ich jetzt mit diesen Informationen aus den Träumen? Wie soll das gehen, das mit der Transformation? Und plötzlich hatte ich ein Bild vor mir – ich weiß die Stelle noch genau, wo es war, und auch die Tageszeit: es war Nachmittag, das typische Nachmittagslicht lag über dem See.

Ich hatte plötzlich das Bild von einem Menschen vor Augen, der sich wie ein Fisch im Wasser bewegte, und zwar in einem kristallklaren, leuchtenden Wasser. Er bewegte sich frei, froh, vergnügt, nach allen Richtungen hin – es gab nichts, was ihn hinderte, er war völlig frei in diesem Element. Und ich stand am Rande dieses wunderbaren Bildes, mit einem Glas Wasser in der Hand, das trüb war. Ich kam mir sehr blöd vor, weil ich mir eingebildet hatte, einen Ruf nach Wasser zu hören; und dann kam ich – und sah diesen glücklichen Menschen in diesem wunderbaren Medium, und ich stand da mit meinem läppischen Glas Wasser, das noch dazu trüb war …

Dann war das Bild wieder weg, und ich verstand plötzlich etwas: Wir Menschen haben alles, was wir brauchen; das ist unser Grundzustand, dieses Sich-Bewegen in einem völlig klaren »Wasserlicht«. Mit dem trüben Glas Wasser bringen wir unser Mitgefühl, das der Situation überhaupt nicht gerecht wird. Der Mensch dort im Wasserlicht hat alles – und ich muss ihm nichts dazugeben; er hat sehr viel mehr, als ich ihm je geben kann, und er hat es aus sich selbst heraus.

Man sagt so oft, dass wir alle Teil der Schöpfung sind, alle aus derselben Quelle stammen, und daher auch mit allen Ressourcen der Schöpfung verbunden sind. Das kann man »göttliche« oder »universelle« Ressourcen nennen, das ist gleichgültig. Wir alle sind jedenfalls mit diesen Ressourcen verbunden, das heißt, wir haben in jeder Situation unseres Lebens genau das, was ich in diesem Wasserlicht-Bild gesehen habe – nämlich alles.

Wenn wir also Menschen begleiten, auch therapeutisch, geht es darum, diesen Menschen zu zeigen, dass sie alles haben. Denn wenn wir sie in ihrem Potenzial sehen, dann entsteht mit der Zeit auch in ihnen selbst dieses Erkennen. Das heißt aber, dass wir sie nie mehr in einem Mangel sehen dürfen. Denn wenn wir, die das Mitgefühl geben, andere im Mangel sehen, entsteht dadurch eine unzulässige Hierarchie. Wir sind genauso wie alles andere an die Qualität dieses Lichts angeschlossen. Dieser Gemeinsamkeit werden wir nur gerecht, wenn wir auf Augenhöhe miteinander kommunizieren.

Die Fröhlichkeit und Selbstverständlichkeit, in der sich dieser Mensch in dem Wasserlicht-Medium bewegte, enthielt für mich noch eine andere Botschaft: nämlich dass alles, was uns geschieht, von uns bejaht wird, von unserer tiefsten Instanz.

Karlfried Graf Dürckheim nennt diese Instanz den »Wesensgrund«. Wir wissen, dass wir genau diese Erfahrung suchen, um einen bestimmten Weg der Reifung zu gehen. Was wir also tun können und müssen, ist, einen tiefen Respekt zu verspüren vor dem Weg, den ein anderer geht, auch durch Krisen hindurch, weil seine Seele es bejaht. Und weil es zu seinem Weg gehört. Wir haben nicht das Recht, ihm diesen Weg kleiner zu machen, abzuschneiden oder gar abzunehmen. Wir können ihn nur mit unserem Respekt und unserer Liebe begleiten.

In dem Moment, als ich in mir diese Überlegung ernst nahm, dass wir alle aus derselben Quelle stammen und in uns alles haben, was wir brauchen, ist die Idee des Mitgefühls verschwunden und in mir ein Raum entstanden, in welchen wie von selbst eine Liebe, die eine völlig andere Qualität hatte, einfloss.

Diese Liebe, für mich der eigentliche Grundstoff der Schöpfung, wartet meiner inneren Erfahrung nach nur darauf, von uns erkannt und genützt zu werden. Bei mir ist das während des Waldspazierganges geschehen; ich spürte zum ersten Mal diese Liebe, erlebte sie als sehr intensives Gefühl und gleichzeitig als sehr distanziert und sehr pragmatisch – im Sinne von: Ein Mensch ist zwar in einer schwierigen Situation, aber er hat alles in sich, was er zur Bewältigung braucht, und ich bin nur da, um ihn in dieser Situation zu begleiten. Ich gehe neben ihm und mische mich nicht ein. Meine Aufgabe ist es nur, ihn zu unterstützen, die in ihm wohnenden eigenen Ressourcen zu finden. Was er dann daraus macht, ist allein seine Verantwortung. Sehr distanziert-sachlich also. Mein Herz war ganz erfüllt von der tiefen Wärme dieser Liebe und der gleichzeitig existierenden distanziert-sachlichen Haltung. Es war eine Überraschung für mich, dass beides neben- und miteinander möglich ist.

Diese Erkenntnis war für mich damals natürlich nicht sofort in dieser Klarheit präsent, ich bin ihr mit der Zeit Schritt für Schritt nähergekommen. Mittlerweile ist viel Zeit vergangen. Ich kann es jetzt erklären, damals habe ich es nur erlebt. Ich ging die Schritte des Verstehens fragend und tastend. Das Erstaunliche war, dass mir das Leben dann gleich ein Beispiel dafür brachte. Ein junger Mann aus meinem Freundeskreis starb. Ich ging zu seiner Familie, um ihr beizustehen. Ich war noch ganz erfüllt von meinen Erlebnissen und inneren Bildern. Im Zusammensein mit der trauernden Familie lief der ganze Film, also der Strom von Bildern aus dem Wald, wieder in mir ab – ich richtete mich innerlich auf und sprach mit ihnen im Sinne dieser Bilder. Das heißt, ich begann im Geist dieser Liebe, die in diesem Moment spontan eingeflossen war, zu sprechen. Und ich erschrak über das, was ich sagte, denn es war unsentimental, nicht bedauernd, dafür klar und knapp. Um Gottes willen, was sagte ich denn da gerade? Das ist ja schrecklich! Aber die erstaunliche Folge war, dass wir alle viel größer als zuvor und – das mag jetzt seltsam klingen – wie von einem »leuchtenden Mantel« umgeben waren. Alle richteten sich auf. Zu meiner Überraschung und Erleichterung merkte ich, wie gut das ankam, was ich gerade gesagt hatte. Offenbar – ich kann es immer wieder nur als Rückschluss denken – vermittelt man in dem Moment, in dem man aus dieser Liebe spricht, allen anderen und auch sich selbst eine wunderbare Freiheit in diesem klaren Wasserlicht. Das heißt, es öffnet sich möglicherweise im Bewusstsein der anderen der Zugang zu dieser Urquelle, und dann können sich alle aufrichten. Nicht meine Worte haben aufgerichtet, sondern meine Haltung, aus der ich sie sprach. Ich habe alle, die Trauernden, eben in diesem klaren Medium gesehen – und mich selbst auch.

Es ist ganz wichtig, dass man sich selbst auch so sieht. Nicht nur den, den man meint. Wir alle bewegen uns gemeinsam in diesem klaren Licht, das immer da und die sichtbare Form der universellen Liebe ist, nur sind wir uns dessen zu wenig bewusst.

Diese seltsamen Lichtphänomene, diesen »leuchtenden Mantel« um uns alle herum, habe ich allerdings nie wieder gesehen, ich glaube, das war »beginner’s luck«. Wenn man etwas anfängt,