Vier Frauen und ein Mord - Agatha Christie - E-Book

Vier Frauen und ein Mord E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Mrs McGinty, eine liebenswürdige, vielleicht etwas geschwätzige alte Dame, wurde kaltblütig ermordet. Schnell wird ihr Untermieter für die Tat verhaftet, doch wirkt er keineswegs wie ein Mörder, höchstens etwas verschroben. McGinthy schrieb kurz vor ihrem Tod einen Brief an die Zeitung. Ein Artikel über vier Verbrecherinnen hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Bedeutete dieser Brief ihr Todesurteil? Hercule Poirot und Ariadne Oliver rollen den Fall neu auf.

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Seitenzahl: 277

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Agatha Christie

Vier Frauen und ein Mord

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von George S. Martin

Atlantik

Für Peter Saundersin Dankbarkeit für seine Güte gegenüber Autorinnen und Autoren

1

Hercule Poirot kam aus dem Restaurant »La Vieille Grand’mère« in Soho. Er hatte gut gespeist … Und was sollte er jetzt tun?

Ein Taxi fuhr an ihm vorüber, verlangsamte einladend die Fahrt. Poirot zögerte einen Augenblick lang, gab dem Fahrer aber kein Zeichen. Warum sollte er ein Taxi nehmen? Er würde auf alle Fälle zu früh zu Hause sein, um schon zu Bett zu gehen. »Ein Jammer«, murmelte Poirot vor sich hin, »dass man nur dreimal am Tag essen kann …«

Denn der Fünfuhrtee war eine Mahlzeit, an die er sich nie hatte gewöhnen können. Und auch vom Vormittagskaffee hielt er nichts. Nein, er trank Schokolade und aß Croissants zum Frühstück, nahm sein déjeuner wenn möglich um zwölf Uhr dreißig, bestimmt aber nicht später als ein Uhr ein, und schließlich kam der Höhepunkt: le dîner!

Das waren die besten Stunden von Hercule Poirots Tag. Er war immer schon ein Mann gewesen, der seinen Magen ernst nahm. Essen war ihm nicht nur ein körperliches Vergnügen, sondern auch eine geistige Herausforderung. Denn zwischen den Mahlzeiten verbrachte er ziemlich viel Zeit damit, mögliche Quellen neuartigen und köstlichen Essens ausfindig zu machen. »La Vieille Grand’mère« war das Ergebnis einer dieser Forschungsreisen und hatte das Gütesiegel von Hercule Poirots gastronomischer Billigung erhalten. Aber jetzt lag unglücklicherweise der Abend vor ihm, mit dem er irgendetwas anfangen musste.

Hercule Poirot seufzte. Er bog ein in die Shaftesbury Avenue. Sollte er weitergehen, bis zum Leicester Square, und den Abend in einem Kino verbringen? Er runzelte die Brauen und schüttelte den Kopf. Alles, meinte Hercule Poirot, war heutzutage zu verkünstelt. Nirgends fand man jene Liebe zu Ordnung und Methodik, die er selbst so hoch schätzte. Und selten wurden Feinheiten richtig gewertet. Gewalt und Brutalität waren modern, und Poirot als ehemaligen Polizeimann langweilten Rohheiten. In seiner Jugend hatte er sehr viel Rohheit gesehen. Sie war eher die Regel gewesen als die Ausnahme. Er hatte sie ermüdend und dumm gefunden.

Er ging an einem Zeitungskiosk vorüber und sah flüchtig auf die Schlagzeilen.

»Ergebnis des McGinty-Prozesses. Das Urteil.«

Das interessierte ihn nicht. Er erinnerte sich dunkel an eine kurze Meldung in den Zeitungen. Es war kein interessanter Mord gewesen. Einer armseligen Alten hatte man wegen ein paar Pfund den Schädel eingeschlagen. Alles ein Teil der sinnlosen Rohheit dieser Tage.

Poirot betrat den Hof seines Mietshauses. Zufrieden ruhte sein Blick darauf. Er war stolz auf sein Heim. Ein prächtig symmetrisches Gebäude. Der Fahrstuhl brachte ihn in den dritten Stock, wo er eine große, bequeme Wohnung hatte. Als er die Tür aufschloss und in die Diele trat, kam ihm sein Diener George leise entgegen.

»Guten Abend, Sir. Ein … Herr wartet auf Sie.«

Geschickt nahm er Poirot den Mantel ab.

»Ja?« Poirot hatte die winzige Pause vor dem Wort »Herr« sehr wohl bemerkt. George war ein ganz besonderer Snob.

»Wie heißt er?«

»Ein Mr Spence, Sir.«

»Spence.« Im Augenblick sagte der Name Poirot nichts. Aber er wusste, dass er ihm etwas hätte sagen sollen.

Poirot blieb einen Augenblick lang vor dem Spiegel stehen, um seinen Schnurrbart in untadelige Ordnung zu bringen. Dann öffnete er die Tür seines Wohnzimmers und ging hinein. Der Mann, der in einem Lehnsessel saß, stand auf.

»Hallo, Monsieur Poirot, ich hoffe, Sie erinnern sich an mich. Es ist lange her … Kommissar Spence.«

»Aber natürlich.« Poirot schüttelte ihm herzlich die Hand.

Kommissar Spence von der Polizei in Kilchester. Das war ein sehr interessanter Fall gewesen … und wie Spence gesagt hatte, war es schon lange her …

Poirot bot seinem Gast eifrig Erfrischungen an. Eine grenadine? Crème de menthe? Bénedictine? Crème de cacao? … In diesem Augenblick kam George mit einem Tablett herein, auf dem eine Whiskyflasche und Sodawasser standen. »Oder, wenn es Ihnen lieber ist, Bier, Sir?«, fragte er den Besucher leise.

Kommissar Spences großes rotes Gesicht strahlte.

»Bitte ein Bier«, sagte er.

Poirot blieb wieder einmal nichts anderes übrig, als Georges Vollkommenheit zu bewundern. Er selbst hatte keine Ahnung davon gehabt, dass er Bier vorrätig hatte, und es schien ihm unbegreiflich, dass man es einem süßen Likör vorziehen konnte.

Als Spence seinen schäumenden Krug vor sich hatte, schenkte Poirot sich ein winziges Glas crème de menthe ein.

»Es ist wirklich reizend von Ihnen, dass Sie mich besuchen«, sagte er. »Reizend. Sind Sie von …?«

»Kilchester gekommen. Ich werde in etwa sechs Monaten pensioniert. Ich hätte ja eigentlich schon vor achtzehn Monaten in Pension gehen sollen. Aber man hat mich gebeten, noch zu bleiben, und da bin ich eben geblieben.«

»Sie waren weise«, sagte Poirot mit Emphase. »Die langen Stunden des ennui, die können Sie sich gar nicht vorstellen.«

»Ach, ich werde viel zu tun haben, wenn ich pensioniert bin. Wir sind voriges Jahr in ein neues Haus gezogen. Ein ganz hübscher Garten dabei, aber sträflich vernachlässigt. Ich habe noch keine Zeit gehabt, mich richtig damit zu beschäftigen.«

»Ach ja, Sie sind einer von diesen Gärtnern. Ich hatte auch einmal beschlossen, auf dem Land zu leben und Kürbisse zu züchten, aber ich hatte keinen Erfolg. Ich habe nicht das richtige Temperament dafür.«

»Sie hätten voriges Jahr einen meiner Kürbisse sehen sollen«, sagte Spence ganz begeistert. »Enorm! Und meine Rosen. Ich liebe Rosen. Ich werde …«

Er unterbrach sich.

»Aber ich bin nicht gekommen, um darüber zu sprechen.«

»Nein, nein. Sie sind gekommen, um einen alten Bekannten zu besuchen – das war lieb. Ich freue mich darüber.«

»Nicht nur, fürchte ich, Monsieur Poirot. Ich will aufrichtig sein. Ich habe eine Bitte.«

Poirot sagte leise und zartfühlend:

»Haben Sie vielleicht eine Hypothek auf Ihr Haus aufgenommen? Brauchen Sie womöglich ein Darlehen?«

Spence unterbrach ihn ganz entsetzt:

»Ach, lieber Gott, es geht doch nicht um Geld!«

Poirot machte eine anmutige Geste der Entschuldigung.

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Ich will ganz ehrlich sein: Es ist eigentlich eine Frechheit, dass ich zu Ihnen komme. Wenn Sie mich einfach hinauswerfen, wird es mich nicht überraschen.«

»Ich werde Sie nicht hinauswerfen«, versicherte Poirot. »Aber sprechen Sie weiter.«

»Es ist der Fall McGinty. Sie haben vielleicht darüber gelesen?«

Poirot schüttelte den Kopf.

»Nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit. Mrs McGinty – eine alte Frau. Besaß einen Laden oder ein kleines Haus. Sie ist tot, jawohl. Wie starb sie?«

Spence starrte ihn an.

»Lieber Himmel!«, sagte er. »So etwas! Wirklich seltsam … Und bis jetzt war es mir nicht aufgefallen.«

»Wie bitte?«

»Nichts. Nur ein Spiel. Ein Kinderspiel. Als wir noch klein waren, haben wir das immer gespielt. Wir stellten uns in einer Reihe auf. Und dann gingen Frage und Antwort die Reihe hinunter. ›Mrs McGinty ist tot! Wie starb sie? Sprich!‹ – ›Auf einem Knie, genau wie ich.‹ Und dann kam die nächste Frage. ›Mrs McGinty ist tot! Wie starb sie? Sprich!‹ – ›Hielt ihre Hand hin, genau wie ich.‹ Und dann knieten wir alle und hielten unsere rechten Arme steif ausgestreckt. Und dann kam es! ›Mrs McGinty ist tot! Wie starb sie? Sprich!‹ – ›Soooo!‹ Plumps fiel der Erste in der Reihe seitwärts, und dann fielen wir alle um wie die Kegel.« Spence lachte bei dieser Erinnerung laut auf.

Poirot wartete höflich. Das war einer dieser Augenblicke, in denen er die Engländer, selbst nach einem halben Leben in ihrem Lande, nicht verstehen konnte. Er selbst hatte in seiner Kindheit Cache-Cache gespielt, aber er fühlte kein Bedürfnis, darüber zu sprechen oder auch nur daran zu denken.

Als Spence sich halbwegs beruhigt hatte, wiederholte Poirot ein wenig gelangweilt: »Nun, und wie ist sie also gestorben?« Das Lachen verschwand plötzlich aus Spences Gesicht, das wieder ernst wurde.

»Sie wurde mit einem scharfen, schweren Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen. Ihre Ersparnisse, etwa dreißig Pfund in bar, wurden geraubt, nachdem ihr Zimmer durchwühlt worden war. Sie lebte allein in einem Häuschen und hatte einen Untermieter. Einen Mann namens Bentley. James Bentley.«

»Ach ja, Bentley.«

»Es war kein Einbruch. Kein Anzeichen davon, dass man sich an Fenstern oder den Schlössern zu schaffen gemacht hätte. Bentley ging es schlecht, er hatte keine Arbeit und war zwei Monatsmieten schuldig. Auf Bentleys Mantelärmel waren Blutspuren und Haare – dieselbe Blutgruppe und die richtigen Haare. Laut seiner ersten Aussage war er der Leiche niemals nahe gekommen – also konnten sie nicht durch Zufall auf den Mantel geraten sein.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Der Bäcker kam mit dem Brot. Es war der Tag, an dem er auch kassierte. James Bentley öffnete ihm die Tür und sagte, er hätte an Mrs McGintys Schlafzimmertür geklopft, aber keine Antwort erhalten. Der Bäcker meinte, sie wäre vielleicht krank. Sie holten die Nachbarin, sie sollte hinaufgehen und nachsehen. Mrs McGinty war nicht im Schlafzimmer und hatte auch nicht in ihrem Bett geschlafen, aber das Zimmer war durchwühlt, und die Fußbodenbretter waren hochgestemmt worden. Dann sahen sie im Wohnzimmer nach. Dort lag sie auf dem Boden, und die Nachbarin brüllte sich fast zu Tode. Dann holten sie natürlich die Polizei.«

»Und dann hat man Bentley verhaftet und ihm den Prozess gemacht?«

»Ja. Der Fall kam vors Schwurgericht. Gestern. Es war eine kurze, klare Verhandlung. Die Geschworenen haben sich heute früh nur zwanzig Minuten lang zurückgezogen. Sie haben ihn schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.«

Poirot nickte.

»Und dann, nach dem Urteil, sind Sie in den Zug gestiegen, nach London gefahren und haben mich aufgesucht. Warum?«

Kommissar Spence schaute in seinen Bierkrug. Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger um den Rand des Kruges.

»Weil ich nicht glaube, dass er es getan hat …«, sagte er.

2

Einen Augenblick lang schwiegen beide.

»Sie kamen zu mir …«

Poirot beendete den Satz nicht.

Kommissar Spence blickte auf. Die Farbe seines Gesichts war dunkler als zuvor. Es war das typische Gesicht eines Mannes vom Lande, ausdruckslos, beherrscht, mit schlauen, aber aufrichtigen Augen. Es war das Gesicht eines Mannes mit ganz feststehenden Ansichten, der niemals durch Zweifel an sich irritiert wurde oder durch Zweifel daran, was Recht ist und was Unrecht.

»Ich bin schon lange bei der Polizei«, sagte er. »Ich habe eine ganze Menge Erfahrungen gesammelt. Ich kann einen Mann so gut beurteilen wie irgendwer. Ich habe in meiner Dienstzeit Mordfälle behandelt – einige ganz klare, andere waren nicht so eindeutig. Einen Fall kennen Sie, Monsieur Poirot …«

Poirot nickte.

»Der war verzwickt. Ohne Sie hätten wir ihn nie gelöst. Aber wir haben ihn gelöst – und da gab es gar keinen Zweifel. Ebenso war es mit anderen Fällen, die Sie nicht kennen. Da war Whistler. Der hat bekommen, was ihm gebührte. Da waren diese Burschen, die den alten Guterman erschossen. Da war Verall mit seinem Arsenik. Tranter ist davongekommen, aber getan hat er’s doch. Mrs Courtland, die hatte Glück. Ihr Mann war ein widerlicher Patron, und die Geschworenen haben sie deshalb freigesprochen. Es war nicht Gerechtigkeit, nur Empathie. Manchmal muss es eben auch das geben. Manchmal hat man nicht genug Beweise, manchmal spielt das Gefühl eine Rolle, manchmal bringt ein Mörder es fertig, die Geschworenen reinzulegen – das gelingt zwar nicht oft, aber es kann vorkommen. Manchmal ist es der Erfolg eines besonders gerissenen Verteidigers – oder der Staatsanwalt hat einen falschen Kurs eingeschlagen. Ach ja, ich habe viele solche Fälle gesehen. Aber … aber …«

Spence hob seinen dicken Zeigefinger.

»Ich habe aber nie gesehen, in all den Jahren nicht, dass ein Mann wegen etwas gehenkt wurde, das er nicht getan hat. Das ist etwas, Monsieur Poirot, was ich nicht sehen möchte. Nicht«, fügte Spence hinzu, »in diesem Lande.«

Poirot sah ihn an.

»Und Sie glauben, dass Sie es jetzt sehen werden. Aber warum …«

Spence unterbrach ihn.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich werde antworten, ohne dass Sie fragen müssen. Man hat mir diesen Fall übergeben. Ich musste das Beweismaterial zusammentragen. Ich ging in der ganzen Angelegenheit sehr sorgfältig zu Werke, und als ich mit meinen Untersuchungen fertig war, legte ich die Ergebnisse meinem Vorgesetzten vor. Danach war der Fall nicht mehr in meinen Händen. Er ging zum Staatsanwalt, und der entschloss sich, Anklage zu erheben. Er hätte auch gar nichts anderes tun können – nicht bei diesen Beweisen. Und so wurde James Bentley verhaftet und vor Gericht gestellt. Man machte ihm einen ordentlichen Prozess und sprach ihn schuldig. Man hätte gar kein anderes Urteil fällen können – nicht bei diesen Beweisen. Die Geschworenen waren alle von seiner Schuld völlig überzeugt.«

»Aber Sie – sind es nicht?«

»Nein.«

»Warum?«

Kommissar Spence seufzte. Er rieb sich nachdenklich mit seiner großen Hand das Kinn.

»Ich weiß es nicht. Ich meine, ich kann keinen Grund angeben – keinen konkreten Grund. Für die Geschworenen hat er wie ein Mörder ausgesehen, aber für mich nicht – und ich verstehe viel mehr von Mördern als die.«

»Ja, ja, Sie sind ein Fachmann.«

»Wissen Sie, da war eines – er war nicht frech. Gar nicht frech. Und nach meiner Erfahrung sind Mörder das für gewöhnlich. Immer so verdammt selbstzufrieden. Denken immer, dass sie einen an der Nase herumführen können, selbst wenn sie schon auf der Anklagebank sitzen und wissen, dass es ihnen an den Kragen geht. Sie werden verstehen, was ich meine, Monsieur Poirot.«

»Ich verstehe es sehr gut. Und dieser James Bentley – der war nicht so?«

»Nein. Er war – nun, einfach in Todesangst. Von allem Anfang an in Todesangst. Und auf manche Leute musste das den Eindruck machen, dass er schuldig war. Aber auf mich nicht.«

»Nein, da bin ich Ihrer Meinung. Wie ist er denn, dieser James Bentley?«

»Dreiunddreißig, mittelgroß, fahle Haut, trägt eine Brille …«

»Nein, ich meine nicht sein Äußeres. Was für ein Mensch ist er?«

»Ach so …« Kommissar Spence dachte nach. »Ein unauffälliger Bursche. Nervös. Kann einem nicht gerade ins Gesicht sehen. Hat eine Art, einen schlau von der Seite anzuschauen. Wirkt gar nicht gut auf die Geschworenen. Manchmal duckt er sich, und manchmal wird er aufsässig.«

Er machte eine Pause und sagte dann nachdenklich:

»In Wirklichkeit ist der Bursche scheu. Ich hatte so einen Vetter. Wenn irgendwas unangenehm wird, dann erzählen diese Leute eine dumme Lüge, die nicht die geringste Aussicht hat, geglaubt zu werden.«

»Scheint nicht sehr sympathisch zu sein, Ihr James Bentley.«

»Ist er auch nicht. Aber deshalb will ich ihn doch nicht hängen sehen!«

»Und Sie meinen, dass man ihn hängen wird?«

»Ich wüsste nicht, warum er nicht gehängt werden sollte. Sein Verteidiger kann Berufung einlegen – aber das müsste mit recht fadenscheinigen Gründen geschehen, und ich glaube nicht, dass er damit Erfolg haben würde.«

»Hatte er einen guten Anwalt?«

»Den jungen Graybrook – als Offizialverteidiger unter Armenrecht. Ich meine, er war sehr gewissenhaft und hat sein Bestes getan.«

»So hat der Mann also einen anständigen Prozess gehabt und ist von seinesgleichen schuldig gesprochen worden.«

»Das stimmt. Die Geschworenen waren guter Durchschnitt. Sieben Männer, fünf Frauen. Alles anständige, vernünftige Leute. Der alte Stanisdale war der Richter. Absolut gerecht – keinerlei Vorurteile.«

»So kann sich James Bentley nach den Gesetzen des Landes über nichts beklagen?«

»Wenn er wegen etwas, was er nicht getan hat, aufgehängt wird, hat er schon einen Grund zur Klage.«

»Eine sehr richtige Bemerkung.«

»Und der Fall gegen ihn war mein Fall – ich habe das Beweismaterial gesammelt und damit die Grundlage für das Urteil geliefert. Und das gefällt mir nicht, Monsieur Poirot. Das gefällt mir überhaupt nicht.«

Hercule Poirot betrachtete lange das erregte rote Gesicht von Kommissar Spence.

»Eh bien«, sagte er. »Was schlagen Sie vor?«

Spence sah sehr verlegen aus.

»Ich glaube, Sie wissen ganz gut, was kommt. Der Fall McGinty ist abgeschlossen. Ich arbeite schon an einem anderen – einer Unterschlagung. Muss heute Abend noch nach Schottland fahren. Ich bin kein freier Mann.«

Spence nickte irgendwie verlegen.

»Da haben Sie’s. Schreckliche Unverschämtheit, werden Sie sagen. Aber ich sehe keinen anderen Weg – keine andere Möglichkeit. Ich habe in diesem Fall alles getan, was ich tun konnte, habe jede Möglichkeit überprüft. Und ich habe nichts erreicht. Ich glaube, ich kann auch nichts erreichen. Aber wer weiß, vielleicht ist es bei Ihnen anders. Sie sehen die Dinge auf eine – Sie werden mir den Ausdruck verzeihen –, auf eine komische Art an. Vielleicht ist das die Art, wie man sie in diesem Fall ansehen muss. Denn wenn James Bentley MrsMcGinty nicht getötet hat, dann hat jemand anders sie ermordet. Sie hat sich ja nicht selbst den Schädel eingeschlagen. Vielleicht können Sie etwas finden, das mir entgangen ist. Aber wenn Sie sich nicht bemühen wollen – und warum sollten Sie …«

Poirot unterbrach ihn.

»Ach, es gibt schon ein paar Gründe. Ich habe Zeit – zu viel Zeit. Und Sie haben mein Interesse geweckt – ja, das haben Sie. Es ist eine Herausforderung meiner kleinen grauen Zellen. Und dann denke ich auch an Sie. Ich sehe Sie, wie Sie in sechs Monaten in Ihrem Garten sind und vielleicht gerade Ihre Rosen gießen – aber Sie sind nicht so glücklich, wie Sie es sein sollten, weil Sie tief in Ihrem Innern eine bestimmte Erinnerung quält. Und das möchte ich nicht. Und schließlich«, Poirot saß ganz aufrecht und nickte energisch, »ist da das Prinzip. Wenn ein Mann keinen Mord begangen hat, sollte er auch nicht gehängt werden.« Er verstummte und fuhr dann fort: »Aber wenn er sie doch getötet hat?«

»In diesem Fall wäre ich nur zu dankbar, davon überzeugt zu werden.«

»Und zwei Köpfe sind besser als einer? Voilà. Ich stürze mich auf diesen Fall. Wir dürfen keine weitere Zeit verlieren. Die Fährte ist schon kalt. Wann ist Mrs McGinty ermordet worden?«

»Am 22. November.«

»Nehmen wir also die Sache in Angriff.«

»Ich habe noch meine Aufzeichnungen über die Ermittlungen. Ich werde sie Ihnen geben.«

»Gut. Im Augenblick brauche ich nur eine allgemeine Übersicht. Wenn James Bentley Mrs McGinty nicht getötet hat, wer hat es dann getan?«

Spence zuckte die Achseln und sagte langsam:

»Soweit ich sehen kann, niemand sonst.«

»Aber diese Antwort passt uns nicht. Nun, da es für jeden Mord ein Motiv geben muss – was könnte das Motiv im Fall McGinty gewesen sein? Neid, Rache, Eifersucht, Furcht, Geld? Wollen wir mit dem letzten und einfachsten Motiv anfangen? Wer hatte einen Nutzen von ihrem Tod?«

»Niemand hatte großen Nutzen. Sie hatte zweihundert Pfund auf der Sparkasse. Die bekommt ihre Nichte.«

»Zweihundert Pfund sind nicht viel. Aber unter gewissen Umständen könnten sie genug sein. Schauen wir uns also einmal die Nichte an. Ich bitte um Verzeihung, mein Freund, dass ich in Ihre Fußstapfen trete. Ich weiß, dass Sie das alles auch schon bedacht haben. Aber ich muss das schon beschrittene Terrain noch einmal mit Ihnen abgehen.«

Spence nickte.

»Wir haben uns natürlich die Nichte angesehen. Sie ist achtunddreißig und verheiratet. Ihr Mann ist Handwerker – Maler. Er hat einen ordentlichen Charakter, eine feste Stellung, ist ein intelligenter Kerl, kein Dummkopf. Sie ist eine nette junge Frau, ein bisschen geschwätzig, schien ihre Tante ganz gern zu haben. Keiner von den beiden brauchte dringend zweihundert Pfund, obwohl sie sich bestimmt sehr gefreut haben, sie zu bekommen.«

»Was ist mit dem Häuschen? Bekommen sie das auch?«

»Es war gemietet. Die Nichte und ihr Mann haben ein kleines modernes Häuschen, auf das sie ganz stolz sind.« Spence seufzte. »Ich habe mir die beiden recht genau angesehen – sie schienen, wie Sie wohl verstehen werden, ziemlich verdächtig. Aber ich konnte nichts feststellen.«

»Bien. Sprechen wir jetzt über Mrs McGinty selbst. Beschreiben Sie sie mir – und nicht nur ihr Aussehen, bitte.«

Spence grinste.

»Sie wollen keinen Steckbrief? Nun, sie war vierundsechzig. Eine Witwe. Ihr Mann hat in der Textilabteilung bei Hodges in Kilchester gearbeitet. Er ist vor etwa sieben Jahren gestorben. Lungenentzündung. Seit damals ging Mrs McGinty täglich in verschiedene Häuser. Als Putzfrau. Broadhinny ist nur ein kleines Dorf. Ein paar Pensionäre – ein Teilhaber einer Maschinenfabrik, ein Arzt, solche Leute. Es gibt eine ganz gute Bus- und Zugverbindung nach Kilchester, und Cullenquay, das, wie Sie wohl wissen, eine ziemlich beliebte Sommerfrische ist, liegt nur zwölf Kilometer weit weg. Aber Broadhinny selbst ist noch recht ruhig und ländlich – liegt etwa vierhundert Meter abseits der Landstraße von Drymouth nach Kilchester.«

Poirot nickte.

»Mrs McGintys Häuschen war eines von den vieren, die das Zentrum des Dorfes bilden. Da sind noch das Postamt und der Krämerladen, und im vierten wohnen Landarbeiter.«

»Und sie hat einen Untermieter gehabt?«

»Ja. Bevor ihr Mann starb, vermietete sie gewöhnlich an Sommergäste, aber nach seinem Tod nahm sie einen Dauermieter. James Bentley hatte schon ein paar Monate dort gelebt.«

»So kommen wir zu Bentley?«

»Bentley hatte seine letzte Stellung bei einem Häusermakler in Kilchester. Davor hat er bei seiner Mutter in Cullenquay gewohnt. Sie war kränklich, und er hat für sie gesorgt und ist nie viel ausgegangen. Dann starb sie – und ihre Rente starb mit ihr. Er verkaufte sein kleines Haus und nahm eine Stellung an. Ein intelligenter Mensch, aber ohne besondere Ausbildung oder Fähigkeit. Er hatte es nicht leicht, etwas zu finden. Na, Breather & Scuttle haben ihn engagiert. Eigentlich eine zweitklassige Firma. Ich glaube nicht, dass er besonders tüchtig oder erfolgreich war. Sie haben ihr Personal verringert, und er musste gehen. Er fand keine andere Arbeit, und sein Geld ging zur Neige. Gewöhnlich bezahlte er Mrs McGinty monatlich. Sie machte ihm Frühstück und Abendessen und berechnete ihm drei Pfund wöchentlich – ganz angemessen, wenn man alles bedenkt. Er war mit zwei Monaten im Rückstand und fast am Ende mit seinen Mitteln. Er hatte keine neue Stellung, und sie mahnte ihn immer energischer.«

»Und er wusste, dass sie dreißig Pfund im Haus hatte? Übrigens, warum hatte sie dreißig Pfund im Haus, da sie doch ein Sparkonto besaß?«

»Weil sie der Regierung nicht traute. Sie sagte, die hätte zweihundert Pfund von ihrem Geld bekommen, aber mehr würde sie nicht von ihr kriegen. Ihr Geld würde sie dort aufbewahren, wo sie jederzeit ihre Hand darauflegen konnte. Das hat sie ein paar Leuten erzählt. Es lag unter einem losen Bodenbrett in ihrem Schlafzimmer. Ein sehr auffälliger Aufbewahrungsort. James Bentley gab zu, dass er wusste, dass es dort war.«

»Das ist sehr entgegenkommend von ihm. Und wussten die Nichte und ihr Mann das auch?«

»O ja.«

»Dann sind wir jetzt also wieder bei meiner ersten Frage angelangt: Wie ist Mrs McGinty gestorben?«

»Sie starb am 22. November. Der Polizeiarzt sagte, zwischen sieben und zehn Uhr abends. Sie hatte zu Abend gegessen – einen Hering und Brot mit Margarine, und offensichtlich aß sie gewöhnlich um halb sieben zu Abend. Wenn sie sich an dem fraglichen Tag daran hielt, dann muss sie entsprechend dem Autopsiebefund gegen halb neun oder neun Uhr gestorben sein. James Bentley machte an jenem Abend angeblich einen Spaziergang von Viertel nach sieben bis gegen neun. An den meisten Abenden ging er nach Dunkelwerden spazieren. Laut seiner Aussage kam er gegen neun Uhr zurück – er hatte seinen eigenen Schlüssel – und ging sofort in sein Zimmer hinauf. Wegen der Sommergäste hatte Mrs McGinty in den Zimmern Waschbecken installieren lassen. Er las etwa eine halbe Stunde lang und ging dann zu Bett. Er bemerkte nichts Ungewöhnliches. Am nächsten Morgen kam er herunter und schaute in die Küche, aber es war niemand da, und er bemerkte keine Anzeichen, dass das Frühstück gemacht wurde. Er sagte, er hätte ein bisschen gezögert und dann an Mrs McGintys Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten.

Er meinte, sie müsste verschlafen haben, wollte aber nicht weiterklopfen. Dann kam der Bäcker, und James Bentley ging erneut hinauf und klopfte wieder, und danach ging der Bäcker, wie ich Ihnen schon sagte, ins Nachbarhaus und rief eine gewisse Mrs Elliot, die schließlich die Leiche fand und sich ganz hysterisch gebärdete. Mrs McGinty lag auf dem Boden des Wohnzimmers. Man hatte sie mit einem Gegenstand, einer Art Fleischerbeil mit einer sehr scharfen Schneide, auf den Hinterkopf geschlagen. Sie ist sofort tot gewesen. Die Schubladen waren aufgerissen, ihre Sachen lagen verstreut umher, das lose Fußbodenbrett in ihrem Schlafzimmer war hochgestemmt worden, und das Versteck war leer. Alle Fenster waren geschlossen und von innen verriegelt. Keine Anzeichen, dass man sich daran zu schaffen gemacht hatte. Keine Spuren von einem Einbruch.«

»Deshalb«, sagte Poirot, »muss entweder James Bentley sie getötet haben, oder sie muss ihren Mörder selbst hereingelassen haben, während Bentley fort war.«

»Genau das. Es war kein Einbrecher. Nun, wen würde sie wohl hereingelassen haben? Einen der Nachbarn oder ihre Nichte, oder den Mann ihrer Nichte. Darauf läuft es hinaus. Wir haben die Nachbarn ausgeschlossen. Die Nichte und ihr Mann waren an dem Abend im Kino. Es ist möglich – so gerade möglich –, dass einer von beiden das Kino unbeobachtet verließ, fünf Kilometer weit mit dem Rad fuhr, die Alte tötete, das Geld außerhalb des Hauses versteckte und wieder unbemerkt ins Kino zurückkehrte. Wir haben diese Möglichkeit untersucht, aber keine Bestätigung unserer Theorie erhalten. Und warum hätten sie das Geld außerhalb des Hauses von Mrs McGinty verstecken sollen? Dort hätten sie es später nur mit Mühe holen können. Warum nicht irgendwo auf dem fünf Kilometer langen Rückweg? Nein, der einzige Grund, es dort zu verstecken, wo es versteckt wurde …«

Poirot beendete den Satz:

»Ist, dass man in dem Haus wohnt, es aber nicht in seinem Zimmer oder sonst wo im Haus verstecken will. Also James Bentley.«

»Sehr richtig. Überall und jedes Mal kommt man wieder auf Bentley. Schließlich war da noch das Blut an seinem Ärmelaufschlag.«

»Wie hat er das erklärt?«

»Sagt, er erinnere sich, dass er am Vormittag in einem Schlachterladen irgendwo angestoßen sei. Unsinn! Das war kein Tierblut.«

»Und ist er bei dieser Geschichte geblieben?«

»Ach, woher. Vor Gericht erzählte er eine ganz andere Geschichte. Sehen Sie, an dem Ärmel war auch ein Haar – ein blutbeflecktes Haar, und das Haar war identisch mit Mrs McGintys Haar. Das musste er doch erklären. Er gab dann zu, am Abend zuvor, als er von seinem Spaziergang heimkehrte, in ihrem Zimmer gewesen zu sein. Er sagte, er hätte angeklopft, wäre dann hineingegangen und hätte sie dort tot auf dem Boden liegen gesehen. Um ganz sicher zu sein, hätte er sich gebückt und sie berührt. Und dann habe er den Kopf verloren. Er sei völlig gebrochen in sein Zimmer gelaufen und dort halb ohnmächtig geworden. Denn, sagte er, den Anblick von Blut habe er nie ertragen können. Am Morgen konnte er sich nicht dazu aufraffen zuzugeben, dass er wusste, was geschehen war.«

»Eine sehr faule Geschichte«, bemerkte Poirot.

»Ja, wirklich. Und doch, wissen Sie«, meinte Spence nachdenklich, »sie könnte wahr sein. Es ist nicht eine Geschichte, die ein normaler Mensch oder eine Gruppe von Geschworenen glaubt. Aber ich habe solche Leute schon gekannt. Ich meine nicht die Ohnmachtsgeschichte. Ich meine Leute, die plötzlich vor der Notwendigkeit stehen, etwas zu tun und eine Verantwortung zu übernehmen, und die es einfach nicht können. Schüchterne Menschen. Sagen wir, er geht hinein und findet sie. Er weiß, dass er etwas tun sollte – die Polizei holen – zu einem Nachbarn gehen – das Richtige tun, was immer es sein mag. Und er drückt sich. Er denkt: ›Ich brauche gar nichts davon zu wissen. Ich muss ja heute Abend nicht hereingekommen sein. Ich gehe zu Bett, als ob ich gar nicht hier drin gewesen wäre …‹ Dahinter steckt natürlich Angst – die Angst, man werde ihn verdächtigen, dass er etwas damit zu tun hätte. Er meint, er solle sich so lange wie möglich aus allem heraushalten, und schon steckt der Trottel bis zum Hals mittendrin.«

Spence machte eine kurze Pause.

»Es hätte wirklich so sein können.«

»Ja, wirklich«, bestätigte Poirot nachdenklich.

»Die Kellnerin in dem Café in Kilchester, wo er gewöhnlich zu Mittag aß, sagte, dass er sich immer einen Tisch auswählte, wo er auf die Wand oder in eine Ecke blicken und nicht auf die Leute sehen musste. Er war so ein Bursche – einfach ein bisschen verdreht. Aber nicht verdreht genug, um ein Mörder zu sein. Er hatte keinen Verfolgungswahn oder so was.«

Spence sah Poirot erwartungsvoll an – aber Poirot antwortete nicht, er runzelte bloß die Stirn.

Eine Zeit lang saßen beide Männer schweigend da.

3

Endlich regte Poirot sich und seufzte.

»Eh bien«, sagte er. »Wir haben das Geldmotiv ausgereizt. Gehen wir zu den anderen Theorien über. Hatte Mrs McGinty einen Feind? Hatte sie vor jemandem Angst?«

»Wir haben keinen Beweis dafür.«

»Was hatten ihre Nachbarn zu sagen?«

»Nicht sehr viel. Vielleicht wollten sie der Polizei nichts erzählen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas verschwiegen haben. Sie war immer allein, sagten sie. Aber das wurde als ganz natürlich angesehen. Unsere Dörfler, das wissen Sie, Monsieur Poirot, sind nicht besonders freundlich. Mrs McGinty verkehrte oberflächlich mit den Nachbarn, aber sie war mit niemandem wirklich vertraut.«

»Wie lange hat sie dort gelebt?«

»So achtzehn oder zwanzig Jahre, glaube ich.«

»Und die vierzig Jahre davor?«

»Es gibt kein Geheimnis in ihrem Leben. Ein Bauernmädchen aus Norddevon. Sie und ihr Mann lebten eine Zeit lang in der Nähe von Ilfracombe und übersiedelten dann nach Kilchester. Hatten ein Häuschen auf der anderen Seite von Kilchester, fanden es aber zu feucht und zogen nach Broadhinny. Der Mann soll ein ruhiger, anständiger Mensch gewesen sein, sehr wählerisch – ist nicht oft ins Wirtshaus gegangen. Alles sehr anständig und einwandfrei. Nirgends ein Geheimnis, nirgends etwas zu verbergen.«

»Und doch ist sie ermordet worden?«

»Und doch ist sie ermordet worden.«

»Die Nichte kannte niemanden, der einen Groll gegen die Tante hegte?«

»Sie sagt, nein.«

Poirot rieb sich ärgerlich die Nase.

»Sie verstehen, mein lieber Freund, es wäre so viel einfacher, wenn Mrs McGinty sozusagen nicht Mrs McGinty wäre. Wenn sie eine so genannte ›Geheimnisvolle Frau‹ wäre – eine Frau mit Vergangenheit.«

»Nun, das war sie aber nicht«, sagte Spence ruhig. »Sie war bloß Mrs McGinty, eine mehr oder weniger ungebildete Frau, die Zimmer vermietete und als Putzfrau arbeitete. Davon gibt’s Tausende in England.«

»Aber die werden nicht alle ermordet.«

»Nein. Das gebe ich zu.«

»Also, warum musste dann Mrs McGinty sterben? Halten wir uns an die Tatsachen. Eine ältliche Putzfrau wird ermordet. Ein schüchterner, seltsamer junger Mann wird verhaftet und wegen dieses Mordes verurteilt. Warum wurde James Bentley verhaftet?«

Spence starrte ihn verwundert an.

»Die Beweise gegen ihn. Ich habe Ihnen gesagt …«

»Ja. Beweise. Aber sagen Sie, Spence, waren es wirkliche Beweise oder waren sie fingiert?«

»Fingiert?«

»Ja. Nehmen wir einmal an, James Bentley sei unschuldig. Dann bleiben uns zwei Möglichkeiten. Die Beweise wurden fingiert, um ihn zu belasten. Oder er war nur ein unglückliches Opfer widriger Zufälle.«

Spence dachte nach.

»Ja, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.«

»Nichts sagt uns, dass das der Fall ist. Aber wir haben auch keinen Beweis dagegen. Das Geld wurde weggenommen und außerhalb des Hauses an einem leicht zu findenden Ort versteckt. Es tatsächlich in seinem Zimmer zu verstecken, wäre mehr gewesen, als die Polizei geschluckt hätte. Der Mord wurde zu einer Zeit begangen, als Bentley allein spazieren ging, wie er es oft tat. Kam der Blutfleck so auf seinen Ärmel, wie er es vor Gericht erzählte, oder wurde auch der Ärmel ›präpariert‹? Hat jemand Bentley in der Dunkelheit gestreift und einen verräterischen Beweis auf seinen Ärmel geschmiert?«

»Ich glaube, das geht ein bisschen zu weit, Monsieur Poirot.«

»Vielleicht, vielleicht. Aber wir müssen weit gehen. Ich glaube, wir müssen in diesem Fall so weit gehen, dass unsere Vorstellungskraft den Weg im Moment noch gar nicht deutlich erkennt … Denn sehen Sie, mon cher Spence, wenn Mrs McGinty nur eine gewöhnliche Putzfrau ist – dann muss der Mörder ungewöhnlich sein. Ja – das ist eine klare Schlussfolgerung. Interessant bei diesem Fall ist der Mörder, nicht die Ermordete. Das ist bei den meisten Verbrechen anders. Gewöhnlich steht die Persönlichkeit des Opfers im Mittelpunkt. Gewöhnlich interessiere ich mich für die schweigsamen Toten. Ihren Hass, ihre Liebe, ihre Taten. Und wenn man das Opfer wirklich kennt, dann spricht das Opfer, und die toten Lippen formen einen Namen – den Namen, den man wissen will. Aber hier«, fuhr Poirot fort, »haben wir es mit dem Gegenteil zu tun. Wie starb Mrs McGinty? Warum starb sie? Die Antwort finden wir nicht, wenn wir das Leben von Mrs McGinty untersuchen. Die Antwort liegt in der Persönlichkeit des Mörders. Sind wir da einer Meinung?«

»Ich glaube«, sagte Kommissar Spence vorsichtig.

»Jemand, der etwas wollte – aber was? Mrs McGinty niederschlagen? Oder James Bentley?«

Der Kommissar äußerte ein zweifelndes »Hmmm«.

»Ja – ja, das ist einer der ersten Punkte, die geklärt werden müssen. Wer ist das wirkliche Opfer? Wer sollte das Opfer sein?«

Spence sagte ungläubig: »Sie glauben wirklich, dass jemand eine völlig harmlose alte Frau erschlägt, damit jemand anderer wegen Mordes aufgehängt wird?«

»Es heißt, dass man kein Omelette machen kann, ohne Eier zu zerschlagen. Mrs McGinty könnte das Ei sein, und James Bentley ist das Omelette. Sagen Sie mir jetzt also, was Sie über James Bentley wissen.«

»Nicht viel. Sein Vater war Arzt und starb, als Bentley neun Jahre alt war. Er ging in eine der kleineren Schulen, war untauglich zum Militärdienst – etwas schwach auf der Brust –, arbeitete während des Krieges in einem Ministerium und wohnte bei seiner herrschsüchtigen Mutter.«

»Nun«, sagte Poirot, »da sind doch schon einige Möglichkeiten. Mehr als in der Lebensgeschichte von Mrs McGinty.«

»Glauben Sie ernsthaft, was Sie da sagen?«

»Nein. Vorläufig glaube ich noch gar nichts. Aber ich denke, dass wir zwei ganz verschiedene Spuren verfolgen müssen und dass wir uns bald entscheiden müssen, welche davon die richtige ist. Als Erstes möchte ich eine Unterredung mit James Bentley.«

»Das lässt sich machen. Ich werde mich mit seinen Anwälten in Verbindung setzen.«