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Ein kleines Extra zur Stuttgart-Reihe.
Kann auch einzeln gelesen werden.
Carlos und Noras Geschichte für all diejenigen, die sie sich gewünscht haben.
Stuttgart-Reihe:
Das Ende einer Reise
Vier zu eins
Drei andere Worte
Halb fünf
Für keine Andere
Der Duft einer Winternacht
Nichts schuldig
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2016
Andere Männer wären hier vielleicht mit Blumen aufgeschlagen. Ich halte nur die Tageszeitung in den Händen. Mehr braucht es nicht. Hoffe ich zumindest.
Inzwischen sitze ich seit sechs Stunden hier. Eigentlich hätte ich nochmal nach Hause fahren können, schließlich werde ich hier mindestens weitere 90 Minuten lang wie bestellt und nicht abgeholt rumsitzen. Wobei - ich bin wohl eher nicht bestellt und nicht abgeholt. Dass Nora heute den Flug zurück nach Stuttgart nehmen würde ist die Aussage ihrer Nachbarin und da aus Glasgow nur zwei Flieger am Tag in Stuttgart ankommen, müsste ich ihr in knappen zwei Stunden gegenüberstehen.
Ich habe mir auf dem Weg hier her eine Rede überlegt, die sie davon überzeugen sollt, mich zurück zu nehmen; aber nach einem Tag zu teurem Kaffee, unzähliger Menschen, die sich mit großem ‚Hallo‘ begrüßten und 23 Jahren Selbstzweifel, bin ich jetzt an dem Punkt, an dem ich keine Rede, keine großen Worte oder Gesten, keinen Plan mehr habe. Noch nie habe ich zu der Sorte Mann gehört, die sich aus jeder Situation hinaus navigieren können, die immer einen passenden Spruch auf den Lippen haben oder deren krummes Lächeln reicht um ihnen den Arsch zu retten. Meine Schwester ist mit so einem Typen zusammen; Jonas würde nach begangenem Mord nur Lächeln müssen und würde für nichts mehr belangt werden.
Nope, so einer bin ich nicht.
Jetzt sitze ich also hier: Ohne zurechtgelegte Worte, ohne frischen Atem und ohne den blassesten Schimmer ob Nora mich überhaupt hier haben will.
Was kann jetzt also noch schief gehen?
Nora und ich sind seit zwei Jahren beste Freunde, eigentlich hätte von Anfang an was zwischen uns laufen müssen; JEDER weiß dass wir ineinander verliebt sind, auch Nora und ich – und doch ist alles nicht so gelaufen wie wir es wollten. Eva, besagte Schwester die sich den Lächel-Typen geangelt hat, liegt mir quasi seit dem ersten Treffen von Nora und mir in den Ohren, dass es ja bitte nicht schwer sein kann aus unserer Freundschaft eine Beziehung zu drehen. Doch! Kann es…
Nur darüber habe ich mir die letzten drei Tage den Kopf zerbrochen; kein Witz, ich wünschte ich hätte die vergangenen 72 Stunden an irgendetwas anderes denken können. Doch nein, all‘ meine Gedanken kreisten um Noras und meine Geschichte, ich habe es nun auf die großen vier eingegrenzt: die vier Probleme die Nora und ich zwischen uns stehen haben, die vier Dinge, die uns davon abhalten endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Wenn man sich überlegt wie viele falsch verstandene Konversationen, wie viele fehlinterpretierte Situationen wir in den letzten 700 Tagen wohl schon miteinander erlebt haben, dann sind vier Probleme nicht mehr viel. Aber wenn man dann vor der Lösung dieser vier steht, wirken sie wie unüberwindbare Gebirgsketten – um einen einzigen Berg kann man locker drum rum laufen. Bei `ner Gebirgskette muss man drüber, komme was wolle, wenn man auf der anderen Seite ankommen will.
Alter, ich klinge schon wie so `n Selbsthilfebuch…
Problem Nr. 1: Ich war/bin ihre Bezugsperson
Es sitzen schon alle Teilnehmer auf den Sofas verteilt, eigentlich hat das Treffen schon begonnen, aber da wir alle jeden Tag, nicht nur zu den Sitzungen, hier sind, unser Gruppenraum sowas wie unsere Zweit-Wohnung geworden ist, sind die offiziellen Sitzungstermine nur noch Protokoll. Tom, unser Leiter, läuft gerade mit frischem Kaffee zu uns an den Sofatisch, da kommt Nora zur Tür reingestolpert.
Wobei, nein, Nora stolperte nicht, sie ist nie tollpatschig, es war eher die Art wie ich sie wahrgenommen habe: In der einen Sekunde schmissen Tom und ich uns böse Kommentare vor den Latz, in der nächsten stand eine Frau mitten im Raum die so….. hm… also Nora ist selbstsicher, manchmal grenzt es schon an Überheblichkeit, sie weiß ganz genau wie sie sich verkaufen muss damit ihr alle aus der Hand fressen und sich dabei freiwillig um ihren kleinen Finger wickeln.
Noch bevor Tom sie begrüßen kann fragt sie breit lächelnd in die Runde „Selbstverwaltende Selbsthilfegruppe von Herrn Bröck?“ Keiner reagiert. So nennt uns niemand; auch wenn es ja stimmt, trotzdem, so nennt uns niemand. Nur Tom ist geistesgegenwärtig ein „Ja“ zu antworten, da kommt diese Frau auch schon auf ihn zu, schüttelt seine Hand, dreht sich dann uns allen zu: „ich hoffe, ich finde hier in der Gruppe das, was mir kein noch so gutes Sofagespräch mit meinem Therapeuten bieten konnte und ich hoffe auch, ihr nehmt mich in eure Runde auf.“
Diese Frau ist attraktiv, keine Frage, aber dass ihr Blick leicht unsicher über unsere Gesichter huscht um dann für den Bruchteil einer Sekunde an mir hängen zu bleiben ist alles was es braucht: Ich habe mich Hals über Kopf in diese Frau verliebt. Ich, der Typ, der nicht an romantische Gefühle sondern an selbstgewählte Abhängigkeit glaubt – Jaja, ich weiß… das pure Klischee, aber auch ich brauche einen Grund warum ich in diese Gruppe gesteckt wurde; wäre bei mir alles in Ordnung hätte man mich nie hier her verfrachtet – hat sich verliebt.
Scheisse.
Ihre Vorstellung, ihr Gespräch mit Tom verfolge ich nicht wirklich; nur dass sie Nora heißt bleibt bei mir hängen und dass sie die wohl geilsten Beine aller Zeiten in diesem Rock mit sich rumträgt.
„Carlo?“ Huh?
Ich habe wohl nicht nur das Gespräch, sondern auch dessen Ende verpasst.
„Carlo, du bist der einzige ohne Partner gerade. Nimmst du Nora unter deine Fittiche?“
Das ist nicht wirklich eine Frage. Tom ist der Chef, er teilt uns unsere Partner zu. Und mein neuer und auch erster Schützling ist Nora.
Oberscheisse
Wie es sich gehörte verbrachten Nora und ich einen Großteil unserer Zeit miteinander; ich half ihr ja schließlich dabei ihr Leben nach den tragischen Ereignissen wieder zusammen zu puzzeln. Ja, wir kamen uns näher und ja, es war beidseitig. Also taten wir das einzig richtige: Wir sprachen darüber – und beschlossen, dass nichts laufen dürfte während sie noch mein Schützling war. Wir hatten es beide nicht eilig.
Manchmal habe ich mir Gedanken darüber gemacht wie es wohl werden würde wenn sie mit der Gruppe fertig ist, selbst einen Schützling bekommt; stehen wir uns dann schweigend gegenüber und wissen nicht wohin mit unseren Händen oder stürzen wir uns wie Verdurstende auf einen Schluck Wasser aufeinander? Die eine Frage, die ich mir hätte stellen sollen, habe ich leider übersehen: Wann genau ist das Ende? Es gab Meilensteine in ihrer Therapiezeit, aber wann ist die Entwicklung einer Person abgeschlossen? Wann ist die Trauer über einen verlorenen Menschen klein genug um weiter zu machen? Heute bin ich mir sicher: Wir haben so einige Meilensteine an uns vorbei ziehen lassen, aber wenn der heutige, ihre Rückkehr nach Deutschland, als Wendepunkt nicht ausreicht, dann wird es keinen mehr geben; denn das heute, das ist der letzte Meilenstein den wir als Therapie-Partner je haben werden.
Problem Nr.2: Ich hatte was mit `ner Anderen
Den Kopf leicht schief gelegt stand Nora in der Tür zu meinem Schlafzimmer; sie trug noch mein Geschenk in Händen. Mein Blick war von ihrem gefesselt. Es klingt wahnsinnig, aber ich habe mir in dieser Sekunde nichts anderes als einen vollkommenen Gefühlsausbruch von ihr gewünscht. Ich hatte es verdient. Sie schmiss mir eine riesen Überraschungsparty zu meinem Geburtstag und während sie einen alten Studienkollegen von mir vom Hauptbahnhof abholen war schleppte ich meine ehemalige Nachbarin in mein Zimmer und… den Rest kann man sich denken.
So kam es also dazu dass ich nackt auf einem Mädchen lag während Nora mit gerunzelter Stirn am Türrahmen lehnte und mich von oben bis unten musterte. Wie immer schien nichts und niemand sie aus der Bahn werfen zu können. Wir kannten uns knapp ein Jahr; Nora zu lesen, sie zu verstehen, war inzwischen meine Königsdisziplin geworden: jeder Augenaufschlag, jede Handbewegung barg kein Geheimnis mehr; ich kannte sie besser als mich selbst. Und deshalb tat es so weh sie da so stehen zu sehen. Sie analysierte die Situation (jetzt mal ehrlich, da gab es auch nichts falsch zu kapieren), nahm dann ihr eigenes Gefühlschaos auseinander um es besser verstehen zu können und zog dann einen logischen Schluss; einen mit dem sie leben konnte. Und noch bevor sie etwas sagte sah ich es in ihren Augen: Sie gab auf. Sie gab uns auf. Sie machte keine Szene (obwohl sie eine machen wollte, aber sie verbat es sich selbst) denn sie hatte keine Ansprüche auf mich; ich im Gegenzug keine auf sie. Ja, wir hatten uns vor Wochen gesagt, dass wir einander wollten, in einander verliebt wären aber warten wollten. Jetzt stand sie da und realisierte, dass sie auf mich ‚wartete‘ während ich mich als Single-Mann verstand. Sie erfasste die Situation vollkommen richtig und gleichzeitig doch so falsch. Was sie niemals, nicht davor und nicht danach, in Betracht zog, war der Umstand, dass ich ein Idiot war.
Hallo, ich kam nicht in Therapie weil ich mit meinen Gefühlen exzellent umgehen konnte!
Als ich mit Alana in meinem WG-Zimmer verschwunden war habe ich nichts gedacht, gar nichts. Und jetzt das.
„Tut mir leid, ich hätte klopfen sollen.“
Und damit war sie wieder raus und die Tür hinter ihr zu. Alana schickte ich heim, ich blieb im Zimmer bis Eva irgendwann rein kam. Sie hörte mir zu, sagte nichts, ging wohl als ich schon eingeschlafen war. Am nächsten Morgen war die WG aufgeräumt, vom Fest nichts mehr zu sehen, nur ein Zettel auf der Ablage:
Nora und ich haben aufgeräumt, sie ist gerade gegangen; rede mit ihr. Sie macht sich Vorwürfe dir deine Party versaut zu haben. Eva
Und damit war es dann ja wohl offiziell: Ich war Carlo Weigner aka absolut größtes Arschloch ever!
Dieser Abend stand nie wieder zur Debatte zwischen uns; ich wollte ihn ansprechen, aber Nora tat es ab. ‚Wenn ich darüber reden wollte würde sie zu hören‘, meinte sie, aber ‚sie hätte dazu nichts zu sagen‘. Nun, es versteht sich wohl von selbst, dass ab diesem Tag nichts mehr, auch nur im Ansatz, zwischen uns lief.
Es war als hätte Nora ein Radio ganz, ganz leise gedreht: Wenn man es wusste konnte man unter dem ganzen Alltagslärm die Musik ausmachen - sie war da, aber nicht mehr greifbar. Nicht mehr für meine Ohren bestimmt, eher wie eine Melodie die nur für sie spielte. Ja, sie war noch in mich verliebt. Nein sie schleppt keinen anderen Mann an, aber diese Gefühle hatten nichts mehr mit meinem Leben zu tun, sie waren ihre Begleiter, nicht mehr unsere; hin und wieder erhaschte ich einen Fetzen davon bevor der tägliche Lärm alles überdröhnte und mir nichts….
Fuck
Erst viel später kam zu meiner ‚Ich-bin-ein-Idiot‘-Erkenntnis noch die Gewissheit, dass sie nicht nur uns aufgegeben hatte, sondern den Glauben an mich. Sie vertraute mir weiterhin, immerhin hat sie mich ja auch mit nach Schottland geschleppt, aber wann immer ich ihr von meinen Gefühlen erzählte nahm sie sie auf wie ein Erwachsener ein Kinderbuch liest; man lächelt, findet es süß, rührend, was weiß ich, aber am Ende ist es reine Fantasie. Sie unterstellte mir dass ich zwar diese Gefühle für sie hatte aber …..
‚Du liebst mich wohl wie ein Junge ein Mädchen liebt; ich liebe dich wie eine Frau einen Mann liebt.‘
Das war ihr Kommentar im Sommer letztes Jahr als wir gemeinsam Urlaub an der Nordsee machten. Erst dachte ich, ich hätte verstanden was sie damit meinte, sie wollte wohl mehr Engagement, mehr Zukunftsperspektive, aber wie sich rausstellte: Das war es nicht. Was auch immer sie suchte: Ich befürchte sie sucht es noch immer. Und wenn es mega scheiße läuft findet sie es bei einem Anderen bevor ich es checke. Nora erklärte mir diesen Kommentar nie, ließ sich zu keiner zweiten Aussage hinreißen, innerlich werfe ich ihr das vor. Wie sollen wir das Problem bitte lösen wenn sie mir das Problem nicht verrät. Genau das habe ich ihr in Glencoe auch an den Kopf geworfen.
„Carlo - Jonas und Eva wollen morgen schon wieder heim fahren. Ich würde aber gerne noch ein paar Tage bleiben, was sagst du dazu?“
Nora, Eva, Jonas und ich kommen gerade von Noras Familie zurück in unser B’n’B und mir steht der Sinn nur nach Ausruhen und Schlafen. „Keine Ahnung, ist mir eigentlich egal, was ist dir lieber?“