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An einem Herbsttag im Jahre 1815 betritt Viktor die Bühne der Welt. Sein Lebensweg scheint vorzeitig zu enden. Doch durch seine Widerspenstigkeit und künstlerische Begabung verkehrt Viktor alle Unannehmlichkeiten in ihr Gegenteil. Zunächst fällt dies niemandem auf, denn alles spielt sich in Viktors Phantasie ab. Als er sich eines Tages heftig verliebt und abgewiesen wird, betritt seine Phantasie die Wirklichkeit. Ab jetzt will er sich ein Geschöpf nach eigenem Gusto erschaffen und ermordet dafür sieben Menschen, die eine besondere Gabe besitzen. Der historische Kriminalroman "Viktors Meisterwerk" spielt in der Zeit der Spätromantik und vereint Spannung mit erzählerischem Können.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2013
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ANDREA THIEL
VIKTORS
MEISTERWERK
EIN HISTORISCHER
KRIMINALROMAN
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Ich sah, wie die schöne Gestalt des Menschen verfiel und zerstört wurde, ich beobachtete, wie die Macht des Todes über die blühenden Wangen des Lebens siegte; ich sah, wie alle Wunder von Augen und Hirn den Würmern zum Opfer fielen. Ich untersuchte und analysierte all die Einzelheiten der Kette von Ursache und Wirkung, wie sie sich im Wechsel von Leben und Tod und vom Tod zum Leben darboten, bis plötzlich in dieser Dunkelheit ein Lichtstrahl aufflammte -.
Mary W. Shelley, Frankenstein
Die Automate
E.T.A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder
TEIL 1
TEIL 2
Nichts an diesem Tag im Herbst des Jahres 1815 ließ auf die Geburt eines Unholds schließen. Während die Sonne auf die herbstlich goldene Landschaft schien, schleppte sich das Hausmädchen Maria Magdalena Sander mit heftigen Wehen in ein Hospital, wo sie Stunden später einen Knaben gebar. Zuvor hatte sie ein Dutzend anderer Kinder geboren, die sie entweder gleich erwürgte oder einfach irgendwo ablegte, so dass sie bald von alleine diese Erde wieder verließen. Diesmal war es anders. Es war gerade so, als ob dieser Balg sie durch die schwere und lange Geburt vexieren wollte und mit Schmerzen bestrafen für all die zu Tode gebrachten Kinder, die zuvor schon in ihrem Leibe gewesen waren, als hätten sie dort ihre Spuren hinterlassen, um nun durch dieses störrische Kind Rache an ihr zu nehmen.
Die Mutter starb, das Kind war wohlauf. Die Mutter wurde verscharrt, das verwaiste Kind brachte man in ein Waisenhaus. Dort kümmerte sich Pater Angelus um das winzige Menschlein. Pater Angelus war ein untersetzter Mann von achtundfünfzig Jahren und Zeit seines Lebens in den verschiedenen Waisenhäusern der Stadt gewesen, um dort Gutes zu tun. Pater Angelus hatte in seinem Leben schon viel gesehen, Gutes wie Schlechtes, wobei das Schlechte überwog, was ihn im Laufe der Jahre zu der Einsicht geführt hatte, dass alle Schlechtigkeit in der Natur des Menschen selbst lag und weder Gott noch der Teufel existierten. Pater Angelus war nicht ein typischer Diener des Herrn auf Erden, denn weder neigte er zur Enthaltsamkeit, noch dazu, die Bibel rein nach dem Worte auszulegen, denn weder glaubte er daran, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen worden war noch an die Sünde des Fleisches. Am wenigsten glaubte er an ein Leben nach dem Tod. Dies führte ihn zu einer ihm eignen Humanität und Toleranz, einer der Welt verbundenen Bodenständigkeit, die seine Mitbrüder oft nicht verstanden und deswegen nicht von ihnen gebilligt wurde.
Pater Angelus überkam eine sanfte Empfindung, als er dieses winzige Wesen in seinen Armen hielt. Sie überschwemmt ihn förmlich wie eine Woge warmen Wassers, eine Empfindung, die er mitunter hatte, wenn er bei seiner Geliebten lag. Und doch war es hier etwas, das in ihm einen Zwiespalt hinterließ, allein der Möglichkeit wegen, dass aus diesem unschuldigen Geschöpf einmal ein boshaftes Wesen werden könnte. Ja, es hinterließ ihn, entgegen seiner sonst tatkräftigen Natur, unentschieden. Nicht immer war dies so gewesen, meistens kümmerte ihn solch ein Geschöpf nur kurze Zeit bevor er es vergaß, weil schon ein zwei Dutzend anderer seiner Fürsorge bedurften.
Doch bei diesem hier war es anders. Pater Angelus seufzte. Er näherte sein Gesicht dem Gesichtchen des Kindes, sah seinen zarten Teint, betrachtete sein dünnes Haar, dessen Tönung sich zwischen blond, ocker und rot bewegte, je nach Lichteinfall, denn hielt er es hoch, war seine Färbung flachsartig, hielt er es auf seinen Knien, färbte sich das Haar dunkelbraun, hielt er es auf Augenhöhe, da verwandelte es sich in ein leuchtendes Rot. Pater Angelus ließ den Säugling wieder auf seine Knie sinken. Pater Angelus räusperte sich. Er verspürte ein Kratzen im Hals, so als hätte er Rauch eingeatmet. Angelus ahnte es: Dies Kind hier in seinen Armen war alles andere als hübsch und würde sich nie zu einem schönen Menschen entwickeln. Er lächelte es an, als wollte er Trost für dies Kümmernis spenden, wartete darauf, ob dies Menschlein einer Regung fähig war. Er wurde enttäuscht. Das Kind verzog zwar den Mund, doch ob zu lächeln oder ein Geschrei anzustimmen, ging dem Pater nicht eindeutig auf. Der verstärke seine Bemühungen, indem er es wiegte, kosende Worte auf das Kind nieder regnen ließ und dabei mit seinem Kopf nickte, als wollte er so dem Ganzen Kraft verleihen. Doch seine Bemühungen waren nicht erfolgreich. Dies Geschöpf in seinen Armen schien im gleichen Augenblick zu lächeln und zu weinen, zu schlafen und zu wachen. Dieses Geschöpf hatte etwas grundlegend Zwiespältiges an sich, etwas Unentschiedenes, Unproportioniertes, eine Chimäre. Dieses Geschöpf war unfassbar. Er fragte sich, was er mit diesem Geschöpf machen sollte. Nach einer Minute stand sein Entschluss fest. Er wollte das Kind so lange in dem Waisenhaus behalten bis sich geeignete Pflegeeltern gefunden hatten. Dies war nicht der freie Entschluss des Paters, sondern Mangel an anderen Möglichkeiten, etwas, das schon immer auf diese Weise passiert war, der übliche Weg von der Verwaisung zur Versklavung bei fremden Menschen, die sich in der Regel nicht viel aus dem Kind machten, das sie in ihre Obhut nahmen. Das Kind sollte noch einige Zeit in der Anstalt bleiben und dann möglichst bald zur Adoption freigegeben werden. Das Heim war überfüllt mit Geschöpfen, die früh vernachlässigt, später kein vernünftiges Leben zu führen imstande waren, auf die schiefe Bahn gerieten und früh starben. Der Pater seufzte. Pater Angelus wusste darum und versuchte, diesen Kindern wenigstens den Aufenthalt in seinem Kinderheim zu verschönern. So gut es eben ging, denn das schmale Säckel ließ keinen allzu großen Spielraum zu. Man lebte von milden Gaben. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Pater Angelus zog die Augenbrauen zusammen, wenn er daran dachte, was dies für die Kinder bedeuten würde, besonders für die ganz Kleinen, wie dies hier, das mittlerweile mit halb geöffneten Augen schlief. Pater Angelus zog ratlos die Schultern in die Höhe. Das Gebot der Stunde war, die drängenden Probleme tatkräftig anzupacken. Er legte das schlafende Kind in sein Bettchen zurück.
Das Kind wurde auf den Namen Viktor Anselmus getauft. Pater Angelus stand bei der Taufzeremonie neben dem Marmorbecken und las eine Stelle aus der Bibel vor. Magda, seine Freundin, hielt das Kind, während er unter den salbungsvollen Worten, diesem einige Tropfen Wasser auf die kleine, gewölbte Stirn träufelt, worauf dies ein Ohren betäubendes Gebrüll anfing. Es war nicht nur des kalten Wassers wegen, es war, als würde sich der Knabe gegen die Aufnahme in die menschliche Gemeinschaft, gegen Christus und den Heiligen Geist sträuben. Die Gemeinde schrak zusammen vor dieser, das ganze Kirchengewölbe erbeben lassenden Kakaophonie von Urlauten, die in ihrer Lautstärke nur schwer zu ertragen waren und die sich zu einem wilden Crescendo auswuchsen, so dass man den Rest der Zeremonie schneller als gewöhnlich absolvierte. Da man es trotz aller Versuche der Beschwichtigung nicht fertig brachte, wieder Ruhe in Gottes Haus einkehren zu lassen, schaffte man diesen brüllenden Urwuchs in Windeseile aus der Wohnstatt des Herrn.
Viktor war getauft. Sollte er im nächsten Augenblick sterben, würde er ein christliches Begräbnis bekommen und das Anrecht auf einen Platz im Jenseits haben. Soweit war alles geregelt und Viktor verblieb in Pater Angelus´ Waisenhaus, unterlag einem geordneten Tagesablauf, wurde regelmäßig genährt, regelmäßig trocken gelegt, regelmäßig in lauwarmem Wasser gebadet, schlief in einem sauberen Bettchen, so dass er physisch gedieh, wuchs und wohlgenährt seinem weiteren Leben entgegen lebte. Was ihm allerdings wie auch den anderen Zöglingen fehlte, war die Gegenwart eines Menschen, der ihn wiegte und mit ihm sprach, etwas, woran sein Gemüt wachsen konnte und sein Charakter mit den Jahren reifen würde. Nichts indes war ihm gegeben, er musste sich die Anwesenheit, Fürsorge und Liebe von Schwester Magda, mit den anderen siebenundfünfzig Zöglingen teilen, welche mit dieser Menge an kindlichen Gewohnheiten, Bedürfnissen und auch Unarten derart überfordert war und in der Folge die Zügel schleifen ließ, dass an eine konsequente Erziehung nicht zu denken war.
Die Zeit verging ohne besondere Vorkommnisse. Frühling, Sommer, Herbst und Winter kamen und gingen. Viktor lebte, aß, schlief, bekam Krankheiten, die wieder vergingen und von denen einige so wunderlich waren, dass noch niemand etwas von ihnen gehört hatte und von denen die anderen Kinder verschont blieben. Einmal bekam er Fieber von dreiundvierzig Grad, ein anderes Mal übersäte ein brandiger Ausschlag seinen Körper, ein drittes Mal bedeckte ein fast unsichtbares, schwarzes Fell seinen Rücken. All diese Unglaublichkeiten verschwanden innerhalb von drei Tagen wieder. Die Reaktion war indes verheerend. Man fürchtete Viktor, sah in ihm ein Ungeheuer, das von einem anderen Stern kam, rückte von ihm ab, machte einen Bogen um ihn. Als Viktor vier Jahre geworden war und er sich in einem Alter befand, an das man sich in späteren Jahren für gewöhnlich das erste Mal schleierhaft an Vergangenes zu erinnern vermag, wurde er sich seiner widerborstigen Art halbwegs bewusst. Er wusste, er war anders und dies ließ ihn noch eigenbrötlerischer und widerborstiger werden. Eines Morgens, die Kinder saßen gerade um einen der großen, zerkratzten Holztisch herum, der schon Scharen von verwaisten Kindern zuvor dazu gedient hatten, die bescheidenen Mahlzeiten zu sich zu nehmen, da kam es das erste Mal dazu, dass Viktor seine meistens verborgene Renitenz einsetzen musste. Ein hässlicher und zänkischer Knabe, begann, den in sich gekehrten Viktor zu traktieren, indem er sein Gesicht in den Gemüseeintopf tunkte, ihm seine geballte Faust drohend unter die Nase hielt und ihm manchmal auch mitten ins Gesicht schlug. Viktor ließ sich dies einige Zeit gefallen, in der Hoffnung, es möge bald aufhören, um dann in einer Mischung aus Überdruss und Ärger über die fortwährenden Störungen seinem Peiniger mit aller Kraft ins dessen pechschwarzes Haar zu fassen und ihm dabei ein Büschel auszureißen. Es hörte sich an, als ob ein Blatt Papier zerrissen würde. Der andere, zunächst verdutzt, schwieg drei Sekunden lang, als hätte diese plötzliche Wehrhaftigkeit seines Gegenübers seine maligne Maschinerie für kurze Zeit angehalten, um dann vom Stuhl zu fallen und um so lauter ein schmerzliches Gezeter anzufangen, wobei er mit ausgestrecktem Arm und hochrotem Kopf in äußerster Anklage auf Viktor zeigte, als hätte der den Vorfall ganz alleine zu verantworten. Viktor indes hielt das Büschel Haare fest. Schweigend ließ er den stammelnden Schwall von Anklagen ohne Anteilnahme über sich ergehen. Ihm war der Triumph unendlich, nichts konnte ihm in diesem Augenblick etwas anhaben. Viktor hielt das dicke Haarbüschel in seiner Hand wie einen Schatz oder eine Trophäe, während das Geschrei des kleinen Teufels anhielt, der neben ihm auf dem Boden saß und der es nicht fassen konnte, dass man sich ihm widersetzt hatte. Schnell kam Schwester Magda herbei geeilt, wohl wissend, da zuvor vom Pater Angelus höchstpersönlich unterrichtet, dass sie dem anklagenden Gebrüll, dem hoch roten Kopf und dem aufgesetzten Schmerz des bösen Buben nicht trauen durfte und darum nun versuchte, diesen schnell zur Ruhe zu bringen. Solle er sich doch wieder auf seinen Stuhl setzen und die Mahlzeit zu Ende bringen. Dem Viktor, der die meiste Zeit über schwieg und sich nicht rührte, warf sie einen kurzen Blick zu, um dann den kleinen Teufel, der schreiend am Boden lag und vergeblich versuchte, dem Viktor nachträglich Schaden zuzufügen, am Kragen hochziehend wieder auf seinen Platz zu befördern. Auf dessen Kopfhaut klaffte ekelig eine blutige Wunde an der Stelle, an der Viktor ihm das Büschel Haare heraus gerissen hatte.
Pfui, Igitt, Hurra schwatzte es durcheinander, mitunter hörte man Gekicher, als man diese Ungeheuerlichkeit sah, die zwar heilen, aber dennoch dauerhaft einen sichtbaren Makel hinterlassen würde. Der Böse war fortan mit einem Stigma behaftet. Viktor harrte schweigend, schielte unentschieden, wechselte die Haarfarbe je nach Bewegung und Lichteinfall, die Trophäe in seiner Hand, die ihn mit Triumph erfüllte, ihn überschwemmte mit dem Gefühl einer grenzenlosen Unverwundbarkeit, ihm eine Unangreifbarkeit verlieh, die ihn gleichgültig werden ließ gegen alles, was von außen kam, gegen das Gut, gegen das Böse, gegen schlechtes Wetter und stürmische Winde, gegen Lob und Tadel, und was ihm ganz besonders zugute kam, gegen die Feindseligkeit seiner Mitwelt. Viktor hatte eine Prophylaxe und ein Antidot aus Gleichmut und Unangreifbarkeit gefunden.
Als Schwester Magda die klaffende Wunde am Kopfe des bösen Buben sah, erschrak sie, blickte den Viktor an, sah das Büschel Haare, nahm es ihm mit angeekelter Miene aus der Hand und machte sich daran, den Verwundeten an Ort und Stelle zu verarzten, ihm, den plötzlich gewandelt Wimmernden, dem die Tränen die Wangen hinunter liefen, mit einem Taschentuch vorsichtig das Blut abzutupfen, ihm Jod aufzuträufeln, ihm dann einen Verband auf die Wunde Stelle. Die Mahlzeit wurde schweigend zu Ende geführt, nur hin da unterbrochen durch ein Kichern und Grunzen mancher Kinder, die die Wandlung des Schwarzhaarigen vom Saulus zum Paulus mit ungläubigem Staunen und mit Belustigung registrierten.
Ab da an ging der böse Bube dem Viktor aus dem Weg. Als hätte der sich mit einem unsichtbaren Panzer umgeben und wäre ausgestattet mit den wehrhaftesten Waffen, mit denen er zu jeder Zeit einen Angriff zurückschlagen konnte, so nahm der böse Knabe Viktor jetzt wahr. Sah er sah er ihn, versuchte er, nicht in dessen Nähe zu kommen, begegnete er ihm im engen Waisenhausflur, machte er kehrt und ergriff die Flucht. Auch die anderen Kinder rückten von Viktor, als würde er Makel an sich haben, einen unerträglichen Gestank von sich geben, eine giftige Ausdünstung, die ihnen die Sinne rauben, den Atem nehmen und sie am Ende zu Tode bringen würde. Sie hatten Angst vor ihm. Sie vermieden, ihn anzuschauen. Sein schielender Blick traf sie und traf sie nicht, so dass sie nicht wussten, ob er mit ihnen oder mit dem Teufel Kontakt aufnehmen wollte, noch ließen sie ihn näher an sich heran kommen als sieben Meter. Im Speisesaal saß er jetzt allein und unbehelligt an seinem Platz, im Schlafsaal schoben die Kinder ihre Betten von seinem weg, um nicht im Schlaf von seiner diabolischen Aura angesteckt und mit einer unheimlichen und unheilbaren Krankheit infiziert zu werden. An ihren Spielen ließen sie ihn nicht teilnehmen, fürchteten sie sich selbst im Spaße noch allzu sehr vor ihm. Viktor wurde zu einem einsamen Kind. Ihm war dies recht, hatte er nun endlich die Muse und den Luxus, ganz er selbst zu sein. Er konnte sich seiner überschäumenden Phantasie, mit der ihn die Natur ausgestattet hatte, ungehindert hingeben, konnte seinen inneren Bildern frönen wie kein Zweiter im Waisenhaus des Pater Angelus. Diese Gabe war unsichtbar für alle, die um ihn waren und sie hielten ihn Sonderling, der ihnen nicht ganz geheuer war. Er wurde zu einer Art Insekt, das stundenlang bewegungslos und schweigend in einer Ecke auszuharren vermochte, ohne auf irgend etwas oder irgend jemanden zu reagieren. Viktor hatte sich in einen Kokon eingesponnen.
Eines Tages beschloss Pater Angelus, der ebenfalls immer wieder vergeblich versucht hatte, den Viktor mit sanftem Nachdruck aus der Reserve zu locken, durch einen Ortswechsel wieder gesunden zu lassen, seine Säfte durch den Zwang der Bewegung und Veränderung in Wallung zu bringen und ihm auf diese Weise diese sonderbare, krankhafte und fortwährende Unbeweglichkeit auszutreiben. Tief im Inneren des Geistlichen jedoch war die Überzeugung gewachsen, er müsse den seltsamen und maladen Knaben aus seinem Haus verbannen, da er auf alle anderen Kinder einen schlechten Einfluss ausübte und obendrein Platz geschaffen werden musste für ein anderes Kind. So entschloss sich Angelus den Viktor zur Adoption freizugeben.
Das erste Mal kehrte Viktor zu Pater Angelus zurück, weil ihm seine Stiefmutter, ein schon betagtes und unter seiner Betagtheit leidendes Weib, das Lebenslicht auszublasen versuchte, um in einem vermeintlichen Jungbrunnen badend, ihn sich in kulinarischer Weise einzuverleiben. Das zweite Mal kehrte Viktor zurück, weil ihm seine Stiefmutter aus purem Jux und schlichter Bosheit den Deckel einer schweren Holzkiste auf den Hals fallen lassen wollte, um ihn so zu köpfen. Viktor konnte beide Vorhaben noch rechtzeitig vorausschauen und entfliehen. Das dritte Mal endlich konnte Viktor vermittelt werden.
Anselm Franz war Sprössling einer Fleischhauerfamilie. Deren Wurzeln reichten bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück. Seit dieser Zeit lebte die Familie am Rande der Stadt und hatte ihr Refugium im hinteren Teil eines Fachwerkhauses. Jeder Abkömmling der Fleischerfamilie hatte einen Abkömmling einer anderen Fleischerfamilie mitsamt dessen Eigentum geehelicht und mit ihm Kinder gezeugt, so dass deren Lebensweg bereits von Geburt an feststand und der Reichtum von Generation zu Generation wuchs. Am Berufe des Fleischers kam keiner vorbei. Er war vorgegeben wie ein großer Leberfleck mitten im Gesicht, wie ein Hinkefuß oder ein Buckel. So wirkte man in der Familie Franz niemals außerhalb des Fleischergewerbes. Niemals kamen die Mitglieder der Familie in die Versuchung, andere, eigene Wege zu suchen. Es fügten sich so mit den Generationen Eigenbrötelei, Engstirnigkeit und Trägheit zusammen. Ja, Anselm Franz ermangelte der neuen Ideen, seine Würste waren die immer gleichen, seine Schinken entbehrten jeglichen Geschmacks, sein Fleisch wurde mitunter schlecht gelagert und verdarb schon nach kurzer Zeit. Zwar blieb die Kundschaft nicht ganz aus, aber, den faden Geschmack seiner Würste bemerkend und den säuerlichen Gusto seines Fleisches riechend, lief sie zur Konkurrenz. Anselm musste zusehen wie sich seine Pfründe und Gewinne mit der Zeit schmälerten, wie er sein Personal nicht mehr bezahlen konnte und entlassen musste, wie er Schulden machen musste, wie er seiner anspruchsvollen und übergewichtigen Gattin ihre übergroßen Kleiderwünsche nicht mehr zu erfüllen vermochte. Oh, wie peinlich war ihm dies alles, ihm der aus einer Dynastie stammte!
Eines Tages wurden die Probleme durch den Ansturm seiner erzürnten, ihre Ansprüche alle zur selben Zeit einfordernden Gläubiger so drängend, dass sie Anselm den Hals zuschnürten, er einen mächtigen Druck auf der Brust verspürte und tief Luft holen musste. Nach einigem Hin und Her kam er auf die Idee Waisenkinder aus den zahlreichen Heimen zu adoptieren. Er wollte sie als billige Arbeitskräfte in seiner Metzgerei einsetzen. So konnte er sich wenigstens den Lohn für das Personal sparen. Zwar blieben die Waisenkinder nie allzu lange in seiner Metzgerei, denn die bislang zwei hatten beide von seinem schlecht gelagerten Fleisch probiert, worauf eines an Botulismus und das andere an Trichomonaden verstarb. Anselm Franz hatte Glück, niemand hegte Verdacht, keiner fragte nach den toten Kindern, man verscharrte sie einfach am Rand des städtischen Friedhofs in einem namenlosen Grab und vergaß sie. So war das Problem für ihn aus der Welt geschafft. So gänzlich jeder Verantwortung gegenüber den verwaisten Geschöpfen enthoben, war er ermutigt, sich weiter an ihnen zu bedienen, um sein Unternehmen vor dem Ruin zu retten. So sollte es auch diesmal sein.
Ein halbes Jahr war vergangen, seit man den bislang letzten Zögling Anselms in den Schoße der heiligen Erde gesenkt hatte, und Anselm plante erneut, ein Kind in sein Haus zu holen, um es wie die beiden anderen im Keller seines Hauses einzuquartieren, ihm die notwendigsten Dinge des Lebens zu geben und, um die Sache für sich lohnend zu machen, ihn dafür sechzehn Stunden am Tag das frisch geschlachtete Vieh ausnehmen und entbeinen zu lassen. Schon seit Wochen hatte er alles in Gedanken durchgespielt. Heute bereitete er sich auf einen Besuch in Pater Angelus Kinderheim vor, in dem er noch nicht vorstellig geworden war, zog seine besten Kleider an, seine weißen Hosen, sein weißes Hemd, sein karmesinrotes Leibchen aus Samt, seine Gamaschen über den ledernen dunkelbraunen Stiefeln, seinen grauen Mantel und zum Schluss seinen ebenso grauen, zu diesem Mantel passenden Hut. Er sah sich im Spiegel, drehte sich hin, drehte sich her, betrachtete sich von allen Seiten. Er war zufrieden mit dem Ergebnis. Ja, er sah aus wie ein Ehrenmann, der nur das Wohl der Kinder im Auge hatte, der wohlhabend, seinen Reichtum mit den Ärmsten und Schwächsten zu teilen gedachte, der aussah, als wüsste er mit seinen Gütern nichts mehr anzufangen als sie einfach zu verschenken, jemand, der sich in all seiner wohlhabenden Selbstzufriedenheit fast zu Tode langweilte. Was war er doch für ein Heuchler! Sein Herz wusste, was sein Verstand niemals akzeptiert hätte. Dieser ihn bedrängende Gedanke wurde mühevoll unterdrückt und in einem solchen Augenblick half ihm nur das starke Gefühl des Selbstmitleides, um sich wieder in ein rechtes Licht zu rücken.
Was ihm allerdings Kummer bereitete, waren seine Hände. Sie waren der Makel. Ihnen sah man an, dass er einem gefährlichen Gewerbe nachgehen musste, denn sie waren über und über bedeckt mit schmerzenden Schnitten, Stichen und Narben, die ihn rot, rosa, dunkelrot und verschorft verrieten als einen Mann, der mit scharfen Gegenständen hantierte und dabei mitunter ziemlich ungeschickt vorging. An der rechten Hand fehlte der kleine Finger bis über die Mitte hinaus, an der linken fehlte ihm der Daumen. Seine Hände waren bei ihm Seele, die bei anderen Menschen die Augen waren. Anselm Franz schüttelte seinen Kopf und widersprach sich vor dem Spiegel, nein, so konnte er keinesfalls in Pater Angelus Zöglingsanstalt gehen, denn so würde man ihn trotz seines vornehmen Aufzuges nicht für einen vornehmen Menschen halten. Anselm Franz überlegte und er erinnerte sich an die weißen Handschuhe, die er vor Jahren einmal, als es ihm noch besser ging, gekauft hatte und die er in einem seiner Wäschekästen aufbewahrte. Schnell suchte er sie, fand sie, streifte sie über. Sie passten ihm leidlich, waren seine Hände von der über die Jahre groben Arbeit angeschwollen, denn seine Hand zu einer starken Faust ballen konnte er nicht. Nun, was machte es schon, er würde seine Hand in dem Kinderheim des Pater Angelus ohnehin nicht ballen, sondern sich ausschließlich zärtlich verhalten, den frommen Herrn von seinen noblen Absichten zu überzeugen. Und so brach Anselm in das Heim des Pater Angelus auf, ein weiteres Kind zu suchen, dass er unter mitleidigen Gebaren an sich zu bringen gedachte. Sein Frau Marie ließ er in weiser Vorausschau zu Hause, denn die wenigen einigermaßen vornehmen Kleider passten ihr schon seit Jahren nicht mehr, sie war in der Zwischenzeit aufgegangen wie eine Stopfgans. Anselm fand gar, sie sah aus wie eine alte Milchkuh, mitunter malte er sich aus, wie es wäre, wenn er sie versehentlich unter eines der großen Hackmesser brächte, um gleich darauf über ihren Verlust in lautes Wehklagen auszubrechen. Allein, zu zweit gaben sie kein vornehmes Paar ab. Anselm Franz wischte mit einer brüsken Handbewegung diesen unschönen Gedanken fort, prüfte vor dem Spiegel noch einmal sein Äußeres, zupfte seinen Rock gerade, seine Ärmel ebenso, sah seine Beinkleider makellos, seine Schuhe geputzt, sein Gesicht, na ja, rötlich aufgedunsen, von einem mächtigen Doppelkinn entstellt, seine hellblauen, wässrigen, kleinen Äuglein glichen denen eines Ferkels und der nach oben abschließende Zylinder ließen die ganze Erscheinung zu einer Karikatur werden. Und doch, trotzig trat Anselm Franz zur Tür hinaus und machte sich auf den Weg.
Es nieselte. Anselm Franz zog sich den Zylinder ins Gesicht, um sich vor der Nässe schützen und nicht von jedermann erkannt werden. Doch nützte ihm dies wenig, denn schon nach einigen Metern sah ihn der Nachbar Miller, der freundlich seinen Hut vor ihm zog, doch in seiner übertriebenen Ergebenheit eine spöttische Verwunderung über Anselms Aufzug durchblicken ließ. Der Carnifex fühlte sich ertappt durch den ersten Menschen, der ihm begegnete. Er schien seine Natur nicht verkleiden zu können. Dennoch erwiderte er den Gruß in der freundlichsten Manier, verbeugte sich dankend, zog seinerseits den hohen Hut und lächelte sogar, wenn auch verkrampft, was von Miller nicht unbemerkt bleibend zu recht als Camouflage bewertet wurde. Anselm beschleunigte seinen Schritt, wollte er doch so schnell als nur möglich dem Dunstkreis seiner neugierigen und skeptischen Nachbarschaft entkommen. Er hielt die Augen offen, um von Ferne schon eine drohende Gefahr in Gestalt eines Bekannten zu erkennen. Und in der Tat, das nächste kleine Unglück blieb nicht aus, denn Madame Leopold eilte ihm mit ihrem schwachsinnigen Sohn Karl entgegen, hatte Anselm aber noch nicht entdeckt, so dass der sofort die Chance ergriff und in die nächste Seitenstraße einbog, um dort sogleich auf den Oberpolizeiwachtmeister Kuhn zu stoßen, der, vor sich hin flanierend, ihn ebenfalls nicht entdeckt hatte, so dass sich Anselm in einen Hauseingang retten konnte. Anselm wartete bis der Wachtmeister vorbei gekommen war. Sobald Kuhn außerhalb seiner Sichtweite war machte sich Anselm im Laufschritt davon.
Das Kinderheim lag zwei Meilen vor der Stadt, vorbei an schmucklosen, abbröckelnden Fassaden, vorbei an einem Friedhof, auf dem die Toten der letzten Jahrhunderte aus Platzmangel in mehreren Schichten übereinander gestapelt lagen, unter ihnen die Pesttoten, die Opfer der Bauernkriege, des Dreißigjährigen Krieges, Opfer diverser militärischer Eroberungen und Rückeroberungen, die durch Krankheit hinweg Gerafften, die Ermordeten, zu Engeln gemachten und auch die elternlosen Kinder der Stadt, die an mangelnder Fürsorge gestorben waren. Doch auch die eines friedlich Entschlafenen Bürgersleute lagen an diesem Orte. Hier waren sie alle gleich. Sie alle einte der Tod. Anselm beschleunigte seinen Schritt als er an dem Leichenfeld vorbei eilte, unter dem sich die Bewohner in Skelette verwandelt hatten oder gerade dabei waren, ihre vielleicht vormals ansehnliche Gestalt in einen hässlichen und stinkenden Klumpen zu verändern. Er warf unter seinem herunter gezogenen Hut einen scheuen Blick auf den Totenacker. Die Kreuze und die Steine auf den Grabstätten, die in sich versunkenen Trauernden, die Engel und die Raben, all dies bedrückte ihn. Es erinnerte ihn an seine eigene Vergänglichkeit. Anselm hastete an dem Friedhof vorbei, zog schnell in Richtung auf das Haus zu, das er schon in der Ferne sehen konnte. Dann stand er vor dem großen Gebäude, das sich in früheren Zeit wohl prachtvoll herausgenommen haben musste, nun jedoch durch die altersbedingt herunter gekommene Fassade einen schlechten Eindruck machte. In den geschichtlichen Wirren hatte es abwechselnd als hochherrschaftliches Anwesen, Pferdestall, Heuschober, Munitionslager, oder als Unterkunft für fremde Truppen gedient, danach war abgebrannt, wurde leidlich wieder aufgebaut und zu einem Heim für von Verwahrlosung bedrohten Kinder umfunktioniert. Anselm Fester betrachtete die Fassade, während er sich mit einem leicht verschmutzten weißen Brokattaschentuch den Schweiß und die Regentropfen von der Stirn wischte. Es war eine vormals schöne Fassade, geschmückt mit den in Stein gehauenen Köpfen der Gründer, denen die Lippen und Nasenspitzen fehlten, dazwischen hielten schwer beladene Atlasse das Dach auf ihren Schultern, deren Gesichter durch die Witterung bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet worden waren.
Nun ja, nichts ist von Beständigkeit, alles verliert im Angesicht der Ewigkeit an Bedeutung.
Auf diese tröstenden Worte zu sich selbst hin, schritt der Fleischhauer gestärkt zum Haupteingang, holte tief Luft und pochte dann mit dem gusseisernen Löwenkopf an das
Während er wartete, drang zu ihm Kindergeschrei. Er musste sich die Ohren zuhalten, so sehr wurde er durch dieses nervtötende Kreischen gestört. Ja, er war alles andere als ein Kinderfreund, weswegen er keine hatte. Ja, er hasste dies kleinen, gierigen Monster geradezu. Er hielt sich seine Ohren mit beiden Händen zu und hörte ein Rauschen, das von seinem wallenden Blut herrührte. Es öffnete sich ein Flügel des geschmückten Kirchenportals und vor ihm stand eine Schwester, die ihn fragend ansah. Eigentlich war sie mit ihren vollen Lippen und ihrem üppigen Haar viel zu bodenständig für diesen sonderbaren Berufstand, fand Anselm, oder vielleicht hatte er nur falsche Vorstellung von einem Gott geweihten Leben.
Anselm räusperte sich umständlich und bemerkte erst jetzt, dass er immer noch beide Hände auf die Ohren gepresst hielt, die er nun schnell wieder an ihren eigentlichen Bestimmungsort zurück führte.
Was er denn wünsche, fragte die Schwester.
Oh, er wolle den Pater Angelus konsultieren.
Ach ja, bitte schön, er sollte doch eintreten, sie würde sogleich Pater Angelus wegen seiner Ankunft Bescheid geben.
“Danke.”
Schwester Marie hielt das Portal auf, Anselm betrat das Gebäude mit großen Augen, feierlicher Miene und gestelzten Schritten. Er nahm seinen Hut ab.
“Warten sie bitte hier.”
Magda lächelte ihn freundlich an.
Anselm verbeugte sich mit ernstem Gesicht, gab sich alle Mühe wie ein vornehmer, gebildeter und vermögender Mann zu erscheinen.
Die Schwester verschwand in einem langen Korridor. Anselm sah ihr solange in devoter Haltung hinterher bis sie von der Dunkelheit des langen Ganges verschluckt worden war. Dann richtete er sich auf und erkundete seine Umgebung. Der Boden war teilweise zerbrochen, abgeschabt und beschädigt durch die über die Zeiten hinweg grobe Behandlung. Die Tapeten waren mit hässlichen gelben Flecken übersät, an der Decke war der Stuck abgebrochen und Löcher dort, wo einst prachtvolle Lüster gewesen sein mussten. Niemand schien sich um den Zustand des Hauses zu kümmern, sei es aus Desinteresse, aus Mangel an Mitteln oder aus der Einstellung heraus, die weltlichen Dinge seien an diesem Ort unangebracht. Anselm schloss daraus, dass sich an diesem Ort Armut mit Unlust verband. Er würde wohl schnell und ohne weitere Nachfragen zu einem Gehilfen kommen.
Anselm hörte Schritte. Prompt herrschte wieder Camouflage. Anselm richtete sich auf, setzte den einen Fuße soweit vor den anderen, dass die Kniekehle des einen Beines über dem Knie des anderen lag, eine Geste, von der er glaubte, dass sie elegant sei, hob seinen Kopf, reckte das Kinn und setzte ein dezentes Lächeln auf, dies alles natürlich soweit es sein üppiges Äußeres und seine zu eng sitzende, und darum besonders am Bauch spannende Kleidung dies überhaupt zuließ.
Jetzt konnte er sehen, wie eine dunkle Gestalt mit bedächtigen, zögernden Schritten auf ihn zukam, ihn wohl schon von Ferne auf sich wirken ließ und so ein erstes Urteil über ihn bildete. Anselm Fester fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, man könne bis auf den Grund seiner Seele schauen und ihn so seiner unlauteren Absichten überführen. Indes schwand dieser Eindruck als Pater Angelus seine Schritte beschleunigte, ihn zu begrüßen, denn er hielt ihn wohl für einen vornehmen Menschen. Ein Lächeln auf dem Gesicht des Paters machten Anselm Fester mutig und er verstärkte seine affektierte Art, indem er das, über dem anderen liegendes Bein löste und in einer ungeschickten Bewegung daneben stellte. Nun stand er wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Pater Angelus blieb vor ihm stehen, gab ihm die Hand und lächelte ihn an. Dies war als ein, das Eis brechende Ritual gedacht, da er erst in diesem Augenblick den Anselm ganz einzuschätzen imstande war, wo er ihn von Angesicht zu Angesicht erblickte und ihn sogleich in Augenschein nahm. Jener gab sich alle Mühe als aristokratischer Mensch zu gelten, doch schien der Pater stutzig zu werden, sah er doch den ungelenken und rundlichen Leib, dem die vornehmen Kleider wie auf ein Fass gespannt schienen und dessen Gesicht mit den kleinen, blauen Äuglein, den feisten, roten Wangen, dem dicken, roten Mund, den schlechten, stinkenden Zähnen, ihm alles andere als vornehm vorkamen. Dennoch wollte er diesen Interessenten nicht verprellen, denn er wusste, kein Mensch sollte sich ein Bild von einem anderen Menschen machen, dies Bild würde auf ihn selbst zurück fallen, mehr über ihn selbst sagen als über seinen Nächsten.
“Guten Tag. Seien sie willkommen. Was führt sie an diesen Ort?”
Anselm neigte sein Haupt und erwiderte den Gruß.
Pater Angelus hob fragend seine Brauen.
Auf diese Frage hatte sich Anselm Fester vorbereitet, und er antwortete darum ausführlich.
“Nun, sehr verehrter Pater Angelus, der Name ihres Hauses, St. Marien, und auch der Ihrige, versichert mir, dass ich an diesem Ort zu einem gottesfürchtigen Abkömmling gelangen werde, der mir, in meinem bisherigen Leben verwehrt wurde und den ich, so sehr ich mir ihn auch immer gewünscht habe, erst jetzt, in meinen späteren und wohlbehaltenen Jahren, getraue, zu mir zu nehmen. Allein, zu dieser, für mich außerordentlich angenehmen Aussicht auf ein junges Leben, das mein reifes Dasein auf dieser Welt bereichern soll, hoffe ich, die Menschlichkeit und das Mitgefühl von meiner Seite aus ebenso zu bereichern.”
Anselm Fester hatte sich mit dieser gestelzten und zurecht gelegten Rede in eine derart rotgesichtige Atemlosigkeit hineingeredet, die den Pater Angelus staunen ließ und ihn, der sonst so voller Menschenkenntnis war, von den hehren Absichten seines Besuchers überzeugte. Nach einem kurzen, zustimmenden Lächeln schickte er sich prompt an, den Besucher durch sein Kinderheim zu führen.
Dem Anselm kam es vor wie die Führung durch ein Schreckenskabinett. Er konnte sich daran erinnern, wie er als Kind einmal auf dem Jahrmarkt heimlich in ein solches hinein geschlichen und dies einen mächtigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Dort wurden Sensationen zum Besten gegeben, Missgestalte aller Couleur, Schlangenmenschen, Elefantenmenschen, Doppelköpfige, Kreaturen, die über und über mit Beulen und Furunkeln übersät waren, Zwerge, Riesen, Einbeinige, Einarmige, Beinlose, Armlose, Geschöpfe zwischen Mensch und Tier, übersät mit Haaren am ganzen Körper, Menschen beiderlei Geschlechts zugleich, denen die Gaffer begierig und verwirt auf das entblößte Geschlecht gafften. All diese bemitleidenswerten Geschöpfe wurden angepriesen als Bewohner ferner Länder, Kontinente oder gar anderer Planeten. Ja, er konnte sich daran erinnern, wie die Zuschauer und er selbst davon gefesselt waren, all diese Leidenden zu betrachten, anzustarren und eben in jenem Augenblick, da man sich angewidert abwandte, sofort wieder angezogen hinschaute. Es war ein beständiges Oszillieren zwischen Angst und Lust und Lust und Angst.
Auch diesmal war es nicht anders. Die Erinnerung stürzte auf Anselm ein wie ein Strom, schwappte über ihn hinweg, vereinnahmte ihn, ließ beinahe vergessen, wie alt er war und wo er sich befand. Pater Angelus führte ihn durch sein Kinderheim, um ihm die Zöglinge vorzuführen, die es beherbergten, versorgte, großzog, um es, wie in diesem Moment an einen gut betuchten Interessenten ohne eigenen Nachwuchs zu vermitteln. Mit seinem Gast zog er durch die Kammern, die Zimmer, die Gemächer und die Säle des großen Hauses, allesamt ziemlich herunter gekommen, zeigte jenem die Bewohner, ließ keinen aus, auch diejenigen nicht, die keinerlei Hoffnung hegen durften, je liebende Eltern zu finden, und die bis an das Ende ihres Lebens, das erfahrungsgemäß nicht allzu lange dauern würde, als Bewohner dieses Heimes zubringen würden. Da waren Kinder, die schaukelten auf dem Boden hin und her, andere lallten unverständliche Wortfetzen vor sich hin, sabberten Speichel aus den gequollenen Mäulern, sahen dem Gast blöde aus schlitzigen Augen entgegen, wieder einem anderen hing die Zunge zwei Zoll aus dem Maul, so dass es aussah als ob ein Chamäleon bei beim Fliegenfangen war, ein Mädchen, vielleicht an die vier Jahre, war so krankhaft beleibt, dass es Anselm an eines seiner Fässer mit Pökelfleisch erinnerte.
Pater Angelus bemerkte, wie sein Gast erbleichte und wie dessen Interesse blankem Entsetzen wich, als wolle er sogleich den Rückweg antreten.
Dies die argen Sorgenkinder des Hauses seien, die, obzwar Gottes Kinder, doch von ihm aus irgendeinem unerfindlichen Grund vernachlässigt worden seien, und die von ihren Müttern verstoßen, nun hier gelandet wären. Für sie würde keinerlei Hoffnung auf eine glückliche Verbindung zu neuen Verwandten sich auftun, denn niemand würde sich dieser armen Kreaturen jemals annehmen, da sie in ihrem ganzen Leben zu nichts anderem taugen würden als zu schlafen, zu essen, zu. Gleichwohl dürfe der Mensch sich nicht überheben und sie ins Jenseits befördern, denn auch sie seien Geschöpfe Gottes. Doch gäbe es andere Kinder, die nur aufgrund der Zusammenkunft unglücklicher Umstände sich an diesem Ort befänden, etwa dem Tod der Eltern, Gott möge mit den armen Geschöpfen sein.
Der Pater bekreuzigte sich als er und sein Gast diesen Vorhof der Hölle verließen und den kleinen Schlafsaal betraten. Hier herrschte eine kindliche Geräuschkulisse, ein Quieken und Schreien in den höchsten und dissonantesten Tönen, dass Anselm auch hier am liebsten die Flucht ergriffen hätte, wiewohl dies nicht ratsam war, denn würde er so seiner künftigen Arbeitskraft verloren gegangen sein. Stattdessen lächelte er tapfer über sein feistes Gesicht und schlich dem Pater hinterher, verbeugte sich immer und immer wieder bei dessen Ausführungen über die traurige Lebensgeschichte eines jeden seiner Zöglinge, wobei er manchmal mit bitterer Miene noch traurigere Geschichten zu erzählen wusste über Eltern, die ihre Kinder nicht ernähren konnten und sie gleich hier bei ihm, dem Pater Angelus abgaben. Er erzählte Geschichten über Kinder, die man vor seinem Haus abgelegt hatte, die man mitten im Winter auf den Treppen der Kirche gefunden hatte, halb erfroren, halb verhungert. Anselm empfand bei dieser Schilderung nichts. Er war so empathisch wie eine Kakerlake. Die ganze Zeit über hatte er die Kinder beobachtet, sie optisch abgetastet nach ihrer möglichen Leistungsfähigkeit, schienen sie ihm insgesamt zu jung zu sein für sein Vorhaben, zu mager, zu nervös, zu renitent, zu schwachsinnig, zu aggressiv.
Schon wollte er die Sache aufgeben und den Rückzug antreten, da sah er in einer Ecke des Raumes den Viktor, ganz im Gegensatz zu den anderen, ruhig auf einem Schemel sitzen. Dies