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VIOLET "Die Menschheit, kraftlos und taub - vom Aussterben bedroht. Die letzte Hoffnung, aus ihrer lethargischen Ohnmacht zu erwachen, bin ich, Freija." Dystopie in 3 Bänden Die Wissenschaftler haben den Krebs besiegt. Eine Welle der Zuversicht erfasst die Menschheit. Doch irgendetwas ist schief gegangen. Schreckliche und grausame Bestien erscheinen und bedrohen die gesamte Menschheit. Die letzten Überreste der Zivilisation lebt in den alten Städten, den Sektionen, die von den Gesandten regiert werden. Dies sind die letzten Zufluchtsorte der Menschen. Um zu überleben muss sich jeder an die sieben Gebote halten. Sie entscheiden über deine Bestimmung. Jeder steht vor der Wahl – Folgen oder Sterben. Die Bevölkerung teilt sich auf in Sehende, die zu Widerstandskämpfern oder Vollstreckern ausgebildet werden und in Nunbones, Menschen für die die Bestien unsichtbar sind und somit auf den Schutz der Sehenden und des Obersten Gesandten angewiesen sind. Band 1 Fünf Jahre nachdem Freija zur Widerstandskämpferin geworden ist, wird sie in einem Kampf schwer verletzt und entgeht nur knapp dem Tod. Dann, in ihrem geschwächten Zustand, kündigen sich die Gesandten an, um ihr gesamtes Team auf seine Fähigkeiten und ihr Wissen zu prüfen. Wer nicht besteht, wird exsektioniert und unbewaffnet in der Zone der Bestien ausgesetzt, um dort zu sterben. In der Nacht bevor die Prüfungen beginnen taucht ein Fremder auf und nimmt Freija mit in die Sektion 0 – Das Zentrum des Widerstands - und Asha der Doc des Teams flieht, aus Treue zu Freija. Die beiden Versprechen sich, sich eines Tages wiederzufinden und so beginnt die Reise der beiden zu ihrem wahren Ich.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum neobooks
Manuel Neff
VIOLET
VERLETZT VERSPROCHEN ERINNERT
Band 1
Über den Autor
Manuel Neff, geboren 1973 in Offenburg, studierte BWL in Saarbrücken. Anschließend arbeitete er viele Jahre im Projektmanagement bei einem mittelständischen Automobilzulieferer. Mittlerweile ist er als freiberuflicher Autor, Moderator und Yogalehrer tätig und lebt in der Grimmelshausenstadt Renchen. Der magische Adventskalender war sein Debütroman.
Nach der Veröffentlichung des zweiten Teils des magischen Adventskalenders, hat sich Manuel Neff einer neuen Buchreihe für Kinder und Jugendliche gewidmet: Element High - Die Schule der magischen Kinder.
Manuel Neff
VIOLET
VERLETZT VERSPROCHEN ERINNERT
Buch 1-3
DYSTOPIE
Impressum
Texte: © Copyright by Manuel Neff
[email protected] / www.manuel-Neff.de /Akazienweg 20 / 77871 Renchen / Deutschland Cover Gestaltung: Manuel Neff
Bildrechte: AdobeStock_Анна Богатырева & RyanRad-shutterstock_1375475060
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Alle Rechte vorbehalten.
Du hast mich verletzt, doch mein Herz zerbrechen wirst du nicht
Ich halte es fest in meinen Händen und ins Licht
Die Sonne wärmt mein Herz
Und irgendwann vergeht der Schmerz
und die Sonne sich funkelnd in den Facetten der Liebe bricht…
Rose von der Au
Prinzipiell sind wir alle frei in unseren Entscheidungen.
Nur was nützt eine theoretische Freiheit,
wenn wir sie nicht nutzen.
Forschungsstation FE Sektion 0.
Professor Arrow eilt zum Landeplateau, zu dem zerstörten Transporthelikopter. Rauch steigt auf und Flammen züngeln gegen den Himmel. Verletzte krümmen sich zwischen den Trümmerteilen.
»Was zum Teufel ist hier passiert?«, wendet er sich an den befehlshabenden Vollstrecker. Es handelt sich um Halo, einen Privilegierten aus Sektion 8. Er befindet sich erst seit wenigen Wochen in der Forschungsstation. Der Oberste Gesandte hat ihn höchst persönlich ausgewählt. Das ist Tradition, Ehrensache im Kreise der Bruderschaft. Man kümmert sich frühzeitig um die Nachfolge wichtiger Positionen. Und diese Einrichtung ist unglaublich wichtig. Sollte die Forschungsarbeit von Professor Arrow eines Tages Früchte tragen, dann würde dies das Gleichgewicht der Mächte auf der ganzen Welt entscheidend beeinflussen.
Der Helikopter war vor wenigen Minuten gelandet. Die Ladung war vielversprechend. Eine schwer verletzte junge Frau befand sich unter den Neuankömmlingen. Ihr Genmaterial könnte einzigartig sein und sie könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen. Doch jetzt ist sie tot.
»Was zur Hölle?«, fragt Arrow wieder, als er den blutüberströmten Körper der jungen Frau betrachtet. Ein Meter neben ihr liegt ein blauer Teddy auf dem Boden. Professor Arrow hebt ihn auf.
»Sie wollte mich umbringen«, stellt Halo fest. »In dem Moment als sie mich erblickt hat, ist sie auf mich losgegangen. Sie ist eine von ihnen und sie hat enorme Kräfte.«
»Halten Sie den Mund!« Arrow wendet den Kopf der Toten, sieht ihr direkt in die erstarrten blauen Augen und befreit ihr Gesicht von den blonden, blutverklebten Haaren, während er ihre Lider sanft mit der flachen Hand schließt. Ein Zeichen, in der Form eines Sterns, prangt von ihrer Stirn.
»Wir hatten keine Wahl«, erklärt Halo.
»Warum wollte sie dich töten?«, fragt Arrow, aber er weiß, weder Halo noch einer der anderen Vollstrecker kann diese Frage beantworten.
Professor Arrow muss Entscheidungen treffen. Er will diese Chance nicht ungenützt lassen. Wer weiß, vielleicht bekommen sie nie wieder eine solche Gelegenheit.
»Bringt sie ins Labor, wir beginnen sofort mit der Operation!«, befiehlt er.
3. Prophezeiung
17 Jahre und 9 Monate später.
Aus meinem Augenwinkel sehe ich den Schwanz der Bestie auf mich zurasen. Silberne Stacheln blitzen im Licht der Sonne auf, Luft schreit auf, als fürchte sie sich. Meine Sinne sind darauf trainiert, all das wahrzunehmen. Als wäre mein ganzer Körper ein einziger Reflex, springe ich zur Seite und ducke mich unter dem Tötungsinstrument hindurch.
Der stachelbewaffnete Schwanz schlägt mit solcher Wucht in der Hauswand ein, dass der Putz und Teile der Steinmauer weggesprengt werden.
»Freija, aus der Schusslinie! Zurück zu mir!«, höre ich Jesse rufen, aber ich reagiere nicht. Höre nicht auf ihn. Warum sollte ich auch? Er ist der Fernkämpfer - nicht ich. Wir sind ein Team und ich bin dazu ausgebildet, genau hier zu kämpfen, an meinem Platz, direkt Auge in Auge mit der Bestie.
Sie hat die Größe eines Panzers und ihre schwarze, lederne Haut saugt das Licht auf, wie ein schwarzes Loch. Nur die Stacheln am Schwanz reflektieren die Sonnenstrahlen, die sich in die nach Abfällen stinkende Gasse verirrt haben. Ihre Augen sind schwarz und kaum zu erahnen. Beängstigend. Wir beobachten einander, studieren uns und versuchen den nächsten Angriff vorauszusehen, um einen Zeitvorsprung, einen winzigen Vorteil zu erhaschen.
Für einen kurzen Moment sehe ich so etwas wie Angst in ihren Augen.
Angst?
Was ist das eigentlich? Nur ein verwirrendes Gefühl aus der Vergangenheit, das hier im Kampf, auf Leben und Tod, nichts verloren hat.
Plötzlich wird mir bewusst, dass ich triumphieren werde. Jesses Warnrufe nehme ich vereinzelt wahr. Er will schießen, seine Waffe abfeuern, doch ich stehe im Weg, was mir völlig egal ist, denn der Kampf ist gleich zu Ende.
Die Bestie reißt ihren Schlund auf. Übereinander liegende Zahnreihen, blecken mich an. Speichel trieft, spritzt und tropft in langen Fäden auf den Asphalt. Ihre Einschüchterungsversuche lassen mich kalt.
Ich reiße mein Schwert hoch und im gleichen Augenblick prallen wir aufeinander. Ich springe zur Seite, weiche ihrem Schwanz aus, der durch die Luft peitscht. Drehe mich um die eigene Achse, entfliehe dem aufgerissenen Maul, rolle mich unter dem tonnenschweren Körper durch und entkomme ihren rasiermesserscharfen Klauen.
In einer Vorwärtsbewegung nehme ich alle Einzelheiten wahr. Die Zeit scheint, für eine Sekunde ihre ureigene Aufgabe vergessen zu haben, nur um uns zuzusehen. Den Atem anzuhalten und zu beobachten, was jetzt passiert. Wer überlebt.
Und dann entdecke ich die erhoffte Lücke, die einzige Möglichkeit, den Kampf jetzt zu entscheiden. Ich stoße mich wieder vom Boden ab, werfe mich schnell und langsam zugleich, absurd und trotzdem anmutig in die Luft, hechte unter den Körper der Bestie und nur knapp verfehlen mich ihre Fänge. Die Klauen greifen ins Nichts und dann bin ich da, direkt unter ihr.
Ich drehe mich im Flug, weiß, dass ich hart auf dem Rücken aufschlagen werde und dann reiße ich meine Klinge hoch.
Wie leicht es geht, schießt es mir durch den Kopf, als ich die Bauchdecke durchstoße und mein Schwert ins Herz der Bestie ramme. Dann, einen Atemzug zwischen zwei Ewigkeiten, krache ich mit der Seite auf den Asphalt. Der Schmerz in meiner Schulter überfordert meine Sinne.
Ich muss mich darauf konzentrieren, meinen Körper an seine Pflicht zu atmen zu erinnern. Irgendwie versuche ich, mich weg zu rollen, aber es gelingt mir nicht sonderlich gut.
So schnell ich noch kann, richte ich mich auf. Mein linker Arm hängt schlaff an meiner Seite herunter.
Meine Schulter?
Explodiert. Tobt vor Schmerzen.
Aber das muss mir egal sein, denn ich muss bereit sein für ihren nächsten Angriff.
Ich blicke sie an, wie sie regungslos daliegt.
Da begreife ich es. Es gibt keinen nächsten Angriff. Es ist vorbei.
Die Bestie ist tot. Sie liegt vor mir, erstarrt, die Augen noch immer geöffnet. Dann bin ich wieder mit mir beschäftigt. Mit meiner Schulter und den Schmerzen, die sich durch mich hindurchwälzen.
»Freija? Alles okay? Bist du verletzt?«, höre ich Jesses Stimme wie aus weiter Ferne.
Ich sitze auf meinem Hintern und betrachte meinen linken Arm, der jegliche Befehle, stur verweigert. Jesse legt seinen Bogen neben mich.
»Verdammt, das sieht übel aus, Engel. Du bist schlimm verletzt«, sagt er sorgenvoll. Seine Augen versprechen nichts Gutes.
»Ach was, die Schulter wird schon wieder«, will ich sagen, aber ich bringe nur ein Flüstern hervor. Was ist los? Wo verdammt ist die Luft zum Atmen, zum Sprechen geblieben?
Jesse schaut ohnmächtig auf meinen Bauch. Warum um Himmels Willen der Bauch? Warum kümmert er sich nicht um meine kaputte Schulter?
Verwirrt schaue ich an mir herab und sehe massenhaft Blut, mein Blut. Unmengen Blut? Wo kommt das her? Sie muss mich doch erwischt haben.
Die Krallen, analysiere ich irgendwie, denn plötzlich und völlig unerwartet trifft mich der Schmerz in meinen Eingeweiden. Es fühlt sich an, als würde mir jemand mit einem verflucht großen Eisenhammer in den Bauch schlagen. Wieder und immer wieder.
Eine unvorstellbare Kälte kriecht in jede Faser meines Körpers. Sie kommt von der Bestie, die langsam aus meinem Blickfeld schwindet. Löst sich ihr Körper bereits in Luft auf oder bin ich es, denn meine Sinne scheinen zu schwinden.
Zum Glück nur die Sinne und nicht mein Leben, hoffe ich.
Verschwommen sehe ich Jesse. Seine Augen sind zwei Lichter in der Dunkelheit, die mich einspinnen, zu sich ziehen.
Was macht er da? Was sagt er zu mir? Ich kann ihn kaum hören. Er ist über mir und spricht mit mir. Wie aus einer anderen Welt, höre ich seine Worte.
»Bleib bei mir. Bleib wach!«, fleht er. Aber ich will jetzt schlafen. Bin müde. Erschöpft. Ich habe die Bestie besiegt, bin verletzt, brauche jetzt Ruhe und schließe meine Augen und alles wird plötzlich ganz friedlich und still.
Ich blicke in künstliches Licht, als ich sie wieder öffne.
Alle Erinnerungen sind sofort da. Das ganze Blut; mein Blut und die tote Bestie, die sich ins Nichts aufgelöst hat.
Jesse, der über mir war. Er muss es geschafft haben, mich hierher zu schaffen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er das angestellt hat. Wir waren mindestens vier Blocks entfernt von unserem Skygate. Skygate? So nennen wir unseren Schlupfwinkel.
Das Skygate nimmt die komplette 77. und 78. Etage des höchsten Wolkenkratzers von ganz Sektion 13 ein.
Sektion 13?
Früher habe ich einmal dort gewohnt, glaube ich, weil so recht erinnern, kann ich mich daran nicht.
In New York, so wie die Nunbones, also die gewöhnlichen Menschen, Sektion 13 nennen. Ich war auch einmal einer von ihnen, ein Nunbone. Aber das ist lange her und ich kann mich an nichts mehr aus dieser Zeit erinnern.
Lange her, überlege ich. Ich kämpfe jetzt seit fünf Jahren gegen die Bestien, aber es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Als ich elf war, haben sie mich gefunden.
Die Bestien.
Sie haben mich fast getötet. Das rätselhafte Zeichen, das sich wie eine Tätowierung, nur tausendmal schöner, über meinen ganzen Rücken erstreckt, erinnert mich jeden Tag daran. Ich sehe sie jeden Morgen im Spiegel, aber sie ist nur eine von vielen. Ich fasse an meinen Bauch. Eine von vielen wunderschönen Narben; Tattoos.
Jemand nähert sich der Krankenstation. Am Klang seiner Schritte erkenne ich Jesse und bevor er die Tür öffnet, schließe ich meine Augen und stelle mich schlafend. Ich höre, wie er den Raum betritt, die Tür behutsam hinter sich schließt und sich dann den Geräten widmet, an denen ich angeschlossen bin. Irgendetwas scheint ihn zu irritieren. Er fummelt an dem Schlauch, der an meinem Handrücken austritt, herum und prüft, ob er richtig sitzt, und drückt dann wieder ein paar Knöpfe an dem Monitor über meinem Kopf, der meine Lebenszeichen überwacht. Er nimmt meine Hand in seine Hand. Ich spüre seine Finger, wie sie mein Handgelenk umfassen, und muss mir eingestehen, dass ich es mag, wenn er mich so berührt.
Wir berühren uns häufig, das ist nur logisch, weil wir im Team die Bestien jagen.
Jesse ist ein fantastischer Fernkämpfer und ich bin seine Nahkämpferin, sein Engel, wie er mich immer nennt. Wir berühren uns auf der Jagd ständig. Wenn wir uns in einem engen Keller verstecken, wenn wir uns über Mauervorsprünge helfen oder wenn er mich, wie es jetzt wohl geschehen war, in das Skygate zurückgetragen hat.
Aber diese Berührung ist anders, sie hat fast etwas Zärtliches. Aber für Zärtlichkeiten darf es in unserer Welt keinen Platz geben. Das Wagnis ist zu groß, am nächsten Morgen aufzuwachen und allein zu sein, seinen Liebsten an die Bestien verloren zu haben, oder an die Sektion. Jesse und ich sind Freunde, mehr nicht. Aber in einer anderen Welt und unter anderen Umständen wären wir womöglich ein Paar. Darüber denke ich oft nach. Ständig, um genau zu sein.
Ich spüre meinen eigenen Puls, wie er gegen seine Finger pocht, so als wäre es ein kleines Lebewesen, das auf sich aufmerksam machen möchte. Jesse hat Verdacht geschöpft, er ist nicht dumm, das muss ich einräumen.
»Du bist wunderschön«, flüstert er. Vertraut er tatsächlich darauf, ich könnte ihn nicht hören?
Ich halte meine Augen fest verschlossen, aber ich kann das winzige Grinsen nicht davon abhalten, sich über meine Lippen, zu legen.
»Ich wusste es!«, schimpft Jesse, doch ich höre es an der Melodie seiner Stimme, wie er sich freut. Er ist glücklich, dass ich wach bin, und ich grinse noch etwas breiter.
Ein Gedanke taucht plötzlich auf und verirrt sich in dem Labyrinth meines komplizierten Gehirns.
Es wäre so schön, wenn er mich wachküssen würde. Nur ein kleiner Kuss auf die Stirn und ich würde sofort meine Augen öffnen.
Nur ein Einfall, den ich gleich wieder in eine Sackgasse verscheuche. Weil er nicht erlaubt ist, weil ich ihn nicht zulassen kann, und dann hebe ich mein linkes Augenlid an. Das Licht der LEDs blendet mich unangenehm und ich muss ein paar Mal blinzeln, jetzt mit beiden Augen, bis ich Jesses Gesicht klar über mir ausmachen kann.
»Hast du wirklich gedacht, ich merke es nicht, wenn du mich veräppeln willst?«, fragt Jesse.
»Mhm, ein Versuch der Schiffbruch erleidet, ist immer noch besser, als es nicht gewagt zu haben.« Jesse lacht.
»Schön, dass du wieder unter den Lebenden bist. Wie fühlst du dich?«, meint er besorgt und klingt genau so, wie ich Jesse kenne.
»Der Doc hat mich ganz gut zusammengeflickt. Gut, dass wir in einer Zeit geboren sind, in der man kaputte Dinge repariert, anstatt sie wegzuwerfen.« Jesse schaut mir in die Augen, dann schüttelt er den Kopf - zweimal.
»Du solltest lernen, mit dem Bogen umzugehen oder mit einem Schießeisen, dann hätte sie weniger zu tun.«
»Ich bin mit dem Bogen ziemlich mies und habe noch nie ein Gewehr benutzt! Und wer würde dich dann beschützen, wenn die bösen Bestien kommen?«, scherze ich, aber Jesse ist kein Lächeln zu entlocken.
»Engel, das war verdammt knapp.«
»Ist es das nicht immer?«
»Hättest du Platz gemacht, damit ich schießen kann, dann hätte ich sie erledigt.«
»Und wenn du nicht getroffen hättest, dann hätte sie uns beide erledigt.«
Es sind immer die gleichen Diskussionen. Wir führen sie immer und immer wieder. Nach jeder Jagd, und wir wissen beide, da bin ich mir sicher, dass sie zu nichts führen.
Wir wurden von unseren Ausbildern trainiert, in Sekundenbruchteilen das Kampfgeschehen zu erfassen und dann instinktiv zu handeln. Wäre das nicht so, dann wären wir längst tot, denn wir haben keine Wahl. Jedem in unserem Team wurde eine Rolle zugewiesen und das haben wir nicht selbst zu entscheiden. Das entscheidet allein die Sektion 0.
Sie hat entschieden, dass Asha unser Doc ist, Jesse der Fernkämpfer und ich der Nahkämpfer. Keiner kann aus seiner Rolle schlüpfen und sich vielleicht eine harmlosere erwählen. Würde er das tun, dann flöge er aus dem Team.
Jesse hält immer noch mein Handgelenk fest. Seine Finger sind ganz warm und ich blicke zu ihm auf.
»Wie lange war ich bewusstlos?«
»Drei Tage!«, sagt er nachdenklich.
»Und du?«, frage ich.
»Ich war bei dir, wann immer es Asha erlaubt hat. Sie meinte, der Tod hat an deine Tür geklopft, aber du hast ihm nicht aufgemacht. Mensch Freija, du hast so viel Blut verloren. Zum Glück verträgt dein Körper die synthetischen Blutreserven so gut. Asha meinte, wir haben von deinen Eigenblutspenden nur eine Einzige angerührt. Es fließt jetzt roter Konservensaft durch deine Adern. Kein Wunder, hörst du dich so blechern an.«
Er lächelt, schaut aber gleich wieder todernst.
»Wir haben eigentlich erst in drei Tagen mit dir gerechnet. Die Bestie hat dich übel zugerichtet. Ich soll dir von Asha ausrichten, dass Heldenhaftigkeit eine Todesart ist und keine Lebensart.« Ich lächle vor mich hin, während mir Jesse den Schlauch aus dem Handrücken herauszieht und den Monitor über meinem Kopf abschaltet.
»Darfst du das denn?«
»Asha meinte, dass sei das Erste was ich tun soll, weil du sowieso gleich aufstehen würdest.« Gute, alte Asha. Sie versteht mich besser als jeder andere im Skygate. Auch besser als Jesse. Plötzlich knurrt es in meinem Bauch.
»Ich habe Hunger. Mein Magen knurrt«, sage ich jetzt.
Jesse nickt und legt mir einen weißen Bademantel auf das Bett.
»Das Magenknurren steht nicht für Hunger, sondern kommt aus dem Darm und bedeutet, dass er beginnt sich selbst zu reinigen.«
»Jesse könntest du dir das bitte abgewöhnen, so ein alter Klugscheißer zu sein.«
»Ich sage Gouch Bescheid. Erst einmal etwas leicht verdauliches für den Anfang«, mit diesen Worten verlässt er pikiert die Krankenstation.
Ich habe es gerade geschafft, mich aufzusetzen und mir den Bademantel umzulegen, als Asha ins Zimmer kommt. Sie sieht todmüde und schwermütig aus.
»Freija? Freija!«, rügt sie mich. »Du sollst doch warten, bis ich dich durchgecheckt habe!«
Ich werde es wahrscheinlich nie restlos begreifen, wie ein so junges und zartes Mädchen wie Asha unser Doc werden konnte. Sie ist gerade mal dreizehn, wird bald vierzehn, kann allerdings mit Faden, Nadel und Spritze besser umgehen als alle anderen vor ihr.
Sie ist jetzt erst ein starkes Jahr in unserem Team. Länger als manch anderer vor ihr, geht es mir durch den Kopf. Viele sterben zu früh. Viel zu früh. Kein Kind sollte so früh sterben müssen.
Sie ist mein Liebling, weil sie so herzlich ist, weil sie mich immer wieder so professionell zusammenflickt, weil sie die schlimmsten Verletzungen anschaut, als wären es nur interessante Käfer, die über den Boden krabbeln, und vielleicht auch, weil wir uns so ähnlich sind.
Sie trägt ihre blonden Haare gerne zu einem Zopf gebunden, so wie ich. Naja, ich habe es ihr auch gezeigt, wie es geht. Ich habe ihr den ersten Zopf gebunden, weil sie sich immer ununterbrochen ihre Haare aus dem Gesicht gepustet hat, während sie fieberhaft meine Haut zunähte. Ihre helle Haut, die blauen strahlenden Augen, die kleine Stupsnase - wir könnten Zwillingsschwestern sein, wären da nicht die vier Jahre Altersunterschied zwischen uns.
»Das, was ich jetzt brauche, ist eine Dusche.«
Die Tage, die ich im künstlichen Koma im Bett lag, haben ihre Geruchsspuren hinterlassen, und wenn ich etwas außer den Bestien nicht ausstehen kann, dann ist es dieser muffige Geruch nach kaltem, klebrigem Schweiß und ungewaschener Haut. Einfach nur ekelhaft.
Ich ziehe mir das weiße Nachthemd aus und schleppe mich, mit noch etwas wackeligen Beinen, in die Duschkabine. Es ist mir egal, dass die ersten Liter, die aus dem Duschkopf auf mich niederprasseln, eiskalt sind. Sie sind definitiv nicht kälter als die Bestien und es ist eine willkommene Erfrischung. Ich zucke nicht einmal zusammen und das eisige Wasser auf meiner Haut ist fast wie eine Gehirnwäsche.
Es hilft mir, den Kampf mit der Bestie aus meinem Kopf zu spülen. Ich genieße es, eine Weile einfach so dazustehen und das Wasser wie Regen auf meinen Körper prasseln zu lassen, bis ich das erste Mal, seit Tagen nach einer der Seifen greife.
Ich entscheide mich für eine violette - Ashas Lieblingsfarbe - und sie entfaltet einen intensiven Duft nach Lavendel, als ich meinen verletzten Körper mit ihr einschäume.
»Du solltest sparsamer mit dem Wasser umgehen«, sagt Asha, die mit einem frischen Handtuch auf mich wartet. Sie hat recht, aber das habe ich jetzt gebraucht.
Es sind die Gefühle der Geborgenheit, die ich jedes Mal unter der Dusche empfinde. Die geschlossene Kabine und das warme Wasser. Ich komme mir hier so geschützt vor, so unerreichbar für die Bestien und für diese paar Minuten kann ich alles loslassen.
Meine Verantwortung und die quälenden Erinnerungen. Aber Asha kann das nicht wissen. Ich drehe den Hahn zu, öffne die vom Wasserdampf angelaufene Duschtür und verlasse meinen privaten Zufluchtsort. Mein Refugium.
Ich nehme nicht sofort das Handtuch, sondern bleibe einen Moment vor dem riesigen Spiegel, direkt neben der Dusche, stehen. Die Verletzung ist deutlich sichtbar. Dort wird eine neue Zeichnung, ein weiteres bizarres Tattoo entstehen, das mich immer an diese Bestie erinnern soll.
»Du siehst sehr schön aus«, sagt Asha.
Was sagt sie da?
Ich bin überrascht. Das hat sie noch nie gesagt. Ich betrachte mein Spiegelbild genauer, anders als sonst. Meine blonden Haare hängen mir klatschnass bis über meine Schultern. Ich bin kräftig, das weiß ich, aber man sieht es mir nicht an. Meine Arme und Beine sind schlank, nur an meinem Bauch zeichnen sich die Muskeln ab. Aber das liegt bestimmt daran, dass ich drei Tage nichts Festes gegessen habe. Bei dieser Feststellung knurrt sofort wieder mein Magen. Asha muss kichern und ich auch.
»Meinst du das ernst? Ich meine, findest du mich wirklich schön?«
»Ja total!«, bestätigt sie und streicht, wie zum Beweis, mit ihren schlanken Fingern ein kleines Tattoo auf meiner Hüfte nach. Es sieht aus wie eine kleine Schlange mit zwei Köpfen. 22, bald 23 dieser Zeichnungen befinden sich auf meiner Haut. Von winzig bis riesig. Jede Bestie hinterlässt ihr ganz persönliches Erinnerungsfoto. Ich habe mir darüber nie richtig Gedanken gemacht, ob sie meine Erscheinung verunstalten oder ob ich überhaupt hübsch bin. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Hübschsein in unserer Welt für mich keinen Nutzen hat. Es hilft mir nicht weiter, wenn ich schön bin.
Die Bestien nehmen darauf keine Rücksicht. Sie wollen mir den Kopf vom Hals reißen, ob er nun gut aussieht oder nicht. Die Gesandten legen bei ihrer Auswahl darauf auch keinen Wert oder vielleicht doch?
Ich schaue Asha an.
Sie ist noch ein Mädchen und ich eine junge Frau. Ich bin wie ihre große Schwester, ihren Ersatz für ihre verlorene Mutter.
Die Einzige, die sich um sie sorgt?
Asha wird nie Tattoos tragen. Nicht, solange ich auf sie aufpasse. Sie wird nie auf die Jagd gehen müssen und das ist gut so, denn ich würde mir viel zu viele Sorgen um sie machen.
Plötzlich wird mir die Situation unangenehm. Asha macht mich etwas verlegen. Sie hat mich schon so oft nackt gesehen. Klar, sie ist unser Doc und ich bin ein regelmäßiger Gast, aber das hier ist anders. Ich nehme ihr das Handtuch ab, um meine Blöße zu bedecken, und sofort fühle ich mich wohler.
»Es gibt bald was zu Essen«, sagt sie. »Gouch macht Schmorbraten, deine Leibspeise.« Schmorbraten ist also das, was Gouch unter etwas leicht verdaulichem versteht?
Noch etwas schwach auf den Beinen wackle ich in den Meetingraum, wo wir auch gemeinsam essen. Ich werde herzlich empfangen. Alle sind da und scheinen sich wirklich zu freuen, dass ich wieder fit bin. Na ja, dass ich wieder laufen kann, trifft es wohl eher.
»Dieses Mal hat es dich ganz schön böse erwischt«, sagt Gouch, der sich mir gegenüber hinsetzt und sich ohne zu zögern eine Ladung Kartoffelbrei in den Mund stopft.
»Ach, halb so wild«, schwindle ich und bemerke sofort Jesses besorgten Gesichtsausdruck.
»Ich frage mich, wie es die Bestie so weit in die Stadt geschafft hat«, sagt Flavius. Das habe ich mich auch schon gefragt. Der Finanzdistrikt, Zone zwei, wie wir auch sagen, ist normalerweise sicher. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in den letzten vier Jahren zu so einem Zwischenfall gekommen war. Ich stecke mir ein saftiges Stück Schmorbraten in den Mund.
Zufall?
Ein Einzelfall?
Eine Ausnahme, sonst nichts! Kein Grund, sich über die Sicherheit unseres Verstecks Sorgen zu machen. Ich hake das Thema gedanklich ab.
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mit Asha tauschen«, meint Flavius. Ich schaue ihn an, während ich mir ein zweites, viel zu großes Stück Braten in den Mund schiebe.
»Wieso das denn?«, fragt Asha auf ihre naive, unschuldige Art.
»Na, weil ich dann mehr Zeit mit Freija verbringen könnte.« Idiot, denke ich, fühle mich von Flavius aber auch geschmeichelt. Er sticht unter uns Normalos mit seiner Attraktivität heraus, wie ein Schwan unter Enten. Selbst jetzt beim Essen sieht er mit seinen pechschwarzen Haaren, der schmalen Nase, auf der die klobige Hornbrille sitzt, die ihn noch interessanter macht und seinen schmalen Lippen richtig gut aus. Aber er ist ein unverbesserlicher Charmeur und, schon seit ich mich erinnern kann, ist er mit Trishtana zusammen.
Ich blicke zu ihr hinüber. Sie isst unbeeindruckt weiter. Hat sich an seine Sprüche schon seit Ewigkeiten gewöhnt. Flavius ist unser Technikexperte und vermutlich der hellste Kopf in unserer kleinen Truppe. Er war schon vor mir hier, genauso wie Trishtana und Jesse. Nur Gouch, Asha und Shaco sind noch später als ich zu unserem Team dazu gestoßen. Ich bin nicht besonders schlagfertig, zumindest nicht mit meinem Mund, deshalb reagiere ich nicht auf Flavius‘ Bemerkung und esse einfach weiter.
»Du kannst dich ja das nächste Mal, wenn die Gesandten kommen, um Ashas Job bewerben«, sagt Shaco und spricht damit ein Thema an, das alle augenblicklich zum Schweigen veranlasst. Ich denke nicht, dass es Shacos Absicht war. Er sagt einfach immer, was er denkt und macht sich nicht viel Gedanken darüber, was er damit anrichten könnte.
Die Gesandten?
Wenn sie kommen, geht es für jeden von uns ums nackte Überleben. Es läuft mir kalt über den Rücken bei dem Gedanken, Asha könnte durch die Prüfungen fallen.
Sie prüfen, ob unsere Fähigkeiten gut genug sind, um dazuzugehören. Ist man zu gut, verlässt man das Team und wird in eine gefährlichere Sektion versetzt. Keiner von uns weiß, wie viele dieser Sektionen es tatsächlich gibt. Das ist streng geheim. Das wissen nur die Gesandten.
Es ist furchtbar, wenn einer das Team verlassen muss, weil er zu gut ist für unsere Sektion. Aber wovor jeder Angst hat, ist nicht gut, genug zu sein. In einer der Prüfungen zu versagen. Dann wird man nicht in eine weniger gefährliche Sektion versetzt, sondern man wird exsektioniert. Aussortiert. Verbannt, entlassen in die Welt da draußen, was gleichbedeutend ist mit einem Todesurteil.
Ohne das Team hat keiner von uns eine realistische Überlebenschance. Die Bestien finden dich, töten dich, so einfach ist das.
Das, was Shaco gesagt hat, geht natürlich nicht. Oder besser gesagt, das hat es noch nie gegeben. Jeder Job in unserem Team ist mit dem Besten besetzt. Jedes Team, egal in welcher Sektion, so viel haben sie uns verraten, hat genau die gleichen Jobs. Einen Softwarespezialisten, das ist Gouch. Einen Doc, Asha. Einen, der auf Nahkampf, und einen, der auf Fernkampf spezialisiert ist, Jesse und ich. Einen Technikexperten, Flavius. Einen Sprengstoffexperten, Shaco. Und einen Kommunikator, der in Verbindung mit den Gesandten steht und als Erster weiß, wann sie wieder kommen, um uns auf die Probe zu stellen. Das ist Trishtana, aber alle nennen sie nur Trish.
Würde Flavius Ashas Job bekommen, dann wäre sie zu schlecht und somit zum Tode verurteilt. Das ist es, was jeder von uns weiß und warum jetzt alle schweigen. Natürlich hat es das noch nie gegeben. Niemand hat je unser Team verlassen müssen, weil er zu schlecht war. Na ja, zumindest nicht, seitdem ich dabei bin. Flavius und Jesse haben das schon mitgemacht, aber sie sprechen nie darüber.
Asha, Gouch und Shaco sind zu uns gekommen, weil, ich schlucke schwer bei diesem Gedanken: ihre Vorgänger von den Bestien getötet wurden.
»Ich habe noch keine Information, wann die Gesandten genau wieder kommen. Aber wenn es sich so verhält wie jedes Jahr, dann werden sie sich nächsten Monat ankündigen. Aber selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, tut es jedem von uns gut, sich frühzeitig auf die Prüfungen vorzubereiten. Nicht wahr, Freija?«
Ich weiß, was Trish damit sagen will. Ich bin, was das Lernen angeht, mit Abstand die Faulste. Der Stoff will einfach nicht in meinem Kopf bleiben. Ich denke, ich reiße das Ruder jedes Jahr mit dem praktischen Prüfungsteil zu meinen Gunsten herum. Aber Trish hat schon recht, wenn es die Gesandten darauf anlegen würden, dann könnten sie mich durchfallen lassen, denn die Prüfungen bestehen immer aus drei Teilen. Einem schriftlichen, praktischen und einem mündlichen Teil. Schriftlich bin ich echt eine Null, leider. Praktisch ein Ass, und mündlich? Ich denke an das, was Asha auf der Krankenstation gesagt hat. Vielleicht hilft mir mein Aussehen etwas beim mündlichen Teil. Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass die Gesandten, also, dass sie mich mögen.
»Mach dir keine Sorgen, ich lerne mit dir«, sagt Asha, die auch weiß, worauf Trish anspielt. Während die junge Asha mir gut zuredet, legt sie ihre Hand auf meine. Auf die, mit der ich verkrampft mein Messer festhalte.
Am darauffolgenden Tag beginne ich wieder zu trainieren. Asha hat für mich ein wirklich tolles Programm zusammengestellt. Ich meine das ironisch, denn ich darf dabei so gut wie alles machen, wenn ich mich nur nicht anstrenge.
Ich stehe neben ihr in unserer kleinen Trainingshalle und blicke sehnsüchtig auf die verschiedenen Handwaffen, die in Reihen an der Wand hängen. Mit ihnen habe ich schon unzählige Male gegen die Dummys gekämpft.
Gummimonster, die die Bestien darstellen sollen. Ich schaue sehnsüchtig hinüber zu dem Hindernisparcours, bei welchem ich drei Meter hohe Wände, Rampen, Seile und andere Hindernisse, die sich Gouch ausgedacht hat, überwinden könnte und ich blicke auf den Kraftraum, in welchem ich mich nicht sehr oft aufhalte, aber den ich jetzt liebend gerne Ashas Programm vorziehen würde.
Stattdessen laufen wir an all den Stationen vorbei und betreten den Raum der Stille. Ich würde ja gerne lachen, aber auch das darf ich noch nicht. Wir sind ja jetzt im Raum der Stille und Asha meint, Lachen strenge meine Bauchmuskeln noch zu sehr an. Also sitzen wir uns gegenüber auf dem Boden und dehnen und strecken unsere Beine, Arme und Hüften. Ich merke, wie meine Verletzung ganz schön meckert, aber ich komme gut mit und mit der Zeit macht es mir sogar etwas Spaß, mich zu verbiegen.
»Ist eigentlich schon einmal jemand auf den Gedanken gekommen, dich mit einem Kaugummi zu verwechseln«, frage ich Asha, als sie gerade in die Brücke geht, also Hände und Füße in den Boden drückt, ihren zierlichen Körper nach oben biegt und so ihren Bauch Richtung Decke streckt.
»Nee«, kichert sie leise, angemessen für den Raum der Stille und schwingt sich hoch in den Handstand. Nicht schlecht, denke ich. Das werde ich auch mal versuchen, wenn ich wieder fit bin. Ich begnüge mich damit, im Sitzen und mit ausgestreckten Beinen meine Stirn auf den Knien abzulegen. Das fällt mir leicht.
Für Jesse, der nicht einmal im Stehen mit seinen Fingerspitzen den Boden berühren kann, wäre diese Dehnübung eine Lebensaufgabe. Jesse?
Er ist jetzt gerade auf Patrouille in Zone drei, gemeinsam mit Flavius und Shaco, der solange meinen Platz einnimmt, bis ich wieder mit darf, wieder fit bin. Wie gerne wäre ich jetzt auch dabei, wenn sie durch die Häuserschluchten streifen, die neuen Sensoren checken, welche die Bestien aufspüren und wenn sie Glück haben, dann begegnen sie sogar einem der Viecher und vertreiben es aus unserer Sektion. Ich komme mir gerade so nutzlos vor.
»Hast du was?«, fragt Asha, die meine Gedanken erraten hat.
»Ich wäre jetzt gern draußen, patrouillieren, jagen«, gestehe ich ihr.
»Ich würde es dir ja erlauben mitzugehen, wenn ich mir sicher sein könnte, dass du nichts machst.«
»Kann ich aber nicht. Nichts machen? Das geht doch überhaupt nicht.«
»Deshalb habe ich ja auch das Verbot ausgesprochen.«
»Du hast ganz schön viel Macht über mich, du kleine Göre«, scherze ich. »Kannst einfach so verbieten, dass ich meinem Job mache.«
»Nur wenn du krank oder verletzt bist. Aber mal ehrlich. Du würdest nicht auf mich hören, wenn ich dich darum bitten würde. Oder?« Ich schweige, aber das genügt als Antwort.
»Siehst du. Ich will nur, dass du wieder schnell gesund wirst, bevor du dich wieder mit den Bestien anlegst.« Asha hüpft aus ihrem Handstand und kommt meinem Gesicht ganz nah. »Ich habe jedes Mal Angst, wenn du fort bist.« So wie sie das jetzt sagt, so besorgt, so ernst, ich schlucke schwer. »Ich will nicht allein sein, Freija. Gouch, Jesse und alle anderen sind okay, aber ich brauche dich.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber das ist vermutlich auch gerade nicht nötig. Ich nehme sie in meine Arme und als hätte sie seit langem auf diese Zuneigung gewartet, drückt sie mich ganz fest und beginnt leise zu weinen. Eigentlich darf sie das nicht. Das 7. Gebot besagt, du darfst keine Schwäche zeigen. Würden die Gesandten herausfinden, wie Asha auf meinem Schoß sitzt und schluchzt, dann wäre sie sofort exsektioniert. Aber ich bin unfähig, sie davon abzuhalten. Wie lange müssen sich ihre Ängste, ihre Gefühle aufgestaut haben? Wie lange sehnt sich dieses junge Mädchen schon nach Zuneigung? Ich bin nur ein Ersatz, das ist mir bewusst. Ich kann nicht mehr tun, als ihre große Schwester zu spielen. Auch wenn wir nicht verwandt sind, werde ich versuchen, genau das für sie zu sein. Für sie da zu sein.
Ich streiche goldene Strähnen aus ihrer Stirn und lasse sie schluchzen, während sie sich in mich hinein verkrümelt, wie eine Eidechse nach Wärme suchend.
»Ich werde nicht weggehen. Ich bin für dich da. Keine Sorge, Kleine! Keins dieser Biester wird mich erledigen.«
»Versprochen?«
»Versprochen«, schwöre ich.
Plötzlich sehe ich einen schemenhaften Schatten. Jemand ist hier, beobachtet uns. Sofort mache ich Asha darauf aufmerksam und sie wischt sich gleich die Tränen aus den Augen. Angst kann ich jetzt in ihrem Gesicht lesen. Ich schüttle fast unmerklich den Kopf und Asha versteht mich.
»Du musst dich noch mehr in die Übung hineinversetzen und die Dehnung richtig mit der Atmung spüren«, sagt sie tapfer und die Traurigkeit ist ihr kaum noch anzuhören, als sie mir die Atemübung vorführt, die sich jetzt absichtlich anhört, als würde sie dabei schluchzen. Gut Asha, denke ich und werfe einen Blick über meine Schulter, in Richtung des Schattens. Trish steht am Eingang und schaut uns zu. Wie lange ist sie schon hier? Hat sie etwas mitbekommen?
Sie ist nicht dumm, natürlich lässt sie sich nicht von Ashas Täuschungsmanöver in die Irre führen. Deshalb ist die einzig entscheidende Frage, wie sie auf Ashas Verstoß gegen das 7. Gebot reagieren wird.
»Die Gesandten haben sich angekündigt«, sagt sie, als sich unsere Blicke treffen. »Sie kommen viel früher als erwartet.« Ich brauche einen Moment, bis Trishs Worte bis in mein Gehirn vorgedrungen sind.
Die Gesandten? Sie kommen, um uns zu prüfen. Ich werde heute noch anfangen müssen zu lernen. Den Geschichtsstoff über die Gesandten, die Sieben Gebote und ihre Bedeutungen und die Themen, die ich als Nahkämpfer wissen muss und sich von denen aller anderen Teammitglieder unterscheiden. Ich stelle mich schon gedanklich auf meine Prüfungsvorbereitung ein und gehe die nächsten drei bis vier Wochen bereits in meinem Kopf durch.
Ich werde viele Stunden in der Bibliothek zubringen und auch mal eine Nachtschicht einlegen müssen, damit ich das aufholen kann, was ich im letzten halben Jahr an Lernen vernachlässigt habe. Dann kommt mir ein weiterer Gedanke. Ich habe die Zusammenstellung über die neuen Bestienarten, die wir vor zwei Monaten erhalten haben, noch nicht einmal angeschaut. Okay, dafür muss ich dann noch einmal mindestens eine halbe Woche dranhängen.
Gut, dass ich gerade von Asha krankgeschrieben wurde und nicht auf Patrouille gehen muss. Glück im Unglück, so habe ich mehr Zeit zum Lernen, überlege ich weiter. Dann höre ich Ashas Worte: »Wann treffen sie ein?«
»Morgen!«, antwortet Trish ohne die geringste Gefühlsregung.
Könnte mich mal bitte jemand daran erinnern, wie man atmet.
Ich werde sterben. Das ist mein erster Gedanke.
Ich bin verletzt, mein zweiter. Denn mir wird schrecklich bewusst, dass ich nicht einmal meine Stärke, meine praktische Prüfung, die mich sonst immer gerettet hat, mit der ich die schlechten Ergebnisse aus der Theorie ausgleichen konnte…, dass sie mir dieses Mal nicht helfen wird. Ich darf nicht einmal über diese Erkenntnis lachen, denn das beansprucht zu sehr meine verletzten Bauchmuskeln.
Trish steht immer noch da. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte man meinen, dass sie diesen Moment genießt und ihn deshalb so lange wie möglich auskostet. Asha ist sprachlos, sie schaut mich nur mit ihren blauen, runden Augen an, die jetzt mindestens um das doppelte angewachsen sind.
Angst kann ich aus ihnen lesen. Es ist nicht die Furcht davor, selbst zu versagen. Sie ist immer diejenige von uns, die mit den besten Ergebnissen abschneidet, eine kleine Streberin. Nein, es ist die Angst, mich zu verlieren. Und das Traurige ist, dass ich nichts dagegen tun kann. Habe ich nicht eben noch versprochen, dass ich für sie da bin. Tolles Versprechen, hat genau mal eine Minute gehalten. Tolle große Ersatzschwester. Ich bin so naiv, wie konnte ich nur daran glauben, dass ich für Asha da sein kann.
»Du musst mich gesund spritzen!«, sage ich zu Asha. »Ich werde bei der praktischen Prüfung so gut abschneiden, dass sie mich behalten müssen«, sage ich und weiß, dass es diese Spritze nicht gibt. Dennoch stehe ich entschlossen auf. Zu schnell, der Schmerz in meinem Bauch zwingt mich wieder in die Knie und die Tränen steigen mir in die Augen. 7. Gebot, keine Schwäche zeigen, denke ich. Verdammt. Ich weine nicht vor Schmerz, sondern wegen Asha, weil es aussichtslos ist.
»Die Gesandten haben mich beauftragt, dieses Jahr den Zeitplan für die Prüfungen aufzustellen.« Trish macht eine Pause. Ich spüre, wie schwer es ihr fällt, das jetzt auszusprechen. »Ich setze dich ans Ende der Liste. Mehr kann ich nicht für dich tun«, sagt sie und geht. Das Ende der Liste? Ich werde die Letzte sein, die zur Prüfung muss. Da die Prüfung für jedes Teammitglied einen ganzen Tag dauert, habe ich sechs Tage Zeit. Nicht mehr, nicht weniger.
Sechs Tage?
Nicht annähernd die Zeit, die ich brauche, um völlig gesund und dann auch wieder fit zu werden. Nicht ausreichend Zeit, um alles das zu lernen, was ich bei den Prüfungen wissen muss.
Wir sitzen alle um den runden Glastisch in unserem Kommunikationsraum, als Trish allen die Neuigkeiten mitteilt. Sie hat nach Jesses, Flavius‘ und Shacos Rückkehr keine Zeit verloren alle zusammenzurufen.
Die Gesandten vertrauen ihr, hallt es in meinen Ohren wieder. Nicht ohne Grund. Trish ist absolut zuverlässig und funktioniert bei allen organisatorischen Aufgaben, die in unserem Team zu bewältigen sind, wie ein Uhrwerk. Vermutlich können wir uns deshalb nicht so gut leiden, denn wenn ich eins nicht bin, dann ist es, organisiert zu sein. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir ihr Freund Flavius bei sich jeder bietenden Gelegenheit schöne Augen macht. Wäre Trish nicht seine Freundin, vielleicht wären wir dann ein Paar. Aber nur wenn es nach Flavius geht. Er sieht gut aus, das ist unübersehbar. Ist intelligent, gerade hat er einen Scanner entwickelt, mit dem wir die Bestien aufspüren können. Heute auf der Patrouille wollten sie ihn das erste Mal testen. Leider war keine Bestie in der Nähe, also wissen wir noch nicht, ob er funktioniert.
Aber Flavius ist nicht mein Typ! Jesse vielleicht, wenn wir uns unter anderen Umständen kennen gelernt hätten. Ich verstehe nicht, wie Flavius und Trish zusammen sein können und mit der Gefahr und Angst umgehen, die jeden Tag über der Beziehung schwebt, wie ein Schwert am seidenen Faden.