Viva la Pizza - Jonathan Pielmayer - E-Book

Viva la Pizza E-Book

Jonathan Pielmayer

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Beschreibung

Auch das noch! Nach sechs Monaten Praktikum gibt es für Lucas die Kündigung anstelle der Festanstellung. Dabei ist er für den Job extra in eine fremde Stadt gezogen. Gleich wieder zurück in die Heimat und im Familienbetrieb arbeiten, kommt für ihn nicht in Frage. Lieber heuert er erst einmal als Pizzabäcker in einer Italo-Franchise-Gastronomie an. Doch entgegen den dortigen grammgenauen Rezepten von Quattro Stagioni und Frutti di Mare lässt sich das Leben nicht in ein starres System pressen. Er verliebt sich, prügelt sich, sorgt für eine Überschwemmungskatastrophe und fliegt auf einem Hochbett in die Karibik. Ein liebenswertes und unterhaltsames Buch über Pizza – dem besten Essen der Welt – das Reisen, die Heimat und an das, was wir "Lebensweg" nennen. Viva la Vita, Viva la Pizza!

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Seitenzahl: 287

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Jonathan Pielmayer

Viva la Pizza

Keine Gabel, keine Regel, kein lückenloser Lebenslauf

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Nr. 01 SALAMI

Nr. 02 DIAVOLO

Nr. 03 CAPRICCIOSA

Nr. 04 GAMBERETTI E RUCOLA

Nr. 05 QUATTRO FORMAGGI

Nr. 06 CRUDO E FICHI

Nr. 07 PROSCIUTTO

Nr. 08 TONNO

Nr. 09 HAWAII

Nr. 10 QUATTRO STAGIONI

Nr. 11 CALZONE

Nr. 12 MARGHERITA

Nr. 13 MARE E MONTI

Nr. 14 MEDITERRANEO

Nr. 15 HOT BABA SPECIAL

Danksagung und Impressum

Impressum neobooks

Nr. 01 SALAMI

Himmel, ist das Wasser wieder kalt!

Vor Weihnachten ist das Lucas nie aufgefallen. Oder aus der Dusche kamen da einfach noch nicht solche negativthermalen Gebirgswassertemperaturen. Vielleicht hat der unvermeidliche Jahreswechselstress in der Arbeit auch schlichtweg die körpereigenen Kälterezeptoren betäubt. Aber jetzt, Ende Januar und draußen ein trockener und hundsgemein eisiger Winter, nimmt die wärmevernachlässigte Haut jeden weiteren Kälteangriff wie eine Attacke schock-gefrorener Nadelspitzen wahr. Niederträchtiger kann ein frühmorgendlicher Arbeitstag nicht anfangen.

Zitternd befreit er sich aus dem Duschvorhang und greift sich ein Handtuch. Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als dringend seinen Vermieter aufzusuchen und ihn dezent auf den fehl geleiteten Polarstrom in seinen Sanitäranlagen hinzuweisen. Immerhin wohnt der Hüter über Haus und Heizung nur ein Stockwerk unter ihm.

Seine Hose und sein Shirt hat sich Lucas schon auf dem Hocker neben der Dusche zurechtgelegt und schlüpft nur noch rasch hinein. Föhnen muss er seine Haare nicht. Kurz ein paar Runden mit dem Handtuch gerubbelt und schon wippen seine blonden Fransen sachte über den Augenbrauen.

Aus dem Schrank im Schlafzimmer zieht er noch ein kariertes Hemd und einen nussbraunen Pulli, dann schlappt er in gefütterten Hauspuschen rüber in die Küche und drückt den kleinen Startknopf der Kaffeemaschine.

Das Gurgeln der Filteranlage versprüht diesen hypnotisch-beruhigenden Sound, der sich nach ›Zuhause‹ anhört. Ganz genauso das knusprige Rascheln beim Einfüllen der zuckersüßen Frühstücks-Cerealien in die Müslischüssel. Aber dann war es das auch schon mit heimeliger Geräuschkulisse. Nicht immer ist die Ruhe des alleine Wohnens so angenehm wie in einem TV-Spot für ayurvedischen Wohlfühltee.

Zur Studienzeit in der WG war immer Alarm und davor im Elternhaus, dank zweier lautstarker Brüder, sowieso.

Sein Frühstück zum Tisch tragend stößt Lucas einen zwiespältigen Seufzer aus. Jetzt also die erste eigene Wohnung. Dachgeschoss, 2 Zimmer, Küche, Bad. Zum ersten richtigen Job und dann noch in einer gänzlich fremden Stadt.

Naja, ›richtiger Job!?‹ stellt er zwischen zwei Bissen Weizenwaffeln sein Praktikum in der global agierenden Unternehmensberatung mit Ablegern in ganz Deutschland in Frage. Praktikum zumindest noch drei Wochen, dann geht die Sache in eine Festanstellung über. So war der Deal und überhaupt die Grundvorraussetzung für den Umzug in die Stadt. Von da aus geht es dann Schritt für Schritt weiter. Nach ein, zwei Jahren würden die ersten selbstverantwortlichen Projekte kommen. Im dritten Jahr könnte er schon zum Teamleader aufsteigen und im Jahr Vier der Anstellung zum Projektleiter befördert werden.

Versonnen schaut er durch die kleine Balkontüre der Küche über die rot-braunen Häuserdächer der Stadt. Spitze Wellen eines geziegelten Ozeans, unter denen noch allerlei unentdeckte Schätze und Abenteuer ruhen. Er kann es gar nicht abwarten, ab Frühsommer dann draußen auf dem kleinen Zwei-Personen-Balkon seinen Kaffee zu schlürfen. Wenn vereinzelte Schwalben über die Dachfirste jagen. Die tönernen Schindeln ringsum die morgendliche Sonnenwärme zurückwerfen. Von der Straße übereifrige Müllmänner nach oben lärmen und man es sich auch schon erlauben kann hin und wieder zu spät im Job aufzutauchen, weil der gestrige Abend am Schreibtisch mal wieder lang wurde. Dann kann man bei guter Sicht bestimmt bis zum nächsten Mittelgebirge schauen.

Die Entscheidung der Heimat um hunderte Kilometer den Rücken zu kehren, war richtig, ist sich Lucas sicher. Endlich mal raus aus dem Gewohnten.

Er schiebt die zwei letzten Weizenwaffeln zusammen und löffelt sie samt der restlichen Milch auf. Die benutzte Schüssel stellt er in den Abwasch, leert mit einem Zug den letzten Rest Kaffee – zieht Mantel, Schal und Mütze an; dann springt er mit großen Schritten durchs ächzende Treppenhaus.

Ein Stockwerk tiefer streift sein Blick den mit einer Blumengirlande bemalten Türrahmen. Schon ein seltsamer Vogel, dieser Vermieter, findet Lucas. Typ alternder Edel-Hippie, der oberschlau jeden mit seiner ungefragter Meinung einräuchert. Wenn die Dachwohnung nicht der ultimative Hammer gewesen wäre, wäre Lucas da niemals eingezogen.

Den letzten Gedanken hat er aber schon draußen auf der arschkalten Straße.

Die Fahrt ins Büro dauert 20 Minuten. Immer schön gemächlich mit der Straßenbahn durch die Gassen ruckeln. Eine U-Bahn gibt es hier nicht. Jenseits der beschlagenen Fenster ziehen die grauen Betonwände der 70er-Jahre-Bauten ebenso unbeachtet vorbei, wie ein paar Monate zuvor der schöne Herbst. In der Firma war von Anfang an Doppelschicht angesagt. Zwei neue Kunden galt es zu versorgen. Konzepte schmieden, Budgets verhandeln, Analysen erstellen. Und dann alles noch mal vorn vorne, weil irgendwem irgendwas nicht ganz gepasst hat. Viel Zeit zur Stadterkundung blieb da nicht. Nur mal ein abendliches Bier mit den Kollegen.

Aber die Zeit hat sich gelohnt. Er hat sich seine Sporen verdient und den Vorgesetzten gezeigt, dass man auf ihn bauen kann. Dass er zuverlässig ist, Durchhaltevermögen besitzt und sich voll in die Arbeit reinhängt. Er mag die Firma, die Kollegen. Und die berufliche Herausforderung auf hohem Level sowieso. Da macht es auch nichts, dass das Samstagsprogramm für vier Monate aus debilem Unterhaltunsgfernsehen und aus dem Internet gesaugten Filmen bestand.

Seine Station kommt und Lucas schiebt sich beim Ausstieg an einer alten Frau mit orthopädischem Krückstock vorbei. Diese Stöcke mit den grauen Gummibömmeln unten, die man auch als Türstopper verwenden könnte – in so altbackenen Häusern, wie jenes, in dem auch das Büro untergebracht ist. Keine hundert Meter weiter. Ein schmuckloser Stahl- und Glasbau aus den späten Achtzigern, die Fassade schon von Wind und Wetter abgeschmirgelt. Weitere Mieter in dem Haus sind ein Dentallabor, zwei Anwälte und ein Cleaning-Service für Großräume aller Art. Doch wie gesagt: die Leute in der Firma sind echt nett.

Lucas teilt sich sein Büro mit drei Kollegen. Alle um die Dreißig, alle im Job etabliert. Jeder von ihnen hat sein Netzwerk schon fest verankert und so manche Seilschaften mit weiß-Gott-wem geknüpft. Er aber, er fängt erst an und der Ausblick durch die Fensterfront schenkt eine dankbare Ablenkung von den kalten Wassern, in die man beim Berufsbeginn gerne mal geworfen wird. Auf das offene Parkhaus eines Fußgängerzonenkaufhauses kann man schauen, direkt gegenüber – und dank der Innenstadtlage ist der Job auch mit genügend Imbiss- und Restaurantauswahl gesegnet.

»Hey Lucas. Wir gehen heute zum Chinesen, kommst du mit?« will einer der Kollegen kurz vor Eins wissen.

»Hm. Eigentlich hatte ich heute eher Lust auf Pizza, aber mal schauen. Vorher muss ich noch telefonieren. Ich komm dann vielleicht nach. Ihr seid eh bei dem, wo wir immer sind!?«

Der Kollege nickt, steht auf und nimmt sich seinen Mantel vom Garderobenständer. Die anderen zwei machen sich ebenfalls zum Gehen bereit.

»Mahlzeit Jungs!« tönt es da schräg von der Tür her. Der CEO hat sich lässig gegen den Innenrahmen gelehnt und schaut wie nebenbei in den Raum hinein.

»Mahlzeit!« kommt es kumpelhaft aus vier Mündern zurück.

»Du Lucas, kannst du nach dem Essen mal bitte kurz zu mir kommen?« redet der CEO genauso locker weiter. »Ich wollt da noch eine Kleinigkeit mit dir bereden.«

»Ja klar, natürlich,« sagt Lucas und erntet ein joviales Grinsen von seinem Vorgesetzten.

»Komm einfach vorbei, wenn es gerade passt,« meint der noch und ist dann auch schon wieder aus dem Türrahmen verschwunden.

»Na dann,« etwas unkoordiniert sammeln sich die drei Kollegen in der Raummitte, »Mahlzeit erstmal.«

»Mahlzeit. Bis gleich,« hebt Lucas die Hand und wartet bis die drei aus dem Raum sind und er alleine ist im Zimmer. Er steht auf, zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und geht rüber zur Tür, die seine Kollegen störenderweise einfach offen gelassen hatten. Mit Links drückt er sie zu, mit Rechts wischt sein Daumen über das Touchscreen. In den Kontakten scrollt er zu Alex - dem jüngeren seiner großen Brüder, setzt sich dann wieder auf den Stuhl und hält das Telefon ans Ohr. In dem Moment springt der Bildschirmschoner an und ein psychedelischer Regenbogen schwimmt durch ein schwarzes Meer aus eingeschlafenem Nichts.

»Hallo kleines Brüderchen,« kommt es aus dem Lautsprecher. »Sind die Sachen schon in der Post?«

»Nein«, wehrt Lucas ab, »ich ich hatte am Wochenende gegen eine kleine Grippe kämpfen müssen und da bin ich die Sachen noch nicht durchgegangen.«

»Ach Luci, so lange kannst du dir aber nicht Zeit lassen. Der Anwalt braucht die Papiere wieder, damit er alles fertig machen kann.« Lucas hört durch den Hörer geradezu, wie sein Bruder mit dem Kopf schüttelt. »Kaum lassen Matthias und ich dich aus den Augen wirst du krank und bekommst nichts mehr auf die Reihe. Oder hast du Sorge um deine drei Prozent? Die Unterlagen haben aber nichts mit der Wette zu tun.«

»Natürlich, ich weiß. Aber was kann ich denn dafür, wenn ich krank werde? Im Gegensatz zu euch da oben ist es hier im Süden des Landes um einige Grade kälter. Das bin ich noch nicht gewohnt. Und so ein Notar-Kauderwelsch ist auch verdammt schwer zu kapieren. Selbst wenn man keine zugeschwollene Stirnhöhle hat.«

»Tja, kleines Brüderchen,« brummt Alex in der entfernten Heimat, »dass das jetzt mit dir alles so kompliziert geworden ist. Hättest halt einfach doch da bleiben müssen. Dann wäre das alles ganz einfach und wir könnten uns direkt mit dem Anwalt zusammen setzen.«

»Ja. Ist halt nicht,« entschuldigt sich der kleine Bruder fast.

Eine kurze Pause entsteht, in der Lucas paralysiert dem Regenbogen auf seinem 20-Zoll-Monitor verfolgt. »Außerdem wird es schon nicht so eilig sein,« spielt er sein Versäumnis herunter. »Sonst hätte Papa uns seine Firma ja nicht am Heiligabend vermacht. Sondern irgendwann an einem Montag Vormittag.«

Lucas hasst die Diskussion um seinen Fortzug. Seine Brüder waren von Anfang an dagegen. Wegen des etablierten Netzwerkes, das man wegwirft. Der Familie, den Nichten und Neffen – die ihren Onkel jetzt nur noch vom Skypen her kennen würden – und natürlich wegen des Familienunternehmens. Ein Baumaschinenzulieferer, der seit letzte Weihnachten den drei Söhnen gehört. Zu je 33,3 Prozent. Einfach so in die Fremde wollte das kleine Brüderchen ziehen. Kopfüber und mit allem drum und dran. So etwas Hirnrissiges könne ja nur zum Scheitern verurteilt sein, waren sich die älteren Geschwister sicher. Also sah Lucas sich genötigt zu kontern. Irgendwie musste er seinen Brüdern ja zeigen, dass er es ernst meinte. An einen der hitzigen Gesprächsabende gingen sie eine kleine Wette ein. Pro Kopf drei Prozent des Firmenanteils – also sechs Prozent zusammen – wenn er es binnen eines Jahres schafft dort unten, in den Tiefen Süddeutschlands, Fuß zu fassen. Beruflich, sozial, Haus, Kind Garten, was auch immer. Hauptsache, er war nicht mehr das kleine Brüderchen unter den wohlwollenden Fittichen von Alex und Matthias.

»Macht dein Job da unten wenigsten noch Spaß?« will der immer noch große Bruder wissen.

»Auf jeden Fall. Ich geh auch gleich mit den Kollegen essen. Die sind nur schon mal vorgegangen.«

»Aber trotzdem ist es immer noch nur das Praktikum, nicht wahr?« In Alex’ Stimme schwingt etwas Sorge durch den Äther mit.

»Ja, schon.« Lucas kommt nicht drumherum sich über dessen dezente Besorgnis zu ärgern. »Aber nachher gehe ich mal zum Chef. Der wollte was von mir. Bestimmt wegen der Umstellung zur Festanstellung.«

»Na gut. Dann dir viel Glück. Ich muss jetzt auch mal weiter machen. Und setze dich heute Abend an die Papiere, dann ist Ende der Woche alles unter Dach und Fach.«

Alex verabschiedet sich und legt auf. Auch Lucas steckt sein Smartphone zurück in die Hosentasche. Steht dann auf und greift nach seinem Mantel. Er wird sich etwas beeilen müssen, wenn er seine gebratenen Nudeln mit Ente nicht alleine essen will.

***

»Hey, du wolltest mich sprechen?«

Lucas hat nach der Pause noch etwas Zeit verstreichen lassen, ehe bei seinem Chef an die Tür klopfte. Er wollte nicht den Eindruck vermitteln, er hätte sonst nichts zu tun.

»Ja. Komm’ rein und nimm Platz.« Sein Chef zeigt auf den freien Stuhl vorm Schreibtisch. Das Büro ist sehr groß. Ein Eckbüro und beglückt mit der besten Aussicht von allen Räumen in der Firma.

Erwartungsvoll setzt sich Lucas in den dunklen Lederstuhl, verschränkt leicht seine Beine und achtet darauf, nicht übermäßig hingefläzt zu wirken. Konzentriert beugt er seinen Oberkörper ein paar Zentimeter in Richtung Vorgesetzten. Der spielt leicht abwesend mit einem kleinem Schreibtischhelfer aus Edelstahl. Einem Männchen mit Scharnieren und Gelenken, das anstelle von Händen zwei spitze Greifklammern hat. Für Notizen oder als Stifthalter. Eines der Dinger, die man in Designshops kauft und mit denen man am Schreibtisch rumspielen kann, wenn man sich ablenken möchte.

»Also, du warst die letzten Wochen ja hautnah mit dabei. Hier in unserem Unternehmen,« reißt sich der Chef schließlich zusammen und lässt von dem Helferlein ab. »Und da hast du ja auch gemerkt, wie es hier läuft, wie so die Kunden ticken und so weiter.«

Lucas nickt freudig, überlässt das Reden aber seinem Gegenüber.

»Und dass der eine oder andere Kunde, wie soll ich sagen, sehr eigenwillig ist. Und manchmal halt nicht einfach. Oder nicht ganz das hält, was wir uns von ihm versprechen.«

Nichts was aus dem Rahmen fallen würde, denkt sich Lucas. Nickt aber trotzdem eifrig weiter.

»Und dann natürlich noch immer der Druck von oben, dem Headquarter.« Der Chef deutet mit seinem Daumen zum Himmel. »Da wird halt knallhart kalkuliert. Egal, ob sie sich dabei ins eigene Fleisch schneiden oder nicht.«

Das Telefon klingelt und während sein Gegenüber ausgiebig über Dinge diskutiert, die man viel effektiver per Mail klären könnte, fühlt sich Lucas gerade, als würde er an den spitzen Klammern des Helferleins zappeln. Worauf wollte sein Chef hinaus?

»Wo waren wir?,« setzt er schließlich wieder an, nachdem er das quälend überflüssige Telefonat beendet hat. »Genau. Dass Zentrale und Kunden manchmal unseren Spielraum hier ungemein einengen. Was soll ich sagen, lieber Lucas? Du bist ein ganz toller Mitarbeiter und ein großartiger und super Kollege.« Er beugt sich auf seinen Schreibtisch vor, als könne er damit der Last, die auf seinen Schultern ruht, ein Stück ausweichen. Dann driftet sein Blick ab. »Aber leider können wir dir nun doch nicht die Festanstellung bieten, die wir uns so für dich erhofft haben.« Er fällt wieder zurück in seinen Sessel und hebt abwehrend beide Hände. Egal ob ›Mich trifft keine Schuld‹ oder ›Bleibe mir bloß vom Leib‹, irgendwie sagt seine Körperhaltung gerade beides aus. »Tut mir wirklich Leid.«

Lucas fühlt sich mit einem Schlag unendlich flau. Aus seinem Körper scheint alle Kraft zu weichen und sein Fleisch eins mit der weichen Polsterung des Lederstuhls zu werden.

»Und … was … heißt das jetzt?« bringt er mit wankender Stimme hervor.

»Ja.« Der Chef schüttelt beinahe unmerklich den Kopf. Auf sein Gesicht hat sich der typische Ausdruck eines Firmenoberhaupts gelegt, mit dessen übermenschliche Verantwortung nicht selten auch eine immense Tragik einher geht. »Wenn es dir hilft, könnten wir noch einmal das Praktikum verlängern. Aber ob die Situation sich in einem halben Jahr ändert, kann ich dir nicht versprechen. Das verstehst du sicher, oder?«

»Schon. Aber die Festanstellung war ja eigentlich Vorraussetzung für das Praktikum. Also im Sinne: Ich soll schauen, ob es mir hier gefällt. Dann wird das Ganze fix. Und mir gefällt es hier. Also …!«

Der Chef rudert hektisch mit den Armen durch die Luft. »Ja ich weiß. Und glaube mir, wir könnten dich so gut brauchen. Du bereicherst die Firma ungemein. Aber ich kann mich ja nicht den Anweisungen aus der höheren Etage entziehen. Und nicht, dass da was missverstanden wird,« er hebt wieder abwehrend eine Hand in die Höhe, »auch von unserer Seite war das Praktikum nur ein Test und keine Garantie für dich.« Er schlägt noch ein wenig die Arme umher, dann lässt er sie wieder schlaff nach unten fallen und glotzt beleidigt auf seinen Schreibtisch.

Wenn er jetzt wieder dieses blöde Kugelgelenk-Helferlein anfasst, schießt es Lucas durch den Kopf, dann rammt er ihm den in seinen bescheuerten Arsch. Mit den spitzen Greifklammern voran.

Zurück bei den Zimmerkollegen hängt eine merkwürdige Mischung aus Neugierde, böser Vorahnung und durch die Gerüchteküche geflossene Gewissheit in der Luft.

Viel kommt Lucas nicht über die Lippen. Nur ein paar Worte, dass es wohl bei diesen paar Monaten bleibt und eigentlich schon zum Wochenende vorbei ist. Er habe ja noch ungenütze Urlaubstage übrig.

Den Rest des Tages überarbeitet er mechanisch ein paar Tabellen. Aber es könnten da jetzt auch chinesische Schriftzeichen stehen, beides scheint mit einem Mal gleich bedeutungslos. Gelegentlich schaut er noch raus aus der Fensterfront und rüber auf das oberste Geschoss des Kaufhaus-Parkdecks. Er konnte nie eine gewisse Schadenfreude unterdrücken, wenn manche Kunden drei Versuche brauchten, um ihren übergroßen SUV in eine normale Parklücke zu manövrieren.

***

In der Küche brennt einzig die kleine Lampe über dem Tisch, ansonsten ist nur noch der sich aufheizende Backofen ein weiterer, schwacher Lichtspender. Draußen vor dem Fenster hängt schwarzer Abendhimmel und drinnen in den Zimmerecken trübe Schatten.

Lucas öffnet die Klappe seines Gefrierfachs und zieht eine Tiefkühlpizza hervor. Immerhin, denkt er sich. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ’ne Pizza her. Er reißt kurz die Pappe auf, befreit den gefrorenen Fladen von der eingeschweißten Verpackung und starrt auf die freigewordene Salamipizza, die mit all dem fleischigen Rot und dem weißgelben Käse im Halbdunkel aussieht wie ein kryonisch eingefrorenes Frankenstein-Experiment. Kopfschüttelnd holt er aus dem Kühlschrank noch ein paar Stücke gegrillte Paprika aus dem Einmachglas und drei kleine Brocken Schafskäse. So gepimpt wird die Pizza kurzerhand ins Rohr geschoben und anschließend stiert Lucas in das Nichts aus dunklen Dachfirsten jenseits seiner Wohnung. Mit der Sache heute hätte er nie gerechnet. Keine Sekunde. Beim Vorstellungsgespräch haben sie mehrmals und nachdrücklich versichert, dass sie eine langfristige Teamergänzung suchen. Und das Praktikum, das sei höchstens eine verlängerte Probezeit oder ein Entgegenkommen von Lucas nicht gleich mit einem Vollzeitgehalt anzutreten. Ein sehr großzügiges Entgegenkommen, denn schon das Praktikum war ein Minusgeschäft, das sein Konto nicht unerheblich belastete. Verärgert verschränkt er seine Arme. Vielleicht hätte er sich einfach gar nicht darauf einlassen sollen!? Dabei sah der Plan zu Beginn wirklich gut aus.

Einfach mal weg von Zuhause. Und vor allem das machen, was die älteren Brüder nicht geschafft haben. Wirkliche Freiheit und Selbstständigkeit – außerhalb der behaglichen Heimatregion, wo einem diese ewig vertraute Landschaft so vorkam, wie ein Trickfilm mit einer rennenden Cartoonfigur. Die liefen auch zigmal vor dem immer gleichen Hintergrund vorbei. Zum ersten mal überhaupt war er seinen Brüdern einen Schritt voraus. Und dann das.

Dabei bewunderten Alex und Matthias seine Pläne heimlich sogar ein bisschen. Den ganzen Umzug, einige neue Möbel, Besteck und Küchengeräte, sogar den monetären Ausgleich vom unwirtschaftlichen Praktikum finanzierte Lucas mit Erspartem. Endlich mal nicht an der Geldbörse der Eltern klammern. Mal richtig selbstverantwortlich auf eigenen Füßen stehen. Und eine neue Stadt. Keine Großstadt zwar, nicht Berlin oder München, aber immerhin größer als die Provinzstädte, in denen man bisher versucht hat sein Leben mit Abenteuern zu füllen. Was meist immer in der gleichen abgestanden Eckkneipe endete, in der sich schon die Generationen vor einem die Samstage schön soffen.

Nach knapp einer Viertel Stunde ist endlich die Pizza fertig und Lucas schiebt sie sich auf einen Teller. Mit einem Messer teilt er sie noch in acht Stücke, dann stellt er sich damit an die Balkontür. Um raus zu gehen ist es zu kalt, aber dafür löscht er die kleine Lampe über dem Tisch. Sie soll sich beim Hinaus schauen nicht störend in der Scheibe reflektieren. Der Backofen ist ja ohnehin schon abgeschaltet.

Vor seinem inneren Auge zieht noch einmal jener Donnerstag vorbei, an dem er von daheim fortgezogen ist. Montags drauf fing gleich sein Praktikum an. So hatte er noch drei Tage, um sich einzurichten und fehlendes Mobiliar und diversen Kleinkram zu kaufen. Die zwei Tage vor dem Umzug war er nur mit Packen beschäftigt gewesen, dann, am Mittwoch Abend, traf er sich mit Freunden und Familie im Lieblingslokal ›Roter Hirsch‹. Zum Verabschieden. Das Beste aber war, dass am Donnerstag Morgen seine Brüder noch mal vorbei kamen. Lucas hatte gerade den Sprinter von der Verleihfirma geholt, da standen sie vor der Tür seiner WG und wollten helfen. Der große Alex und der noch größere Matthias. Beide mit führenden Positionen im Familienunternehmen, hatten sie einfach ihre Termine nach hinten verschoben, um dem kleinen Bruder unter die Arme zu greifen. Obwohl, oder gerade weil sie vor seinem Umzug an den südlichen Rand der Bundesrepublik gewarnt hatten.

Kisten, Krams und auseinander genommenes Mobiliar waren ruck-zuck im Sprinter verstaut. Der Kleiderschrank blieb beim Mitbewohner. Und über die drei großen Kreuzungen bis sich die Wege trennten, fuhren die beiden Brüder Eskorte. Ein kurzes Hupen noch, dann rollte Lucas schon auf der Landstraße Richtung Autobahnauffahrt.

Die Fahrt verlief bis auf die letzten Hundert Kilometer einwandfrei. Aber ganz zum Schluss kam er dann doch noch in den Feierabendverkehr. Der blöde Stau mit Menschen, die sich gar nicht glücklich genug schätzen konnten, einen geregelten 9to5-Job ohne massig Überstunden zu haben, kostete Lucas eine geschlagene Stunde. Und gefährdete seinen Plan, den Transporter noch am selben Abend, Punkt Fünf vor Acht, am Hauptbahnhof der neuen Heimatstadt abzugeben. Er hatte den Wagen nur für einen Tag gemietet, obwohl seine Brüder versucht hatten, ihn eines Besseren zu belehren. Der Weg zu seiner neuen Wohnung war schnell gefunden. Er war ja schon einmal hier, um sich die Wohnung anzusehen. Damals, als er auch sein Vorstellungsgespräch hatte.

Zwei Stunden vor Sprinter-Abgabe fuhr er in die Wohnstraße ein, die sein neues Zuhause beherbergen sollte. Dezent verzierte Altbauten, manche nicht mehr ganz taufrisch. Dazu diverse Kastanien auf beiden Seiten der Straße und vorne an der Kreuzung Container für Altglas und Papier. Er fand auch einen Parkplatz direkt vor der Tür. Doch sein Überschwang, mit dem er aus dem Sprinter kletterte, wurde deutlich abgebremst, als auch nach wiederholten Klingeln beim neuen Vermieter niemand die Türe öffnete. Nicht einmal am Mobiltelefon war er zu erreichen. Lucas hatte noch keine Schlüssel. Der Vertrag wurde per Post hin und her gesendet, bei den Schlüsseln aber wollte man kein Risiko eingehen. Deshalb war ausgemacht, die Übergabe direkt am Abend seiner Ankunft zu machen.

Er wartete eine Weile, doch die Zeit drängte. Nur noch eineinhalb Stunden und die Autovermietung würde ihre Pforten schließen und zusätzlich zum nächsten Tag noch eine saftige Strafbuße berechnen. Also wildes Klingeln bei den anderen Parteien im Haus. Eine etwas entnervte Mutter mit Kind sowie eine ältere Dame machten freundlicherweise auf, wusste aber auch nicht, wo der Vermieter abgeblieben war, der einst großspurig seine Hilfe beim Ausladen zugesagt hatte.

So blieb Lucas nicht anderes übrig, als die alte Dame zu überreden auf seinem Schreibtischstuhl neben dem offenen Transporter zu wachen. Nur vorsichtshalber. Dann zerrte, hob und schleppte er sein gesamtes Inventar in das Haus rein. Alles was vor seiner Wohnungstüre unter dem Dach Platz fand, wurde dort gestapelt. Der Rest quer über das Treppenhaus verteilt. Es war Spätsommer und der Abend ungewöhnlich warm. Der Schweiß rann Lucas über Stirne und Rücken und schon nach dem dritten Aufstieg zu seiner Dachwohnung war er klitschnass. Irgendwann wurde es der Dame auf dem Wachposten langweilig und sie bat um etwas Erfrischung. Um ein Gläschen ihres Wacholderbrands, den sie immer so gerne Abends trank. Was nach dem zweiten Glas zur Folge hatte, dass sie mit einem Mal die Funktionen eines Bürostuhls mit Rädern unglaublich faszinierend fand. Jauchzend drehte sie sich immerzu im Kreis und konnte gar nicht genug davon bekommen, in bester Downhill-Manier die abschüssige Straße vor ihrer Haustüre runter zu preschen. Vielleicht war es auch einfach schon zu lange her, als sie das letzte Mal auf solch einem Möbelstück gesessen hatte. Irgendwann als Tippse in einem Staatskonzern Anfang der Achtziger Jahre oder so. Unglücklicherweise kam sie nach ihren Talfahrten nicht mehr alleine hoch zum Sprinter. Also musste Lucas sie zurückschieben, wenn er wieder einen Umzugskarton holte. Auch da er fürchtete, der Vermieter könnte ob seiner Verspätung mit stark überhöhter Geschwindigkeit die 30er-Zone entlang donnern und seine auf einer Sekretärinnen-Seifenkiste entgegenkommende Mieterin per Frontalzusammenstoß ins überfrühte Jenseits katapultieren. Als Dank für das Zurückschieben drängte sie Lucas jedes Mal auch zu einem kleinen Wacholderbrand. Weil ein so hart arbeitender junger Mann nun mal auch etwas Erfrischung bräuchte. Außerdem wolle sie nicht alleine trinken. Erst Recht nicht hier draußen auf offener Straße. Die körperliche Anstrengung trieb Lucas den Alkohol tief unter die Schädeldecke und er musste immer und immer wieder irgendwelche Bücher- oder Brettertürme neu stapeln, weil die dumme Schwerkraft nicht mit seinen statischen Fähigkeiten einverstanden war.

Zwanzig vor Acht zwängte er sich schließlich mit zugekniffenen Augen und rasendem Puls hinter das Lenkrad des Sprinters, kurvte hektisch zum Bahnhof und schaffte es bei der ganzen Konversation der Fahrzeugrückgabe, seinen Mund weitgehend geschlossen und die Schnapsfahne zurück zu halten. Jedem Bauchredner wäre vor Ehrfurcht die Puppe aus der Hand gefallen.

Bei seiner Rückkehr erwartete ihn ein aufgebrachter Vermieter, der keinerlei Verständnis für den messie-haft gestapelten Hausrat in seinem Treppenhaus aufbrachte. Bedauern für sein Nichterscheinen allerdings auch nicht.

Später fand Lucas dann heraus, dass er mit seiner Frau bei einer schamanischen Sitzung war, um die Krähenfüße seiner Gattin behandeln zu lassen. Mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Die alte Dame hatte es ihm erzählt. Bei einem ihrer gelegentlich abgehaltenen Wacholderbrandrunden im Spätherbst.

An diesen ersten Tag muss Lucas denken, während er die letzten Stücke seiner Salami-Paprika-Schafskäsepizza vertilgt. Und daran, dass er seinen Vermieter immer noch nicht wegen dem zu kalten Wasser aus der Dusche angesprochen hat. Zumindest konnte es nach diesem grotesken Anfang damals nur noch bergauf gehen. Und das ging es auch. Stück für Stück richtete er sich seine geliebte Dachwohnung ein und machte es sich häuslich. Im Job lief es ohnehin sofort reibungslos. Seine Brüder hatten mit ihrer ganzen Bedenkenträgerei unrecht gehabt. Bis jetzt. Von Null auf Hundert einmal episch geschrottet. Mit durchgetretenem Gaspedal gegen die Wand gekachelt und so richtig schön mit dem Gesicht voran auf das Armaturenbrett gedrückt worden. Totalschaden.

Lucas schaut auf die Uhr und überlegt, ob er einen von ihnen anrufen und die schlechte Nachricht loswerden soll? Sieben Stunden, nachdem alles noch in bester Ordnung war. Oder seine Eltern? Aber das käme auf das Gleiche raus. Sein Smartphone ruht unschlüssig in der Hand. Das Schwarz der Benutzeroberfläche wirkt müde und abgeschaltet. Wenn man jetzt drauf drückt, würde es einen nur mit dem hellem Bildschirm quälen.

Nein. Er war nicht quer durch die Republik gezogen, um nach dem ersten Crash die Karre zum Altschrott zu schicken. Selbst wenn er sich offensichtlich einmal sauber um den Pfeiler gewickelt hat. Sein Studium hat er zu gut abgeschlossen, um nicht noch einen Ersatzwagen in der Garage zu haben. Einen richtigen Brummer. Mit dem er dann ganz direkt in einer anderen Unternehmensberatung anfangen kann. Ohne Praktikum. Gleich mit Vollanstellung. Sofort am Wochenende würde das Bewerben losgehen.

Am folgenden Samstag, die Verabschiedung in der Firma tags zuvor fiel den Umständen entsprechend eher nüchtern aus, reißt sich Lucas am Kiosk die ganze Bandbreite an Stadtzeitungen unter den Nagel. Jeden kleinbürgerlichen Anzeiger, jedes regional halbwegs relevante Bezirksblättchen – Hauptsache im Stellenteil lassen sich ein paar Jobangebote finden.

Bepackt, als würde er den Vogelkäfig eines Flugsauriers ausmisten, steuert er sein Zuhause an. Ungeduldig schließt er die Haustüre auf und prallt fast mit seinem Vermieter zusammen.

»Oh, da hat es einer aber eilig.« Der Vermieter beäugt neugierig den Stapel Zeitungen unter Lucas Arm. »Wenn du dir die Zeitungen abonnierst, sparst du dir den Weg zum Kiosk.«

Lucas nickt. »Schon klar, Herr Daxler, aber das war ein Einmalkauf. Ich lese sonst nur Online-Nachrichten.«

»Sicher. Kann bei jungen Leuten wie euch gar nicht mehr anders laufen, was? Oder hast du einfach nur ein bisschen Altpapier gebraucht? Da hätte ich dir meine alten Zeitungen geben können. Aber so ist der Junge. Lieber gleich losziehen und kaufen, als einmal nachfragen.«

»Nein, nein. Ich brauche nur die Stellenanzeigen. Und manchmal findet man in den Zeitungen andere, als im Internet. Nur vorsichtshalber.«

»Stellenanzeigen?« Herr Daxler wird misstrauisch. »Was ist mit deiner Arbeit?«

»Also … die …« Lucas merkt, wie die Farbpalette in seinem Gesicht von Rot bis Zinnober reicht. Daran hatte er ja gar nicht gedacht. Er bekam die Wohnung ja nur, weil er glaubhaft versichern konnte, in der Stadt eine feste Arbeitsstelle mit geregeltem Einkommen zu bekommen. »Also das blieb doch nur bei einem Praktikum. Also, ist noch nicht ganz klar. Wir sind noch in Verhandlung. Jetzt habe ich sowieso erst einmal Urlaub. Und einfach nur vorsichtshalber schaue ich mal, was der Markt sonst so hergibt. Und natürlich, was mein tatsächlicher Wert ist, damit ich bei der finalen Gehaltsverhandlung ein Druckmittel in der Hand habe. Sie verstehen schon, oder?«

Herr Daxler scheint nur halbwegs zu verstehen und kneift beunruhigt seine Augen zusammen. »Ich habe keine Lust meine Miete vom Amt zu bekommen. Die sind da nicht sonderlich zuverlässig. Und dir kann ich nur raten, sich im Berufsleben durchzusetzen. Sonst überholt dich schnell mal einer und du kannst sehen, wo du bleibst.« Missmutig rafft er seine Post zusammen und trottet zur Treppe rüber. Er trägt einen seidenen Morgenmantel mit fragwürdigem Paisleymuster. Untendrunter schaut ein blau-weiß-gestreifter Pyjama hervor. Seine nackten Füße stecken in ausgelatschten Lederpantoffeln.

Leiden konnte Lucas seinen Vermieter noch nie. Mit seinen schulterlangen schwarzen Haaren, dem schlaffen, sonnengegerbten Gesicht und dieser ganzen Eso-Leder-Macke sieht er aus wie das verbrauchte Stunt-Double von Pierre Brice. Einer, der beim Winnetou-Dreh zu oft die Szene mit dem Pferdesturz drehen musste und sich nun verbittert zurückzieht, weil die Welt ihm nie die erhoffte Dankbarkeit entgegen brachte.

Aber die Dachwohnung ist halt einsame Spitze.

»Ähm, eine Sache noch, Herr Daxler.« Lucas läuft hinter ihm die Treppenstufen hoch. »Das Wasser in meiner Dusche wird nicht richtig warm. Könnten Sie da bitte etwas machen?«

»Das geht nicht,« zischt Häuptling Lederlatsche, ohne sich umzusehen. »Wir teilen die gleiche Therme. Dann würde bei uns kochendes Wasser rauskommen. Und zu heiß darf das Wasser bei mir nicht sein. Sonst greift es die Kristalle an, über die das Wasser in meiner Wanne und Dusche fließt. Du weißt wohl nicht, dass Edelsteine immanente heilende Kraft besitzen. Sie bringen das Wasser zum Schwingen. So reinigt es nicht nur den Körper, sondern bereichert ihn auch noch mit Energie.« Jetzt schaut er sich doch einmal kurz um. »Außerdem kann es so schlimm ja kaum sein. Es hat sich noch nie ein Mieter vor dir beschwert.«

»Ja, aber vielleicht hat es sich ja irgendwie verstellt?« setzt Lucas noch nach. Aber auch das scheint sein Vermieter nicht wirklich nachvollziehen zu können. Außerdem sei kalt Duschen gut für den Kreislauf und den Aufbau von Abwehrkräften, weiß Häuptling Rosenquarz noch. Ohne zufrieden stellende Konklusion lässt er Lucas einfach alleine im Treppenhaus zurück.

Bis zum frühen Abend durchforstet Lucas die Zeitungen und sämtliche Jobseiten im Internet. Erfolglos. Die einzigen brauchbaren Angebote sind erst in der Großstadt im übernächsten Landkreis zu finden. Zum Pendeln viel zu weit. Auf jeden Fall keine erstzunehmende Alternative.

Klar. Einige schöne Büros gäbe es in der Stadt schon. Allen voran einen weiteren Platzhirsch – die Hauptkonkurrenz der Ex-Firma. Nur suchen die erstens gerade niemanden und zweitens nehmen die sicher keine gescheiterten Praktikanten ihres Kontrahenten auf.

Verärgert und enttäuscht rollt er seinen Stuhl nach hinten und legt die Beine auf den Schreibtisch. Dieser verdammte Idiot von Ex-Boss. Als hätte der Typ ernsthaft bedauert Lucas nicht übernehmen zu können. Aber wehe, einer nimmt ihm sein blödes Zangenhelferlein fort, malträtiert er den Kerl gedanklich mit dem doofen Chromspielzeug.

Nr. 02 DIAVOLO

Das mit Abstand Dämlichste in so einer Situation ist ja immer der Leerlauf. Ein schwarzes Loch aus Zeit und Motivation. Jetzt einfach losziehen und ein bisschen die Stadt erkunden ist nicht drin. Das schlechte Gewissen würde sofort Alarm schlagen wie NORAD bei einem Angriff mit Interkontinentalraketen. Schließlich geht es hier um das schützende Dach über dem Kopf. Die Miete. Den mit Fertiggerichten und Puddingbechern gefüllten Kühlschrank. Einfach um die nackte, elementare Angestelltenexistenz. Das verfassungsmäßige Bleiberecht in der Berufswelt. Ohne, dass man nach sechs Monaten, nach abgelaufener Praktikumsfrist, wieder zurück in die Notunterkunft des Kinderzimmers abgeschoben wird.

Entnervt klickt Lucas ein paar Pop-ups der Jobbörse fort und scrollt weiter über die Homepage. Drei Wochen sind vergangen. Ergebnis bis dahin: Null. Totale Jobwüste. Zur Zeit scheint alles gesucht zu werden, nur kein Mitarbeiter für Unternehmensberatungen. Oder irgendetwas, was man mit seinem Studienabschluss noch machen könnte, ohne gleich dabei sein mühsam angeeignetes Potential verraten zu müssen. Lucas' Zeit hier scheint schneller vorbei, als seinen Brüdern in die hohle Hand gewettet. Dabei hat er sich ja noch nicht einmal an der Brooklyn-Bridge im NYTTJA-Rahmen satt gesehen. Oder den Vögeln auf dem Strommast. Beide hängen als Fotos über der kleinen Couchgarnitur, die er extra für die Wohnung gekauft hat.

Unablässig öffnet er mit Rechtsklick weitere Jobangebote in einem neuen ›Tab‹. Bei einem merkt er erst hinterher, was es ist: Das neue Praktikantengesuch seines ehemaligen Arbeitgebers.

Kopfschüttelnd liest Lucas die großen Versprechungen samt dem auffällig vielen Selbstlob.

»Was ein Arsch,« schließt Lucas das Browser-Fenster und steht auf. Die ganzen letzten Tage hat er es vermieden, unnötigerweise das Haus zu verlassen, jetzt aber zieht es ihn dann doch ins Freie. Frustriert schnappt er sich Mantel und Schal, knallt die Tür zu und läuft los. Unten, am Absatz des Treppenhauses prallt er fast mit Herrn Daxler zusammen. Sein Vermieter begrüßt ihn mit einem stechend argwöhnenden Blick, der kaum die tief sitzende Sorge verhehlt, mit Lucas nun einen arbeitslosen Mietnomaden im Haus zu beherbergen. Einen, der auf 57 Quadratmetern abzüglich Dachschrägen seine 12-köpfige rumänische Großfamilie vor dem Zoll versteckt und in der Biotonne Giftmüll entsorgt.

Wie eine zerrissene Plastiktüte lässt sich Lucas vom eisigen Wind durch die abendlichen Straßen der Stadt treiben. Der Weihnachtsglitzer wurde allerorts längst wieder abmontiert und eingemottet. Jetzt ist alles nur noch grau und blöd.

Beim Geld Abheben am Automaten fällt ihm die Zahl auf seinem letzten Kontoauszug ein. Viel Luft ist nicht mehr. Zu knapp war das Ganze kalkuliert. Zu viel Kapital ging für die Wohnungseinrichtung drauf. Für den ganzen Kleinscheiß, an den man gar nicht denkt. Neues Sideboard, ein paar Gläser und Tassen, noch eine zusätzliche Pfanne! Ist irgendwem bewusst wie teuer eine Pfanne sein kann? Erst recht, wenn man sich denkt: Ach, die erste selbstgekaufte Pfanne meines Lebens – nehme ich jetzt mal nicht die billigste von allen. Soll ja auch länger halten als bis nächste Ostern.