Vogelkoje - Gisa Pauly - E-Book
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Gisa Pauly

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Schon lange ist Mamma Carlotta der Meinung, dass ihr Schwiegersohn, Kriminalhauptkommissar Erik Wolf, viel zu langsam Auto fährt. Sie selbst ist eher von der schnellen Sorte. Aber illegale Rennen auf Sylt? Das geht der resoluten Italienerin dann doch zu weit. Erst recht, als bei einem dieser Rennen ein Leichenwagen verunglückt. Und ein Sarg herausfällt, dessen Inhalt sogar für Eriks an sich gute Nerven zu viel ist. Natürlich ist die Neugier seiner Schwiegermutter prompt geweckt. Mamma Carlotta beginnt sogleich Erkundigungen einzuholen – ohne zu ahnen, dass sich hinter diesem Sarg ein gefährliches Geheimnis verbirgt ... Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta!  Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust –  die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre.  »Man muss sie einfach mögen, die italienische Miss Marple von Sylt.« Brigitte

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-97684-8

Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagabbildung: Life on White/Bigstock (Möwe), Juras/Bigstock (Straße mit Grünstreifen), Eduardo Luzzatti/GettyImages (Auto), Yastremska/Bigstock (Schal), MicroOne/Bigstock (gebrochenes Glas), kunertuscom/Bigstock (Leuchtturm), Paul Tessier/iStockphoto (fliegende Ente), Natalya Aksenova/Bigstock (Ente im Auto)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Carlotta Capella kannte sich aus. Die Anordnung der Stewardess »Bitte bleiben Sie so lange sitzen, bis die Anschnallzeichen über Ihnen erloschen sind« musste man nicht unbedingt befolgen. Das war so wie Geschwindigkeitsbeschränkungen und Parkverbote in bella Italia: Sie dienten nur dazu, im Falle einer Gerichtsverhandlung zu einem schnellen Schuldspruch zu kommen. Früher hätte sie sich das niemals getraut, aber mittlerweile, nachdem sie mehr als zehnmal von Rom nach Hamburg geflogen war, löste sie trotz der Warnung der Flugbegleiterin genauso gleichmütig den Gurt wie die meisten anderen. Sie wusste nun auch, wie man zum richtigen Gepäckband kam, ohne zu fragen, und schaffte es sogar, niemanden an ihrer Sorge teilhaben zu lassen, das Gepäck könne in ein falsches Flugzeug geraten sein. Sogar den Ausgang fand sie, ohne zu zögern, und war nicht mehr darauf angewiesen, einem Mitpassagier unauffällig zu folgen, den sie für flugerfahren befunden hatte. Auf diese Weise war sie einmal vor der Tür der Herrentoilette gelandet und daraufhin zu der Ansicht gekommen, dass es Zeit wurde, sich unabhängig von fremder Hilfe zu machen. So unterschied sie sich mittlerweile, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht mehr von den erfahrenen Geschäftsreisenden, die auf alles so abgebrüht reagierten, als wären sie nur zwei Stationen mit der Straßenbahn gefahren.

Das Schweigen dieser Vielflieger allerdings war nichts, was ihr imponierte. Schweigende Menschen mochte sie nicht, basta! Und die, die mit einem unsichtbaren Gesprächspartner redeten, dessen Stimme über Ohrstöpsel zu ihnen drang, ebenso wenig. Die Blasiertheit, mit der sich manche Fluggäste Distanz zu ihren Mitreisenden verschafften, war nicht ihr Ding. Nebeneinander am Gepäckband stehen und schweigend warten? Nein, nicht Carlotta Capella! Noch bevor der erste Koffer erschien, wusste die Frau, die neben ihr wartete, dass Carlottas Enkeltochter an diesem Tag achtzehn wurde. »Madonna, wie die Zeit vergeht!« Auch dass sie keinen frühzeitigeren Flug gefunden hatte, der von ihrer schmalen Witwenrente zu bezahlen war, tat sie unüberhörbar kund. Und damit, dass sie eigentlich gern die Einkäufe für die kleine familiäre Feier am Abend selbst erledigt hätte und am liebsten so viel kochen würde, dass die ganze Nachbarschaft auch noch satt werden konnte, hielt sie ebenfalls nicht hinterm Berg. »Aber la famiglia auf Sylt ist ja klein. Nur mein Schwiegersohn und die beiden ragazzi. Zu Hause, in meinem Dorf, hätte es für mindestens zwanzig Familienangehörige reichen müssen.«

Als die Frau höflich nickte, ihr Gepäck vom Band nahm und sich Richtung Ausgang begab, nahm sie sich den Nächsten vor. Der erfuhr, ob er wollte oder nicht, dass Carlotta Capella aus dem kleinen umbrischen Dorf Panidomino stammte und ihre Tochter einen Deutschen geheiratet hatte, der Kriminalhauptkommissar auf Sylt war.

»Madonna, diese Friesen! Wie meine Lucia die Einsilbigkeit ertragen hat, weiß ich wirklich nicht.«

Dass Lucia nicht mehr lebte, weil sie einem Autounfall zum Opfer gefallen war, konnte sie gerade noch anbringen, doch als sie erzählen wollte, dass sie selbst schon mit sechzehn geheiratet und sieben Kinder zur Welt gebracht hatte, wankte mit einem Mal ihr eigener Koffer an ihr vorbei, und sie musste feststellen, dass sie vor lauter Reden gar nicht mehr aufs Gepäck geachtet hatte. Schnell griff sie zu, strich sich so energisch ihr Blümchenkleid glatt wie Geschäftsreisende ihre Krawatten und richtete sich kerzengerade auf, wie es viele Männer taten, die auf einen Geschäftsfreund stoßen würden, der mit Würde beeindruckt werden sollte. Dann marschierte sie so energisch Richtung Ausgang, als werde sie bei einem Vorstandsmeeting erwartet. Ihre dunklen Locken wippten erwartungsvoll, ihre Augen sprühten.

Die Türen öffneten sich automatisch, wie ein schwerer Vorhang, und Carlotta Capella hatte ihren Auftritt auf der Bühne der Ankunftshalle, den sie wie immer genoss. Sie hatte ihre Enkelin noch gar nicht in der Menge ausgemacht, als sich jemand in ihre Arme warf. »Nonna!« Carolins komplizierte Frisur, die nur minimale Gefühlsaufwallungen vertrug, schien ihr ausnahmsweise egal zu sein.

Carlotta war fassungslos. Dies war einer der ersten emotionalen Ausbrüche, die sie bei ihrer Enkelin erlebte, die sie sonst mit einem Händedruck und einem lapidaren »Moin!« zu begrüßen pflegte. Hatte Carolins achtzehnter Geburtstag etwa bewirkt, dass auch ihr Temperament volljährig und damit stark und selbstbewusst geworden war?

»Congratulazioni, Amore!«, rief Mamma Carlotta so laut, dass sich Carolin prompt von ihr löste und verlegen umsah. Ihre Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Einige Umstehende waren auf sie aufmerksam geworden und sahen aus, als wollten sie in die Hochrufe ihrer Oma einstimmen oder »Happy Birthday« singen.

Hastig griff sie nach Mamma Carlottas Arm. »Schon gut, Nonna! Komm! Lass uns gehen!«

Aber so leicht kam sie ihrer Großmutter nicht davon. »Achtzehn Jahre! Dio mio! Dabei kommt es mir vor wie gestern, als deine Mama zum ersten Mal mit dir nach Italien kam. Drei Monate warst du alt. Und so niedlich! Eine Nase wie ein Druckknopf und so helle Haare, wie sie in Panidomino niemand hat.«

»Ruhig, Nonna! Lass uns gehen!« Carolin griff fester zu und versuchte, ihre Oma aus der Masse der Wartenden herauszudirigieren. Mit der anderen Hand bemühte sie sich, die aufwendig gedrehten Haarspiralen zu richten, die bei der Begrüßung ihrer Großmutter ihr Gesicht freigelegt hatten. Schon bald hingen sie wieder vor ihren Augen, sodass die dick getuschten Wimpern regelmäßig mit ihnen kollidierten.

»Ma no! Nicht so eilig.« Carlotta löste sich aus Carolins Griff, stellte den Koffer ab und zupfte an ihrem Kleid herum, bis es nicht mehr an ihren Schenkeln klebte. »Wo ist dein Vater? Und Felice? Ah, naturalmente! Felice muss zur Schule. Aber Enrico?«

Nun fiel der Wunsch, sich unauffällig zu verdrücken, von Carolin ab. Sie schien schlagartig vergessen zu haben, wie unangenehm es ihr war, wenn die Nonna mit ihrer lauten Stimme und ihren überschäumenden Gesten für Aufsehen sorgte. Ihr blasses Gesicht rötete sich, in ihre Augen trat ein verschmitzter Ausdruck. Mamma Carlotta sah die Aufregung in der Miene ihrer Enkelin, ein Zustand, in dem sich eine Italienerin wie ein Kreisel gedreht, mit beiden Armen gestikuliert und so viele Worte herausgesprudelt hätte, dass man sie unmöglich verstehen konnte. All das kam für Carolin, die so friesisch wie ihr Vater war, natürlich nicht infrage. Aber ihr Mund und ihre Augen lächelten, sie schob die Unterlippe vor, pustete ihr Blickfeld frei und griff sich mit so theatralischer Geste in die hochtoupierten Haare, dass Mamma Carlotta alarmiert war.

Carolin schob das kunstvolle Gebilde, das sie sich jeden Morgen auf den Kopf türmte, ein paar weitere Millimeter höher, sodass eindeutig das Maximale sowohl ihrer Frisur als auch ihrer Gefühlsaufwallung erreicht war. »Ich bin allein nach Hamburg gekommen.« Nun zitterte ihre Stimme sogar, als könne sie es nicht abwarten, ihrer Nonna eine Neuigkeit zu verkünden, die aus Felix längst herausgeplatzt wäre.

»Mit dem Zug?« Mamma Carlotta starrte ihre Enkelin an, und mit einem Mal begriff sie. Aber um nichts auf der Welt hätte sie die Pointe verdorben, mit der ihre Enkelin so lange hinterm Berg hielt. »Wie lange dauert die Zugfahrt? Dio mio! Hatte Enrico keine Zeit? Ein neuer Fall? Schon wieder ein Mord? Madonna! Wie kommen wir überhaupt zum Bahnhof?«

Carolin machte keinen Versuch, den Redeschwall ihrer Großmutter zu unterbrechen. Sie wartete geduldig, bis die Worte weniger wurden, und sagte dann mit ihrer leisen Stimme: »Ich zeige dir, wie.« Dann nahm sie den Koffer ihrer Großmutter und ging ihr voran ...

Erik sah zum hundertsten Mal auf die Uhr und dann zum Telefon, als wollte er es zum Klingeln zwingen. Seufzend lehnte er sich zurück, streckte die Beine von sich, dehnte sich und stellte verärgert fest, dass sein Bauch dadurch nicht flacher wurde. Seufzend starrte er zur Decke seines Büros. Er konnte sich einfach nicht auf die Arbeit konzentrieren, solange er nicht wusste, ob Carolin und seine Schwiegermutter gut auf Sylt angekommen waren. Wann riefen sie endlich an?

Er stand auf, ging zum Fenster und blickte auf die Keitumer Landstraße. Die Hochsaison hatte noch nicht begonnen, aber die Autos stauten sich bereits vor der Ampel, die den Verkehrsstrom zum Bahnhof regelte. Während Erik sich nachdenklich den Schnauzer glattstrich, sah er in den Himmel und folgte dem Flug einer Möwe. Ärgerlich runzelte er die Stirn, als ein ungeduldiger Autofahrer hupte.

Sylt war im Mai besonders schön. Das fanden auch die Touristen, die bereits in Scharen auf die Insel kamen, so früh im Jahr oft nur für einen Kurzurlaub, von dem sie aber keine Stunde verschwenden, jede Minute ausnutzen wollten und deswegen auch kurze Wege mit einem schweren Wagen fuhren, sodass sich regelmäßig eine Fahrzeugschlange träge und stockend durch Westerland wand.

Er drehte sich um, als die Tür seines Büros geöffnet wurde. Sören Kretschmer trat ein, ein junger Kommissar von Ende zwanzig, mit einem runden Gesicht, roten Wangen und schütteren blonden Haaren. Er grinste, als er die besorgte Miene seines Chefs sah. »Es wird schon alles gut gehen«, tröstete er.

»Ich weiß.« Erik verkniff sich nur knapp die Frage, was Sören eigentlich meinte. Das wäre dann wohl der Heuchelei zu viel gewesen. »Natürlich wird alles gut gehen. Im Übrigen habe ich gar nicht an Carolin gedacht.« Er blickte über das Grinsen seines Assistenten hinweg, der die Lüge offenbar durchschaut hatte. »Ich habe nur gerade überlegt, wie wir mit dem Anruf umgehen, der in den frühen Morgenstunden kam.«

Sören hielt ein Blatt in die Höhe. »Darüber wollte ich auch gerade mit Ihnen reden. Es sind noch zwei weitere Anzeigen eingegangen. An der Sache scheint was dran zu sein.«

Erik steckte die Hände in die Hosentaschen und dehnte sie, bis die Nähte knirschten. »Illegale Autorennen auf Sylt? Was wird eigentlich noch alles kommen?«

Sören zuckte mit den Schultern. »Erst dachte ich ja auch, da hätten nur ein paar Verrückte mal tüchtig aufs Gas gedrückt, aber was der eine Anrufer Rudi erzählt hat, hörte sich wirklich nach einem Straßenrennen an. Kein spontanes, sondern ein genau geplantes. Gut organisiert. Da versammelt sich eine Gruppe mit ihren Autos auf dem Parkplatz von Buhne 16, immer erst weit nach Mitternacht, wenn auf den Straßen nur noch wenig los ist. Wer den besten Start hat, kommt als Erster durch die Ausfahrt auf die Straße. Und dann geht’s richtig los! Auf beiden Fahrspuren! Wenn denen mal ein Fahrzeug entgegenkommt ...«

»Was sind das für Idioten?«, schimpfte Erik. »Hoffentlich bringen sie sich wenigstens selbst damit um und keine unbeteiligten Autofahrer.«

»Bevor das passiert, müssen wir sie uns schnappen.« Sören setzte sich auf Eriks Schreibtisch und stellte die Füße auf den Bürostuhl.

Erik verzichtete darauf, ihn zu maßregeln. Er lehnte sich an die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie meinen, wir sollen uns auf die Lauer legen und sie beobachten?«

Sören nickte. »Vielleicht haben wir Glück, und sie machen es in der kommenden Nacht wieder. Wenn nicht, müssen wir eben so lange die Nächte dort verbringen, bis wir sie erwischen.«

Erik seufzte. Diese Aussicht behagte ihm ganz und gar nicht. »Eigentlich gehe ich gern gegen elf schlafen. Rudi Engdahl und Enno Mierendorf müssen mitmachen. Noch besser, wir holen uns ein paar Leute von der Bereitschaft.«

»Okay, machen wir. Aber erst mal gucken wir selbst, wie das läuft.« Sören schien von Abenteuerlust gepackt zu werden. »Heute wird das natürlich nichts. Ich weiß ja, Carolins achtzehnter Geburtstag, aber ...«

»Die Party findet erst am Wochenende statt. Heute feiern wir nur im Kreis der Familie.« Ein Lächeln flog über Eriks Gesicht, das aus einer seltsamen Mischung aus Vorfreude und Unlust entstanden war. »Meine Schwiegermutter hat Carolin am Telefon eine lange Einkaufsliste diktiert. Heute Nachmittag wird bei uns gekocht und gebraten.«

Sören nahm die Füße vom Stuhl und stand auf. »Dann werde ich versuchen, mich wach zu halten. Und Sie rufen mich an, wenn alles aufgegessen ist und die Wein- und Grappaflaschen leer sind. Was halten Sie davon, Chef? Wir sollten sowieso mit dem Fahrrad zum Parkplatz fahren. Ein Auto würde auffallen. Sie können also beim Rotwein zuschlagen wie gewohnt. Einverstanden?«

Erik stieß sich von der Fensterbank ab und ging zu seinem Schreibtisch. »Ich soll Sie anrufen? Sie sind natürlich ebenfalls eingeladen, Sören. Für meine Schwiegermutter gehören Sie zur Familie. Sie wäre tödlich beleidigt, wenn Sie ausgerechnet heute am Tisch fehlten.« Er stutzte und runzelte die Stirn. »Oder haben Sie schon was vor?«

Sörens Wangen färbten sich noch dunkler, sein Gesicht sah aus wie ein überreifer Apfel. Erik kam prompt der Verdacht, dass er sich den Abend freigehalten, seinen Sportsfreunden abgesagt oder eine andere Einladung abgelehnt hatte. Er lächelte, als Sören stotterte: »Nein, das nicht, aber ich dachte ...«

Erik ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Sie wissen doch, meiner Schwiegermutter macht das Kochen noch mehr Spaß, wenn viele Gäste am Tisch sitzen.«

»Wird Ihre ... wird Frau Gysbrecht auch da sein?« Sören fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, ohne zu merken, dass sie nun über den Ohren abstanden wie der Flaum bei einem Gänseküken. Anscheinend fiel es ihm schwer, Svea Gysbrecht als die neue Freundin seines Chefs zu bezeichnen.

Erik half ihm. »Klar, meine Freundin wird auch da sein. Und ihre Tochter natürlich ebenfalls.«

Nun war es endlich einmal ausgesprochen worden. Seine neue Freundin! Sören kannte sie kaum, wohl aber Ida, ihre Tochter, die im März bei Erik gewohnt hatte, weil ihre Mutter beruflich in New York zu tun gehabt hatte. »Weiß Ihre Schwiegermutter davon?«

Erik wiegte den Kopf, was ein Nicken bedeuten, aber auch das Abwägen zwischen zwei Unannehmlichkeiten ausdrücken konnte. »Sie hat sich noch nicht damit abgefunden, dass es aus ist zwischen Wiebke und mir. Sie hat ja bis zum Schluss versucht, uns wieder zusammenzubringen.«

Auch Sören wirkte mit einem Mal so, als würde er von Angst und Sorge bedrängt. »Weiß sie auch, was es mit ... mit Frau Gysbrecht ... ich meine, kennt sie schon deren ...«

Erik unterbrach sein Stottern. »Nein, davon hat sie keine Ahnung. Ich wusste nicht, wie ich es ihr beibringen sollte.«

Beide schwiegen sie nun, Erik starrte auf seine Schreibtischplatte, Sören auf den Wandkalender, der jeden Monat eine andere der großen Sturmfluten des letzten Jahrhunderts zeigte.

Schließlich sagte Erik leise: »Schlimm genug, dass sie sich mit einer neuen Frau an meiner Seite abfinden muss. Wenn sie dann auch noch erfährt ...« Nun gab er sich einen Ruck und stellte sich seiner Feigherzigkeit. »Ich dachte, es ist am besten, sie mit der Tatsache zu überrumpeln. Höflichkeit geht ihr über alles. Sie wird sich nichts anmerken lassen.« Und nach einem weiteren langen Augenblick des Schweigens ergänzte er: »Hoffentlich ...«

Wie immer, wenn er sich Sorgen machte, wurde sein kantiges Gesicht grimmig, seine Augenbrauen schienen dichter zu werden, und sein Schnauzer wirkte streng. Sogar sein Körperbau wurde dann noch breiter, als er sowieso war, noch derber und unbeweglicher. Erst wenn er lächelte, wurden seine Augen wieder groß und hell, die Brauen hoben sich, der Schnauzer wurde zu einer harmlosen Linie. Wenn er aber lachte, wirkte er manchmal wie ein Fremder sogar auf diejenigen, denen er vertraut war. Doch Erik Wolf lachte selten laut heraus. Wenn es geschah, kam er sich selbst fremd vor.

Dass Enrico das erlaubt hat!« Mamma Carlotta hatte es mindestens schon ein Dutzend Mal herausgestöhnt.

»Hör auf, Nonna! Sonst werde ich ganz nervös.« Mit konzentrierter Miene drehte Carolin den Schlüssel und atmete auf, als der Motor ansprang. Sie strich sogar die Haarspiralen hinter die Ohren, damit sie ihr Gesichtsfeld nicht einschränkten. Carlotta war erstaunt: Sie versuchte das vor jedem Schulbesuch, um ihrer Enkelin ausreichend Durchblick zu verschaffen, was ihr jedoch jedes Mal sehr übel genommen wurde. »Ich habe gestern die Prüfung bestanden und gleich heute Morgen den Führerschein abgeholt. Ich kann fahren. Sonst hätte ich nicht bestanden.«

Ihre Großmutter biss sich auf die Lippen und zwang sich, alle Sorgen und Ängste, die sie überfielen, ungesagt zu lassen. Sie schaffte es sogar, zu dem Schutzheiligen ihres Dorfes zu beten, ohne ein einziges Wort von sich zu geben.

Carolin hatte es abgelehnt, sich von ihr aus der Parklücke dirigieren zu lassen, von ihr verlangt, auf dem Beifahrersitz hocken zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. »Du verwechselst immer rechts und links, schon vergessen? Und wenn du schreist, denke ich, mir ist ein Kind unter die Räder geraten. Weißt du noch, wie du Papa einmal in Panidomino beim Einparken geholfen hast? Am Ende gab es zwei zerkratzte Autos, und wir hatten die Polizei am Hals.«

Mamma Carlotta machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das war ja nur Leopoldo. Mit dem bin ich zur Schule gegangen. Der hat den beiden anderen erklärt, dass sie selbst schuld seien, wenn sie ihre Autos so schief abstellen. Leopoldo kann reden, bis man ihm alles glaubt. Das hat damals auch geklappt.« Sie zupfte mit fahrigen Fingern am Ausschnitt ihres Blümchenkleides herum, das sie sich vor einigen Jahren für ihre erste Reise nach Sylt gekauft hatte. »Aber wir sind nicht in Italien, sondern in Hamburg. Wir kennen hier niemanden, den wir mit einer Flasche Grappa bestechen können.«

Carolin bat ihre Großmutter noch einmal, den Mund zu halten, umklammerte das Lenkrad und bewegte den Wagen zentimeterweise rückwärts. Ihr Blick hetzte zwischen den beiden Außenspiegeln und dem Rückspiegel hin und her. Sie schien die Luft anzuhalten und atmete erst aus, als die Gefahr gebannt war, der alte Ford könne sich mit einem der beiden Neuwagen anlegen, zwischen denen er geparkt worden war. Und als kurz darauf die Motorhaube in die richtige Richtung zeigte, wagte Mamma Carlotta ein Lob, wenn auch mit zitternder Stimme: »Grande, Carolina! Du bist eine großartige Autofahrerin. Bravissima!«

Carolin entspannte sich prompt und bewegte den Wagen ohne Zwischenfälle zur Ausfahrt, so langsam, wie ihr Vater auch heute noch fuhr, und sie reagierte mit demselben stoischen Gleichmut, als jemand sie mit aggressiven Handzeichen und dichtem Auffahren zu einer zügigeren Fahrweise nötigen wollte. Vor der Schranke gab es einen kleinen Disput, wer das Ticket an sich genommen hatte, warum Carlotta es in Händen hielt und warum sie es derart zerknüllt hatte, dass es kaum noch in den Schlitz passte. Aber die Schranke öffnete sich schließlich, und Carolin gab Gas, weil sie Angst hatte, sie könne sich schließen, bevor das Auto ihrem Wirkungskreis entkommen war.

Danach war es mit dem Optimismus vorbei. Jammernd und klagend begab sie sich in das Gewirr von Ein- und Ausfahrten, Abzweigungen, Über- und Unterführungen, an Hinweisschildern vorbei oder ihnen nach, von ihrer Großmutter angefeuert, die Nerven zu bewahren und auf keinen Fall zu verzweifeln oder gar zu bremsen und umzukehren.

»Ich weiß nicht, in welche Richtung wir müssen! Auf dem Hinweg sah alles ganz anders aus!«

»Fahr den anderen hinterher, das wird schon richtig sein.«

Dieser Rat erwies sich als vernünftig. Carolin folgte dem Verkehrsstrom, wenn auch so zaghaft, dass sie immer wieder durch aggressives Hupen verunsichert wurde. Ihre Großmutter legte sich dann jedes Mal mit dem Verkehrsgegner an und zeigte ihm durch unmissverständliche Gesten, was sie von seiner rüden Fahrweise hielt, doch es erfüllte nicht den Zweck, den Mamma Carlotta verfolgte. Carolin gewann keineswegs an Sicherheit, wenn ihre Nonna die Seitenscheibe herunterdrehte und »Pirata della strada!« oder »Teppista!« hinausschimpfte, sondern wurde noch unsicherer, drosselte das Tempo weiter, blieb aber bei dem Vorsatz, den Weg zu nehmen, den die meisten anderen ebenfalls einschlugen. So gelangten sie tatsächlich auf eine Straße, die gen Norden wies, und als Carolin die Nummer 433 auf einem Verkehrsschild entdeckte, entspannte sie sich merklich. Die Haare fielen ihr wieder über die Augen, sie krümmte sich nicht mehr über das Lenkrad, als wolle sie der Gefahr besonders nahe sein, ihr fiel wieder ein, dass auch der Fahrersitz eine Rückenlehne besaß. Der Hinweis zur A7 entlockte ihr sogar ein kleines Lächeln. »Alles richtig, Nonna!«

Der Verkehr wurde schwächer, und Mamma Carlotta schaffte es, den Blick von all den Gefahren zu nehmen, die einer Fahranfängerin drohten – von Lastwagen, die die Sicht versperrten, überholenden Fahrzeugen, die in den toten Winkel geraten, und Hinweisschildern, die Carolin entgehen konnten.

»Carolina, du machst das ganz wunderbar! Meraviglioso!«

Diesen Satz konnte Carolin nicht oft genug hören und kam anscheinend gar nicht auf die Idee, dass sich ihre Nonna damit vor allem selbst Mut zusprach. Sie fuhr auf der Autobahn sogar einigermaßen zügig und schaffte es auch manchmal, der Landschaft zuzulächeln, den Schafen, den Windrädern, den weiten Wiesen, dem Horizont. Und sie brachte es fertig, der Erzählung zu lauschen, die sie an jedem Geburtstag von ihrer Großmutter zu hören bekam.

»Dein Nonno war ja damals schon so krank. Ich musste bei ihm bleiben und konnte nicht nach Sylt kommen, um deiner Mama vor und nach deiner Geburt beizustehen. Madonna, das war nicht leicht für mich! Aber dann haben Lucia und Enrico dich endlich nach Italien gebracht. Was war das für eine Freude!«

Das unbeschwerte Gefühl, das sich während Mamma Carlottas Plauderei eingestellt hatte, verschwand allerdings wieder, als sie der Verladestation näher kamen. Nun galt es, besonders genau auf die Verkehrsschilder zu achten und den Kreisverkehr genau dort zu verlassen, wo es zum Autozug Richtung Sylt ging. Mamma Carlotta fand das nicht leicht, aber Carolin erwischte auf Anhieb den richtigen Weg. Und die Schranke bewältigte sie ebenfalls ohne Schwierigkeiten, sie hatte eben oft genug auf dem Beifahrersitz gesessen. Nur das Auffahren auf den Autozug versetzte offenbar nicht nur Mamma Carlotta einen Adrenalinstoß. Carolin wollte partout nicht so weit auf ihren Vordermann auffahren, wie es der Ordner verlangte, der von Wagen zu Wagen ging und dafür sorgte, dass kein Platz vergeudet wurde. Nur nach gutem Zureden und schließlich einer Drohung – »Wenn Sie nicht sofort zehn Zentimeter vorfahren, mache ich Ihnen Beine!« – riskierte sie es. Und während der Fahrt über den Hindenburgdamm saß sie da, als hätte sie soeben einen Sieg errungen. Sie richtete den Blick aufs Watt wie die Queen auf ihre Untertanen und legte den linken Arm mit einer Grandezza aufs Lenkrad, als posierte sie für ein Foto, das eine versierte Porschefahrerin zeigen sollte. Keine Frage, sie war stolz auf ihre Leistung, und ihre Nonna bestärkte sie darin, indem sie unermüdlich versicherte, dass sie selbst niemals eine solche Meisterleistung vollbracht hätte.

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, entstand noch einmal Nervosität, als Carolin beim ersten Versuch zu starten den Motor abwürgte. »Mist! Das ist mir auf dem Hinweg auch schon passiert!« Aber schließlich fuhren sie durch Westerland, als sei das Automobil gerade neu erfunden worden, ließen die Seitenscheiben herunter und die Ellbogen hinausschauen. Carolin drehte das Radio auf, sodass Justin Bibers Frage »What do you mean?« von allen Fußgängern vernommen werden konnte.

Kurz darauf fiel ihr ein, dass sie am Vormittag zwar alles eingekauft hatte, womit sie telefonisch von ihrer Oma beauftragt worden war, frisches Brot allerdings hatte sie noch nicht besorgt. »Wir fahren bei Feinkost Meyer vorbei.«

Mamma Carlotta gab zu bedenken, dass der Parkplatz davor immer sehr voll war, dass sich die Autos drängten und die Kunden sich zwischen ihnen hindurchschoben, aber Carolin hatte an diesem denkwürdigen Tag schon so viele Kilometer zurückgelegt und Schwierigkeiten gemeistert, dass sie nichts mehr schreckte. »Notfalls stelle ich den Wagen hinter dem Geschäft ab, da ist immer Platz. Vielleicht parke ich sogar rückwärts ein.«

Dieser heroische Entschluss fiel in sich zusammen, als Carolin auf den Parkplatz eingebogen war. Eine große, dicke Frau mit kinnlangen schwarzen Haaren, in einem hellen Mantel und mit einer Einkaufstasche am Arm drängte sich durch die parkenden Autos. Carolin, die sich auf ein anderes Fahrzeug konzentrierte, fuhr an, als es endlich eingeparkt hatte ... und übersah dabei die große, dicke Frau. Mamma Carlotta stieß einen Schrei aus, Carolin trat auf die Bremse, die Frau fuhr herum, erstarrte vor Angst und war unfähig, einen Schritt zur Seite zu machen, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und kippte dann langsam, wie in Zeitlupe, zur Seite, als der linke Kotflügel von Eriks altem Ford sie berührte. Es war nur ein leichter Stoß, aber zusammen mit dem Schreck reichte er, die Frau zu Fall zu bringen.

Carolin würgte den Motor erneut ab, riss die Fahrertür auf und eilte zu der Frau, die sich gerade mithilfe von zwei Passanten erhob. Mamma Carlotta stand im selben Augenblick neben ihr und griff nach ihrem Arm. »Sind Sie verletzt?«

Die Frau schüttelte benommen den Kopf und wischte sich den hellen Mantel ab. Mit einer barschen Bewegung wehrte sie die Hände der beiden Passanten ab, die ihr geholfen hatten. »Schon gut. Ist ja nichts passiert.«

»Es tut mir so leid«, begann Carolin zu schluchzen. »Ich habe Sie zu spät gesehen.«

Der Ärger verschwand aus dem Gesicht der Frau. »Das war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst.« Sie rieb noch immer an einem Fleck herum, den ihr heller Mantel abbekommen hatte.

»Mein Fahrlehrer hat gesagt ...«, begann Carolin.

Aber die Frau ließ sie nicht zu Ende reden. »Sie haben gerade erst Ihren Führerschein gemacht? Oje. Aber wie gesagt ... es ist wirklich nicht schlimm.«

»Lassen Sie uns wenigstens für die Kosten der Reinigung aufkommen«, bat Mamma Carlotta. »Das ist das Mindeste.«

»Und wir sollten Namen und Adressen austauschen«, fuhr Carolin fort. »Falls es Spätfolgen gibt. Man kann nie wissen ...«

»Hat das auch Ihr Fahrlehrer gesagt?«

Carolin nickte. »Ich will nichts falsch machen.«

Die Frau lächelte. »Der Mantel muss sowieso in die Reinigung, der hat schon gestern was abbekommen. Und mir ist nichts passiert. Also keine überflüssigen Formalitäten, so was ist nur lästig.« Sie lächelte Carolin und Mamma Carlotta freundlich an und schritt dann zügig auf den Eingang von Feinkost Meyer zu.

Carolin starrte der Frau hinterher, als hätte ihr eine Fee drei freie Wünsche offeriert. »Die ist aber nett!«

Trotz dieser positiven Erfahrung war sie jedoch nicht mehr bereit, einen Parkplatz zu suchen, vom Rückwärtseinparken ganz zu schweigen. Sie beschloss, nach Hause zu fahren und dort den Wagen sicher vor der Haustür zu parken. »Ich gehe dann zu Fuß zu Feinkost Meyer.«

Und Mamma Carlotta lobte sie für ihre Vernunft.

Das Telefon klingelte, und Erik lehnte sich lächelnd zurück, als er Sveas Stimme erkannte. Er sah ihr schmales, blasses Gesicht vor sich, die grauen Augen, die glatt zurückgekämmten blonden Haare, die große schlanke Figur. »Ich wollte dir nur schnell sagen, Erik ...« Mal wieder war sie in Eile, irgendein Termin drängte, eine Verabredung wartete, ein Telefongespräch war unaufschiebbar. »Kann sein, dass ich heute Abend nicht kommen kann. Du weißt ja ...« Oft führte sie ihre Sätze vor lauter Eile nicht zu Ende, sondern ließ Erik raten, was sie ihm sagen wollte.

»Deine Arbeit oder deine Mutter?«

»Das Altersheim hat angerufen.«

Erik erschrak. »Hat sich ihr Zustand verschlechtert?«

»Scheint so.« Sveas Stimme klang bedrückt. »Ich habe Angst, dass ...«

Im Hintergrund hörte Erik ein weiteres Telefon schellen, er rechnete damit, dass Svea das Gespräch beenden wollte. Doch sie ließ es läuten, sprach jetzt allerdings noch schneller.

»Vielleicht kann ich später dazustoßen. Ich hoffe, deine Schwiegermutter nimmt es mir nicht übel, wenn ich ... Und noch was, Erik ... Moment, das hier ist wichtig ...«

Svea unterbrach das Telefonat, sprach mit einer Person, deren Stimme nur schwach durchs Telefon drang, während Erik geduldig wartete.

Als Svea sich auf Sylt als Innenarchitektin selbstständig gemacht hatte, war es ihr darum gegangen, sich nicht mehr von einem Acht-Stunden-Tag bestimmen zu lassen und ihr Leben flexibler gestalten zu können. Sie wollte mehr Zeit für ihre Tochter haben und auch für ihre Mutter, die im Westerländer Altenheim lebte. Aber dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt, die Unabhängigkeit von einem Arbeitgeber war zur Abhängigkeit von der Auftragslage geworden. Sie musste ständig akquirieren, um genug Aufträge zu erhalten, wagte es nicht, Mitarbeiter einzustellen, weil sie Angst vor den zusätzlichen Kosten hatte, konnte die freie Zeit nicht genießen, wenn kein Auftrag in Sicht war, weil sie dann von Sorgen zerfressen wurde, und musste auf Freizeit verzichten, wenn sie mehrere Aufträge gleichzeitig bekam und nicht wusste, wie sie alles bewältigen sollte.

»Hier bin ich wieder«, kam ihre Stimme zu Erik zurück. »Was wollte ich dir noch sagen?«

Erik antwortete nicht, sondern wartete, bis es ihr selbst einfiel.

»Ach ja ... morgen kommt ein gewisser Ronni zu dir. Nur dass du Bescheid weißt.«

»Der Anstreicher?«

»Ja, er kann mit deinem Schlafzimmer anfangen. Er ist ... wie soll ich sagen ... also, ich hoffe, deine Schwiegermutter kann ihm ein bisschen auf die Finger schauen.«

Mit diesem Anstreicher hatte es offenbar etwas Besonderes auf sich. »Was ist das für ein Mann?«

»Ida hat ihn angeschleppt. Ich weiß nicht, wo sie ihn kennengelernt hat ... jedenfalls braucht er dringend Arbeit. Ida hat mich überredet, ihn demnächst öfter für mich arbeiten zu lassen. Bei dir kann er zeigen, was er draufhat.«

»Ida?« Erik war nun alarmiert. Wenn Sveas Tochter jemanden unter ihre Fittiche nahm, dann hatte das meistens gute Gründe. Im Allgemeinen handelte es sich um einen Menschen, der aus gutem Grunde ihre Unterstützung suchte. Dann schaffte er es anscheinend nicht, sich allein auf dem Arbeitsmarkt etwas Passendes zu suchen.

»Vorbestraft? Alkohol- oder drogenabhängig?«

Während Ida im Hause Wolf gelebt hatte, war es Erik nur mit Mühe gelungen, einen Hund, zwei Goldhamster und einen Wellensittich abzuweisen, die Ida irgendwo entdeckt hatte und vor dem Verhungern retten wollte. Auch zwei junge Männer, die angeblich dringend Obdach brauchten, hatte er nur im allerletzten Moment von seiner Schwelle weisen können. Bei der Katze, die Ida neben einem Müllcontainer entdeckt hatte, war er leider nicht schnell genug gewesen. Kükeltje wohnte schon seit zwei Wochen in seinem Haus, ohne dass er es bemerkt hatte, und als es ihm endlich aufging, war es zu spät gewesen, sie ins Tierheim zu bringen. Er hätte sich seine ganze Familie zum Feind gemacht.

Es beunruhigte ihn, dass Svea zögerte. »Ja, vorbestraft. Aber nur Ladendiebstahl. Ida sagt, der Junge sei total in Ordnung. Pass einfach auf, dass nichts Wertvolles herumliegt.«

»Das sind ja schöne Aussichten.« Erik wollte gerade fragen, ob er demnächst sein Portemonnaie einschließen müsse, wenn er nach Hause kam, seine Armbanduhr nicht ablegen dürfe und sein Handy immer am Körper tragen müsse, damit es nicht wegkam – aber da begann im Hintergrund schon wieder ein Telefon zu läuten. Und diesmal hielt Svea den Anruf für so wichtig, dass sie ihn annehmen musste. »Ich melde mich, wenn ich weiß, wann ich heute Abend kommen kann. Und ob überhaupt ...«

Das Gespräch brach ab, Erik legte den Hörer kopfschüttelnd zurück. Das konnte ja heiter werden! Andererseits spürte er auch eine gewisse Erleichterung, dass Svea beim Abendessen vielleicht nicht dabei sein würde. Das Damoklesschwert hing zwar weiterhin über ihm, dennoch war er froh, dass Carolins achtzehnter Geburtstag ohne Störungen im Familienkreis gefeiert werden konnte, solange seine Schwiegermutter nicht wusste, was es mit Svea auf sich hatte ...

Madonna!« Mamma Carlotta war sofort alarmiert gewesen, als ihr beim Eintreten der Farbgeruch auffiel. Nun stand sie in der Wohnzimmertür und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Was ist denn hier los?«

Carolin warf einen gleichmütigen Blick über die Schulter ihrer Nonna. »Wir renovieren. Genau der richtige Moment! Übermorgen kann hier die Party steigen. Eine Theke, die Musikanlage, basta! So passen locker dreißig Leute mehr rein. Und die Gläser können wir an die Wand werfen, wenn wir Lust haben. Die wird ja sowieso gestrichen.«

»Carolina!« Mamma Carlotta war entrüstet. »So etwas würdet ihr tun?«

Carolin grinste. »Ich sage ja, wenn wir Lust haben. Wahrscheinlich haben wir keine.«

»Mussten denn alle Möbel herausgestellt werden? Wo sind sie überhaupt, der Schrank, der Tisch, die Polstergarnitur?«

»Weg!«, kam es von der Tür. Felix hatte unbemerkt das Haus betreten, warf nun seinen Rucksack in die Ecke und sich selbst in die Arme seiner Nonna. Sosehr er bei anderen Gelegenheiten auf Coolness achtete, wenn es um seine Großmutter ging, war er noch immer der kleine Junge, der sich über den Besuch seiner Nonna freute. Er ließ sich an ihr Herz drücken, das Gesicht mit Küssen bedecken und wehrte auch nicht ab, als sie zärtlich ihre Nase an seiner rieb, während Carolin danebenstand und die beiden mit unverhohlenem Widerwillen beobachtete. »Bei uns wird jetzt alles schick und modern«, rief Felix lachend, während er seinen Pferdeschwanz im Nacken richtete, der die Begrüßung seiner Oma nicht überstanden hatte. »Designermöbel!«

Mamma Carlotta hätte sich jetzt gern in den weichen Sessel fallen lassen, in dem sie bisher die Siesta verbracht hatte, wenn sie auf Sylt zu Besuch war. Aber da er nicht mehr vorhanden war, konnte sie sich nur ans Herz fassen und Halt in der Türöffnung suchen. »Alles neu? Ma ... perché? Warum?«

»Weil Papa jetzt mit einer Innenarchitektin zusammen ist«, antwortete Felix.

»Die Schlafzimmermöbel hat sie auch rausgeschmissen«, ergänzte Carolin. »Da oben steht nur noch eine Liege, auf der Papa schläft, bis das neue Bett geliefert wird.«

»Aber in mein Zimmer habe ich sie nicht reingelassen«, stellte Felix klar. »Da bleibt alles, wie es ist.«

»Bei mir auch«, betonte Carolin.

Mamma Carlotta drehte sich um und machte einen zaghaften Schritt auf die Küchentür zu. »Und dort?«

»... ist alles noch beim Alten.« Felix ging an ihr vorbei und riss grinsend die Tür auf. »Ecco! Du kannst sofort damit anfangen, uns die Reste von gestern Abend aufzuwärmen.«

Erleichtert folgte Mamma Carlotta ihm und betrachtete mit einem ganz neuen Gefühl für die Kostbarkeit der Dinge, die ihren Wert behielten, die Küchenschränke, die ihre Tochter mit viel Liebe ausgesucht hatte, den Tisch, den sie bei einem Schreiner in Panidomino hatte anfertigen und nach Sylt bringen lassen, und die typisch friesischen Stühle mit den aus Binsen geflochtenen Sitzflächen, die Erik so mochte und Lucia vom ersten Augenblick an gefallen hatten.

Mamma Carlotta holte eine Tischdecke aus der Schublade, die mit blau-weißen Windmühlen und Segelschiffen bedruckt war, wie man sie in friesischen Häusern häufig sah. Felix öffnete eine andere Schublade. »Tischsets aus Filz«, erklärte er, schob die Lade aber gleich wieder zu. »Demnächst wird es hier nur Accessoires in Grau und Türkis geben. Papas neue Freundin findet unsere Ausstattung megaspießig.«

»In meiner Küche?« Mamma Carlotta starrte ihn entsetzt an, dann korrigierte sie: »In der Küche eurer Mama?«

Felix wich aus: »Papa hat ihr gleich gesagt, die Küche muss erst mal so bleiben, wie sie ist. Jedenfalls, bis du wieder in Italien bist.«

»Erst mal?«, wiederholte Mamma Carlotta erschrocken. »Und wenn ich wieder weg bin, dann ...« Sie schaffte es nicht, den Satz zu beenden, betrachtete stumm jedes einzelne Teil der Einrichtung und stellte sich vor, wie diese Küche aussehen würde, wenn sie das nächste Mal zu Besuch kam. Aber ihre Vorstellungskraft versagte. Sie hatte in Katalogen schon Küchen gesehen, die aussahen wie ein Raumfahrtzentrum, mit technischen Raffinessen, die kein Mensch brauchte. Würde es demnächst hier auch so seelenlos und steril aussehen?

Carolin unterbrach ihre düsteren Zukunftsvisionen, indem sie das Fenster öffnete und die schwarze Katze hereinholte, die davor hockte. »Schau! Kükeltje will dich begrüßen.«

Kurz fragte sich Mamma Carlotta, wie die Katze demnächst über hochglänzenden Marmor oder blank polierten Edelstahl in die Küche gelangen sollte. Womöglich würde es bald auch keine Blumenkästen mehr vor den Fenstern geben, in die sie springen konnte, weil die auch megaspießig waren?

Sie wischte die Sorge weg, die nach ihr greifen wollte, und hob das schwarze Kätzchen auf ihre Arme, das seit zwei Monaten bei der Familie Wolf wohnte. Kükeltje hatte es sich hier schnell gemütlich gemacht, sodass Erik nicht mehr an der Erkenntnis vorbeigekommen war: Eine Katze war bei ihm eingezogen, ohne dass er es bemerkt hatte, und das, obwohl er seiner Familie vorgegaukelt hatte, er sei allergisch gegen Tierhaare. Ehe er sich auf Diskussionen über den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung einließ, hatte er dann aber lieber die Katze akzeptiert. Dass er schon mehrmals dabei ertappt worden war, wie er mit Kükeltje auf dem Schoß die Fernsehnachrichten verfolgte, sprach niemand an. Zu fragil war sie noch, die Beziehung zwischen dem Hausherrn und dem Haustier, das er auf keinen Fall hatte haben wollen.

»Kükeltje!«, rief Mamma Carlotta, die nach wie vor große Schwierigkeiten mit diesem friesischen Namen hatte, und drückte das Tier an ihre Brust, das prompt zu schnurren anfing. Es schien, als könne Kükeltje sich gut an diese Brust erinnern, in der ein Herz für kleine schwarze Katzen schlug. Sie revanchierte sich, indem sie sich mit einer Engelsgeduld, die sonst nicht zu ihren Stärken gehörte, drücken, den Rücken streicheln, den Bauch kraulen und mit Koseworten überschütten ließ. Dann erst wehrte sie sich gegen die Enge der Umarmung und sprang zu Boden. Aber als Mamma Carlotta ihre Schritte in die Vorratskammer lenkte, folgte sie ihr mit aufgestelltem Schwanz. Und während die Nonna für ihre Enkel Nudeln aufbriet, die sie im Kühlschrank gefunden hatte, zwei Zucchini zerkleinerte und in Olivenöl dünstete, wich Kükeltje nicht von ihrer Seite. Mit vibrierendem Schwanz stand sie neben Mamma Carlottas Füßen, den Kopf nach oben gerichtet, und wartete auf die Dinge, die zu ihr herabfallen würden, Schinkenstücke, Käsewürfel, Nudelreste.

Während Mamma Carlotta Schinken würfelte, fragte sie die Kinder: »Habt ihr was von Wiebke gehört?«

Felix antwortete mit einer Gegenfrage: »Glaubst du etwa immer noch, dass Papa sich mit Wiebke wieder vertragen könnte? Nee, das wird nix, Nonna. Er ist jetzt mit Svea Gysbrecht zusammen. Aber er hat uns versprochen, dass sie nicht hier einziehen wird. Ida will das zum Glück auch nicht.«

»Wird Signora Gysbrecht heute Abend zum Essen kommen?«

Mit einem Mal veränderte sich etwas in den Gesichtern der Kinder. Felix fiel schlagartig ein, dass er einen Klassenkameraden anrufen musste, und Carolin wollte noch vor dem Essen eine Liste der Getränke schreiben, die sie ihren Gästen am nächsten Abend anbieten wollte. »Ich rechne fest damit, dass du uns Nudeln mit Tomatensoße machst, Nonna!«

Mamma Carlotta kam nicht einmal zum Antworten, so schnell waren Carolin und Felix aus der Küche verschwunden. Gedankenvoll starrte sie die geschlossene Tür an. Sie hatte so eine Ahnung, dass da etwas nicht stimmte. Hier schlummerte Dynamit, der jeden Augenblick zu einer Detonation führen konnte. Und irgendwie hatte das mit Eriks neuer Freundin zu tun ...

Polizeiobermeister Rudi Engdahl betrat Eriks Büro. Er war ein kleiner, drahtiger Mann, der aussah wie ein Langstreckenläufer, sich aber in Wirklichkeit ungern bewegte und die sportliche Figur lediglich seinen guten Genen verdankte. »Schon wieder ein Anruf wegen dieser nächtlichen Autorennen«, sagte er. »Diesmal leider anonym. Der Mann wollte seinen Namen partout nicht nennen.«

»Warum nicht?« Erik sah Engdahl erstaunt an.

»Angeblich hat er Angst, dass man sich dafür an ihm rächen könne.«

Erik griff sich an den Kopf. »Soll das heißen, wir haben es hier nicht mit leichtsinnigen jungen Kerlen, sondern mit organisierten Rennen zu tun?«

Rudi Engdahl nickte bedrückt. »Sieht so aus, als gäbe es einige, die daran verdienen. Der Anrufer glaubt jedenfalls mitbekommen zu haben, dass den Rennen Wetten vorausgehen. Er will gesehen haben, wie die Wettgewinne ausgezahlt wurden.«

»Er glaubt, er will, er meint?« Erik warf sich zornig auf seinen Bürostuhl. »Aber seinen Namen will er nicht nennen?«

Engdahl schüttelte den Kopf. »Er sagte, er sei ein verantwortungsbewusster Bürger, der dafür sorgen wolle, dass es mit diesen Autorennen ein Ende hat.« Diese Worte hatte er gekünstelt vorgebracht. Anscheinend imitierte er die Ausdrucksweise des unbekannten Anrufers.

Erik überwand seinen Ärger, dachte nach und strich sich dabei den Schnauzer glatt. »Abgeschlossen werden die Wetten vermutlich nicht dort, wo die Autos starten oder ins Ziel gehen. Vielleicht in einer Kneipe?«

»Wer ist denn so blöd, sich auf so was einzulassen? Wenn er dabei erwischt wird, ist er seine Konzession los.«

»Wir werden uns in den nächsten Nächten auf die Lauer legen.« Mit einer Geste gab Erik zu verstehen, dass Engdahl wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgehen dürfe.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand Erik auf und schob den Bund seiner neuen Jeans so weit wie möglich herab, damit sich sein Bauchansatz gemütlich darüber wölben konnte und ihn nicht mehr störte. Gut, dass er seine bequemen Cordhosen nicht weggeworfen hatte, wie es eigentlich Sveas Wunsch gewesen war, sondern in einen Karton gepackt und in die Waschküche geräumt hatte. Er würde sie hervorholen, wenn sie nicht da war, und es genießen, dass ihn dann nichts kniff und einengte. Natürlich hatte Svea recht, wenn sie sagte, dass seine Figur in diesen schmalen Jeans besser zur Geltung kam, aber irgendwann, wenn ihre Beziehung sich stabilisiert hatte, würde er sie fragen, warum es ihr eigentlich so wichtig war, dass seine Figur gut zur Geltung kam. Sie sollte ihn so lieben, wie er war, mit dem Bedürfnis, es bequem zu haben.

Mamma Carlotta war allein. Nicht allein im Haus, aber allein mit ihren Gedanken, ihren Fragen und ihrem Groll. Alle waren sie in Carolins Zimmer verschwunden. Dass noch frisches Brot gekauft werden musste, war völlig in Vergessenheit geraten, von Carlottas Gesprächsbedarf ganz zu schweigen. Eigentlich hatte sie ausgiebig mit den Kindern erörtern wollen, was von Svea Gysbrecht und ihren Plänen, Eriks Haus nach ihren Vorstellungen zu verändern, zu halten war. Doch kaum war das erste Mal die Türklingel gegangen und jemand erschienen, der Carolin gratulieren wollte, war Mamma Carlottas Hoffnung, es könne noch jemand an ihren Sorgen interessiert sein, versiegt. Sie würde wohl selbst zum Bäcker gehen müssen. Aber vorher wollte sie ihre Freundin Marina in Panidomino anrufen, um ihr zu erzählen, dass Erik nun tatsächlich mit Idas Mutter zusammen war, dass es wohl keine Chance mehr gab, ihn mit Wiebke zu versöhnen, und dass sich schon jetzt so manches im Haus verändert hatte, das von Lucia mit viel Liebe ausgesucht worden war. Das musste sie jetzt einfach loswerden.

Gerade wählte sie Marinas Nummer, als es erneut an der Tür klingelte. Carlotta warf den Hörer zurück und öffnete. Ida stand vor ihr, Svea Gysbrechts Tochter, das Mädchen, das Carlotta im März für eine Weile bemuttert und währenddessen ins Herz geschlossen hatte. »Cara! Che gioia! Welche Freude!«

Als sie Ida in die Arme nahm, wusste sie, dass das Telefonat mit Marina überflüssig geworden war. Eine Frau, die dieses Kind großgezogen hatte, konnte kein schlechter Mensch sein. Bevor sie Svea etwas vorwarf, sollte sie die Frau, die anscheinend Eriks Herz erobert hatte, erst besser kennenlernen. Im März war keine Zeit dafür gewesen. Nur ein einziges Mal hatte sie Svea Gysbrecht gesehen, als diese aus New York zurückgekommen war, und dieses Kennenlernen hatte sich auf eine halbe Stunde beschränkt.

Erst nachdem sie sich von Ida hatte versichern lassen, dass es ihr gut ging, dass auch Bello, Idas Hund, wohlauf war und dass das bevorstehende Abitur ihr keine Angst mache, ließ sie das Mädchen los. Und als Ida ihr dann noch ausführlich über den Zustand ihrer Großmutter Bericht erstattet hatte, wurde sie in die erste Etage entlassen. Mamma Carlotta war froh, dass sie ihre kurze Abneigung gegen Eriks neue Freundin mit diesem Wiedersehen überwunden hatte. Wenn Svea jemals Teil ihrer Familie werden sollte, würde auch Ida dazugehören, und das wäre eindeutig eine positive Entwicklung. Gut, dass sie nicht dazu gekommen war, sämtliche Bedenken von Sylt nach Panidomino zu transportieren, wo sie vermutlich auf Marinas Zustimmung gestoßen wären und sich damit in Sekundenschnelle aufgeblasen hätten zu echten Sorgen. Da war es doch besser, vor dem Besuch beim Bäcker einen Abstecher in Käptens Kajüte zu machen. Dabei könnte sie auch einmal den Namen von Eriks neuer Liebe fallen lassen und herausfinden, ob Svea Gysbrecht womöglich bei Tove Griess oder Fietje Tiensch bekannt war. Es konnte jedenfalls nicht schaden, dort einmal Erkundigungen einzuholen.

»Nuovo amore di Enrico«, murmelte sie vor sich hin und stellte fest, dass die Unzufriedenheit sie schon wieder beschlich, während sie dem Klang dieser Worte lauschte. Hätte sie dabei an Wiebke denken können, die sie schon mit ihrem Schwiegersohn vor dem Traualtar gesehen hatte, wären ihre Gefühle freundlicher gewesen ...

Während sie den Süder Wung hinabging und auf die Westerlandstraße zuhielt, wanderten ihre Gedanken zu dem Menü, das sie am Abend servieren wollte. Natürlich musste es besonders gut werden, schließlich wurde ihre Enkelin nur einmal im Leben volljährig. Erik hatte sogar versprochen, eine Flasche Champagner zu spendieren. Es würde sicherlich ein schöner Abend werden.

Energisch bog sie in den Hochkamp ein, ging am Hotel Wiesbaden vorbei und auf Käptens Kajüte zu. Die Tür stand offen, Stimmen waren bis auf die Straße zu hören, obwohl die Musik versuchte, sie zu übertönen. Hierfliegen gleich die Löcher aus dem Käse ...

Gelächter drang heraus, das Klirren von Gläsern, ein vielstimmiges »Prost!«. Mamma Carlotta überlegte, ob es besser gewesen wäre, erst zum Bäcker zu gehen und das Brot zu besorgen. Sie mochte es nicht, wenn in Käptens Kajüte viel los war. Nur gut, dass das selten vorkam. Das kleine Bistro an der Seestraße lag näher am Strandübergang, sodass sich nur dann Gäste zu Tove verirrten, wenn es dort sehr voll war. Nicht selten prophezeite Tove Griess, wenn Carlotta sich von ihm verabschiedete, dass seine Kneipe bei ihrem nächsten Besuch schon pleite sein und er wieder zur See würde fahren müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber zum Glück war er bisher jedes Mal dort anzutreffen, wo sie sich von ihm verabschiedet hatte.

Sie betrat die Imbissstube und sah sich um. Hoffentlich würden sich die Männer schnell verdrücken. Vermutlich handelte es sich um Arbeiter einer Baustelle, die ihre Mittagspause in Käptens Kajüte verbrachten und bald wieder zurück an ihren Arbeitsplatz mussten.

Aber die Stimmung war anders, als sie erwartet hatte. Tove, der sonst groß, breit und mürrisch am Zapfhahn stand und darauf aufpasste, dass jeder, dessen Bier zur Neige ging, sofort ein neues bekam, hatte sich unter seine Gäste gemischt. Er beugte sich mit ihnen zusammen über etwas, das auf der Theke lag, dann holte er eine Blechkassette unter der Theke hervor und klappte den Deckel hoch. Nun erst wurde er von einem jungen Mann im weißen Arbeitsoverall mit einem warnenden Blick darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht mehr allein waren. Erschrocken sah er auf und schob die Kassette unter die Theke, noch ehe er Mamma Carlotta erkannt hatte. Sein grobes Gesicht mit der vorgewölbten Stirn und den buschigen Augenbrauen sah aus wie das eines Käptens, dem gerade eine Sturmwarnung zu Ohren gekommen war und der sich Sorgen um sein leckgeschlagenes Schiff machte.

Dann grinste er breit. »Ach, Sie sind es! Mal wieder auf Sylt, Signora?« Der Blick, den er den Männern zuwarf, schien zu sagen, dass er die Lage im Griff habe. »Jungs, das ist die Schwiegermutter von Hauptkommissar Wolf.« Er stieß ein Lachen aus, das dem Bellen eines Seehundes ähnlich war.

Die Reaktion war so, als wäre in einem Kreis von Klosterfrauen ein unanständiger Witz erzählt worden. Stumm kehrten sie sich von der Theke ab und setzten sich an den Tisch, der am weitesten entfernt war. Fietje Tiensch, der Strandwärter von Wenningstedt, war der Einzige, der blieb, wo er war: auf seinem Stammplatz am schmalen Ende der Theke, gebückt, so klein wie möglich, den Blick auf den Grund seines Glases gerichtet, die Bommelmütze auf dem Kopf und Bierschaum im Bart.

»Cappuccino?«, fragte der Wirt so freundlich, wie er nur war, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. »Oder ein Rotwein aus Montepulciano?«

»No, grazie!«, wehrte Carlotta ab. »Un Espresso, per favore.«

Tove fragte sie mit lauter Stimme nach ihrem Befinden, wollte hören, wie es ihr seit März ergangen war, berichtete ausführlich, wie es zurzeit um die Gastronomie auf Sylt bestellt war, und vergewisserte sich immer wieder, dass sie ihm aufmerksam zuhörte. Aber Mamma Carlotta war Mutter von sieben Kindern und hatte außerdem jahrelang einen schwerkranken Mann versorgt – sie konnte durchaus dem einen zuhören und gleichzeitig auf etwas anderes lauschen, konnte aus drei Worten, die sie aufschnappte, einen sinnvollen Satz bilden und im selben Moment auf eine Frage antworten, von der sie ebenfalls nur drei Worte mitbekommen hatte. Sie führte also die Unterhaltung mit Tove, ohne dass er merkte, wie sie sich auf das konzentrierte, was unter den Männern gesprochen wurde. Sie hörte etwas von Wettquoten, Wetteinsätzen, Gewinnern und Verlierern, von frisierten Motoren, schnellen Autos und völlig untermotorisierten Karossen, die ohne Chance waren. Und sie schnappte auf, dass jemand darüber nachdachte, demnächst mit einem alten Porsche zu erscheinen, den er sich irgendwo leihen wollte. Sogar von einem Leichenwagen schien die Rede zu sein – auch wenn sie sich in diesem Fall nicht sicher war, ob sie sich verhört hatte oder von ihren Deutschkenntnissen im Stich gelassen worden war.

»Wenn ein Porsche mitmacht, müssen sich die Einsätze ändern!«, zischte jemand, und diesen Satz bekam sie sogar vollständig mit. Dass sie den Namen von Svea Gysbrecht hatte fallen lassen wollen, hatte sie schon fast wieder vergessen.

Als Tove an den Tisch der sechs Männer gerufen wurde, rückte sie ihren Barhocker näher an Fietje Tiensch heran. Der Strandwärter musterte sie argwöhnisch und tat dann so, als hätte er nicht bemerkt, dass sie sich näherte. Er hob sein Bierglas, ließ das Jever an seine Lippen spülen, ohne zu trinken, setzte es ab und starrte wieder hinein, als sähe er auf dem Grund des Glases etwas derart Faszinierendes, dass er für nichts anderes Augen hatte.

Aber Mamma Carlotta ließ sich nicht beirren. »Was ist da los, Signor Tiensch?« Sie nickte zu dem Tisch, über dem die Männer die Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten.

Fietje kraulte erst lange seinen schütteren Bart und schob die Bommelmütze auf seinem Kopf hin und her, ehe er antwortete: »Was soll schon sein?«

Mamma Carlotta wurde ärgerlich. »Sie wissen, was ich meine. Was hat es mit dieser Geldkassette auf sich?« Sie nickte dorthin, wo Tove die flache Schatulle hatte verschwinden lassen.

Aber Fietje Tiensch besaß viel Übung darin, sich ahnungslos zu geben, damit er nicht antworten musste, und Fragen zu überhören, die ihm nicht behagten. »Kann sein, dass Tove einen Kartenclub aufgemacht hat. Schafkopf!«

»Come?« Mamma Carlotta sah aus, als fühlte sie sich gefoppt. »Was hat der Kopf von einem Schaf damit zu tun?«

Nun wurde Fietje lebhafter, er redete sogar vier bis fünf Sätze an einem Stück. Denn so lange dauerte es, bis er Mamma Carlotta erklärt hatte, dass Schafkopf ein Kartenspiel war, das Tove besonders gern spielte. »Das hat ihm mal ein Gast aus München beigebracht. Da kann er mogeln, und keiner merkt es.«

Mamma Carlotta glaubte ihm kein Wort, ließ ihn spüren, dass sie sehr enttäuscht von ihm war, und ärgerte sich, weil Fietje sich daraus überhaupt nichts machte. Als Tove Griess wieder hinter die Theke kam, schob sie ihre Tasse weg und verweigerte einen zweiten Espresso mit der Miene einer Filmdiva, die gefragt worden war, ob sie bereit sei, eine kleine Nebenrolle zu übernehmen. Dass sie sich sehr langsam von ihrem Barhocker schob, dass sie sehr langsam ihre Jacke überzog, dass sie sehr langsam zur Tür ging und dort noch eine Weile mit der Klinke in der Hand wartete, machte Tove derart nervös, dass sie nun ganz sicher war: In Käptens Kajüte ging etwas vor, was niemand erfahren sollte. Vielleicht sogar etwas Ungesetzliches? Der Mann im weißen Maleroverall wurde erneut auf sie aufmerksam, stieß seinen Nebenmann an und riss warnend die Augen auf, sodass alle, die eben noch flüsternd miteinander geredet hatten, auf einen Schlag verstummten.

»Arrivederci, Signori«, sagte Mamma Carlotta in die Stille hinein, öffnete die Tür und verließ Käptens Kajüte.

Das fahle Mondlicht gab den Dünen scharfe Umrisse, grenzte sie deutlich vom Nachthimmel ab, verlieh ihnen eine Helligkeit, in der Erik sich nicht wohlfühlte. Die Nacht schien keinen Schutz zu bieten, es war, als müssten die Schatten von zwei ermittelnden Polizeibeamten von weit her zu sehen sein.

Er duckte sich noch tiefer ins Dünengras neben dem Fahrradweg, der oberhalb des Parkplatzes entlangführte, und stellte fest, dass Sören es genauso machte. Bäuchlings lagen sie da, das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt, den Blick auf den asphaltierten Parkplatz von Buhne 16 gerichtet. Daneben gab es noch einen weiteren Parkplatz, der erst geöffnet wurde, wenn der andere gefüllt war, ein unbefestigter Ascheparkplatz mit zwei Auffahrten, die schmal waren und zur Straße hinaufführten. Von ihm konnten sie nur einen kleinen Teil überblicken, aber das würde ausreichen, um eine Bewegung wahrzunehmen oder zu bemerken, wenn ein Wagen auf einen der beiden Parkplätze einbog. Noch war jedoch alles still. Gelegentlich ein Motorgeräusch, ein Wagen, der von Kampen nach Wenningstedt fuhr, aber kein einziges Mal nahm der Fahrer das Gas weg und bog von der Straße ab. Nein, das Brummen des Motors und das Zischen der Räder wurden schnell wieder leiser, bis die Stille der Nacht sie verschluckt hatte.

Erik legte die Stirn auf die Hände und schloss die Augen. Er war müde. Zwar hatte er während des Abendessens versucht, den Rotweinkonsum in Grenzen zu halten, aber besonders gut gelungen war es ihm nicht. Seine Schwiegermutter hatte häufig nachgeschenkt, sein zur Hälfte geleertes Glas immer wieder gefüllt, sodass er schnell den Überblickt verloren hatte und jetzt nicht mehr sagen konnte, wie viel er eigentlich getrunken hatte.

»Deine Tochter wird nur einmal volljährig, Enrico!« Mit diesem Argument, das nur schwer zu widerlegen war, hatte sie ihn zum Trinken animiert und Sören gleich mit.

Erik hob den Kopf und warf einen Blick zur Seite. Sören wirkte kein bisschen müde. Seine Augen waren groß und klar, seine Aufmerksamkeit schien kein bisschen zu schwächeln. Er fing den Blick seines Chefs auf, sah aber gleich wieder geradeaus und nickte verständnisvoll, als wollte er ihm sagen, dass er ruhig die Augen schließen dürfe, er würde schon achtgeben.

Erik stöhnte leise und erschrak dann, wie laut es geklungen hatte, trotz der Brandung, trotz des Windes, der im Dünengras raschelte. Eine Nacht, die auf Sylt eine stille Nacht war! Die Brandung dröhnte nicht, sondern schleppte sich Woge für Woge an den Strand, der Wind heulte und fauchte nicht. Der Schlaf wehte auf Erik zu, wogte über seinem Kopf, als wollte er sich über ihn senken und die Gegenwart zudecken, bis sie nicht mehr zu sehen und zu erkennen war. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass er wach blieb, obwohl die Zeit auf eine Stunde zurückte, in der er normalerweise im Tiefschlaf lag.

Erik zwang sich, an den vergangenen Abend zu denken und sich zu überlegen, wie der folgende verlaufen würde, wenn das Unvermeidliche eintreten würde. Heute war der Kelch an ihm vorübergegangen, und er war noch immer froh und dankbar, dass Svea es tatsächlich nicht mehr geschafft hatte und Carolins achtzehnter Geburtstag harmonisch und ungestört verlaufen war. Gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er erleichtert gewesen war, als Svea absagte. Er legte die Stirn erneut auf die Hände und schnaubte, als ließe sich seine Beschämung wegpusten, als wäre der Sand, den er auf den Augenlidern spürte, derselbe, den er sich selbst in die Augen streute, um nicht sehen zu müssen, dass er sich schämte. Er hatte sich natürlich nichts anmerken lassen, obwohl ... wenn er an den Blick seiner Schwiegermutter dachte, hielt er es für möglich, dass sie ihn durchschaute. Für so was hatte sie ja einen sechsten Sinn. Wenn sie auch nicht wissen konnte, warum Sveas Absage ihn erleichterte, so schien sie doch zu spüren, dass es etwas gab, was nicht zu den Worten passte, mit denen er über Svea gesprochen hatte.

Sein Schuldbewusstsein verstärkte sich, als er an den Grund für Sveas Absage dachte. Ihre Mutter lag im Sterben, das Leben der alten Frau Gysbrecht schien nur noch aus Stunden, höchstens aus wenigen Tagen zu bestehen. Und sein erstes Gefühl war nur Erleichterung darüber gewesen, dass einem harmonischen Abend nun nichts im Wege stand! Doch als Svea dann am Telefon zu weinen begonnen hatte, war dieses Gefühl so schnell verflogen, wie es gekommen war.

Erik fragte sich gerade, ob er darauf hätte bestehen müssen, bei Svea zu sein in dieser schweren Stunde, ihr und auch Ida beizustehen, aber er hatte sich davon überzeugen lassen, dass Carolins Geburtstag wichtiger war und seine Ermittlungen im Fall der illegalen Autorennen ebenfalls. Es war ihm sogar so vorgekommen, als wollte Svea ihn ausschließen, weil er nicht zu ihrer Familie gehörte und bis jetzt nichts anderes war als ihr Freund. Kein Lebensgefährte, kein Verlobter, allenfalls ihr Geliebter. So jemand gehörte nicht ans Sterbebett ihrer Mutter, das sah Erik ohne Weiteres ein.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Sören sich bewegte. »Ich glaube, es geht los.«

Erik spürte, wie die Erwartung durch ihn hindurchfuhr und sich sein Körper anspannte. Tatsächlich! Ein Motorengeräusch war zu hören, das allmählich leiser wurde, dann knirschten die Räder, der Motor heulte noch einmal auf ... und erstarb.

Erik und Sören reckten die Hälse. Auf dem Ascheparkplatz der Buhne 16 stand ein Wagen. Schwer zu erkennen, um welches Fabrikat es sich handelte, vielleicht ein Ford Escort. Er blieb nicht lange allein, schon zwei, drei Minuten später wehte von Kampen ein weiteres Motorengeräusch heran. Auch diesmal nahm der Fahrer kurz vor der Buhne 16 den Fuß vom Gas, und das Fahrzeug rollte auf den Parkplatz. Nun stieg der Fahrer des ersten Wagens aus und wartete darauf, dass sich die Tür des zweiten öffnete. Ein schwarzer Kia Sorento, den erkannte Erik sicher, da er sich mit dem Gedanken trug, sich einen solchen SUV anzuschaffen.

Kurz hintereinander kamen fünf weitere Autos an. Die Fahrer schienen nicht die Absicht zu haben, sich lange auf diesem Parkplatz aufzuhalten, vermutlich um kein Aufsehen zu erregen. Es wurden ein paar Worte gewechselt, dann hörte Erik das helle Lachen einer Mädchenstimme. Kurz darauf schlugen die Fahrertüren, Füße spielten mit dem Gaspedal, das Röhren der Motoren übertönte die Brandung und den Wind.

Erik und Sören warteten schon gespannt auf das Zeichen, mit dem das Rennen gestartet werden würde, als ein weiteres Fahrzeug in der Einfahrt erschien. Ein großer, lang gestreckter Wagen.

»Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte Sören.

Die Motorengeräusche erstarben augenblicklich. Wieder öffneten sich Türen, Gelächter drang zu ihnen herauf.

»Ein Leichenwagen!« Erik stieß es so leise hervor, dass er nicht sicher war, ob es überhaupt zu hören war.

Nun vernahmen sie eine Stimme, die zu drängen schien, mahnend und vorwurfsvoll klang. Sofort hörte man erneutes Türenschlagen, dasselbe Spiel der Füße mit dem Gaspedal. Die Wagen formierten sich zu einer Zweierreihe, so weit wie möglich von der schmalen Einfahrt des Parkplatzes entfernt. Das Zeichen zum Start bekamen Erik und Sören nicht mit, aber es musste eins gegeben haben. Urplötzlich gaben die Fahrer der beiden ersten Autos Gas und rasten über den Platz auf die Einfahrt zu. Viel zu schnell! Als sie auf die Straße einbogen, schlingerten beide, die Karosserien schlugen kurz aneinander, aber das hielt keinen der beiden Fahrer davon ab, das Gaspedal durchzudrücken. Einer musste sich schließlich geschlagen geben und dem anderen die Vorfahrt lassen. Dann schossen sie nacheinander über die Straße Richtung Norden, das Röhren der Motoren durchschnitt die Nacht. Selbst als es leiser wurde, empfand Erik den Lärm immer noch als eine schwere Verletzung der Inselruhe, die er so liebte.

»Sie werden nicht bis List rasen«, raunte Sören. »Vielleicht bis zur Vogelkoje? Der Parkplatz davor ist groß genug für eine Wende. Kann nicht lange dauern, bis sie wieder zurück sind, das sind maximal zweieinhalb Kilometer.«

Erik nickte, obwohl Sören es nicht sehen konnte. »Morgen alarmieren wir die Bereitschaft. Diese Idioten müssen gestoppt werden.«

Das Dröhnen der Motoren schwoll erneut an, kurz darauf quietschten die Bremsen, die beiden Wagen schossen auf den Parkplatz, einer voran, aber der zweite hatte sich noch nicht geschlagen gegeben. Er versuchte, den Vordermann zur Seite zu drängen. Wieder schrammten die Karosserien aneinander, aber der Versuch war nicht von Erfolg gekrönt. Der Fahrer des zweiten Wagens war der Verlierer dieses Rennens.

Nur einen Augenblick später starteten die nächsten beiden Autos. Diesmal gelang es Erik, nicht auf die Motorengeräusche zu achten, sondern zu beobachten, was auf dem Parkplatz geschah. Der Mann, der offenbar als eine Art Organisator fungierte, winkte die nächsten beiden Autos heran. Ein alter Mercedes und der Leichenwagen rückten vor für die dritte Runde.

»Ob der geklaut wurde?«, fragte Sören so leise wie nötig, aber laut genug, dass Erik es trotz des Motorenlärms auf dem Parkplatz verstehen konnte.

Die nächsten beiden Wagen legten fernsehreife Bremsmanöver hin. Die Rangfolge war klar, der Abstand zwischen ihnen so groß, dass der Verfolger keine Chance hatte, seinen Herausforderer zu schlagen. Als das zweite Auto auf den Parkplatz einbog, trat der Fahrer so heftig auf die Bremse, dass es ausscherte und auf die Einfahrt zuschleuderte. Der Wagen drehte sich und schien für ein paar erschreckende Augenblicke außer Kontrolle zu geraten. Erst im letzten Moment gewann der Fahrer wieder die Kontrolle über das Auto und kam zum Stehen, ohne einen anderen Wagen gerammt zu haben.

Dann begann die vorletzte Runde. Der Fahrer des Leichenwagens reagierte schneller als sein Gegner und raste als Erster Richtung Kampen, verfolgt von dem Mercedes, der offenbar seinen Fehler beim Start wiedergutmachen wollte. Das Gasgeben tönte aggressiv und gefährlich, während der Motor des Leichenwagens zwar auf Hochtouren lief, aber dunkler und unerschütterlich klang, auch dann, wenn er aufheulte.