Vom Arzt geküsst – Herzklopfen garantiert! - Susan Carlisle - E-Book

Vom Arzt geküsst – Herzklopfen garantiert! E-Book

Susan Carlisle

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Beschreibung

KÜSSE, DIE DAS HERZ ZUM SCHMELZEN BRINGEN von Susan Carlisle
Michelle weiß, wie man sie auf der Station nennt: die Eiskönigin. Aber als ihr Kollege Dr. Ty Smith sie auf seinem Motorrad nach Hause bringt, spürt sie plötzlich eine brennende Sehnsucht nach ihm, nach Liebe... Gefährlich, denn Ty bleibt niemals lange an einem Ort!

SO KÜSST NUR DR. BOWMAN von JOSIE METCALFE
Das ist doch... Dr. Amy Willmotts Herz beginnt heftig zu schlagen, als sie auf ihren neuen Kollegen im Krankenhaus trifft: Zach Bowman, ihr großer Schwarm aus Schulzeiten. Aber sie stammt aus wohlhabenden, er aus armen Verhältnissen. Hat ihre Liebe dennoch eine Chance?

DIESER KUSS VERÄNDERT ALLES von ALISON ROBERTS
Anna träumt jede Nacht davon, den attraktiven Dr. Davenport zu küssen. Als er eines Tages unter Schock steht, verfolgt von dunklen Erinnerungen, kann Anna nicht anders: Sie gibt dem neuen Leiter der St. Piran's-Chirurgie einen Kuss - einen Kuss, der alles verändert ...

FÜR IMMER KÜSS ICH DEINE TRÄNEN FORT von SARAH MORGAN
Die Trennung von Dr. Tom Hunter schmerzt die junge Hebamme Sally so sehr, dass sie ihren Job auf seiner Station kündigt und aus der Stadt fortzieht. Erst sieben Jahre später sehen sie sich wieder. Doch sofort erkennt Sally: Ich liebe Tom immer noch ...

BITTERSÜSS WIE DEINE KÜSSE von FIONA LOWE
Ausgerechnet ihr Boss Dr. Luke Stanley bittet sie, sich um seine kleine Tochter zu kümmern! Chloe kann dem frisch verwitweten Singledad seinen Wunsch nicht abschlagen.
Doch bald weckt Luke nicht nur ihr Mitgefühl, sondern auch eine ebenso verlockende wie verbotene Sehnsucht ...

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Seitenzahl: 955

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Susan Carlisle, Josie Metcalfe, Alison Roberts, Sarah Morgan, Fiona Lowe

Vom Arzt geküsst - Herzklopfen garantiert!

IMPRESSUM

Küsse, die das Herz zum Schmelzen bringen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2014 by Susan Carlisle Originaltitel: „The Rebel Doc Who Stole Her Heart“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 82 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: GettyImages_jacoblund

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733729363

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Herzchirurgin Michelle Ross stieß die Tür zum Operationssaal 4 im Raleigh Medical Center in North Carolina schwungvoll mit der Hüfte auf.

Heute stand die Herzoperation von Mr. Martin an. Dieser Patient war genau der Typ Mensch, der ihr allergrößtes Mitgefühl erregte. Fast immer hatten solche Patienten kleine Kinder, die zu Hause warteten und hofften, dass es ihren Eltern wieder besser ging. Sie musste diesem Vater helfen. Sie musste sein Leben retten, damit er wieder bei seiner Familie sein konnte.

Sie blickte die Mitglieder ihres Teams kurz an und fragte knapp: „Alle bereit?“

Die Ärzte und Schwestern, die um Mr. Martin, einen Mann mittleren Alters, versammelt waren, hatten sich leise miteinander unterhalten. Jetzt verstummten sie. Wäre ein Skalpell versehentlich auf den Boden gefallen, hätte man das Echo gehört, so still war es im Raum.

Michelle bemerkte, dass alle es vermieden, ihr in die Augen zu sehen. Was ging hier vor? Normalerweise war ihr Team ohne Zögern bereit, mit der Operation zu beginnen. Nur aus Gewohnheit stellte sie jedes Mal dieselbe Frage.

Pannen waren in ihrem OP nicht erlaubt, Effizienz war ihr Motto. Ihre Patienten verdienten die allerbeste Behandlung, und die bekamen sie. Sie hatte jeden im Team sorgfältig ausgewählt, und alle wussten, was von ihnen erwartet wurde. Sie vertraute ihrem Team, also was war heute los?

Niemand wollte offenbar antworten. In diesem Fall, der ihre völlige Aufmerksamkeit erforderte, verringerte dies ihre Anspannung nicht gerade. Sie trat an ihren Platz am OP-Tisch. Dann fiel ihr Blick auf den jungen Arzt, der dem Anästhesisten assistieren sollte. „Wo ist Dr. Schwartz?“, fragte sie.

Die Augen des jungen Kollegen waren über dem Mundschutz sichtbar. Er blinzelte nervös. Dann sagte er: „Die Vertretung für Dr. Schwartz ist noch nicht da.“

Michelle Ross wollte gerade verärgert nachfragen, als jemand zur Tür hereinkam. Ein Mann mit breiten Schultern wandte ihr den Rücken zu. Dann drehte er sich um und blickte die Gruppe an. Seine orangefarben gestreifte Operationshaube fiel ihr sofort auf, denn sie passte überhaupt nicht in ihre geordnete und sterile Welt. Er trug den normalen blauen Kittel des Krankenhauses, aber was ebenfalls ihre Aufmerksamkeit erregte, waren die limonengrünen Clogs, die durch die sterilen Überziehschuhe an seinen Füßen schimmerten.

Wer war dieser Clown? Es fehlte nur noch die rote Pappnase. Als er näher kam, bemerkte Michelle, dass die Augen über seinem Mundschutz auffallend jadegrün waren.

Er blickte sie an, zwinkerte ihr zu. Das brachte sie für einen Moment aus dem Konzept.

Das war doch wohl nicht etwa der verspätete Vertretungs-Anästhesist?

„Hallo zusammen, ich bin Ty Smith, die Vertretung für den Kollegen Schwartz.“ Obwohl er einen Mundschutz trug, bemerkte sie, dass er lächelte und Augenkontakt mit jedem im Team suchte.

„Unser Patient ist bereit, und wir warten alle nur noch auf Sie“, sagte sie, um weitere Plaudereien zu unterbinden.

„Sie müssen Dr. Ross sein“, stellte er in lockerem Ton fest.

„Ja. Fangen wir an.“

Der Anästhesist zog den Stuhl an seinem Platz mit dem Fuß näher heran und setzte sich mit einer lässigen Bewegung. Dabei schien er keinen weiteren Gedanken mehr an sie zu verschwenden oder ein schlechtes Gewissen zu haben, dass alle im Team auf ihn hatten warten müssen.

Er blickte den Assistenzarzt an: „Gut gemacht.“

Der junge Mann, der bei Michelles Frage zuvor so nervös reagiert hatte, entspannte sich sichtbar.

Dr. Smith überprüfte die Narkosevorbereitungen und sah Michelle an. „Ich bin bereit, wenn Sie es auch sind, Doc.“

Wieder irritierten seine Augen Michelle. Sie erinnerten sie an grünen Rasen nach einem Frühlingsregen. „Dr. Ross, bitte“, wies sie ihn zurecht.

„Der Patient ist bereit, Dr. Ross.“ Michelle beschlich das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte.

Mehrere Stunden später setzte sie die letzte Naht. Sie war erleichtert, dass die Operation komplikationslos verlaufen war. Ihr Patient hatte sehr wahrscheinlich noch ein langes Leben vor sich und würde seine Kinder aufwachsen sehen. Darauf war sie stolz.

Ihr Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, als sie zwölf Jahre alt war. Sie waren gerade unterwegs gewesen, um neue Schulkleider für sie zu kaufen, und ihre Mutter und sie hatten sich nicht einigen können. Plötzlich hatte ihr Vater sich an die Brust gegriffen und war im Einkaufszentrum zu Boden gestürzt. Noch immer konnte Michelle die Rufe der umstehenden Passanten hören. „Schnell, holt einen Krankenwagen!“ Menschen liefen hektisch umher. Aber am deutlichsten war ihr in Erinnerung, wie sie verzweifelt schluchzte.

Bei der Beerdigung, als sie neben ihrer Mutter in der ersten Bank in der Kirche saß, hatte sie sich geschworen, dazu beizutragen, dass anderen Kindern möglichst erspart blieb, was sie selbst erleben musste. Sie hatte Medizin studiert und hart gearbeitet, um Herzchirurgin zu werden. Ihre persönliche Erfahrung lehrte sie, dass Humor bei dieser Arbeit nichts zu suchen hatte. Medizin war eine ernsthafte Angelegenheit.

Michelle wollte gerade die Operation abschließen, als ein leises Summen sie ablenkte. Es kam vom Kopfende des OP-Tisches. Während der Operation hatte sie den Neuen im Team nicht angesehen. Stattdessen hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Patienten gegolten, auch wenn ihr Assistent den ersten Schnitt gesetzt hatte.

Sie blickte zum Kopfende des Tisches. Smith schaute konzentriert auf einen Monitor. Die anderen Teammitglieder um den Tisch traten unruhig von einem Bein aufs andere. Michelle war der Meinung, dass ein Operationssaal kein Ort war, um Musik zu hören. Sie wollte nicht, dass irgendetwas die konzentrierte Atmosphäre störte. Es sollte möglichst still sein.

Eine frostige Anspannung breitete sich aus. Die verstohlenen Blicke ihrer Kollegen entgingen ihr nicht.

Der Neue schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. „Summen Sie doch einfach mit.“

Dieser Mann brachte Unruhe in ihren OP. Er musste ihr Team wieder verlassen. Dafür würde sie sorgen.

„Wie ist der Blutdruck?“, fragte sie kurz angebunden.

„Stabil.“

„Dann sind wir fertig. Der Patient kann jetzt auf die Intensivstation verlegt werden. Und hören Sie auf zu summen.“

„Jawohl, Ma’am.“

Er klang wie ein unartiger Schuljunge, den man gerade zurechtgewiesen hatte, weil er ein Mädchen an den Haaren gezogen hatte.

Ty rieb sich den Nacken, um seine verspannten Muskeln zu lockern, und verließ den OP. Er war müde, denn er war bis spät in der Nacht unterwegs gewesen. Am Stadtrand war ein Autounfall passiert. Er hatte mitgeholfen, und es hatte sehr lange gedauert, die Verletzten zu versorgen. Er kam nicht gern zu spät, aber ihm war keine Wahl geblieben. Da er als Erster an der Unfallstelle gewesen war, musste er helfen. Er nahm seine Pflicht als Arzt sehr ernst.

Es machte ihm nichts aus, immer wieder umzuziehen. Das hatte er schon sein ganzes Leben lang getan, und er war daran gewöhnt. Seine Eltern waren Möchtegernhippies gewesen und immerzu irgendwelchen Rockbands nachgereist. Joey, sein sechs Jahre jüngerer Bruder, hätte ständige medizinische Betreuung und ein solides Zuhause gebraucht, aber das widersprach dem Lebensstil seiner Eltern. Mal fragten sie irgendeinen obskuren Guru um Rat, ein andermal verabreichten sie Joey ein paar Heilkräuter. „Wenn wir in die Wüste ziehen, kann Joey besser atmen. Das Klima dort wird ihm guttun, er wird sich erholen.“ Sie hatten sich geirrt. Ein tödlicher Irrtum.

Seine Eltern behaupteten, es sei Schicksal gewesen. Ty sah das anders. Joey hätte weiterleben sollen, ihm ständig hinterherlaufen und ihm auf die Nerven gehen mit seiner neugierigen Fragerei. Als Ty am Boden saß, um ihn herum Gemurmel, Jammern und betäubender Räucherstäbchenrauch, hatte er beschlossen, dass er dieses Leben nicht mehr wollte.

Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass seine Eltern Joey nicht zu einem normalen Arzt gebracht hatten. Er hätte Joey nicht einfach sterben lassen. Und deswegen beschloss er, die Kommune zu verlassen, um bei seinen Großeltern zu leben.

Ty war intelligent und hatte in der Schule sehr gute Noten, deshalb entschied er sich, Medizin zu studieren. Wenn er anderen half, konnte er vielleicht ein wenig wiedergutmachen, was seinem kleinen Bruder passiert war. Gleich nach dem Studium bot ihm ein Freund einen Job an. Er besaß eine Firma, die Ärzte als Vertretung in Kliniken vermittelte. Er nahm den Job an. Als Vertretungsarzt arbeitete er immer dort, wo er gerade gebraucht wurde. Meistens blieb er nur ein paar Wochen an einem Ort. Er hatte sich an diesen Lebensstil gewöhnt. Und heute wollte er nur noch eines: zu seinem Apartment fahren und ins Bett fallen.

„Dr. …“

„Ty Smith.“ Er gab der Chirurgin die Hand.

Sie sah gut aus. Glänzende braune Haare, volle Lippen und ein ebenmäßiger Teint. Schade, dass sie so schroff war. Im Lauf der Jahre waren ihm viele solcher Menschen begegnet, aber diese Frau gewann den ersten Preis. „Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Ty. Wie darf ich Sie nennen?“

„Dr. Ross.“

Brrr … Eine eisige Brise wehte ihm entgegen. Die Farbe ihrer Augen verstärkte diesen Eindruck noch. Normalerweise hatte er eine Schwäche für Frauen mit eisblauen Augen, aber bei ihr nicht. Er hatte auch mit anderen Ärzten zusammengearbeitet, die mit seiner lockeren Art nicht unbedingt zurechtkamen, aber so abweisend hatte noch niemand auf ihn reagiert. Das war wirklich alles andere als eine freundliche Begrüßung.

„Dürfte ich Sie einen Moment sprechen? Privat?“ Förmlicher hätte ihr Tonfall nicht sein können.

„Sicher.“ Er steuerte auf eine ruhige Ecke zu, und sie folgte ihm.

Er bemühte sich, so professionell wie möglich zu klingen. „Nun, Dr. Ross, schön, Sie kennenzulernen. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

„Wir werden nicht mehr zusammenarbeiten. Ich finde nicht, dass wir uns gut ergänzen. Ich erwarte von meinem Anästhesisten, dass er pünktlich ist.“

Was war nur passiert, dass diese Frau so dermaßen verbissen war?

„Es tut mir leid, dass Sie diesen Eindruck von mir haben. Ich bin nicht absichtlich zu spät gekommen. Außerdem hat der Assistenzarzt seine Arbeit sehr gut gemacht. Unser Patient war keine Sekunde lang in Gefahr. Wo kein Schaden, da auch kein Kläger. Bis später.“ Er wollte ihr klarmachen, dass er sich nicht unterkriegen ließ, obwohl er neu im Krankenhaus war.

Sie wollte antworten, verhaspelte sich aber vor Ärger.

Ty wartete ihre Antwort nicht ab. Er drehte sich um und machte sich auf den Weg in den Umkleideraum.

Zwei Stunden später saß er im Schwesternzimmer auf der Intensivstation. Er war nicht so früh fertig geworden wie erhofft und notierte sich gerade die Werte des letzten Patienten. Als er aufblickte, kam Dr. Ross in Begleitung einer Frau und zweier Teenager herein. Sie führte die drei zum Bett von Mr. Martin.

Die Krankenschwester links neben ihm flüsterte ihrer Kollegin zu: „Die Schneekönigin kommt!“

Sie war anscheinend jedem gegenüber so unterkühlt.

„Stimmt. Aber die Frau hat einen guten Geschmack“, antwortete die andere. „Schade, dass sie nicht so nett ist, wie sie sich anzieht.“

Die Frauen waren offensichtlich ein wenig neidisch.

Ty fand das auch nicht verwunderlich. Dr. Ross war eine attraktive und sehr elegante Frau. In ihrem hellrosa Jackett und dem engen Rock, der ihre Figur betonte, war sie wirklich ein Blickfang. Er setzte sich kerzengerade auf und begutachtete sie von Kopf bis Fuß. Sein Blick folgte ihren wohlgeformten Beinen hinab zu den schlanken Fesseln, bis er bei ihren High Heels ankam, die perfekt zu ihrem Rock passten. Er hätte sein Motorrad verwettet, dass diese Schuhe von einem Designer speziell für sie angefertigt worden waren.

Dann wanderte sein Blick wieder hoch zu ihrem glänzenden braunen Haar. Sie hatte es mit einer großen silbernen Spange zusammengefasst, die den Eindruck noch verstärkte, dass diese Frau alles unter Kontrolle hatte. Unter ihrem OP-Kittel hatten sich ein paar äußerst attraktive Kurven versteckt. Schade nur, dass sie so frostig war.

Wenn sie sprach, unterstrich sie ihre Worte mit eleganten Handbewegungen. Sie wies auf die Apparate, die das Bett des Patienten umgaben. Offenbar erklärte sie, wozu sie dienten und wie sie funktionierten. Zu seiner Überraschung lächelte sie gelegentlich in die kleine Runde. Offenbar verbarg sich unter dem unterkühlten Äußeren doch ein wenig menschliche Wärme. Ihn wollte sie daran aber nicht teilhaben lassen, war sein Eindruck.

Sie sah in seine Richtung, und für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. War da Ängstlichkeit in ihren Augen?

Nein, er musste sich wohl getäuscht haben. Dr. Ross strotzte geradezu vor Selbstbewusstsein.

Ty lehnte sich im Stuhl zurück und beobachtete die Familie, die sich um den Patienten versammelt hatte. Dr. Ross war einen Schritt zurückgetreten und beantwortete gelegentliche Fragen.

Ty stand auf und wollte die Abteilung verlassen. Als sie wieder in seine Richtung blickte, überlegte er es sich anders, ging zu ihr hinüber und fragte unauffällig: „Gibt es ein Problem?“

Sie erstarrte. „Nein. Warum fragen Sie?“, zischte sie. Dabei schaute sie weiter auf die Familienmitglieder, als wollte sie sichergehen, dass diese von der Unterhaltung nichts mitbekamen.

„Aus meiner Sicht macht alles einen guten Eindruck“, meinte er leise. „Wenn es weiter so komplikationslos verläuft, muss er morgen nicht mehr künstlich beatmet werden.“

„Ich würde es begrüßen …“

Die Dame, offenbar die Ehefrau des Patienten, unterbrach ihre Unterhaltung und blickte zuerst ihn und dann Dr. Ross an.

Die Ärztin räusperte sich und zögerte fast unmerklich. Sie hatte wohl nicht vorgehabt, ihn vorzustellen, aber es wäre jetzt unhöflich gewesen.

Er lächelte die Frau an und reichte ihr die Hand. „Hallo, ich bin Ty Smith. Ich bin Anästhesist und habe bei der Operation mit Dr. Ross zusammengearbeitet.“

„Ich danke Ihnen. Mein Mann war bei Ihnen offensichtlich in sehr guten Händen. Auch mein Sohn und meine Tochter …“, sie nickte den beiden Teenagern zu „… sind dankbar für alles, was Sie für ihn getan haben.“

„Ich versichere Ihnen, dass die Operation sehr gut verlaufen ist. Dr. Ross ist eine hervorragende Chirurgin.“ Er sah seine Kollegin an. Ein skeptischer Zug huschte über ihr Gesicht. Sie fragte sich offenbar, woran sie bei ihm war. Er hatte es ernst gemeint, als er ihre Fähigkeiten gelobt hatte. Sie war wirklich besser als viele Ärzte, die er kannte, aber sein Lob schien ihr unangenehm zu sein.

„Es tut mir leid, dass Sie im Moment nicht länger bleiben können“, sagte Dr. Ross zu der Frau. „Essen Sie doch zu Abend, und kommen Sie nach dem Schichtwechsel wieder.“

„Das werden wir. Kommt, Kinder. Danke, Dr. Ross, Dr. Smith. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“

Als die Familie an ihm vorbei zur Tür ging, nickte er allen zu.

Dr. Ross wandte sich an die Krankenschwester und besprach mit ihr den Zustand des Patienten.

Ty ging leise fort. Nach ihrer unangenehmen Unterredung hatte sie sicherlich nicht gewollt, dass er sich in das Gespräch mit der Familie des Patienten einmischte. Für ein paar Sekunden hatte er hinter ihrer unterkühlten Fassade Gefühle wahrgenommen, die er nicht benennen konnte.

Ein paar Minuten nachdem Michelle die Intensivstation verlassen hatte, klopfte sie an die Tür des Chefarztes.

„Herein.“

Michelle war nicht immer einverstanden mit den Entscheidungen und Anweisungen von Dr. Marshall, aber sie hielt ihn für fair. Er war für sie eine Art Mentor. Mehr als einmal hatte er sich für sie eingesetzt, als sie Probleme mit der Verwaltung gehabt hatte. Meistens mischte er sich jedoch nicht in ihre Arbeit ein. Er unterstützte sie, aber er war vom alten Schlag. Als er Medizin studierte, waren die meisten Ärzte noch Männer gewesen. Eine Frau als Herzchirurgin hatte ihm zunächst ein wenig Bauchschmerzen bereitet.

Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Der Chefarzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte sie interessiert an. „Was führt dich zu mir? Du warst schon lange nicht mehr bei mir im Büro, wenn ich mich recht erinnere.“

„Bob, du weißt, dass ich mich selten beklage.“

Er nickte und blickte sie prüfend an.

„Aber ich kann nicht gestatten, dass der neue Anästhesist noch einmal mit mir im OP arbeitet.“

Marshall richtete sich auf und blickte sie besorgt an. „Geht es dem Patienten gut?“

„Dem Patienten geht es gut. Ausgesprochen gut sogar.“

Er entspannte sich. „Was ist dann das Problem? Smith – so heißt er doch, nicht wahr? – hat einen sehr guten Ruf. Und einen beeindruckenden Lebenslauf. Hervorragend.“

„Ich kann keinen Anästhesisten gebrauchen, der zu spät zur Operation kommt.“

Bob sah sie ungläubig an. „Warum ist er denn zu spät gekommen?“

„Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt.“

„Hast du ihn denn nicht gefragt?“

„Nein, das habe ich nicht. Aber ich brauche ein Team, das pünktlich ist.“

„Wenn das das Einzige ist, was dich an ihm stört, dann solltest du ihn fragen, warum er zu spät gekommen ist. Ich weiß, dass du dein Team fest im Griff hast, aber jeder von uns kommt mal zu spät.“

„Ich nicht.“

Bob stieß einen Seufzer aus. „Du bist immer pünktlich. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn du manchmal unpünktlich wärst.“ Er sagte die letzten Worte so leise, dass sie sie fast nicht gehört hätte. „Michelle, ich glaube, du übertreibst etwas. Wir haben zu wenige Anästhesisten, und ich kann nicht jeden von deinen OPs fernhalten, der dir nicht passt. Smith ist hochqualifiziert. Wenn er nichts tut, was einem Patienten schadet, musst du einen Weg finden, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

„Aber …“

„Michelle, ich weiß, dass du eine sehr engagierte Ärztin bist. Ich schätze das, aber ich denke, du kannst dieses Problem ohne mich lösen. Smith wird nur sechs Wochen lang hier sein. Ich bin sicher, dass du solange mit ihm zurechtkommen wirst.“

Sein Telefon klingelte, und er griff nach dem Hörer. „Lass mich wissen, wenn es ein Problem gibt, das einen Patienten betrifft.“ Er hielt den Hörer ans Ohr: „Hallo?“

Die Unterredung war beendet. Michelle verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ohne Bobs Unterstützung hatte sie keine Wahl. Sie musste allein mit dem Neuen klarkommen. Wie sollte sie das nur aushalten? Einfach alles an ihm störte sie.

Ty trat hinaus in den warmen Frühlingsabend. Er war froh, nach Hause zu kommen – oder zumindest in das Apartment, das er die nächsten Wochen sein Zuhause nennen würde. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er nie in einem richtigen Haus aus Ziegeln und Mörtel gewohnt.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und massierte seinen verspannten Nacken. Es hatte länger gedauert als gehofft, aber er war noch bei dem Patienten gewesen, der am nächsten Tag operiert werden sollte. Erst jetzt konnte er das Krankenhaus verlassen.

Er schwang sich seine schwarze Bomberjacke über die Schulter und machte sich auf dem Weg zu seinem Motorrad. Eine Frau in einem engen Rock ging in einiger Entfernung vor ihm her.

In der Dämmerung konnte er weder ihre Haarfarbe noch ihre Kleidung erkennen, aber ihren aufreizenden Hüftschwung, als sie in die Schatten und wieder heraus trat. Sie bewegte sich wie ein Model auf einem Pariser Laufsteg. Noch nie hatte er eine Frau so sexy gehen sehen. Er hätte nichts dagegen, ihre Bekanntschaft zu machen. Vielleicht arbeitete sie in der Krankenhausverwaltung. Gleich morgen wollte er es herausfinden.

Mit einem Gefühl der Enttäuschung sah er, wie sie zwischen zwei parkende Wagen trat und er nur noch ihren Kopf sehen konnte. Eine Minute später erreichte er ihr Auto. Sie blickte ihn an. Sein zunehmendes männliches Interesse bekam eine eiskalte Dusche verpasst.

„Dr. Ross!“ Er konnte sein Erstaunen beim besten Willen nicht verbergen. Es war die Schneekönigin, die diesen unglaublich sexy Hüftschwung hatte!

Auch sie blickte ihn fast erschrocken an. Ihr Wagenschlüssel fiel zu klirrend zu Boden.

„Dr. Smith. Suchen Sie mich?“ Ihre Stimme klang plötzlich ein wenig zu hoch.

Vielleicht lag das daran, dass er sie eben noch bewundernd angeblickt hatte.

Sie ging elegant in die Knie und hob ihren Schlüssel auf. „Stimmt etwas mit unserem Patienten nicht?“

„Soweit ich informiert bin, geht es ihm gut.“

„Warum sind Sie dann hier?“

„Dies ist ein öffentlicher Parkplatz. Mein Motorrad steht dort drüben.“ Er deutete an ihr vorbei in die Richtung.

Sie warf einen Blick über die Schulter. „Sie fahren Motorrad?“ Es klang verblüfft und zugleich ein wenig vorwurfsvoll. „Das ist gefährlich.“

„Haben Sie es jemals ausprobiert?“

„Nein!“

„Dann tun Sie es. Vielleicht macht es Ihnen ja Spaß.“

Er blickte auf ihre schlanken Fesseln, die auf den hohen Absätzen balancierten. „In diesem Outfit würden Sie allerdings Aufmerksamkeit erregen. Man könnte Ihnen so tief unter den Rock schauen, dass es einen Verkehrsstau geben könnte.“ Er schmunzelte.

Als sie den Kopf senkte, grinste er noch breiter. Das konnte er nur als Verlegenheit deuten.

Wenn er sich nicht irrte, waren ihre Wangen jetzt genauso rosa wie ihre Schuhe. Irgendetwas an ihrer Reaktion ließ ihn vermuten, dass sie Komplimente von Männern nicht gewohnt war. Wahrscheinlich schreckte ihre unterkühlte und schroffe Art die meisten Männer ab. Dabei war sie zweifellos sehr attraktiv.

„Ich habe nicht das geringste Interesse daran, einen Stau zu provozieren.“ Sie stieg in ihren Wagen ein und schlug die Tür ein wenig zu heftig zu.

Vielleicht hatte sie kein Interesse daran, aber die Frau hatte ganz eindeutig alles, was nötig war, um genau das zu erzeugen.

Ty ging zu seinem Motorrad. Sie musste an ihm vorbeifahren. Als sie neben ihm war, blickte sie ihn eine Sekunde lang seltsam intensiv an. Dann gab sie Gas und war verschwunden.

Ja, die nächsten Wochen würden ganz ohne Frage interessant werden.

Michelle näherte sich dem schlichten roten Backsteinhaus, in dem ihre Mutter wohnte. In dieser Gegend am Stadtrand sahen alle Häuser ähnlich aus. Die Wohnzimmervorhänge bewegten sich, und das Gesicht ihrer Mutter erschien. Michelle stieg aus, öffnete den Kofferraum und hob Plastiktüten mit Lebensmitteln heraus.

Sie ging zur Haustür. Als sie fast auf der Schwelle stand, öffnete sich die Tür. „Mum, du hättest nicht aufstehen sollen. Ich kann doch selbst aufsperren.“

Michelles Mutter, groß, aber zerbrechlich, grau meliertes Haar, lächelte. „Ich weiß, Liebes, aber du hast ja keine Hand frei.“

„Und der Arzt hat gesagt, dass du dich schonen sollst.“

„Das tue ich. Du machst dir zu viele Sorgen. Und was wissen Ärzte schon?“ Sie lächelte noch herzlicher. Michelle musste lachen. Damit neckten sie sich oft. Ihre Mutter war sehr stolz auf ihre Tochter und sagte ihr das auch oft. Michelle machte sich ständig Sorgen um ihre Mutter, seit ihr Vater gestorben war. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren. Dann wäre sie ganz allein auf der Welt.

„Mum, setz dich doch zu mir in die Küche. Ich räume die Einkäufe weg und mache uns etwas zum Abendessen.“

„Ja, schön. Dann kannst du mir erzählen, wie dein Tag war. Du arbeitest viel zu hart. Von morgens bis abends bist du im Krankenhaus, und dann kommst du noch hierher, um nach mir zu sehen!“

Diese Diskussion führten die beiden ständig, und sie drehte sich immer im Kreis.

Michelle und ihre Mutter gingen durch den Flur in die kleine gemütliche Küche. Sie war Michelles liebster Raum im Haus, denn sie verband mit der Küche die schönsten Erinnerungen an ihren Vater. Auch so viele Jahre nach seinem Tod setzten weder sie noch ihre Mutter sich auf den Stuhl, auf dem er immer gesessen hatte.

Michelle bereitete ein einfaches Abendessen zu. Ihre Mutter erzählte ihr dabei von einem Buch, das sie gerade las, und den Kindern aus der Nachbarschaft, die gekommen waren, um ihr selbstgebackene Kekse zu verkaufen. Michelle hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil ihre Mutter so oft allein war.

Vor ihrer Krebserkrankung war diese sehr aktiv gewesen. Jetzt befand sie sich zwar auf dem Weg der Besserung, aber Michelle machte sich Sorgen, dass ihre Mutter die Hoffnung auf eine Heilung aufgegeben hatte. Und was noch schlimmer war: Michelle fühlte, dass auch sie selbst nicht wirklich daran glauben mochte. Sie war Herzchirurgin. Krebs war nicht ihr Fachgebiet. Hier hatte sie nicht alles unter Kontrolle, und es war schwer für sie, damit klarzukommen.

Nach all den Jahren, in denen sie Medizin studiert und dann als Ärztin gearbeitet hatte, konnte sie ihrer Mutter nicht wirklich helfen. Der Krebs schien unberechenbar. Das Wichtigste war, die Hoffnung nicht aufzugeben. Mehr konnte sie nicht tun. Aber diese Machtlosigkeit machte Michelle wütend und verzweifelt.

Sie stellte ihrer Mutter einen Teller hin. Der zweite kam auf den Platz, an dem sie ihr Leben lang gesessen hatte. Dann füllte sie Eistee in zwei Gläser und setzte sich.

„Also, wie war dein Tag? Ist irgendetwas Besonderes passiert?“, fragte ihre Mutter, während sie in ihrem Essen herumstocherte.

Plötzlich kam Michelle der breitschultrige, ungehobelte Anästhesist mit dem dunklen, unordentlichen Haar in den Sinn. Sie hatte keine Ahnung, warum.

„Nein, nichts Besonderes. Meine Operationen waren erfolgreich, das ist immer ein guter Tag.“

„Du weißt, dass du öfter ausgehen solltest.“

Michelle seufzte. Fast jeden Tag sorgte sie dafür, dass es einem Patienten wieder besser ging. Manchmal rettete sie sogar ein Leben, das verloren zu sein schien. Trotzdem war ihre Mutter nur daran interessiert, dass sie einen Mann kennenlernte. Egal, wie alt oder wie erfolgreich sie war, ihre Mutter wünschte sich vor allem, dass sie endlich jemanden fand, der zu ihr passte.

Michelle hatte gar nichts dagegen. Ihr war nur noch nicht der Richtige begegnet. Sie musste zugeben, dass es schön wäre, einen Mann an ihrer Seite zu haben. Einen ernsthaften Mann, der sie verstand. Es wäre herrlich, eine so wundervolle Ehe wie die ihrer Eltern zu haben.

„Michelle, du hast gar keinen Spaß im Leben. Du arbeitest viel zu viel. Wenn du nicht im Krankenhaus bist, verbringst du deine Abende mit mir. Du musst wirklich ein bisschen öfter ausgehen.“

„Das sagst du fast jeden Tag. Mum, ich verbringe gern Zeit mit dir.“

„Arbeiten im Krankenhaus denn keine jungen Männer, die du sympathisch findest?“

Ohne dass sie es wollte, kam Michelle der nervige Anästhesist mit seinen grünen Augen in den Sinn. „Niemand, der mich interessiert.“

Ty öffnete die Tür seines unpersönlich möblierten Apartments. Seine Umgebung interessierte ihn nicht besonders. An solchen Orten zu leben, war er inzwischen gewohnt. Wenigstens hatte er ein Dach über dem Kopf, das war schon mehr, als er aus seiner Kindheit kannte.

Mit dem Fuß schob er einen großen braunen Pappkarton mit seinem Namen in den Raum und schloss die Tür. Der Karton diente ihm als Koffer. Seine Gitarre würde erst morgen ankommen. Er hatte sie ins Krankenhaus schicken lassen, sodass jemand unterschreiben und sein Instrument aufbewahren konnte. Manchmal nahm er sie auf dem Motorrad mit, aber diesmal hatte er keine Lust gehabt. Sie war eines der wenigen Dinge, die er nicht zurückgelassen hatte, als er seine Eltern verließ.

Er legte seinen Motorradhelm auf den Stuhl neben der Tür ab und ging in die Küche. Dort stellte er eine Tüte mit einem Päckchen Gourmetkaffee auf den Tisch und suchte nach der Kaffeemaschine. Wunderbar. Es war eine exzellente Kaffeemaschine. Das war seine einzige Forderung gewesen.

Doctors to Go, die Agentur, für die er arbeitete und die ihm zur Hälfte gehörte, war dieser Forderung nachgekommen. Ty hatte bereits ein Jahr lang für die Agentur gearbeitet, als ihm sein Freund eine Geschäftsbeteiligung anbot. Da er nichts besaß als sein Motorrad und die Kleider am Leib, dazu etwas Wäsche zum Wechseln, hatte er viel sparen können, dazu hatte er auch etwas Geld von seinem Großvater geerbt. So konnte er sich in die Firma einkaufen.

Sein Partner führte die Geschäfte, und Ty blieb als sehr stiller Teilhaber im Hintergrund. Er nahm nicht an den Konferenzen und Sitzungen teil. Als er zu seinen Großeltern gezogen war, hatte sein Großvater ihm eines seiner Ideale eingebläut: Man muss einen Plan für die Zukunft haben. Das war etwas, worum seine Eltern sich nie gekümmert hatten. Er hatte sich an den Rat seines Großvaters gehalten. Aber weil er die Arbeit mit Menschen liebte, praktizierte er weiterhin als Arzt.

Er kaufte nur selten Lebensmittel ein, wenn er in eine neue Stadt zog. Stattdessen aß er meistens im Krankenhaus. Außerdem erkundigte er sich nach Lokalen, in denen man einfach, aber gut essen konnte. Von einigen seiner neuen Kollegen hatte er bereits die Adressen von mehreren Restaurants bekommen. An seinem freien Tag wollte er eines davon ausprobieren.

Ty schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann ging er ins Badezimmer, streifte seine Sachen ab und trat unter die Dusche. Nicht überall, wo er als Kind und Jugendlicher gelebt hatte, hatte es eine anständige Dusche gegeben. Aber Regentonnen und Bäche in der Wildnis sind nichts im Vergleich zu einem heißen, prasselnden Wasserstrahl aus einer Dusche.

Ein gedämpftes Klingeln drang aus seinem Kleiderberg am Boden. Er zog den Duschvorhang zurück, hob seine Jeans auf, griff in die Hosentasche und zog sein Handy heraus. Sein Partner hatte ihm bereits per SMS mitgeteilt, dass er ihn wegen einer geschäftlichen Sache anrufen würde.

„Smith hier. Ich rufe gleich zurück. Bin gerade unter der Dusche.“

„Äh, Dr. Smith, hier ist Dr. Ross“, hörte er eine weiche, ein wenig gekünstelte Stimme sagen.

„Wer?“

„Dr. Ross.“ Sie betonte ihren Namen mit Nachdruck. Es klang ungeduldig.

„Oh, Michelle. Ich dachte, es wäre jemand anderer.“

„Offensichtlich.“

Er konnte förmlich sehen, wie sie dabei die Nase rümpfte. Diese Frau war einfach zu verkrampft. „Wie kann ich Ihnen helfen, Michelle?“ Er mochte den Klang ihres Namens. Er passte zu ihr.

„Die Operation ist zeitlich verlegt worden. Wir operieren gleich morgen früh.“

Er hielt sein Handy mit zwei Fingern, damit es nicht nass wurde. „Ich dachte, die Anästhesie-Schwester ist für solche Anrufe zuständig.“

„Normalerweise ja, aber man hat mich angerufen, und ich konnte sie nicht erreichen. Deshalb rufe ich Sie an.“

Sie war wirklich zuverlässig, das musste man ihr lassen. Ganz ohne Zweifel war sie eine gute Ärztin. „Woher haben Sie meine Handynummer?“

„Ich lege Wert darauf, immer die Nummern von allen meinen Mitarbeitern zu haben.“

„Ich verstehe.“ Er sprach die Worte absichtlich langsam und betont aus. „Aus keinem anderen Grund?“

„Nein, natürlich nicht. Wir sehen uns Punkt sieben.“

Er musste über ihren übertrieben arroganten Tonfall schmunzeln. Sie klang, als würde sie mit zusammengebissenen Zähnen sprechen. Er konnte einfach nicht anders, er musste sie necken. Sie war offenbar ein Mensch, der leicht zu irritieren war. Wenn er nur ihr Gesicht sehen könnte. „Ich werde da sein. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt wieder unter die Dusche.“

„Oh, äh, ja sicher. Bis morgen also.“

Man konnte die kühle Lady also aus der Fassung bringen. Als er wieder unter die Dusche trat, beschloss er, das öfter zu tun. Aber warum verschwendete er an diese steife, zugeknöpfte Frau überhaupt einen Gedanken? Sie war ganz sicher nicht sein Typ. Alles an ihr rief nach Stabilität und Sicherheit.

Mehr als einmal hatte man ihm vorgeworfen, ein Womanizer zu sein und es nie lange bei einer Frau auszuhalten. Keine bekam jemals irgendein Versprechen von ihm, er wollte sich zu nichts verpflichten. So verletzte er niemanden. Mochten andere Wurzeln schlagen, für ihn war das nichts.

Es hatte wohl ein paar Frauen gegeben, die ihn unbedingt an sich binden wollten. Aber es hatte nie lange gedauert, da war er schon wieder auf dem Weg in eine andere Stadt. Er war kein Mann, auf den sich eine Frau verlassen sollte.

Er mochte Frauen, die das Leben genossen, die gern lachten und nur ihren Spaß haben wollten. Das war alles, was ihn an einer Beziehung interessierte. Michelle nahm alles viel zu ernst. Sie war keine Frau, mit der man eine kurze, nette Affäre haben konnte. Wenn er überhaupt an einer Affäre mit ihr interessiert gewesen wäre. Und das war er wirklich nicht.

Genug von ihr. Er musste sich ausruhen, vor allem weil er ihr morgen früh in allerbester Verfassung gegenübertreten wollte. Er war sich nicht sicher, ob ihm das gelingen würde.

Er drehte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. Ein paar Minuten später legte er sich nackt zwischen die kühlen Laken.

Ihm kam Dr. Ross in den Sinn, wie sie über den Parkplatz ging. Die Wochen in Raleigh würden wohl interessanter werden, als er geahnt hatte.

2. KAPITEL

Früh am nächsten Morgen klopfte Michelle leise an die Zimmertür ihres ersten Patienten an diesem Tag.

Shawn Russell. Zwanzig Jahre alt. Es würde eine schwierige Operation werden. Er hatte einen angeborenen Herzfehler, war immer wieder im Krankenhaus gewesen, und daran würde sich auch nichts ändern. Und Shawn war ziemlich unglücklich, dass er erneut unters Messer musste. Diesmal sollte die inzwischen zu klein gewordene Herzklappe ausgetauscht werden. Bei den meisten Patienten wäre es ein normaler Eingriff, aber in diesem Fall wurde er durch das Narbengewebe nach den vielen vorhergegangenen Operationen erschwert.

„Herein.“

Michelle öffnete die Tür weiter. Das Zimmer war voller Leute, unzweifelhaft Familie und Freunde. Neben dem Bett stand Dr. Smith, ihr den Rücken zugewandt. Obwohl sie ihn gestern zum ersten Mal gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort an dem breiten Rücken und den dunklen Haaren.

Er wandte den Kopf. „Guten Morgen, Dr. Ross. Wir haben gerade von Ihnen gesprochen“, sagte er und grinste dabei. Michelle runzelte die Stirn. Sie mochte es grundsätzlich nicht, dass über sie gesprochen wurde, und hatte durchaus Zweifel, ob ihr gefiel, was er vielleicht über sie gesagt hatte.

Mehr als einmal hatte sie Getuschel gehört, wenn sie am Schwesternzimmer vorbeigegangen war. Und sein Grinsen erinnerte sie an ihre gestrige Unterhaltung, als er ihr ohne jede Scham erklärte, dass er in der Dusche stand. Er hatte versucht, eine Reaktion aus ihr herauszulocken, aber da spielte sie nicht mit.

„Ich bin hier, falls Shawn vor der Operation noch Fragen an mich hat“, erklärte er.

Sie nickte. „Gut.“

Dr. Smith strich sich das dunkle wellige Haar aus der Stirn, das sich hinter seinen Ohren lockte. Einen akkuraten Schnitt konnte man das nicht nennen.

„Wussten Sie, dass Shawn ein Master Gamer ist?“

Wovon redete der Mann? „Nein, wusste ich nicht. Das freut mich.“ Sie blickte Shawn an. „Haben Sie noch irgendwelche Fragen zur Operation?“

Der erbärmlich magere junge Mann schüttelte den Kopf. „Aber ich glaube, meine Mutter hat noch welche.“

„Die wird Dr. Ross ihr beantworten“, sagte Dr. Smith. „Wir sehen uns dann in wenigen Minuten im OP. Die Schwester wird Ihnen noch etwas geben, das Sie froh und glücklich macht.“ Er grinste wieder. „Aber gewöhnen Sie sich nicht zu sehr daran, Shawn, denn für zu Hause bekommen Sie nichts mit.“ Er hob die geballte Faust, und Shawn schlug seine dagegen. „Und vergessen Sie nicht, Sie haben mir ein Spiel versprochen.“

„Klar doch, Dr. Smith.“

„Sagen Sie Ty zu mir. Bis später.“

Shawn nickte und lächelte verhalten. Zum ersten Mal, seit Michelle ihn kannte, war er vor einer Operation nicht furchterfüllt. Sie und Dr. Smith mochten keinen guten Start gehabt haben, aber sie musste zugeben, dass er es verstand, Patienten zu entspannen. Locker zu sein war nicht gerade ihre starke Seite.

Eine halbe Stunde später betrat Michelle den OP-Bereich. Dr. Smith stand mit drei OP-Schwestern am Waschbecken, und sie unterhielten sich alle angeregt. Immer wieder lachten die Schwestern auf, wenn er etwas sagte.

Michelle fühlte sich wie nie zuvor in ihrem Leben als Außenseiterin. Sie wusste nicht, wie sie in die Unterhaltung einsteigen sollte. Schlimmer noch, sie wusste nicht zu sagen, warum sie es in diesem Moment so gern wollte. Wie mochte es sein dazuzugehören? Mehr über ihre Kolleginnen und Kollegen zu wissen, ihnen auch etwas von sich selbst zu erzählen? Konnte sie überhaupt jemals eine solche Beziehung mit ihnen haben? Überhaupt mit anderen Menschen?

Als Kind hatte sie Freundinnen gehabt. Nach dem Tod ihres Vaters aber kamen diese immer seltener, und sehr schnell begriff sie, dass sie sich in ihrer Gegenwart nicht mehr wohlfühlten. Die stets spürbare Trauer war einfach zu viel für die Mädchen gewesen. Michelle blieb immer öfter zu Hause, las und lernte.

Ihre Mutter ermutigte sie, zu Footballspielen zu gehen, zum Abschlussball, aber Michelle fand diese Vergnügungen langweilig. Zudem wollte sie ihre Mutter nicht allein lassen. Irgendwann nahmen ihre Mutter, das Studium und ihr Job sie voll und ganz in Anspruch, sodass wenig Zeit dafür blieb, persönliche Beziehungen aufzubauen. Es gab einige Männer, die sich für sie interessierten, die meisten für ihr Aussehen, wenige nur für ihren Intellekt. Keiner war lange geblieben.

Sie vertrieb ihre Erinnerungen und begab sich zu den Waschbecken, um pünktlich mit der OP zu beginnen. Lautes Gelächter erklang in der Gruppe um Dr. Smith, der sich nun umwandte und Michelle dabei beinahe anstieß.

„Hi, Michelle.“

Michelle trat auf das Pedal, um das Wasser anzustellen. „Hi“, erwiderte sie und konzentrierte sich aufs Waschen.

„Wir haben gerade darüber gesprochen, heute Abend zusammen in eine Bar in der Stadt zu gehen. Man hat mich gefragt, ob ich in der Mediziner-Band einspringen kann.“

„Sie machen Musik?“

„Tun Sie nicht so überrascht. Ich spiele etwas Gitarre. Deswegen hat Dr. Schwartz mich wohl auch gebeten, für ihn einzuspringen.“

„Ich wusste gar nicht, dass Dr. Schwartz in der Band spielt. Und nein, es überrascht mich nicht, ich habe nur Konversation gemacht.“

„Interessant. Sie kommen mir nicht vor wie jemand, der Small Talk macht.“

„Ich glaube nicht, dass Sie mich gut genug kennen, um das beurteilen zu können.“

„Sie haben recht. Vielleicht sollten wir versuchen, das zu ändern.“

Michelle blickte ihn an. Was lief hier eigentlich ab?

„Ein paar von uns trinken noch ein Glas zusammen, wenn die Ärzte-Band am Samstagabend gespielt hat. Wollen Sie nicht dabei sein? Ein wenig Small Talk üben.“

„Ich habe zu tun.“

„Na schön, aber wenn Sie es sich doch noch anders überlegen, wir gehen ins Buster’s. Wo immer das auch sein mag.“

„Mitten in der Altstadt.“

„Chirurgin und Fremdenführerin zugleich – das ist schon etwas“, meinte er ironisch.

Sie lächelte schwach. „Mein Vater ist mit mir dorthin gegangen, als ich noch ein Kind war.“ Wieso erzählte sie es ihm eigentlich?

„Ihr Vater hat Sie in eine Bar mitgenommen?“, neckte er sie.

Sie schnaubte empört. „In eine Bar hätte er mich niemals mitgenommen!“ Dr. Smith lachte leise. Flirtete er mit ihr? War er überhaupt jemals ernst? „Damals war es keine Bar, nur ein besserer Imbiss. Der Besitzer, Mr. Roberts, war mit ihm befreundet. Ich weiß nicht, wie es jetzt dort aussieht, aber früher hatte es blanke Ziegelwände und alte Holztische.“

„Sie sind in letzter Zeit nicht mehr dort gewesen?“

„Seit meiner Kindheit nicht mehr.“

„Warum nicht?“

„Ich bin einfach nie auf die Idee gekommen.“ Das stimmte nicht. Es war ein besonderer Ort für sie und ihren Vater gewesen. Die Erinnerungen waren zu stark. Ihr würde ihr Vater dann noch mehr fehlen.

„Vielleicht sollten Sie es wieder einmal versuchen.“

Sie beendete das Reinigen der Fingernägel. „Ich denke nicht.“

„Nun, ich hoffe, Sie ändern Ihre Meinung noch. Ist bestimmt nett dort. Wenn es immer noch Burger gibt, spendiere ich Ihnen einen“, sagte er, wandte sich um und ging.

Ein paar Minuten später betrat sie den OP. Das Team stand zusammen und lachte gerade leise über etwas, was Ty gesagt hatte. Er schien immer einen lustigen Spruch parat zu haben. Warum sollten die anderen nicht darüber lachen? Seit langer Zeit hatte sie selbst nicht mehr so oft gelächelt. Andererseits war sie seinetwegen auch angespannter als sonst. Als sie zu den anderen trat, wurde es still im Raum.

„Alle bereit? Ach, übrigens, wie schön, Sie schon vor mir hier zu sehen, Dr. Smith.“ Im nächsten Moment begriff sie, dass sie es in neckendem Ton gesagt hatte. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Was war denn in sie gefahren?

„Ja, diesmal musste ich nicht bei einem Autounfall helfen.“ Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest.

Das war klar und deutlich. Sie sollte eigentlich wegen ihres gestrigen Verhaltens ein schlechtes Gewissen haben. „Ich hoffe, niemand ist ernstlich verletzt worden.“

„Nein, glücklicherweise nicht. Ich bin jetzt bereit, wenn Sie es auch sind, Michelle.“ Seine Augen blitzten schelmisch, als er sie beim Vornamen nannte.

Michelle presste die Lippen hinter dem Mundschutz zusammen. Sie ahnte, sie würde es nicht schaffen, diesen nervigen Mann dazu zu bringen, sie im OP mit Dr. Ross anzusprechen. Sie würde es ihm durchgehen lassen müssen, außer er nannte sie vor Patienten beim Vornamen.

Als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass alle sie anblickten. Vermutlich hatten sie die Unterhaltung zwischen ihr und Ty interessiert verfolgt.

Damit niemand merkte, dass er es geschafft hatte, sie aus der Reserve zu locken, sagte sie forsch: „Fangen wir an.“

Eine ganze Weile später saß Ty im Schwesternzimmer der Kardiologie und sah vor der Visite Krankenakten der Patienten durch, die morgen operiert werden sollten. Michelle und er würden zusammen drei Operationen durchführen. Als er damit fertig war, klappte er die Akten zu und hörte im selben Moment das Klicken von Pfennigabsätzen auf den Fliesen. Er blickte auf und sah Michelle auf sich zukommen.

Das Haar hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden, sie trug eine bequeme graue Hose, dazu eine hellrosa Seidenbluse. Darüber hatte sie einen frisch gebügelten Arztkittel ohne eine einzige Knitterfalte, und er würde einen Wochenlohn verwetten, dass der auch noch gestärkt war. Ihre hochhackigen Peeptoes waren vom gleichen Taubengrau wie ihre Hose, die Zehennägel leuchtend pink lackiert.

Bedauerlicherweise konnte er ihre Beine nicht sehen. Sie besaß ausgesprochen hübsche Beine.

Ihr Outfit ließ keinen Zweifel an ihrer Weiblichkeit, in keiner Hinsicht. Sie war der personifizierte Widerspruch. Einerseits schroff und abweisend, andererseits berückend feminin. Welche war die wirkliche Michelle? Er würde es gern wissen.

Sie blickte in seine Richtung. Als er sie anlächelte, schaute sie weg und ging schnell weiter. Ty konzentrierte sich wieder auf seine Unterlagen und öffnete die nächste Krankenakte. Als er dann zufällig aufblickte, sah er die Schwester, die Shawn betreute, aufs Schwesternzimmer zumarschieren, die Lippen zusammengepresst. Sie blieb vor ihrer Kollegin stehen, die zwei Stühle weiter saß.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte sie: „Abby, passt du bitte kurz auf meinen Patienten auf? Die Schneekönigin ist wieder einmal in Hochform.“

Ihre Kollegin schien wenig erfreut. „Okay, aber bleib nicht zu lange weg. Ich möchte auch nicht in ihre Schusslinie geraten.“

„Ich muss etwas Dampf ablassen. Zum Glück ist sie gerade bei dem Patienten der armen Robin.“

Ty sah Michelle näher kommen, die beiden Schwester allerdings nicht. Kurz blitzte Schmerz in ihren Augen auf, dann aber wurde ihr Gesicht ausdruckslos. Unzweifelhaft hatte sie jedes Wort mitbekommen. Es hatte sie verletzt. Und zwar ziemlich, dem flüchtigen Ausdruck nach zu urteilen.

„Entschuldigen Sie, aber wenn Sie nicht zu sehr beschäftigt sind … haben Sie eine Telefonnummer, unter der ich Shawns Familie erreichen kann?“

Die eine Schwester fuhr herum, sichtlich verlegen. „Äh … ja, Dr. Ross, sie steht in der Krankenakte.“ Das Dampfablassen war offenbar vergessen, denn umgehend setzte sie sich an den PC und rief die Datei auf. Ty blickte Michelle an, aber sie würdigte ihn keines Blickes.

Die Schwester reichte Michelle einen Zettel mit der Nummer.

„Danke“, sagte Michelle steif und ging davon. Zum ersten Mal tat sie ihm leid.

Eine Weile später besuchte Ty die Patienten, die am nächsten Tag operiert werden sollten. Einer von ihnen hatte Fieber, deswegen musste die OP um mindestens einen Tag verschoben werden. Er würde mit Michelle darüber reden müssen.

Er hätte sie anrufen können, aber wegen des Vorfalls vorhin wollte er lieber persönlich mit ihr sprechen. Zum ersten Mal hatte er hinter ihre Maske blicken können und einen verletzlichen Menschen entdeckt. Auf dem Weg zu ihr redete er sich ein, er würde sich jeder Kollegin gegenüber so verhalten, die öffentlich so verletzt worden war. Speziell mit Michelle hatte es nichts zu tun. Normalerweise hielt er professionellen Abstand. Aber wieso diesmal nicht?

Er blieb vor der Tür mit ihrem Namensschild stehen und klopfte. „Herein“, kam die gedämpfte Aufforderung.

Ty öffnete und betrat den Raum. Abrupt blieb er stehen. Die Wände waren in einem warmen Gelb gestrichen, aber am meisten überraschte ihn das riesige Ölbild mit rotem Mohn hinter ihrem Schreibtisch. So etwas hatte er nicht erwartet. Die Frau wurde immer interessanter.

Vor dem Schreibtisch standen zwei ultramoderne Sessel, bezogen mit Stoff in Farben, die mit denen an der Wand und dem Bild harmonierten. Dies hier war offensichtlich ihr Zufluchtsort.

Michelle riss die Augen auf, als sie ihn sah. Sie waren gerötet und leicht geschwollen. Offensichtlich hatte sie geweint.

„Was kann ich für Sie tun, Dr. Smith?“ Ihr neutraler Ton verriet, dass sie ihn so schnell wie möglich wieder loswerden wollte.

„Nennen Sie mich doch bitte Ty.“

Leicht gereizt erwiderte sie: „Gibt es ein Problem … Ty?“

„Mr. Marcus hat leider Fieber bekommen.“ Er warf einen Blick in den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Zerknitterte Folie und eine Pappschachtel. Sie hatte Pralinen gegessen, um sich zu trösten. Das passte gar nicht zu einer Schneekönigin.

Er sah auf, ihre Blicke begegneten sich, aber sie sah rasch zur Seite.

„Tut mir leid, dass ich es mit angehört habe“, sagte er und blickte sie weiterhin an.

Sie tat nicht so, als würde sie nicht verstehen. Stattdessen setzte sie sich aufrechter hin. „Mr. Marcus muss prophylaktisch Antibiotika bekommen. Die Operation verschieben wir auf übermorgen.“

„Ich stimme Ihnen zu.“

„Gibt es sonst noch etwas?“ Sie schob ein paar Papiere zurecht, aber er vermutete, dass sie nicht daran gearbeitet hatte. Sie wollte, dass er ging. Ty hingegen dachte daran, dass sie geweint hatte. War ihre eisige Unnahbarkeit nur Fassade? Wie war die Frau, die dahintersteckte, wirklich?

„Wie ich sehe, haben Sie bereits etwas genascht, aber vielleicht hätten Sie Lust, mit mir einen Happen zu essen? Es soll hier in der Nähe ein Lokal geben, das köstliches Roastbeef anbietet.“

Sie sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. „Nein danke, ich habe zu tun“, erwiderte sie kühl.

„Dann vielleicht ein andermal?“

„Ich glaube nicht.“

Er lehnte sich mit der Hüfte gegen ihren Schreibtisch und blickte sie an. Sie erwiderte seinen Blick ziemlich unfreundlich.

„Was stört Sie an mir? Oder können Sie alle und jeden nicht ausstehen?“ Als sie den Mund öffnete, hob er die Hand. „Es geht mich eigentlich nichts an, und Sie können es auch abstreiten, aber ich weiß, dass Sie vorhin verletzt waren. Sie brauchen ihnen eigentlich nur zu zeigen, dass Sie menschliche Gefühle haben. Lächeln Sie, erkundigen Sie sich nach ihren Familien. Gewinnen Sie sie ein wenig für sich.“

Abrupt stand Michelle auf, stemmte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich vor. „Meinen Sie, ich wüsste nicht, was die anderen über mich denken? Es ist nicht mein Job, mit ihnen befreundet zu sein. Für mich kommen meine Patienten an erster Stelle. Wie können Sie es wagen, mir Vorschläge zu machen, wie ich mein Leben zu leben habe? Ich brauche keinen windigen Vertretungsarzt, der mir sagt, wie ich mit dem Pflegepersonal umgehen soll.“

Ty grinste. Sie hatte genauso reagiert wie gedacht. Voller Empörung. „Ich wollte nur sagen, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig.“

Er wandte sich ab und hörte sie wütend schnauben.

Es war schon zwei Uhr morgens, als Michelle das Krankenhaus verließ. Ihr Team war zu einem Notfall gerufen worden.

Nicht einmal ihren OP-Kittel und die Hose hatte sie ausgezogen, was wirklich selten vorkam. Aber sie war einfach zu müde. Als sie die ersten Schritte auf ihren Wagen zuging, hörte sie, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde. Sie schreckte zusammen, packte ihre Handtasche fester und warf schnell einen Blick über die Schulter. Es war Ty. Einerseits war sie froh, dass es niemand war, der vielleicht schlechte Absichten hatte, andererseits hätte sie gern auf seine Anwesenheit verzichtet.

„Gute Arbeit da drinnen, Michelle!“, rief er ihr zu.

Sie blieb stehen und wandte den Kopf. Das Licht auf dem Parkplatz war nicht schwach genug, um zu verbergen, dass er fertig wirkte. Zum ersten Mal erlebte sie ihn nicht munter und fröhlich. Er wirkte ebenso müde wie sie selbst. Die OP-Kleidung hatte er gegen eine bequeme Cargo-Shorts und Sandalen getauscht, dazu ein T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte.

„Diese Nachtdienste sind nicht so einfach, wie man es uns im Studium dargestellt hat. Aber das wissen Sie ja selbst. Leicht war es heute nicht.“ Er kam näher.

Glaubte er vielleicht, sie würde so tun, als wäre nichts gewesen? „Nein, das war es nicht.“ Sie wollte weitergehen.

„Michelle, warten Sie.“

Sie blieb stehen und drehte sich um. „Warum? Damit Sie mir sagen, was ich tun soll?“

„Oh, oh, die Frau ist nachtragend.“

„Ich bin nicht nachtragend! Ich mag es nur nicht, wenn die Leute sich ungefragt in meine Angelegenheiten einmischen.“

„Also andere Menschen. Vielleicht mögen Sie keine Menschen?“

„Natürlich mag ich Menschen!“

„Dann beweisen Sie es.“

„Beweisen?“

„Ja. Sagen Sie ein einziges nettes Wort über mich.“

Sie lachte kurz auf.

Ty musterte sie interessiert. „Das ist tatsächlich das erste Mal, dass ich auch nur annähernd so etwas wie ein Lachen von Ihnen höre.“

„Ich lache auch sonst.“

„Wo, im Keller?“

„Wollen Sie Streit?“

Diesmal antwortete er nicht sofort. „Nein, ich hatte nur versucht, Ihnen ein Kompliment zu machen. Vielleicht auch ein wenig zu flirten.“

„Ich will nicht, dass Sie mit mir flirten.“

„Und warum nicht?“

Michelle warf ihm einen durchdringenden Blick zu. „Weil Sie nichts ernst nehmen.“

„Das ist nicht wahr. Meine Patienten nehme ich immer ernst.“

„Sie wissen, was ich meine. Sie ziehen die jungen Schwestern an wie eine Stalllaterne die Motten. Selbst aus anderen Abteilungen tauchen seit Neuestem auffallend viele bei uns auf.“

„He, dafür kann ich nichts.“

Damit hatte er wohl recht, aber sie würde nicht zu einem seiner Groupies werden. „Warum machen Sie nicht die glücklich, flirten mit ihnen und lassen mich zufrieden?“

„Weil es viel zu viel Spaß macht, Sie zu necken. Ich kann immer sicher sein, dass Sie rot werden und mir eine gepfefferte Antwort geben.“

Allmählich wurde es ihr zu bunt. Sie ging los. „Sie denken also, solange Sie hier sind, darf ich Ihnen zu Ihrem Vergnügen dienen. Das sehe ich nicht als Kompliment.“

Er blieb neben ihr. „Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass ich Sie attraktiv finden könnte?“

„Nein.“

„Was, nein? Der Gedanke ist Ihnen nicht gekommen, oder nein, Sie glauben nicht, dass ich Sie attraktiv finde?“

„Beides.“

„Also, für eine so schöne und intelligente Frau sind Sie ganz schön zynisch.“

Sie blieb stehen und sah ihn streng an. „Ty, ich bin nicht dazu da, Ihnen den Tag zu versüßen. Auch ohne Sie habe ich genug Sorgen.“

„Möchten Sie nicht einmal unbeschwert sein?“

„Dafür fehlt mir die Zeit.“ Sie öffnete die Zentralverriegelung ihres Wagens und zog die Fahrertür auf.

„He, Sie haben noch nicht gesagt, was Sie an mir mögen.“

Sie schlüpfte hinters Steuer. „Gute Nacht, Ty.“ Michelle schloss die Tür. Blickte unwillkürlich in den Rückspiegel und sah Ty zu seinem Motorrad schlendern. Sich mit ihm zu beschäftigen war keine gute Idee.

Ärgerlich auf sich selbst, steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn. Nur ein Klicken ertönte. Sie versuchte es nochmals. Der Motor wollte nicht anspringen.

Ein Motorradauspuff röhrte auf, verstummte wieder. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Ty von seiner Maschine glitt und sie aufbockte. Michelle öffnete die Tür. „Die Batterie ist wohl leer.“

Er kam näher. „Ist es das erste Mal?“

„Nein. Schon als ich hierherfahren wollte, wirkte sie ziemlich schwach. Ich wollte sie morgen überprüfen lassen.“

„Sieht so aus, als bräuchten Sie eine Mitfahrgelegenheit.“

Sie suchte nach ihrem Handy. „Ich nehme mir ein Taxi.“

„Ich kann Sie mitnehmen.“

„Danke, aber ich warte lieber auf ein Taxi.“

„Um diese Uhrzeit? Wollen Sie eine halbe Ewigkeit auf einem dunklen Parkplatz herumstehen?“

„Ich kann nach drinnen gehen.“

„Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause. Ich fahre auch langsam. Keine riskanten Manöver.“

Da sie zu müde war, um hier wer weiß wie lange warten zu müssen, nahm sie ihre Handtasche und stieg aus. „Okay, aber seien Sie vernünftig. Während meiner Assistenzarztzeit in der Notaufnahme habe ich zu viele Motorradunfallopfer gesehen.“

„Ich verspreche, nur einmal auf dem Hinterrad zu fahren. Ganz kurz.“

„Was?“ Sie trat zurück, wollte gehen.

„War nur Spaß. Kommen Sie.“

Ty freute sich, dass er Michelle doch noch hatte überreden können. Die meisten Frauen, die er kannte, wären von dem Angebot fasziniert gewesen. Für sie mochte es ein Abenteuer sein, für ihn hingegen war es nur eine billige und einfache Transportmöglichkeit. Er öffnete den Sitzkoffer, holte einen Ersatzhelm heraus und hielt ihn ihr hin. Erst zögerte sie, dann nahm sie ihn. Mehr nicht.

„Sie müssen ihn aufsetzen, wenn Sie mit mir fahren, das verlangt das Gesetz.“

Sie sah sich um, als würde sie nach einem Polizisten Ausschau halten.

Ty schob die Haare zurück, um seinen Helm aufzusetzen. Michelle blieb stocksteif stehen, als könnte sie sich nicht entscheiden. „Kommen Sie nun mit oder nicht?“ Wieder blickte sie sich um, als würde es vielleicht noch eine andere Möglichkeit geben. Dann atmete sie einmal tief durch und setzte den Helm auf. Aber ihre Haare waren im Weg.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Er nahm ihr den Helm wieder ab und griff nach ihrem Haar im Nacken. Dabei fühlte er ihren warmen Atem am Hals.

Sie lehnte sich zurück. „He, was machen Sie da?“

„Ich wollte Ihren Haarknoten lösen. Sonst passt der Helm nicht.“

„Ach so.“

„Was haben Sie denn gedacht? Dass ich Sie anmachen will?“

„Nein.“

„Doch, das haben Sie.“ Er sah ihr direkt in die Augen und wünschte, es wäre heller. „Wenn ich Sie anmachen wollte, würden Sie es merken. Ganz bestimmt.“ Befriedigt sah er, dass sie schluckte. „Aber jetzt bin ich müde und hungrig. Wenn Sie möchten, dass ich Sie nach Hause bringe, müssen Sie zulassen, dass ich Ihnen mit dem Helm helfe. Ich kann Sie aber ebenso gut bis zum Klinikeingang begleiten, damit Sie dort aufs Taxi warten. Wie auch immer, ich möchte jetzt los.“

Sofort zog sie das Gummiband aus dem Haar und stülpte sich den Helm auf den Kopf.

„Ich werde jetzt den Kinnriemen strammziehen“, erklärte er übertrieben, als spräche er mit einem Kind.

„Hören Sie auf, mich zu veralbern. Ich bin noch nie Motorrad gefahren.“

Sie sah ihn so herausfordernd an, dass er sie am liebsten geküsst hätte.

„Ich bin immer noch nicht sicher, ob Sie der Erste sein sollten, zu dem ich mich aufs Motorrad setze.“

Er lachte leise. „Diese Fahrt wird Ihnen in unvergesslicher Erinnerung bleiben. Geben Sie mir Ihre Handtasche. Ich lege sie in den Sitzkoffer.“

Nach kurzem Zögern reichte sie sie ihm. Nachdem er die Tasche verstaut hatte, schwang er ein Bein über den Sitz, drückte den Ständer zurück und startete den Motor, der mit sattem Röhren zum Leben erwachte. Er warf einen Blick über die Schulter. „Steigen Sie auf.“

Sie gehorchte, versuchte aber dabei, ihn nicht zur berühren. Als sie ins Schwanken geriet, hielt sie sich kurz an ihm fest, ließ los, packte dann wieder seine Schultern. Er betrachtete ihre langen, schlanken Finger, die so präzise arbeiten konnten. Nun fühlte er ihre Stärke. Wie mochte es sein, wenn sie ihn damit überall berührte?

Als sie endlich saß, ließ sie die Hände sinken.

„Sie müssen schon dichter an mich heranrücken, sonst fallen Sie hintenüber.“

Michelle rutschte näher, achtete aber darauf, dass ihre Schenkel seinen nicht zu nahe kamen. Und anstatt die Arme um seine Taille zu legen, hielt sie sich vorsichtig an seinem Hemd fest.

„Fertig?“

Sie nickte.

„Okay, los geht’s.“ Er legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen, und die Maschine ging ab wie eine Rakete. Keine fünf Sekunden später umklammerte Michelle seine Taille, als hinge ihr Leben davon ab.

Er spürte ihre Schenkel, ihre Brüste, und es erregte ihn. Ty atmete tief durch. Richtig war das sicher nicht. Die Frau schmiegte sich aus Angst an ihn, nicht um ihn scharf zu machen.

Kurz nahm er eine Hand vom Lenker, um ihren Schenkel zu tätscheln. „Sie machen das großartig.“

Als er vom Parkplatz fuhr, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht wusste, wo Michelle wohnte. „Wie ist die Adresse?“, rief er über die Schulter.

Keine Antwort.

„Deuten Sie in die Richtung, in die ich fahren soll.“

Wieder keine Reaktion.

„Michelle, wir können nicht die ganze Nacht durch die Gegend fahren. Sie müssen mir schon sagen, wo Sie wohnen.“

Sie hob einen Finger von seinem Bauch und deutete nach vorn.

„Fahre ich richtig?“

Sie nickte an seinem Rücken.

So wird das nichts, dachte er. Am Ende der Straße leuchtete die Reklame eines Imbisses. Ty war hungrig, und da sie heute Nacht operiert hatten, wurden sie erst am nächsten Morgen wieder zum Dienst erwartet. Ein Zwischenstopp war also drin.

Er fuhr auf den Parkplatz und hielt unter einer der hellen Lampen. Nun erst lockerte sich Michelles Griff. Sogleich fehlte ihm die Berührung ihrer warmen, weichen Brüste am Rücken. Als würde ihr erst jetzt bewusst, dass sie sich immer noch an ihm festhielt, ließ sie die Arme sinken und rutschte auf dem Sitz nach hinten.

„Was machen wir hier?“

„Frühstücken.“

„Ich will nach Hause.“

„In dem Fall müssen Sie mir sagen, wie wir dorthin kommen. Was Sie auf dem Motorrad nicht konnten. Während Sie also erklären, wo Sie wohnen, werde ich Eier mit Speck bestellen. Möchten Sie auch etwas essen?“

Wieder wirkte sie unsicher, und wieder überraschte es ihn, weil sie im OP so unglaublich resolut wirkte. Aber vielleicht war diese Frau gar nicht so selbstbewusst, wie sie tat.

„Hungrig bin ich schon.“

Der Imbiss sah aus, als gäbe es ihn seit Ewigkeiten. Die Einrichtung stammte aus den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, mit aluminiumgefassten Resopal-Tischplatten und orangefarben bezogenen Sitzbänken. Der Laden gefiel ihm auf Anhieb.

Ty hielt Michelle die Tür auf. Ihr Haar war zerzaust, und sie trug immer noch ihre OP-Kleidung, aber das tat ihrem stolzen Gang und gutem Aussehen keinen Abbruch. Und alles wirkte völlig natürlich, nicht aufgesetzt, das gefiel ihm besonders.

Drinnen befand sich nur eine Handvoll Gäste, die sich aber alle nach ihr umdrehten. Sie ignorierte es und schlüpfte auf die nächste freie Bank. Ty setzte sich ihr gegenüber. „Ich dachte, Sie würden Ihre Maschine gern im Blick behalten wollen.“

„Gut gedacht.“

„Wie lange fahren Sie schon Motorrad?“, fragte sie, als sie die plastikumhüllte Speisekarte nahm.

„Seit ich sechzehn bin.“

„So jung schon?“

„Ja. Ich musste schließlich zur Schule kommen.“

Über die Karte hinweg blickte sie ihn an. „Ihre Eltern ließen Sie in dem Alter schon Motorrad fahren?“

„Nein, mein Großvater.“ Mann, sie hatte bereits mehr persönliche Informationen von ihm bekommen als die meisten Menschen vor ihr. Normalerweise lenkte er davon ab, aber bei Michelle gelang es ihm nicht.

„Und was haben Ihre Eltern dazu gesagt?“

„Es war ihnen egal.“

Sie sah auf die Karte und murmelte: „Wäre es mir nicht gewesen.“

„Sie waren nicht da, um sich darum zu kümmern.“ Es klang verbittert, wie immer, wenn er von seinen Eltern sprach. Was selten genug der Fall war.

Zum Glück kam die Kellnerin an den Tisch. Sie war Mitte vierzig, leicht übergewichtig und trug ihr dünnes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Was darf’s denn sein?“

„Hallo. Ich möchte gern Eier mit Bacon. Die Eier gewendet, bitte.“

Als sie Michelle fragend anblickte, sagte diese: „Die große Portion Pfannkuchen, bitte.“

Ty lächelte die Kellnerin an. „Und eine Kanne Kaffee.“

Die Frau erwiderte sein Lächeln. „Kommt sofort.“ Damit verschwand sie.

„Erstaunlich, wie Sie das machen. Die Frau kam so griesgrämig her und ging mit einem Lächeln, nachdem sie mit Ihnen gesprochen hatte.“

„Danke. Das liegt einfach an Tys Power.“

„Tys Power, ja? Ty ist eine Abkürzung, vermute ich. Wahrscheinlich heißen Sie Tyrone.“

Michelle war ungewohnt redselig. Es mochte an der späten Stunde liegen oder weil sie hungrig war oder einfach nur, weil sie zwangsläufig mit ihm hier sitzen musste. Normalerweise hätte er sich über die vielen privaten Fragen beschwert, doch irgendwie wollte er nicht, dass sie damit aufhörte. Es hatte sein Gutes und sein Schlechtes. Es gefiel ihm, dass sie sich für ihn interessierte.

„Ich wurde nach Tyrone in Georgia benannt.“

„Warum nach einer Stadt?“

„Weil meine Eltern zufällig auf der Durchreise waren, als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten. Meine Güte, stellen Sie viele Fragen …“

„Es klingt interessant. Ich kenne niemand, der nach einer Stadt benannt wurde. Sie sind also in Tyrone geboren.“