Vom Falken getragen AKTION Teil 1 & 2 - Stefanie Landahl - E-Book

Vom Falken getragen AKTION Teil 1 & 2 E-Book

Stefanie Landahl

0,0

Beschreibung

Vom Falken getragen AKTION Teil 1 & 2 Klappentext Teil 1 Marie hatte genug. Tief verletzt und als verrückt abgestempelt flüchtet sie. Dem Falken unbewusst folgend landet sie in der liebevollen Obhut einer Pensionsbesitzerin. Ihre neue Arbeitsstelle hilft Marie, sich an Menschen zu gewöhnen. Doch Raimund bedeutet pure Angst. Wer ist John und kann sie ihm trauen, obwohl er sich selbst nicht verzeihen kann? Die Macht der Vergangenheit lässt Sehnsucht und Angst miteinander kämpfen. Kann die Liebe siegen? Welche Bedeutung hat der Falke? Ein spannender Liebesroman von leichter Mystik begleitet. "Das Problem ist, dass sie nicht atmet. Ich bin gleich zurück, sprechen Sie mit ihr!" "Oh Himmel, Marie, atme, mein Mädchen, komm schon, ATME!" Klappentext Teil 2 "Ergriffen schaute Tom hoch. Noch nie hatte er erlebt, dass ein Mensch so auf ihn reagierte." John und Marie werden als Eltern vor Sorge fast verrückt. Als Annas Freund auf John trifft, eskaliert seine Wut. Mehrmals trifft die Vergangenheit knallhart die Gegenwart. Besorgt beobachtet der Falke das BKA und fliegt in den Wald, um John zurückzuholen. Liebe, Drama, Krimi und der Hauch von Mystik. Fast wie im wahren Leben Taschenbuchgröße (Beide) hätte 724 Seiten. (Gibt es) ("Triggerinfo: Thema Missbrauch ist enthalten, ohne Details) Leseproben,Buchtrailer http://vom-falken-getragen.blogspot.de/ https://kreawusel.blogspot.com/ Ich wünsche "DIR" ein schönes Leben, mit vielen Momenten die dich Lächeln lassen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Die Geburt
Großfamilie
Umzug
Der Entführer
Mia
Die Abrechnung
John in Panik
Das Verfahren
Vor Gericht
Ein paar persönliche Worte.

Vom Falken getragen

Teil 1 und Teil 2

Aktionspreis

"Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig."

Triggerinfo: Thema Missbrauch ist enthalten, ohne Details! Teil 2

Text & Covergestaltung: Stefanie Landahl

Cover Foto: Kurt Bouda

Korrektorat : Renate Schreiber

Lektorat: Kerstin Barth (Teil1)

Quellen: Oscar Wilde – Zitat

Stefanie Landahl

22926 Ahrensburg

[email protected]

https://kreawusel.blogspot.com/

© by Stefanie Landahl - Autorin

Vom Falken getragen 1 & 2

Stefanie Landahl

Kapitel

Flucht ins Ungewisse

 Neue Heimat?

 Auf eigenen Füßen ...

 Anna

 Retter in der Not

 Die Bedrohung

 Mädelsabend

 Gefährliche Überstunden

 Schuldgefühle

 Der Falke

 Tag der Abrechnung

 Einen Schritt zurück

 Tim

 Berührungsängste

 Schleier der Vergangenheit

 Seelenperlen

 Erwachte Gefühle

 Glücksmomente

-

Teil 2

Die Geburt

Großfamilie

Umzug

Der Entführer

Mia

Die Abrechnung

John in Panik

Das Verfahren

Vor Gericht

Flucht ins Ungewisse

Seit sie denken konnte, war dieser Traum ihr steter Begleiter. Vielleicht war er mit Schuld daran, dass sie jetzt im Zug saß? Mittlerweile war Marie fünfundzwanzig Jahre alt und fast jede Nacht besuchte sie dieser Traum. War es ein Engel oder doch ein Vogel? Fast schien es, als flüstere dieser ihr Worte zu: »Marie, komm, folge mir.«

Heute Morgen war Marie so weit. Sie wusste, sie musste gehen. Sie war verrückt, so sagte man zumindest. In ihrem Elternhaus hinterließ sie eine Notiz: Sucht mich nicht, ich komme nicht wieder. Marie.

Leise vor sich hin summend, erlebte sie das gleichmäßige Rattern des Zuges. Sie war guter Dinge und endlich frei. Frei von Demütigung, frei von Kälte. So saß sie eine Weile einfach da und genoss ihren guten Zustand.

Nach ungefähr einer Stunde durchfuhr die Bahn einen Tunnel. Die junge Frau klammerte sich an den Armlehnen fest, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten, und begann hektisch zu atmen.

Eine alte Dame, die ihr gegenübersaß, bemerkte es und fragte fürsorglich:

»Junge Frau, ist alles in Ordnung?«

»Licht, bitte Licht!«, flüsterte Marie kaum hörbar.

Die Dame wollte beruhigend auf Marie einwirken, blieb allerdings in ihren Bemühungen erfolglos.

Als endlich wieder Tageslicht ins Abteil kam, konnte man ihr die durchlebte Panik ansehen. Kreidebleich, mit weit aufgerissenen Augen und zitternden Fingern versuchte sie, irgendwelche Tabletten aus ihrer Tasche zu fischen.

Die Mitreisende hatte Mitleid mit dieser zerbrechlich wirkenden, jungen Frau. Sie war hübsch anzusehen, besonders vorhin, als sie leicht lächelte. Die langen, fast roten Haare schimmerten seidig glänzend. Ihre Augen waren ein wunderschönes Gemisch aus Grün und Blau.

Wortlos reichte sie Marie ein Glas Wasser. Gerne würde sie etwas sagen, wusste aber nicht so recht, was nun angebracht wäre, daher hingen beide schweigend ihren Gedanken nach.

Nach weiteren neunzig Minuten Zugfahrt – Marie hatte sich wieder erholt - stieg die Mitreisende aus.

Zum Abschied sagte sie: »Junge Frau, ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Weiterfahrt und alles Liebe und Gute für Ihre Zukunft!«

Verwundert über diese netten Worte schaute Marie auf, lächelte die Frau an und meinte: »Danke, Ihnen auch alles Gute.«

Schade eigentlich, dass sich ihre Wege schon trennten, sie fand diese alte Dame angenehm. Sie hatte gütig gewirkt und keine blöden Fragen gestellt, so wie sie es sonst gewohnt war.

Kurz darauf schlief Marie ein, träumte vom Engel oder vom Vogel.

Die Stimme aus den Lautsprechern weckte sie mit den Worten: »Endstation, alles aussteigen bitte!«

Marie nahm ihre wenigen Habseligkeiten und schaute sich auf dem Bahnsteig um. Wo sie war, wusste sie nicht, es war ihr auch egal. Der Bahnhof war klein, eher ländlich. Neben den zwei Gleisen gab es noch ein Häuschen mit einem Schalter, an dem man Fahrkarten erwerben konnte. Als sie das Gelände verließ, staunte sie. Wunderschön war es hier. So weit das Auge schauen konnte, pure Natur. Marie lief die Straße entlang. Ab und an kam ihr ein Auto entgegen. Rechts und links sah sie weitläufige Wiesen und Felder, weiter vorn konnte sie einen Fluss erkennen.

Diese Stille war nicht leise – im Gegenteil, wenn man genau zuhörte, erkannte man eine Vielfalt an Geräuschen. Das Gezirpe aus dem Gras, das Summen vieler Insekten, ein Zwitschern und Flöten der Vogelwelt. Der Fluss plätscherte, während die Bäume leise rauschten. Dazu kam der liebliche Geruch von Bäumen, Blumen und Sträuchern. Fasziniert entdeckte Marie auch die japanischen Kirschbäume mit ihren rosa Blüten.

Sie war so überwältigt von der wunderschönen Umgebung, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie schon längst querfeldein lief. Ein Gefühl von Liebe und Heimat durchströmte sie, obwohl sie noch niemals hier gewesen war. Sie drehte sich wie ein Kind im Kreise und ließ sich von den rosa Blüten taufen. Später setzte sie sich ins Gras und beobachtete noch einige Zeit das Treiben um sich herum.

Plötzlich ließ sich ein Falke unweit von ihr auf einem großen Stein nieder. Er saß einfach da und beobachtete Marie. Es wirkte, als würden sie sich gegenseitig in die Augen schauen. Die Situation fühlte sich nicht bedrohlich an, eher mystisch, fast, als wäre es von Bedeutung. Sie hatte das Gefühl, diese Augen nicht das erste Mal gesehen zu haben. Irgendwann schlief sie ein, und als sie wieder erwachte, setzte der Falke gerade zum Flug an. Er umkreiste sie noch einmal und verschwand anschließend in Richtung Süden. Marie stand auf, reckte und streckte sich den letzten Schlaf aus den Gliedern und lief weiter. Richtung Süden.

Weiter vorn schien eine kleine Ortschaft zu sein. Sie entschloss sich, dort ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Marie sah ein Fachwerkhaus, es wirkte alt und nahezu märchenhaft. Die Vorderfront war mit Efeu bedeckt. Ein Holzschild in Herzform, mit der Aufschrift: Schlafplatz frei, hing an der Eingangstür aus schwerem Eichenholz. Diese wurde von einer Blumenranke umrahmt. Rechts stand ein großer Blumenkübel und links eine Schubkarre aus Holz, gefüllt mit bunten Wildblumen. Zögerlich griff sie nach dem Türgriff. Als Marie diesen berührte, wirkte es, als würde sich die Tür fast von alleine öffnen.

Sie ging zu einem Tresen, hinter dem sie die Rezeption vermutete. Weit und breit war niemand zu sehen. Auf der polierten Fläche stand eine glänzende, antike Messingglocke, mit welcher Marie auf sich aufmerksam machte. Zaghaft griff sie nach dieser und schüttelte sie vorsichtig. Kurz darauf hörte sie schnelle Schritte.

Eine Frau kam um die Ecke und sagte mit freundlicher Stimme: »Ich komme ja schon!« Silbergraues Haar umrahmte in weichen Wellen ihr gütiges Gesicht. Sie war nicht besonders groß, aber für ihr Alter wirkte sie erstaunlich sportlich. Die Augen der Frau blickten liebevoll und ungewöhnlich aufmerksam.

»Guten Abend, junge Frau. Sie suchen sicherlich einen Platz zum Schlafen. Es ist selten, dass hier jemand herkommt. Zurzeit könnten Sie sich ein Zimmer aussuchen, doch ich empfehle Ihnen das nach Süden hin, im obersten Stock. Der Ausblick dort ist besonders herrlich. Wenn Sie noch zu Abend essen möchten, sagen Sie es nur, ich richte Ihnen gerne etwas her.«

»Danke, das wäre sehr nett, etwas hungrig bin ich schon.«

Kaum hatte sie die Worte gesprochen, knurrte ihr Magen lautstark, wie zur Bestätigung. Etwas hungrig war gewaltig untertrieben, da sie vor drei Tagen das letzte Mal gegessen hatte. Marie bedankte sich, während sie den Schlüssel mit der Nummer sieben entgegennahm. Sie ging die knarrende alte Treppe hoch in den ersten Stock. Wie alt das Haus wohl sein mochte, überlegte sie. Überall sah man Deckenbalken und auch die Wände waren teilweise mit Holzbalken durchzogen, alles wirkte freundlich und gemütlich. Es passt irgendwie zu der alten Frau, dachte Marie, während ihr Magen erneut laut grummelnd verkündete, dass ein leckerer Geruch von Essen sich im Haus breitmachte.

Nachdem Marie einen vorzüglichen Salat mit Kräutersoße, Bratkartoffeln und hinterher selbst gemachten Joghurt gegessen hatte, setzte sie sich noch ein Weilchen raus auf den Balkon und beobachtete die Natur. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, Zuhause angekommen zu sein. Marie konnte sich gut vorstellen, hierzubleiben, denn hier fühlte sie sich das erste Mal in ihrem Leben wohl. Hier war niemand, der sie anschrie. Niemand, der sie verachtend wegsperrte. Niemand, der sie als Spinnerin verhöhnte.

Dass sie vielleicht ein wenig verrückt war, das wusste sie ja. Aber das war doch nicht ihre Schuld. Daran war das Gift schuld. Das Gift, das dieser Mann vor Jahren in sie reingespritzt hatte. Immer wieder kam er nachts, tat ihr weh und vergiftete sie mit diesem Zeug. Sein Geruch und sein Gestöhne verfolgten sie manchmal noch heute. Schnell brach sie ihre Erinnerungen ab, wusste sie doch, wohin das führen konnte. Niemals würde sie jenes vergessen können, da war sie sich sicher.

Als Marie sich damals endlich getraut hatte, zur Internatsleitung zu gehen, glaubte man ihr nicht! Stattdessen wurde sie als Lügnerin hingestellt. Sie wäre eine, die dem männlichen Personal schöne Augen machen würde. Aufgrund dessen könne sie nicht länger im Internat bleiben. So hieß es in dem Schreiben, welches ihre Eltern bekamen, bevor sie Marie abholten.

Von da an wurde sie von ihrer ohnehin kaltherzigen Mutter bei den geringsten Anlässen in den dunklen Keller gesperrt. Im Keller war sie nie ganz allein, es lebten dort jede Menge Spinnen, und auch Ratten liefen ihr manchmal über die Füße. Doch Marie sah sie nicht. Mit der Zeit entwickelte sie eine ausgeprägte Spinnenphobie und hatte Angst vor Ratten und der Dunkelheit.

Eines Tages hatte sie ihren Eltern heimlich ein Feuerzeug gestohlen und es mit in den Keller genommen. Doch leider wurde es entdeckt und sie bezog mal wieder eine Tracht Prügel. Marie wurde als die Schande, die sie doch war, gemieden und als Früchtchen, Lügnerin und Diebin beschimpft. Ihre Mutter hatte sie nahezu täglich spüren lassen, wie sehr sie ihre Tochter für die Beschmutzung ihres Ansehens hasste. Mutter hatte ihr nicht glauben wollen. Die Nachbarn waren wichtiger, als die ach so missratene Tochter.

Sie hatte es wirklich versucht. Damals, an dem Tag, als ihre Mutter die blauen Flecken an ihrem Körper entdeckte. Marie stand gerade unter der Dusche, als plötzlich ihre Mutter das Bad betrat. Vorwurfsvoll wurde sie angekeift. Ihr wurde unterstellt, dass sie sich geprügelt hätte. Zitternd und schluchzend hatte Marie erzählt, was vorgefallen war.

Ihre Mutter lachte auf und zischte: »Erzähle mir nicht solche Märchen, Marie!« Und verließ den Raum.

Und ihr Vater? Er war zu schwach, stand unter dem Pantoffel seiner Frau. Wenn er nur andeutungsweise versuchte, etwas zu sagen, oder zu murren, wurde er mit sexuellem und persönlichem Entzug bestraft. Er war ihrer Mutter hörig, in jeglicher Hinsicht. Was Marie nie begriff – selbst ein Eisberg hatte mehr Wärme als diese Frau. Marie liebte ihren Vater, doch gleichzeitig empfand sie Abscheu und Mitleid. Oft hatte sie das Gefühl gehabt, dass er wusste, dass sie die Wahrheit sagte.

Lange Zeit konnte Marie nicht nachvollziehen, warum sie von ihrem Vater keine Hilfe bekam. Er konnte nicht, egal wie sehr sie sich wünschte, dass er sie beschützen möge. Vor Jahren gab es einen Vorfall in der Schule. Ein Mädchen wurde bedroht. Der Vater des Mädchens war unverzüglich in der Schule und sie hatte von da an für immer Ruhe. Der Mitschüler der höheren Klasse musste sich vor versammelter Mannschaft bei seinem Opfer entschuldigen. Marie wünschte sich damals sehnlichst, dieser Vater wäre der ihre.

Eines Tages hatte sie gehört, wie ihre Mutter mit ihrem Vater sprach: »Die Göre hat nicht alle beisammen, heute hat sie wieder den ganzen Tag schaukelnd in der Ecke gesessen und wirres Zeugs gestammelt. Ich werde morgen Dr. Born anrufen, der wird sie in die Psychiatrie einweisen!«

Ihr Vater antwortete stotternd: »Nein, das kannst du … das kannst du … doch nicht …«, und fügte fast flüsternd hinzu: »Sie ist doch unsere Tochter!«

Anschließend war es ruhig. Marie wusste, ein kalter Blick hatte genügt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er kann einem wirklich leidtun, dachte Marie, während sie ihre Sachen gepackt hatte.

Kurz darauf war sie geflohen. Nun war sie im Nirgendwo und wusste eigentlich gar nicht, was sie fühlen sollte. Doch alles wäre besser als die Psychiatrie und wieder eingesperrt sein, fand Marie, während ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.

Neue Heimat?

Marie hatte lange geschlafen. Als sie wach wurde, hörte sie die Vögel munter zwitschern und roch den Duft von Kaffee und frischen Brötchen. Erstaunt bemerkte sie, dass in ihrem Zimmer der Tisch mit eben diesen Dingen gedeckt war. Sie öffnete weit die Balkontür, setzte sich an den Tisch und genoss das wunderbare Frühstück. Die Mahlzeit, dieser ruhige Ort, der weite Blick und die Musik der Vögel versetzten sie in eine fast himmlische Harmonie. Sie vergaß Zeit und Raum. Gerne würde sie sich immer so fühlen, ging es Marie durch den Kopf. Ruhe. Wie lange hatte sie keine Ruhe mehr gefühlt?

Sie war jetzt so nah bei sich, irgendwo hier draußen. Es war ein schönes Gefühl, dass es fast schon wieder unheimlich wurde. Was wäre, wenn ich einfach hier sitzen bleiben würde?

Früher hatte sie manchmal in ihrem Baum die Ruhe gesucht, dorthin war sie oft geflüchtet. Dort fand man sie nicht. Der Baum stand auf dem unbewohnten Nachbargrundstück und hatte in seinem breiten Stamm ein großes Loch. Es war wie eine Höhle. Ihre Höhle. Sie hatte sich jedes Mal gewünscht, in seinem Schutz bleiben zu können und doch hat sie ihn immer wieder verlassen müssen.

Seufzend erhob sich Marie, um ausgiebig duschen zu gehen. Im Anschluss würde sie die Gastgeberin suchen gehen. Vielleicht konnte diese ihr sagen, wo sie eine Zeitung finden würde. Sie wollte sich die Stellenanzeigen heraussuchen. Irgendwann würde ihr Erspartes verbraucht sein, und zurück, wollte sie auf gar keinen Fall! Niemals!

Gerade wollte sie nach der Pensionsinhaberin klingeln, da diese nirgendwo zu finden war, als Marie eine Zeitung links neben sich liegen sah. »Das ist ja ein tolles Haus«, murmelte Marie im Selbstgespräch. »Hier scheint alles wie von selbst zu funktionieren.« Mit dem Blatt in der Hand ging sie wieder in ihr Zimmer und setzte sich auf den Balkon. Verwundert stellte sie fest, dass nicht weit von ihr der Falke auf einem Baumstumpf saß. Sie freute sich darüber, ohne genau zu wissen, warum. Es fühlte sich an, als wäre er so etwas wie ein alter Freund. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dieser Falke vielleicht etwas mit ihren jahrelangen Träumen zu tun hatte. »Ach Marie«, schalt sie sich, »sei nicht blöd. Das ist ein Vogel, einfach nur ein Vogel.« Zurzeit träumte sie nicht diesen Traum, dafür schien der Falke stets in ihrer Nähe zu sein. Schon irgendwie komisch, aber von mir aus, soll er mich halt begleiten, ging es Marie durch den Kopf. Ob nun im Traum oder real ist eigentlich unwichtig. Marie widmete sich wieder der Zeitung. Die meisten Anzeigen waren unbrauchbar, aber diese hier klang ganz ansprechend:

»Suchen Verkaufshilfe in unserer Backwarenabteilung. Bitte wenden Sie sich an unseren Personalchef Herrn Strack, Kaufhaus Morten.«

Das wäre vielleicht das Richtige, dachte Marie. Sie brauchte diese Arbeit und wollte lieber persönlich hingehen. Wenn da nur nicht diese verdammte Angst wäre. Maries Blick glitt suchend zum Baumstumpf, aber der Vogel war weg. Schade. Eine leichte Traurigkeit erfasste Marie. Sie wunderte sich und fand keine Erklärung dafür. Hörbar atmete sie aus, um das Gefühl wegzubekommen.

Marie stöberte in ihren Sachen nach etwas Ordentlichem zum Anziehen. Etwas, das für das bevorstehende Gespräch geeignet wäre, wenn sie schon nicht den üblichen Weg, mit Lebenslauf und schriftlicher Bewerbung, nutzen konnte. Anschließend lief sie nach unten. Sie wollte die Dame fragen, wie sie in die Stadt käme und wann der entsprechende Zug fuhr.

Nach fast einer Stunde Fahrtzeit war sie endlich angekommen. Sofort fühlte sie sich unwohl. Es war fürchterlich laut und stressig, und es gab kaum Luft zum Atmen. Marie quälte sich ungefähr fünfzehn Minuten durch dichtes Gedränge, bevor sie vor dem Eingang des Kaufhauses Morten stand. Die vielen Menschen überall verunsicherten sie. Mit zittrigen Knien und ziemlich blass um die Nase fuhr sie die Rolltreppen bis in den vierten Stock hinauf. Sie war sehr froh über diese Beförderungsart – die Enge in einem Fahrstuhl hätte sie nicht verkraftet.

Hinter der letzten Glastür lag ein langer Flur, an dessen Ende ein Schild mit der Aufschrift Personalbüro stand. Den Namen Herr Strack – Personalleiter fand sie schließlich zwei Türen weiter.

Noch einmal holte Marie tief Luft und strich den Rock glatt, bevor sie an die Tür klopfte.

»Ja, herein, bitte«, kam eine Stimme von drinnen.

Marie straffte sich und öffnete mit leicht zittriger Hand die Tür zum Büro.

»Guten Tag, Herr Strack. Ich komme wegen Ihrer Anzeige im Regionalblatt. Sie suchen eine Verkaufshilfe und ich würde gerne bei Ihnen anfangen. Ich weiß, dass Sie normalerweise eine schriftliche Bewerbung wünschen, aber das …«

Plötzlich wusste Marie nicht weiter und eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

Herr Strack schien sichtlich amüsiert. Oder war er beeindruckt? Nun, zumindest lächelte er.

»Setzen Sie sich bitte, Frau? Wie darf ich Sie ansprechen?«

Marie errötete noch ein wenig mehr. »Entschuldigen Sie, ich bin Marie, Marie Weber.«

»Gut, Frau Weber. Haben Sie denn einen Lebenslauf mitgebracht, damit ich mir ein Bild von Ihnen und Ihren beruflichen Kenntnissen machen kann?«

Marie bemühte sich, nicht auf den Boden zu schauen, während sie antwortete: »Nein, es tut mir leid. Ich habe keine Vorkenntnisse, ich war im Internat und …«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber ich kann alles lernen, ganz bestimmt!«

Herr Strack war ein sensibler Mensch, auch wenn er das in seinem Job nicht zu sehr zeigen durfte. Prüfend, aber nicht unfreundlich, schaute er Marie an. Sie machte auf ihn einen verletzlichen Eindruck und er ahnte, dass ihr der direkte Weg hierher bestimmt nicht leichtgefallen war. Das rührte ihn irgendwie. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass er dieser zurückhaltenden, jungen Frau eine Chance geben sollte. Auch wenn er gewisse Bedenken hatte. Ob sie dem rauen Betriebsklima im Backshop standhalten würde? Aber davon sagte er ihr nichts.

»Okay, Frau Weber, wir versuchen es miteinander. Kommen Sie bitte am Montag früh, um acht Uhr, in mein Büro. Ich werde Sie direkt ins Geschäft bringen und Herrn Braun, dem Abteilungsleiter der Bäckerei, vorstellen. Die Arbeitskleidung bekommen Sie von uns gestellt. Bitte besorgen Sie sich zeitnah noch ein Gesundheitszeugnis. Das Vertragliche regeln wir ebenfalls am Montag. Haben Sie noch Fragen?«

Marie schüttelte verneinend den Kopf. »Gut, wir sehen uns nach dem Wochenende. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Frau Weber, und bedanke mich für Ihren Mut, hier persönlich zu erscheinen.«

Freundlich lächelnd schüttelte Herr Strack ihr die Hand und begleitete Marie zur Tür.

Marie strahlte vor Erleichterung und ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Sie verabschiedete sich mit einem herzlichen Danke.

Ein schönes Gefühl, dachte Marie und sie war unheimlich stolz auf sich selbst. Erst lief sie von ihrem Zuhause fort, das keines gewesen war, und nun hatte sie sich durch die Menschenmassen getraut und beim ersten Anlauf einen Job bekommen. Fast hüpfend und neugierig auf ihren neuen Arbeitsplatz bummelte sie zur Bäckerei. Dort angekommen, schaute sie sich verstohlen um und kaufte übermütig gleich einen ganzen Kuchen. Diesen wollte sie zur Feier des Tages zusammen mit der Pensionsbesitzerin genießen. Dass sie ein unangenehmes Bauchziehen bekam, während sie den Kuchen kaufte, versuchte Marie zu ignorieren. Mutig und glücklich schlenderte sie durch das Gewimmel der Stadt zurück zum Bahnhof und fuhr schließlich zur Pension.

»Hallo, wo sind Sie?«, rief Marie, während sie durch ihr derzeitiges Zuhause lief. Marie fand die Hausherrin draußen am Kräuterbeet, das hinterm Haus angelegt war. »Da sind Sie ja, ich habe Kuchen mitgebracht und würde diesen gerne mit Ihnen teilen, wenn Sie möchten. Ich war gerade in der Stadt und habe eine Arbeit gefunden. Montag fange ich bereits an.«

Die Frau schaute lächelnd zu Marie und meinte: »Das ist ja wunderbar, Fräulein Marie, dass Sie das geschafft haben. Ich bewundere Ihren Mut und setze mich gerne zu Ihnen. Ich werde uns schnell einen frischen Kaffee aufbrühen.«

Sie tätschelte Marie liebevoll die Schulter und schlurfte davon.

Marie setzte sich auf die Bank hinterm Haus und schaute glücklich in die Weite der Natur vor sich. Wo war denn ihr Vogel? Fast hatte sie sich schon an ihn gewöhnt.

Seltsam, die Wirtin hatte eben ihren Mut angesprochen, doch woher wusste sie denn, dass es für Marie Mut erforderte, in die Stadt zu gehen? Irgendwie eigenartig war diese Frau schon, aber instinktiv wusste sie, dass sie keine Angst vor ihr haben musste. Eigenartig war sie doch selber, dachte sie schmunzelnd. Oder sonderbar, wie viele Leute sie immer betitelt hatten. Sonderbar war noch der freundlichste Begriff von allen. Von Hexe über Hure, Flittchen, Verrückte bis Bekloppte war alles dabei. Sie hatte nie verstanden, warum alle Ehefrauen der Umgebung scheinbar Angst um ihre Männer hatten, wenn Marie aufgetaucht war, als ob sie diese verführen würde. So ein Blödsinn! Bei dem Gedanken schaute Marie eher ärgerlich und verwirrt aus. Männer waren für Marie doch gleichbedeutend mit Schmerz, Angst und Ekel. Daher ging sie sicherheitshalber allen Menschen aus dem Weg.

Marie war so in Gedanken versunken, dass sie etwas erschrak, als die Pensionsbesitzerin mit dem Kaffee zurückkam. Das duftende Getränk stand vor ihr auf einem mit Blumen geschmückten Tisch. Der Kuchen war bereits angeschnitten und diese Frau saß da und lächelte Marie freundlich an.

»Marie, so darf ich Sie doch nennen?« »Ja, natürlich.«

»Sie können mich Minnie nennen, damit Sie nicht ›Hallo Sie‹ rufen müssen«, meinte die Dame zwinkernd. »Wir haben also heute etwas zu feiern. Sie haben einiges geschafft, das ist gut so.«

Marie nahm einen Schluck von dem wunderbar duftenden Kaffee.

Schließlich antwortete sie: »Ja, und ich fange schon Montag an, der Personalchef war wirklich sehr freundlich. Obwohl ich nichts an Berufserfahrung vorzuweisen habe, gibt er mir trotzdem eine Chance, das finde ich wirklich nett von ihm.«

»Das finde ich auch. Und wie war es in der Stadt?«

»Oh, das war fürchterlich laut und voll. Die Luft stickig und so viele Menschen. Ich bin, glaube ich, kein Stadtmensch«,

meinte Marie mit entschuldigendem Schulterzucken. »Aber ich habe im Moment keine andere Wahl, ich muss ja Geld verdienen!«

Schon wieder dieses komische Bauchgefühl. Marie schob es darauf, dass sie vielleicht zu viel Kuchen gegessen hatte.

Minnie nickte verstehend und meinte: »Ich mag das Gewühl in der Stadt auch nicht so besonders, irgendwann sind mir die Menschen fremd geworden. Ich bin kein Menschenfeind, nein, ganz und gar nicht, aber mir sind die Menschen zu kompliziert geworden. Mir kommt es auch so vor, als würde es immer mehr Oberflächliche geben. Aber vielleicht täusche ich mich. Viele sagen doch gar nicht, was sie denken. Definieren sich über Geld und Macht und verlieren dabei ihr eigenes Ich, ohne es überhaupt zu bemerken. Da es von dieser Art viele gibt, befinden sie sich in bester Gesellschaft. Irgendwann war es für mich fast unerträglich und ich entschied mich, in und mit der Natur zu leben. Ja, nun bin ich schon seit über dreißig Jahren hier, mein Kind. Hier werde ich auf meine alten Tage auch bleiben!«

Minnie hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht und doch lächelte sie leicht, während sie sprach.

Marie war verblüfft. So hatte sie noch niemals jemanden reden hören. Es klang so ehrlich. Marie ahnte, dass auch in Minnies Leben wohl nicht immer alles so einfach war. Dabei klang es überhaupt nicht verbittert. Außerdem sprach diese Frau mit ihr, als wenn sie ganz normal wäre. Minnie schien sie ernst zu nehmen. Das war für Marie ein neues Gefühl. Sie fing an, die Frau zu mögen, was ihr eigentlich Angst machte. Es war nicht gut, jemanden zu mögen.

Verdammt Marie, lass das bloß sein. Immer wenn du jemanden gern hattest, wurdest du nach Strich und Faden verarscht. Oder man hat dir richtig wehgetan. Marie wusste nicht mehr, wie Vertrauen funktionierte. Sie versuchte, sich mit aller Macht gegen dieses Gefühl zu wehren. Sie könnte Minnie ja nett finden, aber bloß keine Gefühle investieren.

»Minnie, ich möchte Sie etwas fragen. Woher wussten Sie, dass ich in der Stadt Mut brauchte? Ich hatte nun schon öfter das Gefühl, dass Sie etwas wissen, was eigentlich gar nicht sein kann. Aber vielleicht spinne ich auch wieder.«

Minnie lächelte und sagte: »Nein mein Kind, du spinnst überhaupt nicht! In meinem Alter weiß man manche Dinge einfach so. In gewisser Weise kann ich es vielleicht erfühlen oder sehen. Weißt du, mein Leben hier draußen und auch meine vorherigen Erfahrungen haben mich viel gelehrt. Besonders auch über die Menschen. Was ich bei dir sehe, du bist ein hübsches und sehr liebenswertes Mädchen. Ich weiß, dass dir Menschen sehr wehgetan haben. Sei dir sicher, du bist keine Spinnerin!«

Marie war sprachlos und sie spürte einen dicken Kloß im Hals. Woher wusste diese Frau von ihrem Schmerz? Sah man ihr das wirklich an? Wieso waren daheim alle so grausam gewesen? Wieso war hier alles anders? Sie war den Tränen nahe, weil noch nie jemand so nette Worte zu ihr gesagt hatte. Ihr Vater, ja, der hatte es ihr mal zugeflüstert. Doch das war lange her. Sie war verwirrt, da sie einerseits das unbändige Verlangen hatte, einmal alles zu erzählen, und gleichzeitig war da die unglaubliche Angst. Angst, doch wieder verhöhnt zu werden. Angst davor, die eigenen Gefühle nicht ertragen zu können. Minnie strahlte so viel Ruhe und Frieden aus, bestimmt war sie total lieb und doch traute sich Marie nicht, über ihren Schmerz zu sprechen. Mehr als ein schlichtes Danke kam nicht über ihre Lippen. So saßen sie einfach noch eine Weile dort und genossen die Stille, während Marie versuchte, Ordnung in ihr inneres Chaos zu bringen.

Nach einiger Zeit stand Minnie auf.

»Marie, gutes Kind, ich muss mich noch ein wenig um meine Kräuter kümmern. Wenn du magst, kommst du einfach nach hinten. Habe keine Scheu, du störst mich nicht. Ruhe habe ich hier doch immerzu.«

Im Vorbeigehen strich sie Marie kurz über die Wange. Minnie spürte, wie die junge Frau leicht zusammenzuckte, was sie nicht erstaunte. Maries ganze Körpersprache verriet viel. Obwohl sie anmutig und leichtfüßig lief, wirkte sie wie ein scheues Reh. Jederzeit zum Sprung bereit. Während Minnie dabei war, ihre Kräuter zu gießen, überlegte sie, ob es möglich sein würde, Marie zu helfen. Ihr zu zeigen, dass nicht alle Menschen gleich sind. Irgendwann bemerkte sie, dass die junge Frau sie beobachtete.

»Komm gerne her. Wenn du möchtest, zeige ich dir meine Kräuter.«

Marie kam langsam, fast zögernd, näher.

»Morgen werde ich welche ernten, ich verkaufe sie hier in der Umgebung auf dem Markt. Schau, das hier ist Salbei, daneben wächst der Baldrian. Hier ist Blutwurz, eine wunderbare Heilpflanze. Dort vorn beginnt schon das Johanniskraut zu blühen. Petersilie, Dill, Majoran und weitere Küchenkräuter. Der große Strauch dort hinten ist Zitronenmelisse. Sie riecht so schön. Komm, lass uns mal hingehen.«

Marie tat es Minnie gleich und schnupperte an den Blättern der Pflanze. Wirklich angenehm. Wofür diese wohl gut sein mag?

Minnie erzählte weiter: »Man kann sie bei Asthma sowie bei Problemen mit Magen und Darm einsetzen, aber auch fürs Herz ist sie gut. Auf dem Markt geht sie weg wie warme Semmeln und die Apotheke im Ort nimmt mir auch häufig Kräuter ab. Sie verarbeiten diese zu Teeaufgüssen.«

»Oh, das ist ja schön«, meinte Marie. »Lebst du denn nur vom Kräuterverkauf und von der Zimmervermietung?«

Marie wurde etwas rot, als sie bemerkte, dass sie die Frau geduzt hatte.

»Ja, Marie, ich lebe nur von diesen Einkünften, aber ich brauche ja nicht viel. Ich baue mein Gemüse an und Brot backe ich ebenfalls selbst. Beim alten Kurt, ein Bauer hier in der Gegend, bekomme ich hin und wieder mein Fleisch und er erhält dafür Kräuter und selbst gemachten Kuchen. Das funktioniert ganz gut. Nur mein Haus macht mir etwas Sorgen. Es müsste mal wieder renoviert werden und das Dach sollte ausgebessert werden. Aber, kommt Zeit, kommt Rat, sage ich immer. Marie, ich fände es schön, wenn du mich duzen würdest.«

Dabei zwinkerte sie Marie schelmisch zu.

»Minnie, ich möchte mich für vorhin entschuldigen. Ich glaube, ich habe etwas blöd reagiert, als du … also, als du mir so über … über die Wange gestreichelt hast.« Mist, warum muss ich jetzt stottern? Marie ärgerte sich über ihre Reaktion. »Es ist nicht so, dass ich es nicht mag oder so, es hat nichts mit dir zu tun. Nimm es bitte nicht persönlich. Ja?«

Verlegen schaute sie in die Ferne, wohlwissend, dass sie dadurch abweisend wirkte. Marie wollte nicht verletzen, aber sie hatte sich so sehr in ihre eigene Welt zurückgezogen, dass es ihr schwerfiel zwischenmenschliche Beziehungen zuzulassen. Dabei mochte sie diese mütterlich wirkende Frau. Bei ihr fühlte es sich irgendwie so an, als könnte man ihr tatsächlich vertrauen. Marie drehte sich zu Minnie um und sah, wie diese sie liebevoll anlächelte.

»Kindchen, mach dir keine Gedanken darum. Ich nehme es dir weder übel noch habe ich es persönlich genommen. Ich denke, du bist es nicht gewöhnt, so berührt zu werden und dass es auch eine schöne Art der Berührung geben kann.«

Marie schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Minnie akzeptiere ihr Schweigen. Dunkle Wolken zogen auf.

»Komm Marie, lass uns ins Haus gehen, es scheint ein Gewitter auf uns zuzukommen, außerdem möchte ich das Abendessen vorbereiten.«

Etwas später saßen sie in der Stube am Tisch und aßen Hühnerfrikassee. Es schmeckte köstlich. Stumm lauschten sie dabei dem kurzen Gewitter. Anschließend in ihrem Zimmer, sah sie noch etwas fern. Als Marie im Bett lag, dachte sie an ihre neue Arbeit. Sie spürte ein unangenehmes Kribbeln im Bauch. Marie versuchte, die Aufregung, die die Regie übernehmen wollte, beiseitezuschieben. Doch die Müdigkeit gewann und sie schlief kurz darauf ein.

Das Wochenende verbrachte sie viel in der Natur. Marie saß stundenlang unter dem wunderschön blühenden Kirschbaum und hing ihren Gedanken nach. Grüblerische wechselten sich mit Hoffnungsvollen ab. Am Sonntagnachmittag brachte sie Minnie einen großen Strauß wild gewachsener Blumen mit. Marie wollte ihr damit eine kleine Freude machen und sich bei Minnie für ihre Freundlichkeit bedanken.

Ein Strahlen huschte über das Gesicht der alten Frau.

Gerührt schaute sie Marie an und sagte: »Dankeschön, du machst mich sehr glücklich mit diesem wunderschönen Strauß. Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass mir jemand Blumen geschenkt hat. Ich stelle ihn schnell ins Wasser und hinterher habe ich für uns einen leckeren, frischgebackenen Kuchen. Du magst doch Apfelkuchen?« Marie fühlt sich wohl wie schon ewig nicht mehr, nur wenn sie an den nächsten Morgen dachte, an die Stadt und die Arbeit, schlich sich ein seltsames Unbehagen in ihren Bauch.

Auf eigenen Füßen

Es war erst vier Uhr morgens, erschöpft und durchgeschwitzt wachte Marie auf. Sie hatte konfus geträumt. Was sollte sie nun mit der noch übrigen Zeit anfangen? Sie musste ja erst um halb sieben los. Doch an schlafen war nicht mehr zu denken. Erst mal unter die Dusche. Während das Wasser auf sie niederprasselte, gingen ihr Bilder des Traumes durch den Kopf. Beängstigende, vertraute Szenen und doch irgendwie unlogisch. Alte Erinnerungen tauchten in einer Bäckerei auf.

Frisch geduscht und fertig angezogen, stand Marie unschlüssig in ihrem Zimmer herum. Sie sollte etwas frühstücken, aber sie hatte überhaupt keinen Appetit. Ihr war nicht wirklich wohl. Der Bauch grummelte und sie hatte schmerzhafte Krämpfe. Sie hoffte, dass sie nicht noch Durchfall bekäme. Schließlich musste sie später noch eine Weile mit der Bahn fahren. Bei dem Gedanken daran fühlte sie sich nicht besser.

Marie lief hinunter in die Küche, um sich einen Kräutertee aufzubrühen. Sie entschied sich für eine Mischung aus Fenchel und Melisse. Der würde ihrem aufgewühlten Bauch hoffentlich guttun. Marie bemühte sich, leise zu sein, um die Pensionsbesitzerin nicht aufzuwecken, aber es war zu spät! Minnie schlurfte bereits in die Küche. Sie sah noch etwas müde aus, die Haut grau, die Falten ein wenig tiefer, aber die Augen blickten hellwach und liebevoll Marie an.

»Guten Morgen, mein Kind. Du bist aber früh auf.«

Marie meinte entschuldigend: »Guten Morgen. Jetzt habe ich dich doch geweckt, das tut mir leid. Ich wollte mir nur schnell einen Tee brühen. Mein Bauch spielt etwas verrückt.«

Minnie antwortete lächelnd: »Ich bin meistens so früh wach, kein Grund zur Sorge. Marie, Kind, ist alles in Ordnung? Du schaust blass aus. Was ist mit deinem Bauch, macht der Darm Alarm?«

Kaum hatte sie die Worte gesprochen, schauten sich die zwei Frauen an und prusteten vor Lachen los. Marie wiederholte kichernd: »Macht der Darm Alarm? Minnie, das ist der Kracher.«

Minnie wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ernsthaft, soll ich dir mal die Hände auflegen? Du wirst sehen, das wirkt Wunder.«

Marie schaute sie skeptisch an, das sollte ihr helfen? Zögernd nickte sie. »Klar, warum nicht? Ich habe noch Zeit und vielleicht tut es mir ja gut.«

Gemeinsam gingen sie in Maries Zimmer. Minnie bat Marie, sich auf das Bett zu legen, nahm sie sich einen Stuhl und setzte sich daneben. »Marie, hab keine Angst, vertrau mir. Schließe bitte deine Augen und genieße einfach nur die Ruhe. Ich werde jetzt meine Hände auf deinen Bauch legen und nichts mehr sagen. Solltest du einschlafen, wäre das nicht schlimm. Ich wecke dich rechtzeitig, damit du nicht zu spät zur Arbeit kommst.«

»Okay,« murmelte Marie etwas angespannt.

Nicht wissend, was denn nun auf sie zukommen würde. Und Körperkontakt. Aber vor Minnie brauche ich ja keine Angst zu haben, dachte sich Marie.

Es wurde mit einem Mal ganz wohlig in ihrem Bauch, fast so, als würde ihr Körper von einer angenehmen Wärme durchzogen werden. Vor ihren Augen – obwohl sie diese geschlossen hielt – sah sie Farben. Warme Farben. Plötzlich sah sie ihn. Da war er wieder, ihr Falke. Als würde er ihr direkt gegenübersitzen und sie anschauen. Er war ganz ruhig. Wellen von Wohlgefühl durchfluteten nun Maries Körper. Plötzlich wurden ihre Wangen nass. Komisch, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weinte. Schließlich schlief sie ein.

»Hey, Marie, du musst jetzt aufstehen. Es ist sechs Uhr und du möchtest bald los.« Vorsichtig tippte Minnie die junge Frau an.

Marie blinzelte, reckte und streckte sich und murmelte: »Oh, bin ich doch eingeschlafen? Ich habe das gar nicht mitbekommen. Da waren so viele hübsche Farben und dann träumte ich wohl von … von einem Falken.«

Sie setzte sich auf und Minnie fragte sie nach ihrem Befinden. »Ich habe noch immer ein wenig Angst vor der neuen Arbeitsstelle, ohne dass ich wüsste, warum. Aber meinem Bauch geht es hervorragend. Was hast du nur gemacht, Minnie? Wie hast du das gemacht?«

Minnie zwinkerte ihr zu. »Marie, du musst dich jetzt fertig machen und vielleicht noch etwas essen. Eines Tages werde ich es dir möglicherweise erzählen. Jetzt ist nur wichtig, dass es dir wieder gut geht, damit du gestärkt losgehen kannst.«

Marie wusste nicht, dass Minnie die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen hatte. Still hatte sie das Mädchen in ihrem Schlaf beobachtet. Gern hätte sie Marie die Tränen weggewischt, hielt sich jedoch zurück, um sie nicht zu wecken. Das arme Ding hat so viel mitmachen müssen. Auch auf ihre alten Tage machte es Minnie noch traurig, und sie konnte einfach nicht verstehen, warum Menschen anderen so grausame Dinge antun konnten. Wo war denn deren Herz? Was hat sie so eiskalt gemacht? Sie war erbost darüber, dass es doch immer wieder verirrte oder vielleicht sogar böse Seelen gab. »Himmelherrgott«, fluchte sie leise. »Wieso kannst du hier zuschauen? Du hättest die Macht, es zu verhindern. Warum tust du es nicht? Gott oder Göttin, Allah oder starke Energie – ich brauche die Kirche nicht und doch glaube ich an eure Existenz. Doch manchmal möchte ich wissen, wo ihr seid, wenn sogar Kindern solche Gräueltaten angetan werden. Sie erinnerte sich an die weisen Worte, die einst ein alter Mann zu ihr sagte: »Gott hat den Menschen ein Gewissen gegeben, um es zu nutzen.«

Dank Minnies Behandlung, was auch immer das war, kam Marie ohne Zwischenfälle in der Stadt an und saß nun pünktlich, wie verabredet, im Büro von Herrn Strack. Sie erledigten den Papierkram und dann brachte der Personalleiter Marie hinunter in den Backshop. Marie versuchte, das erneut aufflammende Ziehen im Bauch zu ignorieren.

Herr Strack stellte Marie überall vor.

Er wandte sich an seine Mitarbeiter: »Hört her, seid nett zu ihr. Ich möchte keine Klagen hören, Frau Weber ist neu hier in der Stadt und sehr lernwillig, also steht ihr mit Rat und Tat zur Seite.« Zu Marie sagte er: »Wir sehen uns. Die Meute hier ist manchmal etwas rau im Ton, also erschrecken Sie nicht.«

Er zwinkerte ihr aufmunternd zu und verschwand hinter der dicken Eisentür.

Marie war aufgeregt und hätte sich am liebsten in einer Ecke verkrochen. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt. Auch wenn die Kollegen nett zu sein schienen, war es ihr unheimlich. Doch sie hatte diesen Job gewollt und sie brauchte ihn auch dringend. Mit einer flüchtigen Handbewegung strich sie sich eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Sie hoffte, dass keiner ihr Zittern sah. Im Backshop sprachen sich alle mit Vornamen an, sie reichte jedem die Hand und nannte den ihren.

Marie wurde einem Ingo an die Seite gestellt.

Er gab ihr einen Kittel, auf dem bereits ihr Name stand und meinte: »Okay, Marie, komm mal mit, ich zeige dir alles. Heute wirst du nur hinten in der Backstube sein, im Verkauf wäre vielleicht zu viel für den Anfang.«

Er zeigte ihr die Backöfen, die Arbeitsmaterialien und wo und wie sie den Teig anrühren, kneten und formen müsste. Anschließend verschwand Ingo nach vorn in den Laden. Ein hübsches Ding, dachte er sich.

In der Backstube war noch ein Mann, er stellte sich als Raimund vor. Höflich, wie Marie war, gab sie ihm die Hand. Er riecht unangenehm, stellte sie fest. Und wie er mich anschaut. Marie bekam eine leichte Gänsehaut bei seinen Blicken, auch ihr Bauch meldete sich wieder verstärkt. Sei nicht blöd, Marie, du hast ja schon eine Paranoia, schalt sie sich selbst. Mit dem missglückten Versuch eines Lächelns versuchte sie, ihre innere Stimme zum Schweigen zu bringen.

In den nächsten Stunden erledigte Marie ihre Arbeit, wie ihr aufgetragen wurde. Es war eine schwere körperliche Tätigkeit, und trotzdem fand sie schnell ihren eigenen Rhythmus, doch die Aufregung blieb bestehen. Krampfhaft bemüht, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, füllte Marie die Zutaten in den Teigmischer, im Anschluss wurde geknetet und geformt, je nachdem, was es werden sollte. Am meisten wurden Brötchen gebacken. Manche Teige wurden auch angeliefert und mussten nur noch in Ofen geschoben werden. War etwas fertig, wurde es in den Laden gebracht.

Verstohlen wischte sie sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Ingo kam gerade in die Backstube und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Lachend fuhr er mit einer Hand über seine Stirn und wischte sich den imaginären Schweiß ab. Danach schüttelte er seine Hand und stieß stöhnend die Luft aus. Im Laden war der Teufel los. Die Kunden standen wie so oft Schlange. Oje, hoffentlich bekomme ich im Laden das auch alles hin? Ihr wurde ein bisschen mulmig bei dem Gedanken.

Obwohl ihr alles immer leichter von der Hand ging, wurde sie zunehmend unruhiger. Der Grund war Raimund. Wenn er ihr zeigte, wie eine Arbeit zu verrichten war, schien er den Körperkontakt zu suchen. Beim Teig ausrollen zum Beispiel, stand er dicht an Marie gedrängt. Sie konnte ihm nicht ausweichen, stand eingepfercht zwischen ihm und dem Arbeitstisch. Beklemmung machte sich breit. Am liebsten wäre sie jetzt klein wie ein Mäuschen und in der Lage, sich einfach wegzuducken, hinein ins nächste Mauseloch. Marie wurde ein wenig übel – er stank so entsetzlich. Ihre Hände begannen leicht zu zittern und sie verspürte den Drang, sich einfach umzudrehen, ihre Sachen zu schnappen und wegzulaufen.

Raimund bemerkte ihre Unsicherheit. Er sah sie mit einem lüsternen Blick an, streifte langsam mit seiner Hand ihre Brust und drückte seinen Unterkörper noch ein wenig mehr gegen sie.

Dazu grinste er frech und sagte: »Upps, sorry Marie, ich wollte ja, eigentlich, nur nach der Butter greifen. Eigentlich.«

Er zwinkerte Marie zu und fuhr sich mit der Zunge genüsslich über seine Lippen.

Marie konnte ihn nicht anschauen, sie suchte verzweifelt einen Ausweg. Das Gefühl in ihrer Brust drohte sie zu zerquetschen und ihre Atmung wurde immer hektischer. Ihre Übelkeit nahm drastisch zu. Sie ließ den Teig fallen und rannte zur Toilette und übergab ihren ganzen Ekel dem Toilettenbecken. Infolgedessen lehnte sie mit geschlossen Augen ihre Stirn an die kühlen Kacheln, während sie versuchte, das heftige Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Am liebsten würde sie sofort zu Minnie fahren, in die Ruhe und Sicherheit der Pension flüchten. Aber sie musste wieder rein, sie brauchte doch das Geld! Verdammt.

Mit fahlem Gesicht stand sie einige Minuten später wieder brav am Backtisch. Zum Glück kam ihr Raimund nicht mehr ganz so nah, hatte er ihre Abneigung mitbekommen? Er sah irgendwie schuldbewusst aus. Oder bildete ich mir das nur ein? Vielleicht bilde ich mir das sowieso alles nur ein? Vielleicht war er gar nicht so nah an mir dran? Vielleicht war das Streifen meiner Brust wirklich ein Versehen?

Oh Mann, Marie, hoffentlich wirst du nicht doch noch verrückt, dachte sie angstvoll.

Der Rest des Vormittags verlief ohne weitere Zwischenfälle. Stupide und wortkarg verrichtete Marie ihre Arbeit, froh darüber, wenn sie keiner ansprach. Sie hatte das Gefühl, dass die Zeit überhaupt nicht verging, langsam schlichen die Zeiger der Uhr zum ersehnten Feierabend. Als es endlich so weit war, zog sie sich schnell um, verließ fluchtartig die Bäckerei und das Kaufhaus. Marie war vollkommen erledigt und hatte nur noch einen Wunsch, schnell nach Hause zu fahren.

In der Pension angekommen, sagte sie zu Minnie, dass sie sich erst mal hinlegen wolle. Sie wäre zu erschöpft vom ersten Tag. Minnie nickte verständnisvoll und wünschte ihr eine gute Erholungspause. Sie hatte eigentlich immer für alles Verständnis, stellte Marie erleichtert fest. Und schloss die Tür ihres Zimmers.

Irgendwann wurde Marie wach. Im ersten Moment wusste sie zunächst nicht, wo sie war, welcher Tag heute war und ob es nun morgens oder nachmittags war. Noch etwas benommen warf sie einen Blick auf den Wecker, welcher auf dem Nachttisch stand. Jetzt fiel es ihr wieder ein – es war Montag und ihr erster Arbeitstag lag hinter ihr. Obwohl sie ein wenig geschlafen hatte, war sie erschöpft.

Ein angenehmer Duft stieg Marie in die Nase. Sie roch Kaffee. Sie entdeckte, dass auf dem Tisch eine Kaffeekanne und eine Tasse standen. Marie hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand im Zimmer war. Minnie musste es irgendwann ganz leise abgestellt haben, stellt Marie erstaunt fest. Sie war froh, dass sie diese liebevolle Frau kennengelernt hatte. So umsorgt wurde sie noch nie in ihrem Leben - jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie nahm den Kaffee mit auf den Balkon und trank ihn dort in aller Ruhe. Hinterher ging sie hinunter, um sich bei Minnie zu bedanken. Diese war bereits bei den Vorbereitungen fürs Abendessen.

»Hallo Marie, wie war denn dein erster Arbeitstag? Magst du mir vielleicht davon erzählen?«

»Ach Minnie, ich weiß nicht, was ich dir da erzählen könnte, es war ganz okay, glaube ich.«

Minnie spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, aber sie spürte auch, dass Marie nicht darüber reden wollte. Mit einem prüfenden Blick auf Marie beschloss sie, das Mädchen nicht weiter zu bedrängen.

Die beiden Frauen gingen noch eine Weile in den Garten und beobachteten, wie die Dämmerung sich herabsenkte, während sie dem abendlichen Konzert der Vögel lauschten. Anschließend aßen sie gemeinsam bei gemütlichem Kerzenlicht und plauderten über dies und das. So viel Harmonie kannte Marie nicht. Sie begann diesen Zustand zu genießen. Nach einiger Zeit wurde sie ruhiger und wirkte etwas in sich gekehrt. Sie hatte das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. In ihrem Zimmer versuchte sie mithilfe des Fernsehprogramms, ihrem unerklärlichen Sehnsuchtsgefühl zu entfliehen. Einigermaßen abgelenkt schlief sie schließlich ein.

Irgendwann in der Nacht wurde Minnie durch laute Schreie, begleitet von einem leisen Wimmern, geweckt. Erschrocken setzte sie sich auf und eilte nach oben zu Marie. Diese lag im Bett und schlug mit ihren Armen wild um sich. Ihre Sachen waren klitschnass und ihre Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt. Sie schien einen fürchterlichen Albtraum zu haben.

»Sch … sch …, ganz ruhig Kleines. Es ist alles in Ordnung. Du hattest nur einen bösen Traum.«

Marie wimmerte wie ein Kleinkind und Minnie nahm sie einfach in die Arme. Sanft schaukelte sie hin und her und redete beruhigend auf das Mädchen ein. Noch lange blieb Minnie in dieser Nacht an ihrem Bett sitzen und hielt die Hand der verstörten, jungen Frau.

Als Marie wieder eingeschlafen war, schlurfte Minnie hinunter in die Küche, machte sich erst mal eine Tasse Tee und dachte abermals darüber nach, wie sie Marie nur helfen könnte. Irgendjemand musste für Marie da sein. Sie würde sich freuen, wenn die junge Frau hierblieb.

Gerne würde sie so lange wie nötig für Marie da sein. Es würde schon einen Grund geben, dass Marie genau hier gelandet war. Da war sich die Frau sicher. Sicher war auch, dass diese Arbeitsstelle nicht gut für Marie war, dachte Minnie weiter, während sie wieder zurück ins Bett schlüpfte.

Anna

Der Zug ratterte eintönig Richtung Stadt. Marie hatte wieder Bauchschmerzen. Sie versuchte, sich auf die vorbeifliegende Landschaft zu konzentrieren, um sich und ihren Bauch zu beruhigen. In der Stadt angekommen, nahmen ihre Bauchkrämpfe solche Ausmaße an, dass sie erst einmal eine öffentliche Toilette aufsuchte. Marie stützte sich am Waschbecken ab und atmete tief durch. Sie sah ihr Spiegelbild und erschrak. Die Gesichtsfarbe war einem fast durchgängigen Weiß gewichen, dunkle Augenringe bildeten einen starken Kontrast dazu. Auf ihrer Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gesammelt. Langsam ließ sie kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen und benetzte anschließend ihr Gesicht mit dem kühlenden Nass. Erneut zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Wollte ihr Bauch sie vor etwas warnen?

Nach einigen Minuten hatte sich Marie wieder so weit beruhigt, dass sie ihren Weg fortsetzen konnte. Kurz darauf kam sie in der Bäckerei an. Die Arbeit klappte ganz gut und auch ihr Chef, Herr Strack, schaute zwischendrin nach dem Rechten. Sie sah, wie er bei Raimund stand und leise, scheinbar ernsthafte, Worte mit ihm wechselte. Sie maß dem jedoch keine weitere Bedeutung zu und verrichtete gewissenhaft ihre Tätigkeit.

Heute hatte Marie eine weitere Kollegin kennengelernt. Anna, sie wirkte sehr aufgeschlossen, fast schon ein bisschen frech.

»Hey, Marie wollen wir nachher in der Pause gemeinsam einen Kaffee trinken gehen?«

Marie war erstaunt und erfreut. Schüchtern lächelnd stimmte sie zu.

»Ich beiße auch nicht, Marie, versprochen. Obwohl, manchmal schon. Aber nur, wenn es gewünscht wird«, sagte Anna fröhlich und grinste Marie dabei schelmisch an.

»Gut, wenn du nicht beißt, bin ich dabei«, antwortete Marie. Durch die erfrischende Art ihrer Kollegin wurde sie automatisch etwas lockerer.

»Super, ich kenne da ein nettes, kleines Café gleich um die Ecke. Die machen den besten Latte Macchiato der Welt.« Anna strahlte Marie an. Daraufhin fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu: »Außerdem muss ich mal etwas Luft holen von dem Laden hier.«

Die Uhr zeigte endlich zwölf Uhr, Zeit für ihre Mittagspause. Marie schlüpfte aus dem Arbeitskittel und freute sich auf das bevorstehende Treffen mit Anna. Diese wartete bereits vor der Bäckerei auf sie. Gemeinsam verließen sie das Kaufhaus und gingen die Straße hinauf. Die Sonne schien und die Straßen flimmerten. Auf vereinzelten Bänken, die auf der Fußgängerzone zum Ausruhen einluden, saßen Menschen, die das schöne Wetter genossen, ein Buch lasen oder in ein Gespräch vertieft waren. Obwohl Marie derartig viele Menschen nicht mochte, spürte sie eine neue Lebendigkeit in sich. Nach nur wenigen Schritten bog Anna in eine Seitenstraße ein. Es war ein kleines Gässchen mit gemütlich aussehenden Kneipen, wenigen Boutiquen und dem Café, mit einer einladenden Sitzfläche vor dem Gebäude. Sie suchten sich einen kleinen Tisch etwas abseits. Kaum hatten sie Platz genommen, kam eine freundliche Kellnerin, um ihre Bestellung aufzunehmen.

Marie betrachtete ihre Kollegin. Anna war eine hübsche, große Frau, mit langen dunklen Haaren und ebenso dunklen Augen, welche oft so einen schelmischen Ausdruck hatten. Irgendwie kann man sich in Annas Nähe nur wohlfühlen, dachte Marie, während sie ihren Kaffee schlürfte.

»Hach, Latte Macchiato tut sooo gut«, bemerkte Anna, und schaute Marie aufmerksam an. »Kann ich dich etwas fragen Marie?«

»Ja, klar«, reagierte Marie leicht verunsichert.

»Was war denn das mit dem blöden Raimund gestern?«

Marie sackte ein wenig in sich zusammen, was Anna bemerkte und sofort ihren Kampfgeist weckte, sie ahnte nichts Gutes. Wer bei dem Typen nicht bei drei auf den Bäumen war, oder ein freches Mundwerk wie sie hatte, war verloren.

Leise meinte Marie: »Na ja, eigentlich hat er ja gar nichts gemacht. Er kommt nur immer so wahnsinnig nah an mich ran und ich kann damit gar nicht gut umgehen.«

Anna trippelte leicht mit den Füßen, als sie ihre Antwort formulierte: »Also Marie, du solltest Raimund klar zu verstehen geben, dass er Abstand zu halten hat. Der rafft das sonst nämlich nicht! Dass es dir gestern deswegen nicht so gut ging, hat sich bereits rumgesprochen. Daher war auch der Chef heute so sauer. Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber wenn Herr Strack so leise zischend spricht, dann ist echt Gefahr in Verzug. Das macht der ein-, zweimal und dann ist die Kacke wirklich am Dampfen.«

Stumm strich Marie imaginäre Falten aus der Tischdecke.

Anna bemerkte Maries Unsicherheit.

Schnell ergänzte sie: »Nicht wundern, Marie, vielleicht tust du es schon. Ich rede immer, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich sage, was ich denke. Meist bin sehr direkt und manchmal vielleicht sogar frech. Nicht alle kommen damit klar. Ich hoffe, für dich ist das in Ordnung?«

»Ne, ist schon okay«, meinte Marie und musste lächeln.

Irgendwie bewunderte sie die lockere und direkte Art von Anna, wusste jedoch nicht, wie sie es in Worte fassen sollte. Maries Erfahrungen mit Menschen ließen sie vorsichtig sein.

Die beiden plauderten noch eine Weile unverfänglich, bevor sie zurück zur Arbeit mussten.

Während Marie den Teig aus der Knetmaschine holte und entsprechend formte, dachte sie lächelnd: Irgendwie mag ich die Anna, die hat eine fröhliche, erfrischende Art und wirkt dabei sehr ehrlich. Leichtigkeit breitete sich in Marie aus und sie wirkte zum ersten Mal entspannt.

Die restliche Arbeitszeit verlief ohne weitere Zwischenfälle. Raimund hatte zwar einen verkniffenen Gesichtsausdruck, kam ihr aber nicht mehr zu nahe. Die Atmosphäre in der Backstube war, von Raimund abgesehen, recht locker.

Als Marie einige Stunden später zurück in der Pension war, fragte Minnie sie, wie ihr Tag so war, während sie gemeinsam zu Abend aßen. Sie erzählte von Raimund und Minnie zog die Augenbrauen in die Höhe. Ebenso berichtete sie von der Verabredung mit Anna und ein Lächeln breitete sich über dem Gesicht der Frau aus.

»Da hattest du ja schon zwei aufregende Tage in der Stadt. Wie interessant die Unterschiede bei den Menschen doch sind. Dein Chef scheint ein gradliniger Mensch zu sein, das gefällt mir. Die Anna würde ich gern mal kennenlernen. Wenn du möchtest, bring sie mal mit, vielleicht am Wochenende?«

»Ach Minnie, das ist lieb, dass du mir das anbietest. Ich muss mal schauen, denn ich will mich ja auch nicht aufdrängen. Die Anna hat bestimmt viele Freunde mit ihrer lockeren Art«.

Daraufhin meinte die Pensionsbesitzerin nachdenklich: »Offene, direkte Art - mir gefällt das sehr, Marie, aber damit kommen viele Menschen gar nicht klar. Das heißt noch lange nicht, dass sie viele Freunde hat.« Gemeinsam räumten sie noch den Esstisch ab, hiernach marschierte Marie auf ihr Zimmer und ließ den Abend auf dem Balkon ausklingen. Sie hielt Ausschau nach dem Falken. Leicht grinsend dachte sie: Irgendwie habe ich mich schon fast an ihn gewöhnt. Tatsächlich landete er kurz darauf weiter vorn auf dem Baum, setzte sich nieder und betrachtete Marie.

Retter in der Not

Tags darauf hatte Marie frei, weshalb sie sich entschloss, einen Spaziergang zu machen. In Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, im Rucksack eine Wasserflasche und etwas Proviant, machte sie sich auf den Weg. Ihr Falke schien bereits auf sie zu warten, also lief sie einfach in seine Richtung.

Diese Ruhe war himmlisch. Schmetterlinge umkreisten sie und am Feld rechts von ihr sah sie Rehe. Wie es wohl meinem Vater geht, überlegte Marie. Er hatte es bestimmt nicht leicht. Irgendwie glaubte sie, dass er sich sorgen würde, doch das durfte er garantiert nicht vor ihrer kaltherzigen Mutter zeigen. Gerade als sie begann, in traurige Grübeleien zu verfallen, flog der Falke hoch und lenkte sie ab. Der Vogel kreiste über Marie und kam richtig nah heran, als wolle er auf sich aufmerksam machen. Hiernach flog er weiter nach links und sie folge ihm. Hörte das Rauschen und Wispern der hohen Bäume, die den Weg säumten. Irgendwann überkam sie ein angenehmer Seelenfrieden. Es fühlte sich zeitlos an.

Aus der Ferne vernahm sie Hundegebell, obwohl keine Spaziergänger zu sehen waren. Kurz darauf sah Marie ein Haus. Erstaunt dachte sie: Oh, hier, so weit draußen ein einzelnes Haus? Es könnte ein Hof sein, überlegte Marie, als sie die Scheunen wahrnahm. Schnellen Schrittes marschierte sie an dem Haus vorbei, schließlich wusste sie ja nicht, wer dort wohnte. Sie hatte gelernt: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.