Vom Lieben und vom Sterben - Bertram Dickerhof - E-Book

Vom Lieben und vom Sterben E-Book

Bertram Dickerhof

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Beschreibung

Der Kern des Christlichen liegt in der Verwandlung des Menschen. Strukturen, Rituale, Moral können dabei unterstützen. Doch das Entscheidende auf diesem Weg sieht Bertram Dickerhof im bewussten Durchleben von Grenzsituationen. Diese legen das Illusionäre und Selbstsüchtige des eigenen Strebens offen. Wird das vom Menschen erkannt und angenommen, "stirbt" sein bisheriges Selbstverständnis und sein wahrer Grund öffnet sich. Es ist der Grund aller Wirklichkeit: unbedingte Liebe, eine Liebe, die ihn dazu befreit, aus der Einheit mit diesem Grund zu leben und darin bleibende Erfüllung zu finden. Das Aushalten an Grenzen bedarf der Einübung. Ihr Ort ist das Beten im Geist des Vaterunsers und der Seligpreisungen - ein Beten, das im Innewerden verweilt, unterscheidet und so in den Alltag hineinwirkt.

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Bertram Dickerhof

Vom Lieben und vom Sterben

Bertram Dickerhof

Vom Lieben und vom Sterben

Auf der Suche nach dem Kern des Christlichen

„Dass das wahre Gebet in den Religionen lebt,ist das Zeugnis ihres wahren Lebens;solang es in ihnen lebt, leben sie.Entartung der Religion bedeutetdie Entartung des Gebets in ihnen.“

Martin Buber*

* Martin Buber, Das dialogische Prinzip © 1999, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Inhalt

Zum Geleit

Prolog

I. Entstehung und Bedeutung des Osterglaubens

1. Der historische Gehalt des Lebens Jesu

2. Nachfolge – ein Abenteuer voll Ambivalenz und Spannung

MESSIAS

AMBIVALENZ

AUFERSTEHUNG

SPANNUNG UND ENTFREMDUNG STEIGEN

WACHSTUM UND SÜNDE

3. Auferstehung

3.1 Der biblische Befund

3.2 Die Entstehung des Konzepts „Auferstehung“

Exkurs: War das leere Grab tatsächlich leer?

4. Die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Jesu

4.1 Eine neue Weisheit

4.2 Eine neue Freiheit

4.3 Eine neue Liebe

5. Die Ostererscheinungen im Neuen Testament

5.1 Was an den Osterereignissen ist historisch?

5.2 Eine Deutung der Ostererscheinungen

Der Kern des Christlichen I

II. Existenzielles Beten

1. Die basale Botschaft Jesu

2. Text, Aufbau und Zentrum der Bergpredigt

3. Der Kern des Evangeliums: Beten im Geiste des Vaterunsers

DIE „DU-BITTEN“

DIE „WIR-BITTEN“

4. Entkoppelung als Befreiung zu Beziehung

5. Die Seligpreisungen als existenzielles Beten

5.1 Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich

5.2 Selig, die Trauernden; denn sie werden getröstet werden

5.3 Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben

5.4 Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden

5.5 Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden

5.6 Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen

KONSTRUKTION UND DEKONSTRUKTION DER EIGENWELT

DIE VERWANDLUNG

DIE SCHAU GOTTES

5.7 Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden

5.8 Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich

5.9 Zusammenfassung

6. Existenzielles Beten als Hören und Tun des Willens Gottes

Der Kern des Christlichen II

III. Der Alltag ist der Weg, auf dem Gott den Menschen zur immer tieferen Einheit mit sich führt

1. Alltägliche Geistliche Übungen

1.1 Gebet in der Stillen Zeit

1.2 Die Heilige Schrift in der Stillen Zeit

1.3 Die tägliche Stille Zeit

1.4 Der Alltag als Übungsfeld

1.5 Der Alltag als Ort, aus dem Geist Christi zu handeln

2. Die anderen

2.1 Die anderen im Alltag

2.2 Begleitung des Gebetes

3. Mein Leben: geführt

3.1 Gottes Führung schafft eine Gelegenheit zum Danken

3.2 Das Geschenk eines Symbols

3.3 Führung Gottes – ein Prozess innerer Wandlung

3.4 Der Alltag als Ort von Gottes Führung

Epilog

Dank

Literatur

Zum Geleit

„Was sucht ihr?“

Als ich über den Titel des vorliegenden neuen Buches von Bertram Dickerhof nachdachte, kam mir bald das erste Wort, das Jesus im Johannesevangelium sagt, in den Sinn: „Was sucht ihr?“ (siehe Joh 1,35–39). Diese Frage richtet Jesus an die beiden Jünger, die ihm nachfolgen. Johannes der Täufer hat die beiden auf den vorübergehenden Jesus hingewiesen: „Seht, das Lamm Gottes!“: Seht den, der durch sein Leben und Sterben die Welt von Sünde und Unheil erlösen und Versöhnung stiften wird! Dieser Hinweis des Johannes spricht die beiden Jünger an: Erlösung, Versöhnung – das ersehnen sie doch; das braucht doch die Welt. Und so machen sie sich auf den Weg und gehen hinter Jesus her.

Dieser wendet sich zu ihnen um und stellt die Frage: „Was sucht ihr?“ Wozu seid ihr aufgebrochen? Was bewegt euch? Sie sollen sich darüber klarwerden, was sie bewegt. Sie antworten ebenfalls mit einer Frage, in der ihre Sehnsucht zum Ausdruck kommt: „Rabbi, wo bleibst du?“ Wo ist deine Bleibe, dein Zuhause, deine Lebensmitte – oder auch im Wortlaut des Buchtitels: dein Kern? Jesus antwortet darauf nicht mit einer Erklärung, sondern lädt sie zu sich ein: „Kommt und seht!“ Da gehen sie mit ihm „und sahen, wo er bleibt, und blieben jenen Tag bei ihm“. Sie dürfen einfach bei ihm sein und sein Leben teilen. Es ist eine erfüllte Gegenwart, was auch dadurch ausgedrückt wird, dass die „Stunde“ angegeben wird: „Es war um die zehnte Stunde.“

Was die Jünger näherhin an diesem Tag erfahren haben, als sie bei Jesus blieben, wird nicht gesagt. Was ist die Bleibe, die Lebensmitte Jesu? Das wird im Weitergehen mit Jesus immer deutlicher. Es ist zutiefst die Gemeinschaft der Liebe mit Gott, seinem Vater. Er bleibt in der Liebe seines Vaters und lädt auch die Jünger und Jüngerinnen ein, mit ihm in und aus dieser Liebe zu leben. „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! … Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe!“ (Joh 15,9.12). Die erlösende, versöhnende Liebe Jesu findet ihre Vollendung in seiner Hingabe bis zum Ende. Jesus stirbt in der bleibenden Liebe Gottes, seines Vaters, und er stirbt in sie hinein. So können die Jüngerinnen und Jünger im Schauen auf ihn in österlichen Erfahrungen ihm in neuer Weise begegnen. Sie können in seiner Liebe bleiben und gemeinsam weitergehen.

Die hier im Anschluss an das Johannesevangelium angedeutete Suchbewegung wird von Bertram Dickerhof in dem vorliegenden Buch auf breiter biblischer Basis (besonders der Bergpredigt und des „Vater unser“) eindringlich entfaltet und auf menschliches Verhalten hin ausgelegt. Dieses kurze Geleitwort will ein Anstoß sein, das Buch erwartungsvoll in die Hand zu nehmen und sich in den einzelnen Teilen jeweils neu von der in Jesus bleibenden Liebe Gottes ansprechen und bewegen zu lassen.

Erhard Kunz SJ

Prolog

Zu allen Zeiten und in allen Gegenden der Welt verspürten und verspüren Menschen eine Sehnsucht, die durch nichts auf der Welt zu erfüllen ist, weil sie über alles Irdische hinausgeht. Sie kann erweckt werden durch Glück, das im Leben erfahren wird und nach Ewigkeit ruft. Oder durch im Alltag erlebten Sinn, der das Verlangen erweckt nach einem umfassenden und absoluten Sinn, der allem zu Grunde liegt. Irdische Ungerechtigkeit dürstet nach wahrer Gerechtigkeit, irdische Liebe ersehnt ewige Vollendung, irdisches Leid braucht verwandelnde Versöhnung der Existenz.

Die Schriften aller Religionen bezeugen die Erfahrungen und Einsichten von Menschen, die zu allen Zeiten einen Weg suchten zur Erfüllung dieser Sehnsucht. Diese Sehnsucht hat auch mich vor vielen Jahren ergriffen. Ich bin ihr gefolgt und habe dabei neu zum Christlichen gefunden. Bei aller Hochachtung für die anderen Religionen und bei aller Dankbarkeit für die Bereicherung durch sie ist das Christliche, ist Jesus von Nazareth der für mich maßgebliche Orientierungsrahmen. Ein solcher ist nötig. Denn die Sehnsucht hört nicht auf, und der Weg zu ihrer Erfüllung zieht sich durchs ganze Leben.

Die Grundzüge dieses Suchens finden sich bereits auf den ersten Seiten des Neuen Testaments in der Legende von den Sterndeutern, den Magiern aus dem Osten. Aus einem ganz anderen Kulturkreis stammend, stehen sie der Welt des Judentums vor 2000 Jahren ähnlich fremd gegenüber wie wir heute. Bar kultureller Eigenheiten betrifft ihre Suche das Menschsein überhaupt. So können wir uns in ihr wiederfinden und sie begleiten. Mit ihrer Geschichte soll unsere „Suche nach dem Kern des Christlichen“ beginnen:

Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. Er ließ alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werden solle. Sie antworteten ihm: in Betlehem in Judäa; denn so steht es geschrieben bei dem Propheten: Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel. Danach rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich und ließ sich von ihnen genau sagen, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: Geht und forscht sorgfältig nach dem Kind; und wenn ihr es gefunden habt, berichtet mir, damit auch ich hingehe und ihm huldige! Nach diesen Worten des Königs machten sie sich auf den Weg. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her. Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar. Weil ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land (Mt 2,1–12).1

Die „Magier aus dem Osten“ – hier wohl deshalb mit Sterndeuter übersetzt, um das Missverständnis zu vermeiden, sie hätten etwas mit Magie zu tun – werden Angehörige der persischen Priesterkaste oder Philosophen östlicher Weisheit gewesen sein, die im Hellenismus, anders als in Israel, hoch im Kurs stand. Wenn man auch nichts Genaueres weiß, so handelt es sich bei ihnen jedenfalls um hochrangige und gebildete Menschen. Der Text ist gut gegliedert durch die zwei Stationen der Reise. Die erste Station in Jerusalem wird ausführlich geschildert, auf der zweiten in Bethlehem liegt dagegen das Gewicht: sie steht am Ende des Textes. Der gesamte Weg wird auf diese Weise in drei Abschnitte unterteilt, wobei die Anreise nach Jerusalem nur im Rückblick vorausgesetzt und die Rückreise nach Hause gerade eben erwähnt wird. Auch den Anlass der Reise erfahren wir nur in der Retrospektive: Die Magier haben einen Stern aufgehen sehen und ihn als Zeichen für den neugeborenen Judenkönig gedeutet. Nun wollen sie ihm huldigen.

Diese Erklärung verwundert. Was haben solche Magier mit dem Kleinkind des Herrschers eines weit entfernten Landes zu tun, das überdies von den Römern besetzt ist? Dass sie außerdem dem Baby „huldigen“ wollen, ergibt auf der Ebene des Politischen, Sozialen, Kulturellen … keinen Sinn. Auch kann der Stern kein Stern im Sinne eines „selbstleuchtenden Himmelskörpers großer Masse“ (Wikipedia) sein. Der biblische Stern wird es nämlich fertigbringen, über der Geburtsstätte des neugeborenen Judenkönigs stehen zu bleiben. Naheliegender ist es aus diesen Gründen, den aufgehenden Stern mit einem Erleben dieser drei Menschen zu verbinden, das so bedeutsam für sie ist, dass es die Kraft hat, sie zu einer langen und gefährlichen Reise zu bewegen, an deren Ende sie erwarten, dem Gefundenen zu „huldigen“, d. h. seine Größe anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen. Etwas vom ersehnten Ende ihrer Reise muss sie getroffen haben. Ist ihnen dabei vielleicht Transzendenz aufgegangen, die wir ohnehin mit dem Sternenhimmel, seiner Unendlichkeit, seiner Erhabenheit, seiner Unergründlichkeit und Unverfügbarkeit in Verbindung bringen? Womöglich haben sie etwas Ähnliches erlebt wie der russische Soldat, von dem die folgenden Zeilen stammen, die in den Kleidern des Gefallenen gefunden wurden:

„Hörst du mich, Gott? Noch nie sprach ich mit dir … Doch heute, heut will ich dich begrüßen. Du weißt, von Kindertagen an sagte man mir, dich gebe es nicht. Und ich, ich glaubte es. Narr, der ich war. Die Schönheit deiner Schöpfung ging mir niemals auf.

Doch heute Nacht nahm ich ihn wahr, vom Grund des aufgerissenen Kraters, den Sternenhimmel über mir. Und ich verstand staunend sein Gefunkel … dies Wunder, dass mitten in der schauerlichen Hölle das Herz mir leicht wurde und ich dich erkannte. Sonst weiß ich dir nichts zu sagen, nur, dass ich so froh wurde, als ich dich erkannte. Mir war so wohl bei dir.“2 Immer wieder geschieht es, dass Transzendenz in den Alltag eines Menschen einbricht und sein Herz mit Glück, Schmerz und Verlangen erfüllt.

Haben unsere drei Magier eine solche Transzendenzerfahrung gemacht? Dazu würde ihre Deutung vom „neugeborenen König der Juden“ passen. Der König wurde in besonderer Nähe zur Gottheit eines Volkes gesehen, in deren Sinn er ja regieren soll, und die Juden waren jenes Volk, das eine einzige transzendente Gottheit verehrte, die kein Bild darstellen und kein Name benennen konnte. Außerdem kann eine Transzendenzerfahrung die Sehnsucht wecken, zu suchen, was über alles hinaus ist, ihm zu huldigen und dabei auch bei seinem wahren Selbst anzukommen.

Auf Grund ihrer Deutung wissen die drei Magier, dass sie nach Jerusalem ziehen müssen, um den neugeborenen Judenkönig zu finden. Der Stern taucht bei diesem Teil der Reise nicht auf. Wozu auch? Die Magier brauchen ihn nicht. Sie meinen zu wissen, wohin sie zu gehen haben.

Und so scheitert ihre Suche. Jerusalem ist nicht ganz falsch, aber kein neugeborener König ist an ihrem Ziel. Niemand in Jerusalem weiß etwas von ihm. Die Botschaft, die ihr Fragen nach ihm enthält, ist schlecht für die Eliten: ein neugeborener König könnte die Machtverhältnisse umkehren, die Gewohnheiten stören, die Besitzstände gefährden, jedenfalls eine Verschlechterung ihrer Verhältnisse bedeuten. Entsprechend ist Jerusalem Enttäuschung, Widerstand und Feindseligkeit für die Magier, die darauf mit Lähmung, Angst und Ohnmacht reagieren werden. Jedenfalls treten sie in der langen Textpassage, die in Jerusalem spielt, als Handlungssubjekte nicht mehr auf. Auf Veranlassung des Herodes finden die jüdischen Wissenschaftler den Geburtsort des neuen Königs aus ihren alten Schriften heraus. Niemand in Jerusalem ist daran interessiert, ihn zu suchen. Finden will ihn jedoch Herodes, um den etwaigen Konkurrenten auszuschalten: Auf unseren Abschnitt folgt bei Matthäus die Geschichte vom Kindermord in Bethlehem, den Herodes veranlasste, der zwar nicht historisch sein wird, aber die historische Machtgier und Grausamkeit dieses Königs unterstreicht. Zu diesem Zweck will der König die Magier als seine Spione verwenden. So teilt er ihnen heimlich den Geburtsort mit.

Die drei brechen auf – das ist die einzige Wirkung des konspirativen Treffens. Sie gehen nun nicht gezielt nach Bethlehem, sondern wandern in einer ganz neuen Weise: Der Stern ist wieder da. Von ihm lassen sie sich führen, nicht von eigenen Absichten oder der Anweisung des Herodes. Um dem Stern folgen zu können, müssen sie nachts unterwegs sein. Aber nachts kann man nicht reisen, schon gar nicht als Fremder im zerklüfteten Bergland von Judäa. Wenn ihre Reise nach Jerusalem noch eine historische Reise gewesen sein könnte, ihr jetziger Weg ist es sicher nicht: Er ist eine innere Reise, die punktgenau zum Gesuchten führt.

Worin liegt der Unterschied der beiden Wegabschnitte? Im ersten Abschnitt ihrer Suche suchen sie die Verwirklichung der Vorstellung, die sie sich von ihrem ursprünglichen Erleben gemacht haben: Das ist Jerusalem, und das finden sie. Was sie zu finden ersehnten, konnten sie nicht finden, weil sie sich von ihrem ursprünglichen Erleben zugunsten ihres Begriffs davon entfernt hatten. Jerusalem lehrt sie, ihre Vorstellung vom Gesuchten loszulassen und offen zu werden. Denn „etwas“ im Sinne ihrer Vorstellungen und Begrifflichkeiten können sie nicht mehr suchen. Beim zweiten Teil der Suche ist der Stern wieder da, d. h. das ursprüngliche Erleben und die Sehnsucht, die sie zu ihrer Reise bewegt haben. Und nun reisen sie „nachts“. Wer nachts reist, der sieht nichts, der hört nichts …, d. h., es gibt keine von der Gegenwärtigkeit des Sterns ablenkenden Sinneswahrnehmungen. Da ist nichts, was der Verstand zu Gegenständen verarbeiten könnte, mit denen er sich dann beschäftigt. Es ist still in ihnen. Sie sind ganz gesammelt. Es gibt lediglich ein offenes Gewahrsein ohne Objekte. Wer aber aufgegeben hat zu wissen, wonach er sucht, der kann nicht proaktiv suchen. Er kann kein Finden anstreben. Alles ist Offenheit, Empfänglichkeit und Sich-Überlassen. So kann der Stern die drei bewegen. Ein Weg, den sie in sehr großer Freude zurücklegen.

Wieso sind die Magier nicht von Anfang an so gereist? Ich nehme an, sie sind gar nicht auf die Idee gekommen, weil sie die Fähigkeit dazu auch nicht hatten. Zwischen Teil eins und Teil zwei der Suche liegt der lange Aufenthalt in Jerusalem; zumindest spielen etwa zwei Drittel des Textes dort. Jerusalem muss die Reisenden verwandelt haben. In Jerusalem muss ihnen die Fähigkeit zugewachsen sein, den Stern wiedersehen und ihm folgen zu können. Jerusalem ist jedoch die Erfahrung des Scheiterns, der Enttäuschung, des Widerstandes und der Ohnmacht. All dies haben sie ausgehalten. Sie sind nicht weggegangen, haben nicht aufgegeben. Gut, dass sie zu dritt waren und sich gegenseitig Mut machen konnten! Aktiv waren die Jerusalemer, auch in ihrer Ablehnung, um nicht zu sagen Feindschaft gegenüber den drei Suchenden. Der Anteil der Magier an den Vorgängen in Jerusalem war, zu warten, zu dulden, die Ohnmacht zu bejahen, Enttäuschung und Widrigkeiten zu durchleben.

30 Jahre später wird in derselben Stadt der König der Juden, nach dem die Magier jetzt als Neugeborenem suchen, am Kreuz scheitern und vollkommen eins werden mit dem Geheimnis des Seins. Das Hineingehen in die Grenzen, die das Leben den eigenen Vorstellungen und dem damit verbundenen Streben immer wieder setzt, scheint die Weise zu sein, wie das Suchen nach bleibender Erfüllung und das endgültige und wahrhafte Ankommen bei sich selbst gelernt und verwirklicht werden.

Schließlich bleibt der Stern stehen. Dann ist die Stille in ihnen vollkommen. Alles ruht, alles Streben, alles Denken. Es gibt nur noch die Bewusstheit völliger Offenheit. So gelangen sie in das Haus, in dem das nicht mehr gesuchte Gefundene wohnt und sich zu sehen gibt. Was das ist, bleibt letztlich so unaussprechlich wie das Ursprungserleben der ganzen Reise. Doch ergreift es die drei derart, dass sie niederfallen und anbeten. Da es jedoch in unserer Geschichte symbolisiert wird durch das Kind und Maria, seine Mutter, liegt es nahe zu vermuten, dass die Leere ihres Bewusstseins von Liebe erfüllt ist. Vollkommene Stille, Leerheit und Fülle der Liebe fallen hier paradoxerweise in eins. Ins Haus gelangend sind sie zu Hause angekommen, bei ihrem ureigenen Grund, sind sie behütet und beschützt. Haben sie erlebt, was der Psalm 131 ausdrückt?

HERR, mein Herz überhebt sich nicht, nicht hochmütig blicken meine Augen, ich gehe nicht um mit großen Dingen, mit Dingen, die mir nicht begreiflich sind. Vielmehr habe ich besänftigt, habe zur Ruhe gebracht meine Seele. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind, so ist meine Seele in mir. Israel, warte auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit!

Die Liebe zwischen der irdischen Mutter und ihrem Kind vermittelt die unbedingte, selbstlose, sich hingebende Liebe Gottes, die ermöglicht, wahrhaft bei sich selbst anzukommen und eins mit ihr zu werden. Das Kind ist gestillt: Alle Unruhe, alles Streben, alles Verstehen-Müssen ist zur Ruhe gekommen. Das Ego ist gelassen, das Ich vergessen. Nichts fehlt. Pure Gegenwart, reine Begegnung, personales Sein.

Das Erwachen zur Einheit mit sich selbst und mit allem und dem Grund von allem mag von Glückseligkeit begleitet sein. Sie wäre gewissermaßen der Tau des Geschehens auf den Gefühlen. Das Geschehen selbst ist rein geistiger Natur, Mitteilung von Geist und Leben. Es bewirkt ein nichtwissendes Wissen von hoher Gewissheit, das das Leben in der Tiefe verändert und seine bisherigen Werte umwertet. Wer solche Erfüllung seiner Sehnsucht erfahren hat, will sich nun dem Geheimnis der Liebe zur Verfügung stellen. Er möchte dienen und zum Boten der Liebe werden, die er empfängt und durch sich hindurchströmen lässt. Er hat verstanden, dass die Erfüllung die Suchenden sucht, die, wie die Magier, nur gefunden werden können, wenn sie ihr proaktives Suchen, Streben und Machen aufgeben, sich der Gegenwart öffnen und geschehen lassen, was geschieht. Der persische Mystiker Rumi (1207–1273) spricht diese Wahrheit folgendermaßen aus:

„Liebe, wenn ich nach dir Ausschau halte, merke ich, dass du mich suchst. Wenn ich meine Blicke schweifen lasse, finde ich die Locken deines Haars in den eig’nen Händen wieder. Ich glaubte stets, von deinem Wein berauscht zu sein, und merke nun, dass er von mir betrunken ist.“3

Von den Gaben, die die Magier dem Kind darbringen, hört der Leser hier zum ersten Mal. Auf ihrer inneren Reise können die drei Magier nichts mitnehmen, vielmehr müssen sie loslassen, was sie haben. So werden Gold, Weihrauch und Myrrhe, zu jener Zeit allerteuerste Luxusgüter, sinnbildlich zu verstehen sein für die Schätze, die sie auf ihrem Weg des Loslassens erworben haben: das Gold des Glaubens und der Hoffnung, das es möglich macht, weiterzugehen, auch wenn der Weg Risiken birgt und dem Pilger schwierige und leidvolle Etappen abverlangt; den Weihrauch des Gebetes als Wende nach innen in geschehen-lassendem, offenem Gewahrsein; die Myrrhe des Leidens als Fähigkeit, in Scheitern und Drangsal hineinzugehen: Gaben, die auch der Beschenkte, Jesus, zu seiner Zeit sehr gut wird brauchen können.

Dass ihre Suche und ihre Begegnung mit der Liebe die drei Magier verwandelt hat, zeigt uns das Ende des Textes: Im Traum wird ihnen geboten, einen anderen Rückweg zu wählen. Sie haben die Fähigkeit erhalten, Gott in ihrem Inneren zu vernehmen und von allen anderen inneren Bewegungen zu unterscheiden. Sie sind ihm ähnlicher geworden und ihre Intuition wurde erschlossen. Verwandelt, wollen sie nicht auf demselben Weg zurückkehren. Sie spüren, dass irdischer Machtwille eines Herodes und göttlicher Liebeswille nicht zusammenpassen. Sie haben ihre Entscheidung getroffen für die Wirklichkeit der Liebe. Darin wollen sie leben. Überraschender ist in diesem Zusammenhang, dass sie überhaupt zurückkehren, dass sie nicht bleiben und dass das Verlassen des Hauses mit Maria und dem Kind in ihrem Schoß für die Geschichte eine Selbstverständlichkeit ist. Die Erfahrung der Liebe ist als solche nicht zu halten. Sie verblasst wie jede Erfahrung. Was aber bleibt, ist gewachsene Fähigkeit zur Begegnung: sich selbst sein und die göttliche Liebe wiedererkennen können. Die Präsenz dieser Liebe werden die Magier im Alltag immer wieder neu erfahren und sie denen vermitteln, die ihnen begegnen.

Die Geschichte enthält wichtige Hinweise auf den Kern des Christlichen:

• Die Erfüllung über alles Irdische und Vergängliche hinaus sucht den Menschen und führt ihn durch seine Sehnsucht zu sich.

• Die Erfüllung geschieht als Begegnung mit einer unbedingten und freilassenden Liebe, für die Jesus das Symbol ist; eine Liebe, die den Menschen bei sich selbst und seinem Grund ankommen lässt.

• Um zu dieser Begegnung zu gelangen, ist ein Weg zu gehen in einer Gemeinschaft von Reisenden, die sich von der gleichen Sehnsucht zum Ziel ihrer irdischen Reise ziehen und auf dem Weg wandeln lassen.

• Grenzerfahrungen wie Scheitern, Verlust, Enttäuschung, Feindschaft …, Erfahrungen also, dass die Wirklichkeit einer gegebenen Situation den eigenen Wunschvorstellungen von ihr widerspricht und diese damit begrenzt, werden zu Agenten der Verwandlung auf diesem Weg, insoweit die Wanderer wagen, ihre Grenzerfahrungen zu durchleben.

• Der Weg selbst ist letztlich ein innerer Weg, auf dem das bisherige Selbstverständnis stirbt und ein neues erwächst, das ausgerichtet ist auf eine unbedingte und freilassende Liebe.

Ihre Sehnsucht führt die drei Magier zu Jesus. So dürfen auch wir hoffen, zu ihm geführt zu werden und durch ihn zwei Dinge zu erfahren: erstens, noch etwas mehr über die Erfüllung unserer Sehnsucht, auch wenn damit zu rechnen ist, dass diese sich letztlich nicht angemessen in Worte fassen lässt. Und, zweitens, vor allem: mehr über den Weg zur Erfüllung der Sehnsucht.

1 Bibeltexte werden stets kursiv gesetzt und stammen aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholische Bibelanstalt, vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart 2016. […] bedeuten Umstellungen im zitierten Bibeltext, […] Hinzufügungen des Autors.

2 Aus: Geist und Leben Nr. 43, 1970.

3 Rumi, Das Lied der Liebe, S. 105.

I. Entstehung und Bedeutung des Osterglaubens

 

In der Mitte des Christlichen steht eine Person: Jesus aus Nazareth, sein Leben, sein Wirken, seine Lehre, sein Ende in Jerusalem. Wohltäter der Menschheit, Wunderheiler, Weisheitslehrer und Propheten hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Was Jesus aus ihrer Reihe heraushebt und einzigartig macht, ist eine 2000-jährige Tradition, die von ihm behauptet, er sei aus den Toten auferweckt worden und eins mit Gott. So habe er die Erfüllung der Menschensehnsucht erreicht, die über alles Irdische hinausgeht: die vollkommene Einheit mit dem geheimnisvollen Grund aller Wirklichkeit. Deswegen steht bei der Suche nach dem Kern des Christlichen im Mittelpunkt des Interesses die Frage, wie seine Zeitgenossen zur Erkenntnis seiner Auferstehung gelangt sind und welche Bedeutung sie für ihr Leben und ihre Suche nach Erfüllung – und damit auch für uns – hat.

Für diese Frage sind die Evangelien die wichtigste Quelle. Diese sind zwar keine Geschichtsschreibung, sondern Glaubensverkündigung. Doch kann auch eine Verkündigung es sich nicht leisten, vor noch lebenden Zeitzeugen Jesu grobe historische Unwahrheiten zu behaupten. Wenn die Evangelien auch erst 40 Jahre und mehr nach Jesu Tod erschienen sind, reichen sie doch viel näher an seine Zeit heran, weil sie sehr viel ältere Traditionen verarbeiten. Deswegen können die historischen Aussagen der Evangelien nicht in Bausch und Bogen als unglaubwürdig abgetan werden. Werden sie kritisch gewogen, dann tritt uns in ihnen folgende geschichtliche Gestalt des Jesus von Nazareth entgegen.

1. Der historische Gehalt des Lebens Jesu

Jesus – der Name bedeutet „Gott hilft“ – wurde in Bethlehem zur Zeit des Königs Herodes, nach heutiger Rechnung etwa 6 v. Chr. (Mt 1–2; Lk 1–2) in der Familie des Handwerkers Joseph geboren. Seine Mutter ist Maria. Über Kindheit und Jugend Jesu ist nichts Sicheres bekannt. Jesus übte den Beruf eines Zimmermanns aus (Mk 6), bis seine Taufe durch Johannes im Jordan, die alle Evangelien berichten (Mt 3; Mk 1; Lk 3; Joh 1) und die als historisch gesichert gelten darf, seinem Leben eine Wende gibt: Er beginnt umherzuwandern und öffentlich zu wirken, vor allem um den See Gennesaret herum, dann auch im Raum Galiläa und in den angrenzenden heidnischen Gebieten, in Samarien und Jerusalem. Diesen geographischen Rahmen bezeugen alle vier Evangelien, jedoch mit unterschiedlicher Füllung und unterschiedlicher Dauer: Die synoptischen Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas4 sprechen von einem Jahr, das Johannesevangelium von zwei bis drei Jahren. Von dieser Zeitspanne handeln die Evangelien.

Jesus war Jude. Am religiösen Leben nimmt er teil. Wir finden ihn in den Synagogen und im Tempel in Jerusalem. Darüber hinaus tritt er an die Öffentlichkeit mit der Botschaft, dass das Reich Gottes in seiner Person nahegekommen ist. Auf dieses Reich als vollendetem Heil für alle hoffte ganz Israel. Viele konnten es im Wirken Jesu erleben: In der Weise, wie er predigte, wie er sich anderen zuwandte, vor allem gesellschaftlich abgewerteten Personen wie Kranken, Aussätzigen, Zöllnern und Sündern, Frauen und Kindern, einfachen Arbeitern, so dass Kranke gesundeten und Belastete aufatmen konnten. Er fand Anhänger und berief zwölf von ihnen in seine Nähe. Sie zogen mit ihm umher. Er lehrte sie und setzte sich mit ihnen, vor allem den Zwölfen, besonders auseinander. Der Anspruch, den die Verbindung seiner Botschaft mit seiner Person erhob, schuf ihm von Anfang an Gegner und führte schließlich zu seinem Tod, verraten von einem der Zwölf. Jesus hat diesen Tod aus Treue zu seiner Sendung und in der Hoffnung auf seine Auferstehung angenommen. Sein Tod am Kreuz „unter Pontius Pilatus“ (Mt 24; Mk 15; Lk 23; Joh 19) ist das sicherste Datum seiner Biographie: der 14. oder 15. Nisan (7./8. April) des Jahres 30 (oder 33). Jesus wurde hingerichtet als „König der Juden“, d. h. als politischer Aufrührer, der er aber nicht war.

Bemerkenswert ist, dass die Jesus-Bewegung damit nicht in Bedeutungslosigkeit versinkt, wie das üblicherweise der Fall ist: Anhänger wandern ab, die Bewegung zersplittert sich in Macht- und Richtungskämpfen. Auch wenn noch eine Weile ein fanatisiertes Grüppchen von sich reden macht, verliert es seine Basis in der breiten Bevölkerung. Hier aber ist das Gegenteil der Fall: Die restlichen elf Apostel bleiben nach Jesu Tod nicht nur mit weiteren Jüngern und Jüngerinnen Jesu zusammen, sie beginnen nun ihrerseits öffentlich aufzutreten und zu verkündigen, dass Gott … ihn zum Herrn und Messias gemacht [hat], diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt (Apg 2,36). Diese Botschaft wird mit erstaunlichem Einsatz und Mut verbreitet. Ihre Verkündiger scheuen weder vor Mühsal und Gefahren noch vor Haft und Strafen zurück. Sie finden Zulauf, zunächst in Israel, dann auch bei Nichtjuden im ganzen Römischen Reich. Der Kern ihrer Botschaft ist, dass Jesus in noch nie da gewesener und unüberbietbarer Weise Gott vermittelt. Da keiner von uns Gott schauen kann, das verborgene und unverfügbare Geheimnis aller Wirklichkeit, sind wir auf eine Vermittlung angewiesen, in der es sich authentisch mitteilt. Genau dies ist in Jesus geschehen: Und das Wort, durch das alles geworden ist, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (Joh 1,3.14). Das ist der Kern des Osterglaubens und der Verkündigung der Jünger. Deswegen nennen sie Jesus auch „Sohn Gottes“.

4 Diese drei heißen deswegen so, weil man sie „zusammenschauen“ kann, da sie, grob gesprochen, folgendermaßen aufgebaut sind: Mt ≈ Mk + Q + mt. Sondergut Lk ≈ Mk + Q + lk. Sondergut Dabei haben Mt und Lk ihre Quellen Mk und Q, die sogenannte Logienquelle, die vor allem Redetexte beinhaltet, jeweils bearbeitet.

2. Nachfolge – ein Abenteuer voll Ambivalenz und Spannung

Wir verlassen mit dieser Thematik den Bereich der historisch sicheren Fakten und wenden uns den Erfahrungen von Menschen mit Jesus zu, die die Evangelien berichten. Wie gesagt, sind diese nicht frei erfunden, doch ist ihre Darstellung eingefärbt von der Deutung des Geschehens aus dem Glauben heraus und von der Absicht, diesen Glauben den jeweiligen Adressaten zu verkünden.

Etliche junge Männer verließen damals ihre Familien aufgrund der materiell aussichtslosen Lage: Manche gingen in die Berge Galiläas, um gegen die Unterdrückung durch die Römer und die Ausbeutung der Landbevölkerung durch reiche Städter zu kämpfen; andere gingen ins Ausland, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Die Männer und Frauen, die Jesus folgen, spricht seine Botschaft an, dass eine große Wende bevorsteht, die Gott bewirkt: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium (Mk 1,15). Sie nehmen in Kauf, ihre Familien einer Arbeitskraft zu berauben und sie in Trauer, Schmerz und manchmal auch Zorn zurückzulassen. Sie erleben, wie durch Jesus Kranke gesund werden, Blinde wieder sehen und Lahme gehen; Aussätzige rein werden und Taube hören; Tote aufstehen und den Armen das Evangelium verkündet wird (Mt 11,5). Das Wirken Jesu erfüllt nicht nur diese Verheißungen des Propheten Jesaja (Jes 42,6f; 61,1); es lässt das Reich Gottes, das Jesus verkündigt, hier und jetzt Wirklichkeit werden. In Jesu respektvoller, mitfühlender und annehmender Zuwendung können Arme sich aufrichten, innerlich freier werden, Hoffnung und Selbstvertrauen schöpfen und zu Selbstachtung und neuem Lebensmut finden. Die Begegnung mit Jesus befreit Menschen von ihren Dämonen, von Zwängen und Obsessionen (Mt 12,28). Seine Predigten vermitteln den Zuhörern Größe und Würde, wenn er ihnen z. B. das erhabene Ethos von Edlen zutraut: Immer wieder vergeben! Frauen als Personen achten! Auf Vergeltung verzichten! Selbst Feinde lieben! Sich keine Sorgen um Essen, Trinken und Kleidung machen! … (Mt 5–6). Jesus vermag das Herz der Menschen zu erreichen und ihre tiefste Sehnsucht zu berühren, wenn er etwa die Armen, die Hungernden und die Weinenden seligpreist oder Gott mit einem Vater vergleicht, der seinem gescheiterten Sohn entgegengeht und ihn annimmt, ohne ihm seine Verfehlungen vorzuhalten. Er vertraut darauf, dass die große Wende nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch Gott herbeigeführt wird, der den Samen des Reiches Gottes in den Menschen wachsen, reifen und Frucht bringen lässt (Mk 4,26). So kommen seine Jünger zur Überzeugung, dass Jesus der von vielen Zeitgenossen herbeigesehnte Messias ist, der Israel erlösen werde (Lk 24,21).

MESSIAS

Was sich die Jünger unter diesem Titel vorstellen, ist nicht leicht zu sagen, da die alttestamentlichen Messiasvorstellungen keine eindeutige Gestalt umreißen und im Frühjudentum noch stärker auseinanderdriften. In der Zeit ab etwa 150 v. Chr. wuchs unter den Frommen die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Theokratie mit einer Doppelspitze: ein Hoherpriester aus priesterlichem Geschlecht und ein König aus dem Haus Davids. Beide haben sie die Aufgabe, die Sünder im eigenen Volk zu züchtigen und Jerusalem von den Heidenvölkern zu reinigen. In den Qumrantexten, Zeugnissen des antiken Juden- und frühen Christentums aus den Jahren 250 v. Chr. bis 40 n. Chr., sind dagegen geistliche Würde und weltliche Kriegsführung auf die beiden Führer aufgeteilt: Während der priesterliche Gesalbte Sühne für das Volk schafft und es belehrt, richtet der als Spross Davids bezeichnete königliche Messias die Königsherrschaft Israels wieder auf. Auf diesen bezieht sich die Weissagung Bileams, eines auch außerbiblisch bezeugten heidnischen Propheten zur Zeit des Mose (Num 24,17): Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn, aber nicht von nahem. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen und wird zerschmettern die Schläfen der Moabiterund den Scheitel aller Söhne Sets. Der königliche Messias ist zwar dem priesterlichen Gesalbten nachgeordnet, doch ist zur Zeit Jesu angesichts der realen Verhältnisse, d. h. der Herrschaft des fremdstämmigen Herodes und der römischen Vormacht, der kriegerische Messias aus dem Hause David in den Vordergrund getreten. Es liegt nahe, dass die Jünger Jesu im Großen und Ganzen im Mainstream der Erwartung eines politischen Messias lagen, der die Römer vertreibt, für Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum sorgt, alles zum Guten wendet und das Volk sammelt und heiligt. Damit ein aus den Menschen geborener Messiaskönig diese Mission erfüllen kann, geht die Apokalyptik (siehe S. 32) noch einen Schritt weiter: Sie verschmilzt den politischen Messias mit der himmlischen Gestalt des Menschensohnes (Dan 7), der nach dem Sieg, den Gott herbeiführt, ewige Herrschaft über alle Völker bekommt.

AMBIVALENZ

Bei diesen Perspektiven liegt es nahe, dass die Jünger die Frage beschäftigt, was es ihnen persönlich „bringt“, dem Messias nachzufolgen: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israel richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen (Mt 19,28f). Bei dieser Perspektive ist es kein Wunder, dass die Zwölf über ihren Rang in der Gruppe der Apostel nachdenken, Konkurrenten von „außen“, die sich nicht den Mühen und Spannungen der Nachfolge unterziehen, ausschließen wollen (Mk 9) und sich wünschen, zur Rechten und Linken des Messias zu herrschen, wenn dieser die Macht in Israel übernimmt (Mk 10).

Großartige Horizonte also auf der einen Seite. Auf der anderen Seite aber war der Weg mit Jesus immer wieder verunsichernd, eine Infragestellung der Vorstellungen der Jünger und alles andere als bequem. Er ist ein Stück Passion, in der ein Jünger Jesu grundsätzlich lebt: das Ertragen einer grundsätzlichen Ambivalenz. Eigentlich ist Ambivalenz ein Grundprinzip des Menschseins schlechthin. Es zu bejahen bedeutet, Spannung auszuhalten. Das vermeiden wir Menschen gerne. Die Jünger müssen es bei Jesus jedoch lernen: Sie folgen einem Mann nach, der selber nichts hat, der auf Mildtätigkeit und Gastfreundschaft angewiesen ist. Wie er haben auch sie keinen Ort, wo sie ihr Haupt hinlegen können. Tun, wozu man Lust hat, und das Leben genießen sieht anders aus. Also heißt es, sich in den Rahmen zu fügen und das „Sowohl … alsauch …“ auszuhalten. Jesu Klarheit und Wahrheit fordern sie heraus: Immer wieder schilt er sie wegen ihres kleinen Glaubens, wenn sie sich z. B. Sorgen ums Essen oder ums Übernachten (Lk 9,56) machen. Oder er deckt ihren Wunsch nach Ansehen und Position auf (Mk 9,33), dem er entgegenhält: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein (Mk 9,35), statt andere zu unterdrücken oder seine Macht zu missbrauchen, wie es bei denen üblich ist, die Macht und Ansehen besitzen (Mk 10,42f). Und dann stellt er ihnen auch noch ein Kind, ein nutzloses, Kinderkrankheiten ausgesetztes und deshalb dem Tode nahes, damals gering geschätztes Kind vor Augen: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen (Mt 18,3). Schluss damit, sich selbst dadurch aufzubauen, dass man auf andere herabblickt und den Splitter in ihrem Auge findet oder sie für seine Zwecke gebraucht: für seine Lust, seinen Profit, seine Bequemlichkeit.

Jesu Verkündigung konnte manchmal hart sein: Dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher ins Reich Gottes gelangt (Mk 10,25), jagt den Jüngern Schrecken ein: Streben nicht alle nach Sicherheit und nach dem Besitz der dazu nötigen Mittel? Da müssen sie auch um sich selbst fürchten, auch wenn sie alles verlassen haben, um Jesus nachzufolgen. Oder folgendes Wort aus der sogenannten Brotrede (Joh 6,53f): Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben undich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Viele konnten dieses Wort nicht verstehen – sollte das eine Anleitung zum Kannibalismus sein? – und wenn sie es verstanden, konnten sie nicht akzeptieren, dass das ewige Leben, das sie suchten, nur über Gleichwerden mit Jesu Tod zu finden sein sollte. Um den Tod zu finden, waren sie doch nicht mit Jesus gegangen: Sie wollten Leben in Fülle! So verließen ihn viele, die bisher mit ihm gewandert waren. Die Zwölf blieben, aber kaum unbeschwerten Herzens.

Oft verstanden sie ihn nicht: Wieso wehrte er ab, als Messias bezeichnet zu werden? Seine Gleichnisse musste er ihnen ebenso privat erklären wie sein Verständnis der damals von den Pharisäern gepushten kultischen Reinheit: Die wirkliche Unreinheit vor Gott kommt von den bösen Regungen des Herzens. Nicht der Dreck an Händen und Schüsseln trennt den Menschen von Gott, sondern Taten aus inneren Impulsen, in denen einer das Seine auf Kosten anderer sucht. Sie verstanden nicht, wieso Jesus die Gefährlichkeit der Lehren der Pharisäer und des Herodes mehr beschäftigte als die unmittelbar bedrängende Frage nach dem täglichen Brot für sie selbst (Mk 8,15). Nicht nur die synoptischen Evangelien, auch das Johannesevangelium lässt immer wieder durchblicken, dass die Jünger mit ihrem Verständnis Jesus hinterherhinken: Philippus möchte den Vater gezeigt bekommen und Jesus reagiert mit einer Spitze: Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater (Joh 14,9). In den sogenannten Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 14–16), dem letzten Zusammensein mit Jesus, wollen die Jünger die letzte Gelegenheit nutzen, ihre offenen Fragen zu klären (Joh 14,5.8.22; 16,5.17), und glauben schließlich, Jesus nun endgültig zu verstehen. Doch erweist sich auch diesmal ihr Verstehen als vorläufig, und es hat auch nicht die Kraft in sich, dass sie in der Versuchung bei ihm bleiben können (Joh 16, 31f). Denn der Jünger muss immer weiter wachsen, um die Botschaft Jesu immer mehr tragen zu können (Joh 16,12). Ist das nicht merkwürdig, ja paradox, wenn eine frohe Botschaft getragen, ja ertragen werden muss? Das zu oberflächliche Erfassen oder gar Missverstehen von Wort und Person Jesu hat dann wohl eine Funktion, einen geheimen Zweck, der darin bestehen dürfte, keine Verunsicherung oder Angst ertragen zu müssen. Denn gründliches Verstehen setzt voraus, sich selber in Frage stellen zu lassen, dabei zu entdecken, dass manche eigenen Vorstellungen von der Welt einfach nicht stimmen, dass diesen entsprechende Bestrebungen Verfehlungen sind: Das kann das eigene Selbstverständnis schon sehr erschüttern, vielleicht es sogar sterben lassen.

Als Jesus den Weg nach Jerusalem einschlägt, spitzen sich Verunsicherung und Spannung der Jünger zu. Ja, eine gewisse Entfremdung tritt ein. Doch die Jünger bleiben dennoch bei ihm. Der Zwiespalt beginnt damit, dass Jesus ihnen offen mitteilt, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen (Mk 8,31). Spricht so ein Messias, der die Römer vertreiben und soziale Gerechtigkeit herstellen will? Das Wort vom „Auferstehen“ beschäftigt sie, und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen (Mk 9,10). Sie verstehen es nicht, können es nicht in sich verankern. „Auferstehen“ muss ihnen deswegen aus dem Blick geraten und kann in ihrem Denken keine Rolle mehr spielen. Ihr Verständnis endet bei der Ankündigung des schmählichen Untergangs ihres Messias in Jerusalem. Das wäre der Zusammenbruch aller Hoffnungen der Jünger, der Zusammenbruch ihrer Vorstellung vom Messias.

AUFERSTEHUNG

Israel kannte vor dem Exil (587 bis 538 v. Chr.) in Babel keine Auferweckung der Toten. Die Verstorbenen waren in der Scheol in völliger Bewusstlosigkeit. Sie waren kraftlose, von Gott vergessene Schatten. Diese Auffassung änderte sich zunächst durch Exilspropheten wie Jesaja – Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erdeliegt, wird erwachen und jubeln (Jes 26,19) – und Ezechiel – So spricht Gott, der Herr: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zurück in das Land Israel (Ez 37,12): Die Rückführung Israels aus dem Exil wird hier als seine Auferweckung begriffen. Die Weisheitsliteratur5 wird sie ab dem 2. Jh. v. Chr. als leibliche Auferstehung Israels deuten. Die frühjüdische Apokalyptik, die wesentlich mit dem um etwa 165 v. Chr. geschriebenen Danielbuch verbunden ist, kommt in ihrer Konzeption zu einer individuellen Auferstehung der Toten: Auf Grund der aggressiven Hellenisierung, die alles Jüdische unter Todesstrafe stellte, zerbrach die Gewissheit, dass Jahwe sein Volk immer beschützt. Da die schreckliche Gegenwart nicht zukunftsfähig sei, so der Prophet Daniel, kann die Zukunft nicht in Kontinuität zur Vergangenheit stehen. Gott, der allein die Zukunft bewirkt, werde daher die gegenwärtige Geschichte beenden und einen neuen Äon der himmlischen Vollendung heraufführen, in den hinein Lebende und Verstorbene des Gottesvolkes gerettet würden. Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten. Du aber geh nun dem Ende zu! Du wirst ruhen und am Ende der Tage wirst du auferstehen, um dein Erbteil zu empfangen (Dan 12, 2f.13). An dieser Stelle begegnet erstmals der Gedanke einer individuellen Auferweckung der Toten durch Gott am Jüngsten Tag. Nur die eindeutig Bösen werden für immer Tote bleiben, alle anderen werden auferstehen, um individuell, je nach ihren Taten, gerichtet zu werden.

Im Hellenismus gab es keine begründete Hoffnung auf ein persönliches Weiterleben nach dem Tod, außer im Gedächtnis der Angehörigen. Er schrieb den Lebensgenuss deswegen groß: „Bäder und Liebe und Wein, sie richten uns freilich zugrunde, aber Bäder und Liebe und Wein sind das Leben“, war ein geflügeltes Wort. Jedoch kannte die griechische Mythologie Konzepte von Auferstehung in den Mysterienkulten und im Schicksal der Halbgötter Herakles, Asklepios, Dionysos, die nach ihrem Tod in den Himmel erhoben, unsterblich und vergöttlicht wurden, nachdem sie sich auf Erden verdient gemacht hatten. Die Sadduzäer, die Partei der Oberschicht und der Priester, lehnte den Gedanken sowohl eines neuen Äons als auch einer Auferstehung der Toten ab. Anders die Pharisäer: Sie waren eher die Partei der kleinen Leute und erhofften eine Auferstehung aller Toten zum Jüngsten Gericht.

SPANNUNG UND ENTFREMDUNG STEIGEN

Zurück zu Jesus und seinen Jüngern: Wenn Jesus von Auferstehung sprach, mussten die Jünger also annehmen, dass er die Auferstehung am Jüngsten Tag meinte. Damit gerieten sie in ein Dilemma: Stand der Weltuntergang unmittelbar bevor und damit auch ihr eigener Tod? War das aber nicht der Fall, was sollte dann Auferstehung bedeuten und was erbrachte sie für die Erwartung eines politischen Messias Jesus? Die Rede Jesu von seinem Ende und seiner Auferstehung musste die Jünger verwirren und verunsichern. Lieber wollten sie davon nichts wissen.

Insgesamt drei Versuche unternimmt Jesus nach den Synoptikern, um mit den Jüngern über sein Ende in Jerusalem und damit auch über den Konflikt mit Petrus ins Gespräch zu kommen: Petrus hatte auf Jesu erste Ankündigung seines Leidens und Todes in Jerusalem mit einer Zurechtweisung reagiert: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! (Mt 16,22). Da fährt Jesus ihn an: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mt 16,23). Ja, natürlich, wir Menschen wollen Leiden für uns selbst und unsere Lieben auf alle Fälle vermeiden. Gott etwa nicht auch? Für Petrus und die anderen Jünger muss sich hier ein erschreckender Abgrund auftun, in dem ihre und unsere Vorstellung eines „lieben Gottes“ schlicht untergeht. Kein Wunder, dass die Jünger sich auf dieses Thema nicht einlassen. Sie blocken ab. Ob die „Drei“-Zahl hier tatsächlich die konkrete Anzahl der Leidensankündigungen Jesu bedeutet, ist fraglich. Eher könnte gemeint sein: Immer wieder macht Jesus Anläufe, bis er die Aussichtslosigkeit einsieht, mit den Jüngern über sein Ende sprechen zu können, und seine Versuche dann aufgibt. Wer aber das Gespräch verhindert, sorgt für Spannung in der Beziehung. Er bekommt an dem, was den anderen bewegt, keinen Anteil mehr und entfremdet sich ihm.

Allerdings gibt es auf der anderen Seite immer wieder Ereignisse, die die Jünger als Bestärkung ihres Glaubens an den politischen Messias auffassen: Hatten doch drei von ihnen Jesus in göttliches Licht getaucht im Dialog mit Mose und Elija auf dem Berg der Verklärung gesehen und die Stimme aus der Wolke gehört, die ihn ihren geliebten Sohn nennt, auf den die Jünger hören sollen (Mk 9,2–10). Oder als Jesus als messianischer Friedenskönig in Jerusalem einzieht und die Leute rufen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe! (Mk 11,9). Das war doch Wasser auf die Mühle ihres Messiasverständnisses. Gleichgesinnte und Gegner teilten ihre Vorstellung vom Messias Jesus, und seine Ankläger werden diesen Einzug nutzen, um Jesus vor Pilatus als politischen Aufrührer hinzustellen. Als Jesus Händler und Käufer aus dem Tempel warf und die Stände der Geldwechsler und Taubenverkäufer umstieß mit den Worten: Heißt es nicht in der Schrift: mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht (Mk 11,17) – war das nicht die Kampfansage des Messias an die Adresse der Hohenpriester und der Schriftgelehrten? Diese verstanden es jedenfalls so und suchten nach einer Möglichkeit ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren (Mk 11,15–19).

Schwankend zwischen Angst und Zuversicht, ob der „Menschensohn“ – dieses Wort gebraucht Jesus für sich selbst – tatsächlich am Ende untergehen und sterben wird und sie als seine Jünger womöglich mit ihm (Joh 11,16) oder ob er als Messias und König von Israel mit ihnen zu seiner Rechten und Linken (Mk 10,37) die Herrschaft übernimmt, gingen sie mit ihm nach Jerusalem hinauf, ahnend, dass dort eine Entscheidung fallen wird zwischen leidendem Menschensohn und politischem Messias.

Alles in allem sind die Tage des galiläischen Frühlings und des ungebrochenen Vorschussvertrauens der Jünger in Jesus vorbei. Als eine Frau ihn mit kostbarem Öl salbt, fahren die Jünger6 diese harsch an: Wozu diese Verschwendung? Man hätte das Öl um mehr als dreihundert Denare verkaufen und das Geld den Armen geben können. Indirekt treffen sie damit auch Jesus, der diese Verschwendung nicht nur zulässt, sondern auch verteidigt (Mk 14,4f). Tatsächlich entspricht die Summe von dreihundert Denaren dem, was ein Tagelöhner damals in einem Jahr verdienen konnte, heute etwa 24.000 Euro, wenn man einen Lohn von 10 Euro pro Stunde zu Grunde legt. Doch handelt es sich wirklich um eine Verschwendung? Oder ahnt die Frau, dass Jesu Tod am Kreuz als Hingabe seines Leibes für euch (1 Kor 11,24) derart verschwenderisch ist, jedes menschliche Maß so maßlos übersteigt, dass sie durch ihre „verschwenderische“ Tat die Einzigartigkeit dieser Hingabe und dieser Person würdigen will? So scheint Jesus sie zu verstehen, wenn er sagt: Die Armen habt ihr immer bei euch und ihr könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht immer. Sie hat getan, was sie konnte. Sie hat im Voraus meinen Leib für das Begräbnis gesalbt (Mk 14,7–8).

Wie weit die innere Entfremdung gediehen ist, zeigt folgende Begebenheit beim letzten Abendmahl: Als Jesus davon spricht, dass ihn einer der Zwölf verraten wird, da wurden sie sehr traurig und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr? (Mt 26,21). Sie zweifeln nicht nur an Jesus, sondern tragen ihm gegenüber auch Ablehnung und vielleicht sogar Hass in ihrem Herzen, so dass sich keiner sicher ist, ob nicht er selbst es sein wird, der Jesus verrät. Jeder hat Anteil an Judas, der den Behörden den Aufenthaltsort Jesu anzeigt. Als Jesus seinen Jüngern nur ein paar Stunden später ohne jeden Vorwurf voraussagt, dass sie Anstoß an ihm nehmen werden, was sie doch de facto schon seit längerem tun, reagieren sie darauf wie bei den Leidensankündigungen Jesu: Sie blocken ab – umso mehr, als sie sich ertappt gefühlt haben werden: Was als unangenehm und unpassend erscheint, was dem Anschein nach nicht sein darf oder peinlich ist, was stört oder gar Angst macht, wird unter den Tisch gekehrt. Es scheint dann weg zu sein. Petrus kann mit voller Überzeugung behaupten: Auch wenn alle Anstoß nehmen – ich nicht! Jesus sagte ihm: Amen, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Petrus aber beteuerte: Und wenn ich mit dir sterben müsste – ich werde dich nie verleugnen. Das Gleiche sagten auch alle anderen (Mk 14,27–31). Sie möchten zu ihm stehen, gleich was kommt. Da ihr guter Wille aber mit ihren Zweifeln an Jesus, ihrem Unverständnis, ihrer Kritik an ihm, ja Ablehnung und ihrer Angst vor den Juden nicht verbunden ist, steht dieser Wille auf tönernen Füßen: Sie werden ihr Versprechen nicht halten können.

Und in der Tat ist es schon aus, als Jesus Petrus, Johannes und Jakobus bittet, ihm in seiner Todesangst beizustehen und mit ihm zu wachen. Wer würde das nicht für seinen Freund tun, wenn dieser in seiner Not so klar darum bittet? Dies wollen auch die drei Jünger im Garten Getsemani. Sie hatten eben erst versprochen, bei ihm zu bleiben. Sie wollen es, aber sie können es nicht. Sie vermögen einfach nicht mehr, sich wach zu halten. Zu groß ist die Spannung. Die Augen waren ihnen zugefallen (Mk 14,40; Mt 26,43), vor Kummer erschöpft (Lk 22,45). Sie sind am Ende. Aufgebraucht ist ihre Kraft, die vermiedenen und ungelösten Spannungen zu ertragen. Die Dämme, durch die sie sich selbst und ihre Liebe zu Jesus schützen wollten, brechen vollends ein, als die Häscher kommen. Sie kapitulieren und fliehen. Außer Petrus. Er reißt sich zusammen, überwindet seine Angst und setzt sich der feindlichen Umgebung des hohepriesterlichen Hofes aus, um bei Jesus zu sein. Doch seine verdrängten Gefühle und Bedürfnisse unterminieren die Mauer aus Willen und Vorstellung: Petrus verleugnet Jesus dreimal mit wachsender Aggression gegenüber denen, die ihn in Frage stellen (Mk 14,71). Als er merkt, was geschehen ist, was er getan hat, bricht er zusammen und kapituliert ebenfalls.

Wir wissen nicht, was mit den Zwölfen – das war der Name für den Kreis der zwölf Apostel auch nach dem Weggang des Judas – geschieht. Es sind die Jüngerinnen Jesu, die Frauen, die unter seinem Kreuz stehen oder aus der Ferne Anteil an seinen Leiden nehmen und den Verstorbenen zu seinem Grab begleiten. Bei alledem sind die Zwölf nicht dabei!7 Ihr Fehlen mag Zeichen ihres mangelnden Mutes sein und Ausdruck des Anstoßes, den sie an Jesus nehmen. Doch geht die Bedeutung ihres Fernbleibens weit darüber hinaus: Denn bei Markus und Matthäus verschwinden die Zwölf als Handlungssubjekte komplett aus der Geschichte. Am radikalsten bei Markus: Kein einziger ihrer Namen taucht in seinem Evangelium noch einmal auf. Bei Matthäus finden wir sie erst Tage oder Wochen später wieder auf einem Berg in Galiläa, auf dem ihnen der Auferstandene erscheint, ein Widerfahrnis, das sich ohne ihr Zutun ereignet. Das Verschwinden der Zwölf als Akteure aus dem Evangelium erinnert an die Sterndeutergeschichte und das Verschwinden der Magier aus ihr in Jerusalem. Die Magier wie die Zwölf – sie sind wie aus der Geschichte gefallen, wie vom Erdboden verschluckt, wie gestorben und begraben mit dem, den sie suchten bzw. dem sie folgten. Und in der Tat wird dieses Ende Jesu den Zwölfen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Nicht nur ihre menschlichallzumenschlichen Hoffnungen auf gutes Auskommen, Einfluss und Ansehen zur Rechten und Linken des regierenden Messias sind in den Abgrund des Nichts gefallen. Nicht nur erleiden sie den Verlust eines Menschen, der ihnen nahe war, den sie geliebt haben. Vielmehr ist alles in Frage gestellt, was sie in allen Zweifeln und Prüfungen bei Jesus bleiben ließ: die Verheißung ewigen Lebens, ihr Glaube, dass durch ihn das Reich Gottes kommt. Denn kein Gott tritt hervor und wendet das Blatt der Geschichte, vertreibt die Heiden und die Sünder, stellt das Reich Davids wieder her. Im Gegenteil: Römer und Herodes behaupten sich. Und das Rad der Geschichte dreht sich weiter, wie es sich immer gedreht hat, die Welt wird nicht gerichtet und anscheinend beginnt auch kein neuer Äon. Gott hat geschwiegen, hat Unrecht und Böses geschehen lassen. Wieder einmal, wie so oft. Oder hatte er gar Jesus verlassen (Mk 15,34)? Konnte es denn sein, dass „ihr“ Jesus von Gott verflucht war, wie es in der Torah geschrieben steht: ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter (Dtn 21,23c)? Sollte es denn möglich sein, dass Jesus, der doch Worte ewigen Lebens