Von der Buntheit der Krähen - Dietmar Krug - E-Book

Von der Buntheit der Krähen E-Book

Dietmar Krug

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Thomas kehrt nach vielen Jahren in sein Heimatdorf zurück und findet es in einer Art Ausnahmezustand vor: Eine Bürgerwehr hat sich gebildet, aufgestachelt von der Angst vor allem Fremden. In dieser Atmosphäre zwischen Paranoia und Gewaltbereitschaft trifft Thomas seinen Jugendfreund Karl wieder – auch er kehrt nach langer Zeit zurück ins Dorf. Beide waren damals Außenseiter und sind es geblieben. Während Thomas erschöpft und ausgebrannt eine Auszeit nehmen will, ringt Karl sich zu einem späten Coming-Out durch und stellt sich in Frauenkleidern den Dorfbewohnern. Im Verlauf des Romans brechen sich uralte Kränkungen ihre Bahn, entladen sich Jahrzehnte lang schwelende Spannungen plötzlich in offener Aggression. Thomas muss sich verdrängten Wünschen und Sehnsüchten stellen, denn er begegnet auch seiner Jugendliebe Karin, die das Dorf nie verlassen hat – ein Wiedersehen mit überraschenden Folgen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 520

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dietmar Krug

Von der Buntheitder Krähen

Roman

Für meinen Vater Philipp Krugund für den Guru

Die Drucklegung dieses Bucheswurde gefördert von den KulturabteilungenNiederösterreich und Stadt und Land Salzburg.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1275-7eISBN 978-3-7013-6275-2

© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.atDruck und Bindung: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCoverbild: MabelAmber (Pixabay.com)Grafische Gestaltung: Leopold Fellinger

Inhaltsverzeichnis

Das Kleid

Die Rückkehr

Das Haus

Die Brücke

Die Stille

Die Waffen

Körper

Die Hasen

Laute

Geisteskrank

Sissi

Die Handtasche

Die Viehtränke

Der Angriff

Die gefangene Seele

Der Braten

Die Hexe

Spann an!

Wolke

Enthemmungen

Paare

Die Jagd

Over the Rainbow

Das Wort

Pfefferspray

Blackbird

Schwüle

Warum

Die Falle

Epilog

Das Kleid

Durch das geöffnete Sichtfenster des Traktors trieb ihm der nächtliche Fahrtwind den herbstlichen Nieselregen entgegen. Das Gesicht des Fahrers glänzte vor Nässe im Schein der wenigen Straßenlampen, die starken Wangenknochen über den stetig mahlenden Kiefermuskeln waren gerötet, sein langes dunkles Haar hing ihm in wirren Strähnen in Stirn und Nacken. Er versuchte dennoch nicht, das Fenster herunterzuklappen, weil er wusste, dass der Scheibenwischer klemmte und er deshalb in der Dunkelheit schon bald nichts mehr von der regennassen Straße sehen würde, die abseits des Dorfes zunächst an vereinzelt liegenden Häusern und dann nur mehr an gemähten Weiden und leeren Äckern vorbeiführte. Der Blick des Lenkers war starr geradeaus gerichtet, die tief liegenden Augen stärker noch als sonst zu dunklen Schlitzen verengt, um dem Regen und der schlechten Sicht zu trotzen.

Der Traktor stieß Rauchwolken in die Nacht, aus einem vom Rost durchlöcherten Auspuff, der seine schalldämpfende Wirkung gänzlich eingebüßt hatte. Wenn der Fahrer im Schein einer plötzlich auftauchenden Straßenlampe ein Gehöft passierte, drosselte er das ohnehin schon niedrige Tempo zur Schleichfahrt, um das Knattern des Motors in ein dumpfes Puffen übergehen zu lassen. Bei einem Hof am Fuß eines lang gestreckten Hügels brannte noch Licht, eine Bäuerin trat in Regenkluft aus einer Stalltür, sie hielt sich schützend die Hand über die Augen und spähte in die Richtung des Traktors.

Der Fahrer registrierte sie aus den Augenwinkeln, ohne den Kopf zu bewegen, und fuhr weiter. Fröstelnd hob er die breiten Schultern, er biss die Zähne zusammen, seine Kiefermuskeln traten noch stärker hervor. Die Nässe war inzwischen in seine Kleidung gedrungen, hatte seinen militärgrünen Parka durchweicht, seine Arbeitshose war auf den Oberschenkeln schon dunkel vor Feuchtigkeit. Noch verhinderte der untere Teil des Kleids, den er faltig hochgeschoben unter der Hose trug, dass sein Unterleib nass wurde. Doch das eng anliegende Oberteil klebte bereits unter dem schweren Flanellhemd auf seiner rasierten Brust.

An einer unbeleuchteten Weggabelung stoppte er kurz, um sich zu orientieren. Dann bog er in einen schmalen, unasphaltierten Seitenweg ein, die großen Hinterräder mit den abgenutzten, aber immer noch ausreichend profilierten Reifen sanken tief in die schlammigen Pfützen. Gelegentlich schien das kleine Gefährt zu schwimmen, aber der Fahrer holte es immer wieder mit einer geschickten Lenkbewegung in die Spur zurück. Er kannte seinen Traktor, er hatte nie einen anderen gefahren.

Als er am Ende des Seitenwegs die dunklen Umrisse einer Scheune ausmachte, hielt er vor der Umzäunung und schaltete den Motor ab. Der Traktor bäumte sich noch einmal mit einem Rucken auf, dann wurde es still. Er wartete, bis seine überreizten Ohren sich an die veränderte Situation gewöhnt hatten, und lauschte eine Weile in die Dunkelheit. Als er nichts hörte als das Nieseln des Regens auf dem Traktordach, stieg er aus der Kabine, ging zum Zaun und versuchte, das Holzgatter zu öffnen. Es war mit einem großen Vorhängeschloss versperrt. Mit zwei gezielten Tritten riss er die massiven Scharniere aus den Pfosten. Dann lauschte er wieder bewegungslos mit leicht gehobenem Kopf. Im Gras vor der Scheune wühlte ein Tier, vielleicht eine Ratte oder ein Igel. Er ging zum Traktor zurück, zog eine etikettlose Flasche Schnaps unter dem Sitz hervor und steckte sie in die Seitentasche seines Parkas.

Das Tor zur Scheune war nicht versperrt, der vertraute würzige Geruch nach Heu, Staub und trockenem Holz hüllte ihn ein, als er den finsteren Raum betrat. Im Schein eines flackernden Benzinfeuerzeugs fand er den Weg zu einem vereinzelt daliegenden Heuballen vor der hohen, bis zur Scheunendecke aufgeschichteten Wand aus gebündeltem Heu. Er setzte sich auf den Ballen und zündete sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug verschwand in der Brusttasche seines Parkas, nur das regelmäßige Aufglimmen der Zigarette warf seinen schwachen Schein auf die Szenerie: ein kräftiger Mann auf einem Heuballen, durchnässt, schwer und tief atmend, nachdem er einen langen Zug aus der Flasche genommen hatte. Vor ihm das Werk eines Sommers, gemäht, getrocknet und in der spätsommerlichen Hitze gestapelt, um dann einen Winter lang als Futter für das Vieh zu dienen.

Die Wucht des Aufpralls spürte Karl in seinem Rücken und an der Innenseite seiner Arme, die er gegen die Holzwand gepresst hielt. Danach war Stille – abgesehen von dem leisen Schnauben hinter der Tür. Sehen konnte er die Tür nicht – es war völlig finster –, aber er konnte sie hören. Sie musste drei, vier Meter von ihm entfernt und ebenso aus Holz sein wie die Wand, an der er lehnte, der dumpfe Ton beim Aufprall des massigen Stierschädels hatte es ihm verraten. Er lauschte in die Dunkelheit, das Schnauben jenseits der Tür wurde lauter, schneller, begleitet von einem Scharren auf dem Boden, das sich langsam von der Tür entfernte. Er wusste, was das bedeutete. Der Stier nahm Anlauf zu einem neuen Vorstoß. Unfähig, sich zu bewegen, presste Karl die Arme fester gegen die Holzwand, legte den Kopf mit zusammengekniffenen Augen zur Seite, bis er die rauen, grob gezimmerten Bretter an seiner Wange spürte. Der zweite Aufprall war deutlich wuchtiger als der erste, in den dumpfen Krach mischten sich ein erstes Splittern von Holz und das Ächzen rostiger Nägel und Schrauben, die sich zu lösen begannen. Er versuchte, sich aus seiner Starre zu befreien, sein Körper gehorchte ihm nur zögerlich. Ohne den Kontakt mit dem Holz an seinem Rücken aufzugeben, schob er sich tastend an der Wand entlang, weg von der Tür, die ihm genau gegenüber zu liegen schien. Nach wenigen Schritten stieß er an eine seitliche Wand, die seine Ausweichbewegung stoppte. Offenbar befand er sich am Ende des Gangs, der zu den Stallboxen mit den trächtigen Kühen und dem Stier führte.

Warum raste der Stier, was trieb ihn heraus aus seiner Box? Er hatte ihn doch gerade erst gefüttert, seine Tränke gefüllt. Karl löste die Arme von der Holzwand, berührte seinen Körper, fühlte den Stoff seines Parkas, seiner Hose. Hatte die Farbe seines Kleids den Stier so wild gemacht? Aber es war doch nur ein blasses Rot, und überdies verborgen unter seiner Arbeitskleidung. Außerdem war es stockfinster, der Stier konnte ihn gar nicht sehen.

Während Karl sich nun in die andere Richtung an der Wand entlangtastete, hörte er, wie das Schnauben des Stiers schneller, rhythmischer wurde, dann wieder das Scharren eines neuen Anlaufs und unmittelbar darauf der Krach des Aufpralls, knirschend diesmal – berstendes, brechendes Holz. Er konnte den Stier jetzt riechen, einige Bretter waren offenbar bereits aus der Tür herausgebrochen, einem weiteren Aufprall würde sie nicht standhalten. Panik erfasste ihn, er musste weg hier. Schwer atmend tastete er sich weiter und stieß auch hier nach wenigen Schritten an eine seitliche Begrenzungswand. Die Panik drang in seinen Unterleib und in seine Beine. Und er erkannte: Der Stier raste nicht, weil er aus seiner Box hinauswollte – er wollte herein, zu ihm, der sich selbst in einer Box befand, mit dem Rücken an der hinteren Schmalwand. Karl wollte schreien, aber eine innere Gewalt hielt seinen Mund verschlossen. Erstarrt lauschte er nach draußen: das Schnaufen, begleitet jetzt von einem kehligen Grunzton, das Scharren der Hufe zum neuen, letzten Anlauf. Dann hörte er noch ein anderes Geräusch, eine Art Heulen, von weit her zunächst, anschwellend, abschwellend. Auch der Stier hinter der geborstenen Tür schien es wahrzunehmen, das Tier passte sein Schnauben dem Rhythmus des schwellenden Heultons an, bis es ganz mit ihm verschmolz, in ihm aufging. Immer noch mit Rücken und Armen an der Wand, klammerte Karl sich an das heulende Geräusch, ließ es für sich realer werden als alles, was sich hier in der Stallbox des Stieres ereignete. Und plötzlich zerriss die Nacht, und mit ihr der Stall und der Stier. Was blieb, war das Heulen, zwar immer noch von weit her, aber klar jetzt und eingebettet in eine fassbare Welt. Er war erwacht, das Heulen war eine Sirene, die aus dem Dorf zu ihm herüberklang, sie hatte ihn aus seinem Traum gerissen.

Karl saß aufrecht in seinem Bett und starrte in den blendenden Schein einer nackten Glühbirne. Ein stechender Schmerz war in seinem Kopf, und er schloss die Augen wieder. Er betastete seine schweißnasse Stirn und versuchte noch einmal, die Lider einen Spalt weit zu öffnen. Er trug immer noch den feuchten Parka, die Arbeitshose und die völlig verdreckten Gummistiefel. Neben dem Bett lagen zwei Schnapsflaschen, die eine leer, die andere halbvoll. Beim erneuten Versuch, sich zu erheben, musste er eine weit auslaufende Welle von Übelkeit niederkämpfen. Dann stand er schwankend im Raum und lauschte auf das Heulen der Sirene hinter dem Hügel, der seinen Hof vom Dorf trennte. Durch das kleine Fenster mit dem Holzkreuz drang das erste frühe Licht der Dämmerung. Er zog Stiefel, Parka, Hemd und Hose aus und öffnete die Tür eines grob gezimmerten Schranks. An ihrer Innenseite war nachträglich mit vier geschraubten Stahlklemmen ein mannshoher, blindfleckiger Spiegel angebracht worden. Er stellte sich davor und betrachtete sich. Mit seinen großen Händen strich er über seine Hüften, um die Falten des völlig zerknitterten Kleids glattzustreichen. Dann nahm er ein Haushaltsgummi von einem Haken an der Tür und band sich damit das schwarze, dichte Haar, dessen Länge im Dorf schon so oft Anstoß erregt hatte, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Er drehte seinen gedrungenen, massigen Oberkörper einmal nach links, dann nach rechts, wiegte sich in den Hüften und strich sich übers Haar.

Dann knöpfte er vorsichtig das Kleid auf. Obwohl er im Versandhauskatalog eine Übergröße gewählt hatte, spannte es anfangs so stark an den Schultern, dass es zu zerreißen drohte, bis der Stoff sich schließlich gedehnt und seinem Körper angepasst hatte. Er fuhr sich mit der Hand über die rasierte Brust, schob das Kleid von seinen Schultern und fing es auf, bevor es zu Boden fiel. Nur noch mit seiner schlichten weißen Männer-Unterwäsche bekleidet, glättete er den blassroten Stoff mit seiner schwieligen Hand auf dem Bett und hängte das Kleid dann auf einen Holzbügel im Schrank. Er zerrte einen schweren Wintermantel darüber und knöpfte ihn so weit zu, dass das Kleid darunter nicht mehr sichtbar war. Dann nahm er eine frische Arbeitshose und einen grob gestrickten Pullover aus dem Schrank, zog sich an und verließ den kleinen Raum mit seinem Dämmerlicht und seinen Alkoholausdünstungen.

Jede Stufe der schmalen Holztreppe verursachte ein anderes Geräusch unter seinen Schritten, im schmalen Durchgang im Erdgeschoss musste er leicht seitlich gehen, um nicht mit den Schultern an die Einmachgläser zu stoßen, die zu beiden Seiten auf den Regalbrettern an den Wänden standen. Der festgetretene Lehmboden ohne Estrichüberzug dunstete einen kühlen, feuchten Geruch aus. Fröstelnd betrat er die Stube. Seine Großmutter hatte bereits eingeheizt, der alte Herd mit seiner großen Heizfläche strahlte die wuchtige, gespeicherte Hitze brennenden Holzes ab. Es war der einzige geheizte Raum im Haus, zwischen den beiden kleinen Fenstern gegenüber dem Herd stand eine grob gezimmerte Bank, davor ein Tisch und zwei massive Stühle. Die Großmutter drehte sich kurz um und nickte ihm zu. Er erwiderte den Gruß ebenso wortlos und trat durch eine niedrige Tür ins Freie.

Die Sirene war inzwischen verstummt. Er zog die kühle Luft tief in seine Lungen, ging bis an den Rand des Zauns, der das kleine Grundstück begrenzte, und spähte über die Weiden und Äcker zum dahinter liegenden Hügel. An seinem Fuß, wo er in einen ausgedehnten Waldstreifen mündete, sah er eine schmal aufsteigende Rauchsäule. Er zog die Lippen nach innen, vergewisserte sich, dass seine Großmutter nicht aus dem Fenster blickte, und urinierte auf einen Misthaufen neben dem Eingangsgatter. Er wusste, dass sie es nicht gern sah, wenn er das tat. Aber er benutzte den kleinen Holzverschlag mit seiner Senkgrube neben dem Haus nur selten, hatte ihn nie gemocht, seit sein Großvater ihm verboten hatte, den Riegel vorzulegen. Jetzt war sein Großvater zwar seit zwei Jahren tot, doch immer noch mied Karl das Klosett, benutzte es nur fürs große Geschäft, und wenn seine Großmutter nicht auf dem Hof war, nicht einmal dafür.

Als er die Stube wieder betrat, roch es bereits nach frisch aufgebrühtem Kaffee und gebratenem Speck. Er setzte sich auf den Stuhl an der Schmalseite des Tisches, wo sein Großvater früher immer gesessen hatte, und beobachtete seine Großmutter bei ihren Verrichtungen am Herd. Sie hatte ihr graues Haar zu einem immer noch dicken Knoten gebunden, ihre Gestalt schien ihm gebückter als sonst, ihre Bewegungen waren schwerfällig, aber zielgerichtet. Sie stellte eine Tasse Kaffee, einen Teller mit Eiern und Speck und einen Laib Brot auf den Tisch und setzte sich auf den Rand der Bank.

Er begann zu essen und sagte, ohne aufzublicken:

„Hast du’s wieder im Kreuz?“

Sie machte nur eine wegwerfende Handbewegung, schob eine mit Salz gefüllte Tasse mit abgebrochenem Griff zu ihm hin und sagte:

„Die Sirene ist gegangen. Es hat gebrannt drüben beim Leitner.“

„Hab’s gehört.“

Er aß weiter, sie saß schweigend da und wischte ab und zu mit der Hand über den Tisch. Er sah sie nicht an.

„Ich hab in der Nacht den Traktor gehört.“

Er blickte kurz auf und bemerkte, dass sie sich beim Reden die Hand vor den Mund hielt.

„Warum hast du dein Gebiss nicht drin?“

„Es passt nicht.“

„Das hat viel Geld gekostet.“

„Es fällt immer runter.“

Er stand auf und goss sich am Herd eine weitere Tasse Kaffee ein. In seinem Rücken spürte er, wie sie ihm mit dem Blick folgte.

„Wo bist denn gewesen mit dem Traktor?“

„Hab auf der Weide am Bach einen Zaun repariert.“

„Mitten in der Nacht?“

„Hätte ich die Kühe ausbüxen lassen sollen? Hab erst am Abend gesehen, dass ein Draht gerissen war.“

Er schob den Teller von sich und stand auf.

„Es gibt Arbeit.“

Er nahm den geflickten Mantel seines Großvaters vom Haken und verließ ohne ein weiteres Wort die Stube.

Als Karl gegen Mittag zum Hof zurückfuhr, stellte er sich vor, was seine Großmutter wohl gekocht haben mochte. Vor dem Essen wollte er noch das Kalb abrichten, es war ausreichend lange von der Mutter entwöhnt und sollte bald allein auf die Weide. Es war Zeit. Gleich nach seiner Ankunft ging er in den hinteren Teil des Stalls, wo ein schwarzes Kalb mit einem weißen Fleck auf der Stirn im Stroh saß und auf die Rückkehr der Mutterkuh wartete. Er wickelte dem Tier ein Seil um den Hals, zog es auf die Beine und dann aus seiner Box. Das Kalb ließ sich widerstandslos zu dem kleinen grasbewachsenen Teil des Hofes führen. Es war ein gut entwickeltes Tier, in wenigen Wochen würde es ausgewachsen sein. Karl nahm den Kalbskopf zwischen seine Hände und redete in ruhigem Ton auf das Tier ein.

„Bist ein Guter, bist bald ein großes Rind. Keine Angst, ich tu dir nichts. Ich muss dir nur meinen Willen geben.“

Während er das stumpfe Rückenfell streichelte, ging er langsam seitlich des Tieres in die Hocke, breitete die Arme aus und packte schnell ein Vorder- und ein Hinterbein. Dann stemmte er sich mit einer Schulter gegen den Rumpf, wuchtete das Kalb in die Höhe und riss es zu Boden. Das Tier warf den Kopf hoch und reckte bei dem Versuch, sich wieder aufzurichten, kurz die Beine unkoordiniert in die Luft. Der Anblick des zappelnden Tieres berührte ihn jedes Mal unangenehm. Er erinnerte sich, wie sein Großvater ihm zum ersten Mal die Prozedur gezeigt hatte. Karl war damals noch nicht in der Schule und verbrachte den Tag immer allein mit seiner Großmutter auf dem Hof. Wenn der Großvater nach Hause kam, holte er den Enkel manchmal aus der Küche, um ihm die Hofarbeit beizubringen. In die Kunst, einen Hof zu führen, hatte ihn stets sein Großvater eingewiesen. Sein Vater war kurz vor seiner Geburt ins Gefängnis gekommen. Die Großeltern redeten nie darüber, im Dorf sagte man, er habe einen totgeschlagen. Bald darauf war eine junge dunkelhaarige Frau mit ausländischem Akzent auf den Hof gekommen und hatte den Großeltern den Säugling übergeben. Danach war sie nie wieder im Dorf gesehen worden.

„Der Bauer muss dem Kalb zur rechten Zeit seinen Willen geben“, hatte der Großvater gesagt, „dann wird es immer brav folgen. Pass jetzt gut auf, Junge!“

Dann hockte der Großvater sich hin, packte das Tier und wuchtete es mit der Schulter zu Boden. Das Kalb riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Nachdem es wieder auf die Beine gekommen war, nahm der Großvater Karl bei der Schulter und schob ihn vor das zitternde Tier.

„Und jetzt du.“

Karl ging zögerlich in die Hocke und breitete die Arme aus. Sie waren nicht lang genug, um das Vorder- und das Hinterbein gleichzeitig zu ergreifen. Der Großvater zog ihn von dem Kalb weg und packte ihn wie zuvor das Tier an Armen und Beinen. Dann wuchtete er ihn in die Höhe und schleuderte ihn zu Boden.

„Solang du das nicht kannst, bist du kein Bauer, kannst keinen Traktor fahren, keinen Hof führen. Geh zur Großmutter Puppen spielen!“

Karl riss sich aus seiner Erinnerung und blickte kurz mit versunkenem Blick zu Boden, während seine Kiefermuskeln in Bewegung gerieten. Er atmete durch, nahm erneut den Kopf des ängstlich zurückweichenden Tieres in die Hände und blickte ihm in die weit offenen, runden Augen, bevor er es erneut zu Boden warf.

Als er die geheizte Stube betrat, dampfte bereits ein Teller mit Suppe auf dem Holztisch. Die Großmutter stand am Herd, mit dem Rücken zu ihm gewandt. Sie blieb in dieser Position, als er sich an dem Tisch niederließ und zu essen begann. Er wurde unruhig, wartete darauf, dass sie sich zu ihm setzte, immer am selben Platz auf dem Rand der Bank, die Beine nie unter dem Tisch, sondern seitlich abgewinkelt, um ohne viel Aufhebens jederzeit wieder aufstehen zu können.

„Hast du es immer noch im Kreuz?“

Jetzt drehte sie sich um und kam langsam zum Tisch.

„Was hast du mit dem Kälbchen gemacht?“

„Nix.“

„Ich hab gesehen, was du gemacht hast.“

„Und? Holst du es von der Weide, wenn es nicht folgt?“

„Ein Kalb folgt auch so.“

„Der Großvater hat’s mir so gezeigt.“

Sie setzte sich an den Tisch, er konnte sehen, wie etwas in ihrem Gesicht arbeitete, sie suchte nach Worten.

„Das letzte Mal, wie der Großvater ein Kalb so abgerichtet hat, weißt du noch? Der Tierarzt musste kommen, drei Rippen waren gebrochen. Hat viel Geld gekostet. Und dann haben wir’s schlachten müssen.“

Karl wich ihrem Blick aus.

„Man muss halt aufpassen.“

Sie berührte kurz mit einer verhaltenen Bewegung seinen Arm. Die Falte zwischen ihren Augen vertiefte sich.

„Du bist jetzt der Bauer, Karl. Und du musst nicht alles so machen wie der Großvater.“

„Aber ich muss schauen, dass ein Kalb folgt.“

„Das folgt auch so.“

„Woher willst du das wissen? Du hast es nie von der Weide geholt.“

„Früher, vor der Hochzeit, hab ich oft das Vieh geholt. Und die Kühe sind mir immer brav gefolgt. Ohne Stock und das da.“

Sie zeigte mit dem Finger auf das Fenster, durch das sie offenbar das Geschehen beobachtet hatte. Ihr Blick, getrübt von einem leichten Starleiden, blieb am Fenster hängen und kehrte sich langsam nach innen.

„Ich bin immer gern beim Vieh gewesen. Wenn ich ein Mädchen gekriegt hätt’, das mir im Haus hilft, hätt’ ich mich mehr um die Tiere gekümmert.“

„Hast halt einen Sohn gekriegt.“

„Ja. Aber ich hätt’ immer gern ein Mädchen gehabt. Mädchen sind anders.“

Ihre Stimme hatte sich gesenkt. Er beobachtete sie verstohlen.

„Wie anders?“

Ihr Blick kehrte zurück, wandte sich seinem Gesicht zu.

„Du warst auch anders. Hast nie eine Puppe kaputt gemacht, wenn ich sie dir zum Spielen gegeben hab. Dir tät ein Kalb ganz von selbst folgen, ohne das da.“

Wieder deutete sie durch das Fenster ins Freie. Er schob den Teller von sich weg und wischte sich den Mund am Ärmel ab.

„Ich hab Arbeit.“

Er stand auf und ging wortlos in den Durchgang mit den Vorratsregalen. Schwer atmend hielt er sich an einem Pfosten fest und sog die feuchte, schimmlig riechende Luft ein. Dann nahm er eine Flasche selbstgebrannten Schnaps aus dem Regal und stieg die Treppe in die obere Etage hinauf. In seinem Zimmer angelangt, nahm er ein Stück Schnur aus einer Kommode, wickelte das eine Ende um die Türklinke und das andere um einen großen Zollnagel, der tief im oberen Türrahmen steckte. Er überprüfte, ob die Klinke auch wirklich nicht mehr zu bewegen war, und öffnete den Kleiderschrank. Er befreite das Kleid von dem schweren Wintermantel und breitete es sorgfältig auf dem Bett aus. Während er es betrachtete, öffnete er die Flasche und nahm einen langen Zug. Der hochprozentige Schnaps verströmte augenblicklich eine Wärme in seinem Inneren, und seine Kiefermuskeln begannen sich zu entspannen. Er lehnte sich zurück und breitete das Kleid über seinen Körper. Mit der einen Hand öffnete er Knopf und Reißverschluss seiner Hose, mit der anderen führte er die Flasche zum Mund.

Als er erwachte, dämmerte es bereits. Er schwitzte und sein Kopf schmerzte. Geweckt hatte ihn das Geräusch splitternden Holzes. Er blickte zur Tür, die ruckartige Bewegung verursachte leichte Übelkeit und Schwindel. Die Tür war unversehrt, auch sonst war alles ruhig. Das Holz musste in seinem Traum gesplittert sein, der Stier war wieder da gewesen. Karl atmete schwer und nahm die halbleere Schnapsflasche vom Boden auf. Nach einem langen Schluck blieb die erhoffte Wärme in seinem Inneren aus. Er sank zurück und betrachtete den Knoten, mit dem die Schnur über der Tür an dem Zollnagel befestigt war. Neben dem Nagel war ein Stück Holz aus dem Rahmen gesplittert. Es war die Stelle, wo einst ein anderer Nagel gesteckt hatte. Karl hatte ihn selbst hineingeschlagen. Er hatte dafür einen Stuhl vor die Tür stellen müssen, weil seine Arme noch nicht bis an den oberen Rahmen reichten. Er hatte den größten Nagel genommen, den er in der Werkzeugbank im Schuppen finden konnte, und brauchte lange, bis er tief genug im Holz steckte. Mehrmals musste er die Arbeit unterbrechen, weil seine Arme schwer wurden. Als der Großvater dann in der Nacht kam und das frisch aufgespannte Seil ihm den Zugang zum Zimmer versperrte, lag Karl wach. Er hörte die Flüche des Großvaters, seine anschwellende Stimme, die ihn aufforderte, die Tür zu öffnen. Karl lag starr und antwortete nicht. Dann hörte er das Splittern des Holzes und zum Schluss das leise Geräusch des auf den Boden aufprallenden Nagels. Am Ende vernahm er nur noch den schweren Atem des Eindringlings, der das Zimmer im Nu mit seiner Alkoholausdünstung füllte. Schließlich hörte er nichts mehr. Alles wurde starr und stumm und kalt. Er spürte, wie die Decke über ihm weggezogen wurde, wie große Hände ihn auf den Bauch drehten. Und dann kam der brennende Schmerz, irgendwo dort unten, in einer Region, die nicht mehr zu ihm, zu seinem Körper gehörte.

Karl nahm noch einen Schluck aus der Flasche, schüttelte sich vor Ekel und stand auf. Der niedrige Raum lastete schwer auf ihm, die Luft kam ihm drückend vor. Hastig verstaute er das Kleid im Schrank, löste die Schnur von der Klinke und verließ fluchtartig das Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

Seine Großmutter saß am Tisch und füllte gekochte Apfelstücke in ein Glas. Sie blickte auf die Schnapsflasche in seiner Hand.

„Wo willst du hin?“

„Ins Dorf, unter Leute.“

„Warte, ich mach dir was zu essen.“

„Ich muss raus.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Stube und nahm den Parka vom Garderobenhaken im engen Flur. Die nasskalte Luft tat ihm gut. Er schloss den Reißverschluss seiner Jacke und trank noch einen Schluck Schnaps, während er auf den Traktor stieg. Der Motor startete mit einem rhythmischen Zucken, der rostige Auspuff stieß eine schwarze Wolke aus, die sich schnell im Dämmerlicht auflöste. Den Weg zum Dorf legte er mit offenem Sichtfenster zurück, um sich den Wind ins Gesicht blasen zu lassen. Er genoss die Kühle auf der Stirn, das Gefühl des wehenden Haares. Das Frösteln bekämpfte er mit weiterem Schnaps. Als er das einzige Gasthaus des Dorfes erreichte, war die Flasche leer. Er verstaute sie unter dem Sitz und ging leicht wankend auf die Tür mit der leuchtenden Reklame darüber zu.

Ein Geruch nach Rauch und Bier schlug ihm entgegen, als er die Gaststube betrat. Der Wirt, ein untersetzter Mann mit einer schimmernden Glatze und roter Gesichtshaut, machte zwei Männer an der Theke mit einem leichten Zucken des Kopfes auf den Eintretenden aufmerksam. Die Männer drehten sich um und blickten ihn schweigend an. Karl blieb stehen und starrte zurück. Er spürte seine Kiefermuskeln und ließ sie gewähren.

„Ist was?“

Die Männer wandten sich wieder dem Wirt zu und senkten verlegen den Blick auf ihre Gläser. Karl ging an der Theke vorbei und betrat durch eine Tür mit der Aufschrift „Disco“ einen größeren Raum mit einer Tanzfläche und einer in verschiedenen Farben schimmernden Silberkugel an der Decke. Laute, hämmernde Musik hüllte ihn ein und erzeugte eine angenehme Spannung in ihm. Es war ein Lied, das er schon oft bei der Arbeit aus seinem Transistorradio gehört hatte. Eine extrem hohe Männerstimme sang im gezogenen Falsett Stayin’ alive. Er war plötzlich erfüllt von dem gehobenen Gefühl, einen wichtigen Auftrag zu haben, den er hier und jetzt erledigen musste. Einen so geheimen Auftrag, dass er ihn selbst noch nicht kannte, aber er würde ihn schon noch erkennen. Die Musik sagte es ihm.

Die Rückkehr

Kurz hinter dem Ortsschild betätigte Thomas Neukirch den Blinker, drosselte vorsichtig das Tempo und fuhr auf den schmalen Rasenstreifen neben der Straße, um das drängende Auto vorbeizulassen. Das militärgrüne Gefährt, das im Rückspiegel fast die gesamte Straßenbreite einnahm, war schon eine Weile knapp hinter ihm gewesen, ohne ihn zu überholen, weil die enge, kurvenreiche Straße zu schmal dafür war. Während der Fahrer nun mit dröhnendem Motor vorbeizog, parkte Thomas seinen in die Jahre gekommenen Kleinwagen am Straßenrand. Als er aus dem Auto stieg, schlug ihm drückend warme Luft entgegen. Die Frischluftzufuhr während der Fahrt hatte ihm ein anderes Klima vorgegaukelt, dabei hatte der Wetterbericht im Radio den heißesten Märztag seit Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen angekündigt. Schnaufend stützte er sich auf dem Autodach ab und verharrte in dieser Haltung, ein leicht gebeugter Mann um die Fünfzig, von mittlerer Größe. Nachdem sein Atem sich beruhigt hatte, blickte er zurück und betrachtete das Schild, auf dem der Name des Ortes mit einer schrägen roten Linie durchgestrichen war. Wenige Meter entfernt stand ein neu aussehendes, weißes Haus, das erste in einer Reihe von Fertigbauten, die in gerader Linie aus dem Ort herausgewachsen waren. Thomas blickte irritiert im Kreis. Hatte die Straße hier nicht früher eine Kurve gebildet? War das Ortsschild womöglich versetzt worden? Als er es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es noch am Rand einer unverbauten Wiese gestanden. Aber dann sah er auf der gegenüberliegenden Seite der Straße den großen, noch laublosen wilden Kirschbaum, auf den er als Kind so oft geklettert war. Man hatte offenbar bei der Verwandlung von Weidefläche in Baugrund die Straße begradigt.

Er stieg wieder in den Wagen und fuhr in den Ort. Als er die Schule passierte, verlangsamte er kurz das Tempo. Hier sah er nichts, das sich verändert hatte. Der gewinkelte Flachbau war durch einen jetzt menschenleeren großen Hof und einen Sportplatz von der Straße getrennt. Er fuhr weiter, vorbei an dem Gasthaus, an dessen Front noch immer die altmodische Bierreklame mit dem Wappen der Brauereifirma hing. Darunter war auf einer schwarzen Tafel, vom Regen fast verwischt, mit hellblauer Kreide geschrieben: „Jeden Samstag Disco Nonstop“.

Er parkte den Wagen auf einer kleinen Anhöhe am Kirchplatz, auf dem zwei neue Bänke vor einem frisch angelegten Blumenbeet standen, und ging ein paar Meter die Straße hinunter bis zum einzigen Lebensmittelgeschäft des Dorfes. An der Eingangstür, die er schon so oft durchschritten hatte, standen die Öffnungszeiten: Montag bis Freitag: 8 bis 12 Uhr, Mittwoch: 14 bis 18 Uhr. Er blickte auf die Uhr und lächelte. Es war kurz nach zwei und es war Mittwoch, ein guter Anfang, wie ihm schien.

Als er das Geschäft betrat, nahm ihm der Geruch des diffus beleuchteten und schlecht belüfteten Raums für einen Moment den Atem. Die Zeit hatte dieser Luft nichts anhaben können, sie war erfüllt vom gleichen herb-süßlichen Aroma, das hier vor Jahrzehnten schon geherrscht hatte, Ausdünstungen von Obst und Wurst, Käse und Zeitschriften und noch einigen anderen Ingredienzen, die er nie hatte bestimmen können. Zwei Frauen mittleren Alters, die er nicht kannte, standen vor der Ladentheke und sahen ihn mit unverhohlener Neugier an. Er war erleichtert, als er bemerkte, dass die Frauen ihn ebenfalls nicht einordnen konnten. Er trat einen Schritt beiseite und tat so, als interessiere er sich für die wenigen Illustrierten, die auf dem äußeren Rand der Ladentheke lagen. Dahinter stand eine Frau an der Wurstschneidemaschine und schob mit gleichmäßigen Bewegungen eine Salami hin und her. In regelmäßigen Abständen hielt sie inne und legte die frisch geschnittenen Scheiben auf eine Waage mit Digitalanzeige. Sie zeigte jetzt 217 Gramm an, und eine der Frauen sagte:

„Macht nix. Auf die paar Gramm kommt’s auch nicht mehr an.“

Die Frau an der Schneidemaschine ignorierte die Bemerkung und nahm eine Scheibe von der Waage, so dass nur noch 203 Gramm anzeigt waren. Die beiden Frauen vor der Theke warfen sich einen Blick zu. Während die Verkäuferin die Salami einpackte, betrachtete Thomas sie genauer. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein, Anfang oder Mitte fünfzig, vielleicht etwas jünger, ihr Haar war grau, mittellang und wirkte nachlässig frisiert. Etwas in ihrem Gesicht kam ihm bekannt vor, aber er war sich nicht sicher. Die Tochter der alten Hilgers, die den Laden einst geführt hatte, konnte sie nicht sein, dafür war sie zu alt. Womöglich hatte das Geschäft den Besitzer gewechselt.

Hinter der Frau bewegte sich ein Vorhang, und der Kopf eines Mädchens tauchte auf. Es trug eine graue Schirmmütze und darunter ein straff um die Schläfen gezogenes Tuch. Die Gesichtshaut wirkte bleich und wächsern, die großen braunen Augen waren ungewöhnlich rund und nahmen viel Raum im Gesicht ein, weil über ihnen keine Augenbrauen waren, die ihren Platz begrenzt hätten. Die Stimme des Mädchens klang leise und müde.

„Darf die Svenja einen Kaugummi?“

Das Gespräch der Frauen verstummte, beide hielten in ihren Verrichtungen inne und starrten das Mädchen an. Die Frau hinter der Theke drehte sich um, und der Vorhang öffnete sich weiter. Ein zweites Mädchen tauchte auf, es war kräftiger und einen halben Kopf größer als das andere, aber wohl im gleichen Alter, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Blonde Locken umrahmten ein rundliches Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, das ein fernes Echo in seinem Inneren auslöste, so deutlich, dass er ungewöhnlich lange brauchte, bis er den Blick abwandte. Das Mädchen wirkte eingeschüchtert, die grünblauen Augen waren wach und beweglich. Die Frau wandte sich wieder der Wurstschneidemaschine zu.

„Aber nur einen.“

Das Gesicht des blonden Mädchens hellte sich auf, als es in den seitlichen Teil des Ladens ging, wo die Süßigkeiten standen. Die beiden Frauen blickten weiterhin wortlos das blasse Mädchen mit der Kappe an, bis es gemeinsam mit seiner Freundin wieder hinter dem Vorhang verschwand. Die Ladenbesitzerin wandte sich ihren Kundinnen zu, Ungeduld und Schärfe lagen in ihrer Stimme, als sie sagte:

„War’s das?“

Als die beiden Frauen den Laden verlassen hatten, notierte die Frau hinter der Theke etwas auf einem Block und fragte ihn:

„Was darf’s sein?“

Thomas wartete darauf, dass sie zu ihm aufblickte. Als das nicht geschah, sagte er schließlich:

„Haben Sie Wein?“

Die Frau holte zwei Flaschen aus einem Regal und stellte sie auf die Theke.

„Das ist, was wir haben.“

„Ich nehm den teureren, ist ein Geschenk.“

Thomas spürte einen Anflug von Verlegenheit, als die Frau weiter schwieg, er verlagerte schwerfällig das Gewicht von einem Bein auf das andere.

„Ich besuche meinen Vetter.“

Jetzt sah die Frau ihn an, jedoch ohne dass ihr Blick verriet, ob seine Bemerkung ihre Neugier geweckt hatte.

„Vier neunzig.“

Als er wieder im Auto saß, betrachtete er kurz das Etikett der Flasche, dann legte er sie auf den Rücksitz und fuhr eine gemächliche Runde durch das Dorf, bis er sein Ziel ansteuerte, ein rotes Backsteinhaus im unteren Teil des Ortes. Er parkte vor einem gepflegten kleinen Vorgarten hinter einem Jeep mit extrem hohem Radstand und steckte die Flasche in seinen Rucksack. Als er an dem Wagen vorbeiging, legte er kurz die Hand auf die Motorhaube, sie war noch warm. Erst auf dem Weg zur Eingangstreppe bemerkte er, dass sich unmittelbar hinter dem Backsteinhaus ein weiteres Haus befand, ein Neubau. Obwohl er knapp dimensioniert war, nahm er dennoch den gesamten Grund ein, der eher für einen Garten als für ein Haus geplant worden war.

Sein Vetter Roland öffnete die Tür, noch bevor Thomas die Türglocke betätigen konnte. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand, standen sich einen Moment gegenüber und wussten nicht, was sie sagen sollten. Roland hatte zugenommen, war gesetzter und massiger geworden, ein Eindruck, der noch durch eine ärmellose gesteppte Weste verstärkt wurde. Dazu trug er eine Hose mit braun-grünem Tarnmuster und aufgesetzten Taschen an den Seiten. Sein Gesicht hatte sich seine jungenhafte, rosig und bartlos wirkende Weichheit bewahrt. Das brünette Haar war noch voll und wies kein einziges graues Haar auf. Thomas kannte keinen anderen Menschen, der auf ihn eine derartig widersprüchliche Wirkung aus Fremdheit und Vertrautheit hatte. Er kratzte sich am Hinterkopf und deutete auf das neue Haus.

„Das stand noch nicht da, als ich das letzte Mal hier war.“

„Das hab ich gebaut, als die Kinder gekommen sind.“

„Wie alt sind die denn jetzt?“

„Kai ist zehn und Lars zwölf. Mann, du warst lange weg von der Bildfläche.“

„Lebt deine Mutter jetzt allein in dem alten Haus?“

„Ja, die ist noch rüstig wie ein altes Schlachtross. Aber wir haben natürlich ein Auge auf sie. Ist ja nur ein Sprung von Tür zu Tür. Komm, wir gehen rein, sie wartet schon.“

Sie betraten den kleinen, nur durch die gefärbte Glasscheibe der Eingangstür beleuchteten Flur, der eigentlich bloß ein schmaler Durchgang neben einer Holztreppe zum oberen Stockwerk war. Ähnlich wie in dem Laden bemerkte Thomas, dass sich auch hier ein vertrauter Geruch in den Wänden und den Gegenständen konserviert hatte, eine von weit her kommende Ausdünstung, schwer und unveränderlich. Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Rolands Mutter in einem Ledersessel mit hoher Rückenlehne saß. Ihr kurzes, seitengescheiteltes Haar war inzwischen fast weiß, aber immer noch dicht, ihr Gesicht war faltiger geworden, doch es hatte nichts von seiner markanten, maskulin wirkenden Straffheit eingebüßt. Auch ihr Körper wirkte noch beweglich und kräftig, als sie sich vom Sessel erhob. In ihren blassblauen Augen blitzte etwas auf, als sie seine Hand ergriff.

„Mensch, Thomas, bist du grau geworden, und hinten hast du Flecken, weiß wie Schnee. Guck dir meinen Roland an, noch kein einziges graues Haar.“

Sie hielt immer noch seine Hand, als sie den Mund zu einem breiten, angespannt wirkenden Grinsen verzog.

„Guck mich an. Ich bin achtundachtzig. Und hab noch alle meine Zähne.“

Mit dem Zeigefinger der freien Hand klopfte sie sich auf die Schneidezähne. Sie waren gelb und ungewöhnlich gleichmäßig.

„Tja, so ist das“, sagte Thomas, „die einen haben Haare, die anderen Zähne. Und manche haben beides auf dem gleichen Fleck.“

Roland verdrehte die Augen.

„Ganz toll, Mama, kannst dein Maul wieder zumachen. Komm mit, Tom, ich zeig dir das neue Haus und stell dir meine Frau und meine Söhne vor.“

Sie gingen zurück in den Flur, die Mutter folgte ihnen. Als sie schon an der Eingangstür waren, berührte sie noch einmal Thomas’ Arm und zog wieder die Lippen weit von den Zähnen zurück.

„Nächsten Monat werd ich neunundachtzig. Aber das Wetter spielt verrückt. Es ist März und die ersten Forsythien blühen schon.“

Roland führte ihn durch die Räume des neuen Hauses, die schlicht und zweckmäßig eingerichtet waren, lediglich das Wohnzimmer wies schwere rustikale Möbel auf, wie Thomas sie seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. In dem warm geheizten Raum traf er auf Rolands Frau Ingrid. Sie war schlank, trug wie ihr Mann eine Weste und eine Hose mit aufgesetzten Taschen, nur ohne Militärmuster. Hinter ihrer Brille lag ein Schleier über ihren grauen Augen, der ihrem Blick etwas Verhangenes, Apathisches verlieh, als nähme sie die Welt um sich herum gedämpft wahr. Ihr Händedruck war schlaff.

„Dass ich dich mal kennenlerne. Hab schon viel von dir gehört.“

Roland rief energisch in den hinteren Teil des Wohnzimmers hinein.

„Kai, Lars!“

Erst jetzt bemerkte Thomas die beiden Jungen, die vor einem Schrank, der die gesamte Breite des Raums einnahm, auf dem Boden saßen. Zwischen ihnen war eine große Decke auf dem Teppich ausgebreitet, darauf standen einige Dutzend Spielzeugautos in säuberlichen Reihen aufgestellt. Die Jungen, zwei hochgewachsene dünne Burschen, die einander, aber weder ihrer Mutter noch ihrem Vater ähnlich sahen, standen auf, schüttelten ihm wortlos die Hand und setzten sich dann gleich wieder auf ihre Plätze. Thomas wunderte sich, dass zehn- und zwölfjährige Jungs noch mit Matchboxautos spielten, wollte schon eine Bemerkung machen, dass sie wohl die Autobegeisterung des Vaters geerbt hatten, ließ es dann aber, weil ihr Spiel ihm seltsam still und statisch vorkam.

Direkt neben der Decke mit den Autos stand ein kleiner Beistelltisch, auf dem eine Schrotflinte mit aufgeklapptem Doppellauf lag. Das Metall glänzte schwarz, der Schaft war aus poliertem, fein gemasertem Holz. Roland bemerkte Thomas’ Blick und nahm das Gewehr vom Hocker. Mit einer routiniert wirkenden Bewegung klappte er es zu und erzeugte dabei ein sattes, nach mechanischer Präzision klingendes Geräusch.

„Mein Jagdgewehr. Hab’s gerade gereinigt.“

„Du bist Jäger?“

Roland zeigte auf eine Stelle neben dem gemauerten Kamin, wo ein großes Jagddiplom an der Wand hing.

„Seit das Geschäft mit der Tankstelle und der Werkstatt mehr oder weniger von selbst läuft, hab ich eine neue Herausforderung gebraucht. Da hab ich mich zur Jagdprüfung angemeldet. War eine Menge zu lernen.“

Er ging zur Wand und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf das entspiegelte Glas des Rahmens.

„Das nimmt mir keiner mehr.“

Während sie sich an einen Esstisch am anderen Ende des Raums setzten, holte Thomas den Wein aus seinem Rucksack.

„Ich hab was mitgebracht.“

Ingrid nahm die Flasche entgegen und stellte sie auf den Tisch.

„Soll ich sie aufmachen?“

Sie betrachteten die Flasche. Nichts sonst stand auf dem Tisch, keine Vase, kein Aschenbecher, kein zufällig abgestellter Gegenstand.

„Also für mich nicht“, sagte Thomas. „Ich muss ja noch fahren.“

Thomas machte eine Pause, um seinen Gastgebern die Gelegenheit zu geben, ihm eine andere Erfrischung anzubieten, aber Roland und Ingrid starrten nur weiter auf die Flasche.

„Ich hab den Wein hier im Laden gekauft. Da ist alles noch wie früher, obwohl eine neue Besitzerin drin war.“

Roland sah ihn fragend an.

„Wieso? Den führt doch Agnes, die Tochter der alten Hilgers.“

„Die Agnes war noch ein Kind, als ich sie das letzte Mal gesehen hab. Die Frau, die da bedient hat, war aber grau und in unserem Alter.“

Ingrid löste sich von der Weinflasche, und zum ersten Mal durchdrang etwas Lebendiges, Anteilnehmendes ihren Schleier.

„Agnes ist ziemlich schnell alt geworden in letzter Zeit. Ist ja auch kein Wunder, ihre Tochter hat Krebs.“

„Ich glaub, ich hab das Kind im Geschäft gesehen.“

„Die kriegt in letzter Zeit kaum noch jemand zu sehen. Agnes hatte vor der Simone schon zwei Fehlgeburten. Irgendwas stimmt nicht mit der. Aber sie wollte ja unbedingt noch ein Kind.“

Jetzt starrte auch Thomas auf die Weinflasche, und das Gespräch verstummte, bis von draußen ein Geräusch zu hören war, ein explosionsartiges Puffen und Knattern, das rasch näher kam und an Lautstärke zunahm.

„Was ist das denn?“, fragte Thomas.

Roland verzog einen Mundwinkel und grinste.

„Das rätst du nie.“

Sie standen auf und gingen zum Fenster. Roland zog die Gardinen beiseite, das Geräusch war inzwischen so laut, dass man sich nicht mehr verständigen konnte. Ein kleiner, völlig verrosteter Traktor fuhr beinahe im Schritttempo am Haus vorbei. Vom Fahrer sah man nur die massigen Schultern und das lange tiefschwarze Haar, das fast das ganze Profil verdeckte. Als der Lärm abebbte, fragte Thomas:

„Ist das Karl? Karl Ritz?“

„Kann man den verwechseln?“

Thomas blickte dem knatternden Traktor hinterher und runzelte die Stirn.

„Der ist wieder da? Seit wann?“

„Ist vor ein paar Wochen plötzlich aufgetaucht. Und alle fragen sich seitdem, was er hier will. Lungert einfach nur rum und fährt auf seinem Schrotthaufen durch die Gegend.“

Roland blickte zu seinen Söhnen, die trotz des Lärms weiter unbeeindruckt mit ihren Autos gespielt hatten. Eine tiefe Sorgenfalte war zwischen seinen Augen.

„Aber eins sag ich dir: Wenn er meinen Kindern zu nahe kommt, weiß ich, was ich zu tun hab.“

Sein Blick wanderte zu dem Schrotgewehr, das wieder neben seinen Söhnen auf dem Beistelltisch lag. Die beiden Jungen blickten kurz auf und wandten sich dann aber gleich wieder ihrem Spiel zu, das darin bestand, die Autos in immer neuen Reihen anzuordnen.

„Wieso glaubst du, dass er deinen Kindern was tun könnte?“

„Das fragst du noch? Der hat doch zweimal im Bau gesessen, zuerst im Jugendknast wegen schwerer Körperverletzung und Brandstiftung. Und dann gleich noch mal ein paar Jahre im richtigen Knast wegen Mord. Der ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten.“

„Soviel ich weiß, war es nicht Mord, sondern Totschlag im Affekt“, sagte Thomas.

Ingrid hatte sich zu ihnen ans Fenster gesellt und sagte:

„Affekt und mildernde Umstände, das sagen sie immer, und dann sind solche Typen nach ein paar Jahren wieder draußen. Bis sie es wieder tun.“

Thomas kratzte sich am Hinterkopf und ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Es wirkte überladen mit seinem Eichenesstisch und dem wuchtigen Wandschrank, der die ganze Wand fast bis zur Decke einnahm.

„Gibt’s eigentlich den Ritz-Hof noch?“

„Mehr oder weniger. Die alte Ritz ist, kurz nachdem Karl in den Jugendknast gewandert ist, gestorben. Seitdem steht das Haus leer. Verrottet einfach vor sich hin. Hat nie wer kaufen oder abreißen wollen.“

Die Männer setzten sich wieder an den Esstisch, Roland wischte einige Mal mit der flachen Hand über die Tischplatte und fragte:

„Und was treibst du so? Arbeitest du immer noch bei der Zeitung?“

„Ja, zumindest bis letzte Woche. Ich gönne mir jetzt mal eine Auszeit.“

Ingrid nickte mehrmals und sagte:

„Hattest du ein Burnout?“

„So was Ähnliches.“

„Das haben jetzt viele Leute. Wenn ich in der Stadt leben müsste, könnten sie mich nach spätestens einem Monat in die Klapsmühle stecken.“

„Von der Stadt hab ich jetzt auch erst mal genug. Ich werd den Sommer auf dem Land verbringen.“

„Wo denn?“

„Warum nicht hier? Kennt ihr jemanden, der ein Haus vermietet? Kann ruhig was Einfaches sein.“

Roland grinste ihn an.

„Du willst dich hier wieder niederlassen? Ich erinnere mich noch gut, wie du nichts wie weg hier wolltest.“

„Zumindest für einen Sommer.“

„Ich werd mich mal umhören, ob wer was vermietet.“

Aus einer der aufgesetzten Taschen von Rolands Hose kam ein Piepton. Er nahm ein Handy heraus und sagte laut:

„Was ist?“

Roland verdrehte die Augen, während eine verzerrt klingende Frauenstimme aus dem Lautsprecher zu hören war.

„Ich frag ihn.“

Roland steckte das Handy wieder in die Tasche.

„Muttern fragt, ob du noch auf einen Kaffee vorbeikommst.“

Die beiden Männer gingen wieder zu dem alten Haus hinüber, wo Rolands Mutter bereits in der Eingangstür auf sie wartete. Als sie näher kamen, lächelte sie Thomas für einen Moment an. Dann verzog sie wieder ihren Mund zu einem kraftvollen Grinsen und tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Schneidezähne. Noch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Roland sie an:

„Ja, Mam, wir wissen es!“

Das Haus

Thomas wischte sich mit dem Ärmel seines T-Shirts den Schweiß vom Gesicht und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Aprilsonne schon eine solche Wärme spenden würde. Allerdings hatte er sich auch seit Jahren nicht mehr körperlich derart verausgabt. Der Verkäufer im Gartengroßhandel hatte ihn abschätzig gemustert und gefragt, wie lang die Hecke sei, die er zu schneiden beabsichtige. „So fünfzehn, zwanzig Meter“, hatte Thomas geantwortet, und der Mann hatte ihm zum Kauf einer elektrischen Heckenschere geraten. Er hatte sich dennoch für eine Handschere entschieden, schließlich werde er die Hecke voraussichtlich nur ein, zwei Mal schneiden.

Jetzt bereute er seine Entscheidung. Sein Rücken schmerzte und seine Arme waren schwer. Denn was er zu schneiden hatte, war völlig aus der Form gewachsen, mehr ein Gestrüpp als eine Hecke, seit Jahren nicht geschnitten, ein meterhohes, dichtes Gewucher aus verschiedenstem Gesträuch. Aber er wollte nicht aufgeben, denn er wusste: Wenn er einen Sichtschutz aus dichtem Bewuchs haben wollte, dann musste er das Wuchern bändigen. Die Hecke säumte das Grundstück zur Straße hin, die eigentlich nur ein asphaltierter Weg war, dahinter erstreckte sich eine Weide bis an den Rand eines bewaldeten Hügels. Die anderen Begrenzungen des Grunds waren kein Problem, an der Nordseite knospete bereits in der gesamten Breite ein wuchtiger Flieder, er würde schon bald den Blick auf das dahinterliegende ungenutzte Gartenhaus verdecken. Im Osten und Süden wuchsen Haselnusssträucher und Forsythien, die noch in leuchtend gelber Blüte standen. Hier brauchte er sich keinen Sichtschutz herbeischneiden, dahinter befanden sich nur Äcker, Weiden und ein kleines Waldstück.

In der Mitte des Grunds stand ein kleines, zweistöckiges Haus mit einer gelben, verwitterten Fassade. Es war ursprünglich bloß ein Gartenhaus aus Holz gewesen, ein Ingenieur aus der benachbarten Stadt hatte es vor fünfzig Jahren gebaut, um es als Wochenendhaus zu nutzen. Die Einheimischen hatten den Bau argwöhnisch beobachtet, da sich sonst nie ein Ausflügler oder Tourist in ihr Dorf verirrte. Aber es sollte ohnehin so gut wie nie jemand dort sein, und so hatte Thomas oft als Kind in dem rasch verwilderten Garten gespielt. Einmal war er in der Nacht mit einigen Freunden in das Haus eingebrochen, und sie hatten mit Taschenlampen die Räume durchstöbert.

Nach einigen Jahren verkaufte der Ingenieur das Haus. Die neuen Besitzer verputzten die Außenfassade und strichen sie mit der gelben Farbe an, von der jetzt nur noch verblichene Reste übrig waren. Das Haus war mit wildem Wein bewachsen, der jetzt noch keine Knospen gebildet hatte, doch schon bald würde von der verwitterten Fassade nichts mehr zu sehen sein. Den Wein hatten die zweiten Besitzer des Hauses angepflanzt, ein Hippie-Pärchen, das bei jeder Gelegenheit im Garten arbeitete oder mit Freunden feierte. Der Mann, von dem nie jemand in Erfahrung brachte, was er beruflich machte, hatte ebenso langes, glattes Haar wie seine Frau, und die beiden waren bald das Gespött des Dorfes. Gegenstand des Hohns war zunächst, dass sie statt des üblichen Zierrasens eine wilde Wiese angelegt hatten, die sie nicht etwa wöchentlich mit einem Rasenmäher kürzten, sondern je nach Wuchs zwei oder drei Mal im Jahr mit einer altmodischen Sense schnitten. Irgendwann zogen die Hippies wieder weg, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Und sie hinterließen einen merkwürdig hergerichteten Garten, dessen Anlage Thomas erst jetzt allmählich zu würdigen wusste. Ein Bauer, der alte Leitner, nutzte die Geschäftsuntüchtigkeit der Hippies und kaufte das Haus für einen Spottpreis, in der Erwartung, dass einer seiner Söhne sich dort einmal niederlassen würde, sobald die Zeit gekommen war. Aber dazu kam es nie, und so standen Haus und Garten seither ungenutzt da.

Roland hatte ihn auf das Haus aufmerksam gemacht, im Scherz zunächst, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand dort auch nur einen Sommer lang leben könnte. Aber Thomas hatte den alten Josef Leitner auf seinem Hof besucht, und man war sich bald über einen Mietpreis einig geworden. Er hatte den Bauern kaum wiedererkannt, seine wuchtige Gestalt war geschrumpft, sein Kopf war nur noch von einem dünnen Haarkranz umgeben, sein Gesicht hatte eine gleichmäßige, ungesund wirkende Röte.

„Alle haben mich gefragt, warum ich den Grund nicht einfach verkaufe.“

„Und, warum nicht?“

„Ein Leitner verkauft nicht. Und vielleicht will ja der Enkel hier mal was bauen. Mein Wolfgang hat’s nicht haben wollen. Hätte nur die Bruchbude drauf abreißen müssen. Aber er wollte ja unbedingt weg von hier.“

Leitner blinzelte ihn an.

„Genau wie du.“

Thomas blickte zu Boden, bewegte die Hände vor seinem Bauch einige Male auf und ab und sagte verhalten:

„Manchmal muss man einfach weg.“

„Was?“

Er wiederholte seine Aussage, so nachdrücklich, dass er kurz selbst erschrak. Leitner machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ich hab Wolfgang den Grund zum Bauen überschrieben. Die Hütte hätten wir mit dem Traktor selbst abgerissen. Nur den Bau hätt’ er bezahlen müssen. Aber er wollte ja unbedingt weg.“

„Was hat er denn gemacht?“

„Ist Autoverkäufer in der Stadt geworden. Hat bei dem gleichen Autohändler gelernt wie dein Vetter Roland, der jetzt eine eigene Tankstelle mit Werkstatt und Waschanlage hat. Das hat der Wolfgang nicht zustande gebracht. Statt dessen kommt er hier jedes Jahr mit einem anderen Auto vorgefahren. Will wohl seinem Bruder imponieren, weil der Harald den Hof gekriegt hat. War der Ältere, ist halt so.“

„Und wie geht’s dem Harald?“

„Hat sich anfangs schwer getan auf dem Hof. Hat damals so lange gebraucht, sich zu erholen, dass ich den Hof schon dem Wolfgang geben wollte. Das verdankt er diesem Vieh von Ritz. Ein halbes Jahr ist der Harald im Gipsbett gelegen, mit angebrochener Wirbelsäule. Dann hat er noch mal ein halbes Jahr gebraucht, bis er wieder laufen konnte. Bis heute geht er stocksteif wie eine Bohnenstange. Macht ihm die Arbeit nicht grade leichter. Aber er hat sich durchgebissen, das muss man ihm lassen.“

Leitner fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und blickte mit zusammengekniffenen Augen ins Leere.

„Der Ritz ist auch wieder aufgetaucht.“

„Hab’s schon gehört.“

„Was will der hier?“

Thomas zuckte mit den Schultern und bewegte langsam den Kopf hin und her. Eine Pause entstand, bis Leitner mit nach innen gewandtem Blick sagte:

„Der Verbrecher kommt zurück und haust in seiner Ruine. Aber der Wolfgang ist sich zu fein, hier auf einem Grund zu leben, der ihn nichts kostet. Warum wollen eigentlich alle weg?“

„Nicht alle. Harald ist geblieben, und mein Vetter, der Roland, auch.“

Leitner legte eine Weile den Kopf schräg, bevor er sagte:

„Ja, der ist bei Muttern geblieben. Und die Karin, die Tochter vom Seulen, die ist auch geblieben.“

Thomas wich seinem Blick aus und deutete mit einer zögerlichen Geste auf das frisch gestrichene Tor des Hofes.

„Das ist neu, oder?“

Leitner folgte seinem Fingerzeig nicht, verharrte in seiner Haltung und zog einen Mundwinkel zu einem provokanten halben Grinsen in die Höhe.

„Machen wir einen Vertrag für das Haus?“, fragte Thomas.

„Für die paar Monate? Lohnt nicht. Bleib, so lange du willst. Die Hütte wird dir so bald keiner streitig machen.“

Thomas setzte sich vor das Haus auf die Terrasse. Sie war mit Terrakottafliesen belegt, in deren abgesplitterten Ecken Unkraut wucherte. Während er einen weiteren Schluck aus der Wasserflasche nahm, betrachtete er die Pflanzen um ihn herum. Da das Grundstück an einem Hügel lag und abschüssig war, musste für die Terrasse eine Aufschüttung angelegt werden, deren Rand komplett mit Bewuchs aus Efeu und Flieder gesäumt war. Zur Rechten stand ein Strauch, der nur aus drei graubraunen, glatten und kahlen Ästen bestand, an einem hing eine einzige verschrumpelte Frucht, die er nicht kannte. Das immergrüne Efeu bot einen Vorgeschmack darauf, was ihn im Sommer erwartete. Wenn der Flieder kräftig Laub bildete, dann würde die Terrasse sich in eine Laube verwandeln. Hier würde er gut arbeiten können. Im Schatten der Efeuhecke zündete er sich ein Zigarillo an und trank Wasser aus der Metallflasche.

Bevor er sich wieder an die Arbeit machte, wollte er noch einmal ins Haus gehen, um die Flasche aufzufüllen. An der Haustür blieb er kurz stehen und betrachtete den Rahmen. Er wies nur noch Reste grüner Farbe auf, auf Höhe der Klinke war er mit Holzleim geflickt worden. Während er mit dem Finger über die Stelle fuhr, erinnerte er sich, was der Grund für die Reparatur gewesen war. Es war die Spur eines nächtlichen Einbruchs, der rund vierzig Jahre zurücklag.

Er hatte sich damals zur Nacht mit seinem Vetter Roland und Harald Leitner, dem älteren Sohn des Bauern, am Gartenzaun hinter dem Grundstück verabredet. Lange waren sie zögerlich um das Haus gekreist, bevor sie sich dazu durchgerungen hatten, an einer flachen Stelle über die Hecke zu steigen. Dann schlichen sie um das Haus herum, auf der Suche nach einem unverschlossenen Fenster. Aber sie fanden keines und wollten schon ihren Plan fallen lassen, als sie plötzlich ein Geräusch an der Hecke hörten. Sie schalteten ihre Taschenlampen aus und gingen spontan in die Hocke. Mit angehaltenem Atem spähten sie ins Dunkel, in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatten. Als ihre Augen sich auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sahen sie die Umrisse einer hoch gewachsenen, massigen Gestalt, die sich auf sie zubewegte. Thomas spürte, wie Roland sich an seinem Arm festkrallte. Harald schaltete seine Taschenlampe ein, leuchtete der Gestalt ins Gesicht und rief beim Aufspringen: „Abhauen!“

Im Schein der Lampe stand Karl Ritz vor ihnen, er hielt sich geblendet die Hand vor Augen, so dass von seinem Gesicht nur die ausgeprägten Wangenknochen, die breite Nase und der schmale verkniffene Mund sichtbar waren. Sein halblanges, schwarzes Haar glänzte im Schein der Lampe. Roland sagte in die Runde:

„Wer hat dem denn gesagt, was wir vorhaben?“

Die beiden anderen Jungen zuckten mit den Schultern. Karl kam näher und schaltete nun selbst eine Taschenlampe ein, mit der er die Eingangstür des Hauses beleuchtete. Er ballte eine Faust und schlug mit dem äußeren Handballen ein paar Mal leicht auf Höhe der Klinke gegen das Holz.

„Ihr wollt da rein?“

„Was geht dich das an?“, sagte Roland.

Karl sah ihn ausdruckslos an, dann ging er einen Schritt zurück und trat wuchtig gegen die Tür. Mit einem splitternden Krachen flog sie auf. Roland fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch sein säuberlich in der Mitte gescheiteltes Haar.

„Hast du sie noch alle? Das gibt sicher eine Anzeige!“

Roland blickte in die Runde und sagte zu Thomas:

„Ich verpiss mich. Kommst du mit?“

Eine Stille entstand, in der jeder zu Boden schaute und überlegte. Dann baute sich Harald Leiter zur vollen Größe auf, ein hoch aufgeschossener Junge mit leuchtend entzündeter Gesichtsakne und tief liegenden Augen, die ständig in lauernder Bewegung zu sein schienen.

„Hündchen will heim zu Mami.“

Roland schnaufte kurz auf. Dann ging er zu der Stelle im Zaun, wo sie eingedrungen waren, blickte sich noch einmal zu Thomas um und verschwand in der Dunkelheit.

Harald drückte die schief in den Angeln hängende Haustür mit der Schulter ein Stück weiter ins Innere und leuchtete in den Flur. Muffig riechende Luft schlug ihnen entgegen. Im Schein der Lampen sahen sie, dass der Boden mit Mäusekot bedeckt war. Die Jungen betraten vorsichtig den kleinen Flur. Als Karl ihnen folgte, blieb Harald kurz stehen und leuchtete ihm ins Gesicht.

„Wer hat dich denn eingeladen?“

Karl sah ihn schweigend an, während sein Unterkiefer in eine mahlende Bewegung geriet. Thomas legte die Hand auf Haralds Arm und drückte ihn so weit hinab, dass der Schein der Lampe auf Karls Brust wanderte, die sich in beschleunigtem Rhythmus hob und senkte.

„Lass ihn. Ohne Karl wären wir gar nicht reingekommen.“

„Aber wenn wir was finden, gehört es uns.“

Sie drangen weiter ins Haus vor und bemühten sich, mit ihren Lampen nicht die Fenster anzuleuchten. Der Flur führte in eine Küche, in deren Schränken sie nur altes Geschirr und Besteck fanden. Ein türloser Durchgang mündete in eine Stube, die den Hippies wohl als Wohnzimmer gedient hatte. Ein verstaubter Teppich mit orientalisch aussehendem Muster lag auf dem Boden, auf einem Regal an der Wand standen ein paar rostige Teedosen. Im hinteren Teil des Raums führte eine schmale Holztreppe in den oberen Stock des Hauses, sie knarrte unter dem Gewicht der Jungen. Einer der beiden Räume auf der Etage war völlig leer und mit Spinnweben durchzogen, in dem anderen nahm ein Bettrahmen mit einem nackten Federrost einen Gutteil des Raums ein. Gegenüber dem Bett stand eine Kommode. Sie öffneten eine ihrer Laden und fanden einen Stapel Zeitschriften. Am Grund des Stapels stießen sie auf ein Magazin, von dessen Cover eine nackte Frau dem Betrachter mit leicht geöffnetem Mund entgegenblickte. Sie saß auf einem Bett und führte sich die Warze einer riesigen Brust an den Mund, mit der anderen Hand bedeckte sie ihr Geschlecht zwischen den gespreizten Schenkeln.

Harald warf die Zeitschrift aufs Bett und blätterte sie unter dem Schein seiner Taschenlampe durch. Thomas trat näher, richtete auch seine Lampe auf das Magazin. Karl hielt sich im Hintergrund und beobachtete das Geschehen aus der Distanz. Erst als Harald sagte: „Guck dir den Hammer an“, trat er einen Schritt nach vorn und sah einen Mann, der seinen erigierten Penis dem geöffneten Mund einer nackten Frau entgegenreckte. Thomas ging ein Stück beiseite, um Karl Platz zu machen. Harald beharrte auf seiner Position im Zentrum, als Karl vortrat, und sagte zu ihm:

„Da packt dich der Neid der Besitzlosen, was?“

„Auf was? Dass sie ihm gleich sein Gerät abbeißt?“

Thomas lachte kurz auf, verstummte aber gleich wieder, als er bemerkte, dass Karl nicht in sein Lachen einstimmte. Er stand nur da und starrte auf das Foto, bis er seine breite Hand auf das Gesicht der Frau legte und das Papier zusammenknüllte. Dann nahm er die Zeitschrift und rollte sie zu einem Papierrohr ein. Mit einem schnellen Griff packte er Harald beim vorderen Hosenbund, zog kurz kräftig an seinem Gürtel und stopfte ihm das Magazin senkrecht in die Hose.

„Was du findest, gehört dir. War so ausgemacht.“

Harald zog das Heft aus seiner Hose und baute sich vor Karl auf.

„Du Wichser.“

Karl stand regungslos da, während Harald sich schnell atmend vergewisserte, ob er mit Unterstützung rechnen könnte. Thomas trat einen Schritt beiseite und hob die Hände. Harald verstand die Geste und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. In betont lässiger Haltung wich er einen Schritt zurück.

Eine Weile durchstöberten sie noch die Räume, bis es uninteressant wurde, und sie stiegen wieder die Treppe hinab. Als sie bereits im Flur waren, fand Harald in einer Ecke einen alten Straßenbesen. Er stieg durch die schief in den Angeln hängende Haustür nach draußen und stellte sich mit dem Besen in Pose, indem er mit schnellen Bewegungen immer dieselbe Stelle auf dem Boden fegte. Hin und wieder blickte er kurz hektisch um sich, um dann wieder gesenkten Kopfes mit seinen Kehrbewegungen fortzufahren. Im Schein von Thomas’ Taschenlampe glänzte Leitners Gesichtsakne dunkelrot.

„Wer hat im Dorf den saubersten Quadratmeter vorm Haus?“

Eine lastende Stille legte sich über die Szene, Thomas spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er wollte etwas sagen, brachte aber nichts heraus. Er sah seine Mutter vor sich, wie sie vor dem Haus die Straße kehrte. Jedes Mal, wenn er von der Schule kam, sah er schon von Weitem ihre zierliche Gestalt, den Besen in der Hand, immer dieselbe kleine Stelle auf der Straße kehrend. Nach einiger Zeit hielt sie kurz inne, wischte sich das üppige schwarze Haar aus der Stirn und starrte auf die blank gefegte Stelle, bis sie plötzlich misstrauisch die Straße hinauf und hinab spähte, als lauerte dort irgendetwas. Dann ging Thomas zu ihr, nahm ihr sanft den Besen aus der Hand und sagte:

„Komm ins Haus, Mama.“

Sie sah ihn an, mit verstört leerem Blick, der kaum verriet, ob sie ihn überhaupt erkannte.

„Ich muss aber noch kehren.“

„Genug gekehrt, Mama. Die Straße ist schon ganz sauber.“

Widerstrebend ließ sie sich von ihm über die Waschbetonfliesen des Gangs führen, der zwischen gepflegten Rasenbeeten in einer kleinen Marmortreppe vor dem Haus mündete.