Von der schwierigen Kunst, treu zu sein - Victor Chu - E-Book

Von der schwierigen Kunst, treu zu sein E-Book

Victor Chu

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Können wir überhaupt treu sein? Von der neuen Sehnsucht nach Verbindlichkeit

Woher kommt es, dass so viele Menschen ihren Partner wirklich lieben und gerne treu sein möchten, ihn aber trotzdem betrügen? Was treibt uns in den Seitensprung? Treu zu sein ist eine schwierige Kunst – aber eine, die immer mehr Paare wieder lernen wollen.

Treue ist die Eigenschaft, die sich die meisten Menschen von ihrem Partner wünschen. Gleichzeitig ist etwa die Hälfte der Befragten einer großen Stern-Umfrage schon einmal fremdgegangen. Offenbar besteht eine große Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Beständigkeit und Verlässlichkeit einerseits und dem Bedürfnis nach Freiheit und Abenteuer andererseits. Dazu kommt, dass die meisten Menschen ihren Partner tatsächlich lieben und ihm treu sein möchten – sie ihn aber trotzdem betrügen.
Den Gründen dieses scheinbaren Widerspruchs geht dieses Buch nach. Es trägt aber auch einer Entwicklung Rechnung, die sich darin zeigt, dass sich viele Menschen wieder auf eher traditionelle Werte und Tugenden besinnen. Neben der Klärung der Ursachen für Untreue – und der Darstellung ihrer Formen – zeigt dieses Buch deshalb mit vielen Beispielen aus der Praxis, wie wir wieder mehr Treue und Verbindlichkeit in unseren Liebesbeziehungen entwickeln können. Wenn es trotzdem zu einem Seitensprung gekommen ist, muss das nicht das Ende der Beziehung bedeuten: Schafft ein Paar es, aus dem Treuebruch zu lernen und sich ehrlich mit sich und dem Partner auseinanderzusetzen, wird es möglich, auf einer neuen Ebene zueinander zu finden und gemeinsam zu wachsen.

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Seitenzahl: 298

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Inhaltsverzeichnis
 
Treue – Anspruch und Wirklichkeit
 
Was ist Treue?
Treue fällt uns nicht in den Schoß
Warum das Thema Treue wieder aktuell ist
War früher alles besser?
Die Auswirkungen der sexuellen Revolution
Wie sich sexuell wechselnde Partnerschaften der Eltern auf Kinder auswirken
Wenn sich Familienbindungen auflösen
Eine diffuse Identität führt zu diffusen Beziehungen
Treue kommt aus dem Wesenskern
Nur wer sich selbst kennt, kann auch richtig lieben
Was ist Treue nicht?
Treue ist nicht blind
Treue bedeutet nicht Symbiose
Kindliche Treue
Treue ist nichts Erzwungenes oder Erpresstes
Emotionale Erpressung
Pflichterfüllung ist nicht Treue
Treue ist nicht Abhängigkeit
Eine Treuebindung ist kein geschlossenes System
Treue heißt nicht Ausschluss anderer wichtiger Beziehungen
Treue ist nicht unkritisch und nicht kritiklos
Treue ist nicht alternativlos
Zweckgebundene Beziehungen sind nicht fürs ganze Leben ausgelegt
Die Grundlagen der Treue: Liebe, Sexualität, Intimität und Produktivität
Liebe – das Einander-Erkennen im Wesenskern
Sexuelle Hingabe und Erfüllung
Intimität
Produktivität
Wie Treue und Untreue gelernt werden
Wie haben die Eltern ihre Liebesbeziehung vorgelebt?
Günstige Voraussetzungen für die Entwicklung von Treue
Bindung in der Kindheit und ihre Auswirkung auf die Partnerschaft
Die Bindungstheorie – intimes Verhalten lernen wir in unserer Kindheit
Die vier Bindungsqualitäten
 
Untreue und ihre Folgen
Formen der Untreue
Ursachen für Untreue aus der Kindheit und früheren Beziehungen
Ursachen aus der Vergangenheit
Unverarbeitete frühere Beziehungen
Ursachen für Untreue aus der aktuellen Beziehung
Liebe ich ihn/sie wirklich?
Die alltäglichen Konflikte
Sprachlosigkeit zwischen den Partnern
Machtkämpfe in Beziehungen
Die alltägliche Langeweile
Was vermissen untreue Frauen bei ihren Partnern?
Wie reagieren Männer auf die alltägliche Langeweile?
Gelegenheit macht Diebe
Ungelöste frühere Beziehungen
Kritische Punkte im Laufe einer langjährigen Beziehung
Ein Beispiel für Untreue in einer Lebenskrise: Das mittlere Lebensalter
Affären und ihre Folgen
Die Stadien einer Affäre
Ausblendung des Hintergrunds
Zeitdauer einer Affäre
Wiederholung früherer Familienkonstellationen
Emotionale Untreue
Zwei grundlegende Irrtümer in Bezug auf die Liebe
Untreue überwinden
Trauma und posttraumatisches Belastungssyndrom beim betrogenen Partner
Hilfe und Selbsthilfe für den untreuen Partner
Hilfe und Selbsthilfe für den betrogenen Partner
Hilfe und Selbsthilfe für den Geliebten/die Geliebte
Kinder und Untreue
 
Die Kunst, treu zu sein
Treuebruch als Chance
Der Treuebruch als Chance – ein Beispiel
Krisen fordern uns immer wieder heraus
Vertrauen in sich selbst aufbauen
Innere Stärke entwickeln
Traumata in Krisen verwandeln
Gemeinsam an innerer Stärke gewinnen
Die Mauer zwischen den Partnern abbauen
Sich aufeinander zubewegen: Reue – Vergebung – Versöhnung
Sich selbst vergeben
Riten der Versöhnung
Entrümpelung
Leer werden
Zärtlichkeit und Sinnlichkeit
Würdigung des Alltags
Abwechslung und neue Farben
Feste feiern
Mit Versuchungen umgehen lernen
»Ökologie der Beziehungen« – soziale Netzwerke
Spiritualität und religiöse Bindung
Dankbarkeit
»Der Eisenofen« – ein Beispiel für den langen Weg zur Treue
Das Erlernen der Kunst, treu zu sein
Treue im Werden, Treue als Weg
 
Anhang
Copyright
Treue – Anspruch und Wirklichkeit
Treue ist diejenige Eigenschaft, die sich die meisten Menschen von ihrem Partner wünschen. Treue wurde in einer Umfrage des Magazins Stern von drei Viertel aller Frauen und zwei Drittel aller Männer als die wichtigste Eigenschaft genannt, die sie von einem Partner oder einer Partnerin erwarteten. Gleichzeitig gaben 43 Prozent der befragten Frauen und 51 Prozent der befragten Männer an, schon ein- oder mehrmals fremdgegangen zu sein oder es gerade zu tun.1 Anscheinend klafft eine große Diskrepanz zwischen unserem Wunsch nach Beständigkeit und Verlässlichkeit einerseits und unserem Bedürfnis nach Freiheit und Abenteuer andererseits. Außerdem besteht offensichtlich ein Wider spruch zwischen dem Anspruch, den man an seinen Partner stellt, und der Fähigkeit, selber das Geforderte zu erfüllen.
Vielen Menschen, die untreu geworden sind, scheint ihr eigenes Verhalten selbst nicht zu behagen. 80 Prozent der Menschen, die fremdgegangen sind, sagen, sie lieben ihren Partner und möchten ihm treu sein.2
Sie möchten treu sein, aber sie schaffen es nicht. Warum betrügen sie, was sie lieben? Dieser Frage nachzugehen, ist Anliegen dieses Buches.
Dieses Buch handelt aber nicht nur von Untreue. Es gibt offenbar ein großes Bedürfnis in unserer Zeit, sich nach Jahren der sexuellen Freizügigkeit wieder auf Werte und Tugenden zu besinnen – weniger aus der Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« als aus dem inneren Bedürfnis vieler Menschen heraus, ihrem Leben und ihren Liebesbeziehungen wieder Sinn und Bedeutung zu geben. Deshalb geht es in diesem Buch auch um die Frage: Wie wir mehr Treue und Verbindlichkeit in unseren Liebesbeziehungen entwickeln können.
 
Dieses Buch könnte Menschen interessieren,
• deren Partner fremdgegangen ist und die darüber nicht hinwegkommen;
• die das Verhalten ihres Partners verstehen und
• einen neuen Anfang versuchen möchten.
Ferner richtet es sich an Menschen,
• die fremdgegangen sind und die den Grund für ihr Verhalten verstehen möchten;
• die nach positiven Alternativen suchen.
Ebenfalls wendet sich das Buch an Menschen,
• die sich in der Rolle des oder der Geliebten in einer Dreiecksbeziehung befinden und verstehen möchten, wie sie in diese Lage geraten sind.
Außerdem kann das Buch Menschen helfen,
• die sich bemühen, treu zu sein, und dies schwer finden, oder
• die treu sind, aber darüber nicht glücklich sind.
Eine wichtige Gruppe, die ich ansprechen möchte, sind Menschen,
• die als Kinder Untreue bei ihren Eltern erlebt und darunter gelitten haben und
• die in ihrer eigenen Beziehung einen anderen Weg einschlagen möchten.
Nicht zuletzt wendet sich das Buch auch an Kolleginnen und Kollegen,
• die sich beruflich mit diesem Thema befassen.
Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, um die Liebe zu kämpfen. Eine Liebesbeziehung verlangt zwar viel von uns, sie fordert uns aber auch heraus, über uns hinauszuwachsen. Wir können Kräfte entwickeln, von denen wir bisher nichts geahnt haben. Liebe ist wie ein Spiegel, in dem wir die schönsten und die hässlichsten Seiten von uns entdecken. In einer Liebesbeziehung werden Erfahrungen, die wir als Kinder in unseren Familien erlebt haben, wieder zum Leben erweckt. Damit erhalten wir eine zweite Chance, unerledigte Themen von früher abzuschließen.
Liebe verlangt Mut zur Wahrhaftigkeit. In einer intimen Beziehung können wir uns nicht verstellen. Wir müssen uns stellen. Daher ist Liebe ein Weg, unser wahres Selbst zu entdecken und zu entwickeln.
Es war für mich eine Freude, dieses Buch zu schreiben. Ich habe persönlich davon profitiert, da das Thema mich stellenweise sehr bewegt und aufgewühlt hat. Das Gleiche wünsche ich den Leserinnen und Lesern.
Was ist Treue?
Treue fällt uns nicht in den Schoß
Wie wir im Vorwort gesehen haben, scheint Treue für die meisten Menschen das Wichtigste zu sein, das sie sich in einer Liebesbeziehung wünschen. Doch während kaum einer daran zweifelt, dass es die wahre Liebe gibt, fällt es vielen schwer, an wirkliche Treue zu glauben. Das heißt: Selbst wenn man einen liebevollen Partner gefunden hat und mit ihm zusammenbleiben will, kann es zu Seitensprüngen und Affären kommen. Liebe bringt also nicht automatisch Treue mit sich.
Warum ist dies so? Warum fällt uns Treue nicht in den Schoß?
Dafür gibt es vielerlei Gründe. Es gibt kulturelle, gesellschaftliche, familiäre und persönliche Ursachen für Untreue: 3
• Treue ist allem Anschein nach keine biologisch gegebene Ausstattung des Menschen, sondern eine kulturelle Errungenschaft. So wie sich die soziale Einheit der Familie (und mit ihr die ihr zugrunde liegende lebenslange Paarbeziehung) im Laufe der Menschheitsgeschichte erst allmählich gebildet hat, so muss sich jedes Individuum in seinem eigenen Leben die Treue zu einem Liebespartner erarbeiten.
• Neben dem erklärten Ideal der Treue gibt es in der patriarchalischen Gesellschaft gleichzeitig das Leitbild des erobernden Mannes und der verführerischen Frau. Diese Leitbilder haben sich über Jahrhunderte tief in uns eingegraben und bestimmen unser Verhalten, oft auch unbewusst. Ein solch widersprüchliches Wertesystem verursacht heftige innere Konflikte in den einzelnen Individuen. Der innere Kampf vieler Paare zwischen Treue und Untreue, zwischen Wahrhaftigkeit und Betrug ist somit auch Zeichen einer gesellschaftlichen Doppelmoral.
• Um treu zu sein, muss man/frau sich manches versagen. Man muss auf anderweitige Begegnungen und Beziehungen verzichten. Um diesen Verzicht mit vollem Herzen zu bejahen, bedarf es der Einsicht in den Sinn der Treue. Diese Einsicht ist nicht jedem von vornherein gegeben. Vielmehr reift sie erst im Laufe des Lebens allmählich heran. Treue kann somit als Frucht eines langen Reifungsprozesses angesehen werden.
• Verzicht steht im Gegensatz zu der verständlichen Tendenz im Menschen, den inneren Wünschen und Sehnsüchten nachzugeben und sie sich zu erfüllen. Der Reiz des Neuen, die Lust am Abenteuer, der Duft der Frauen (und der Männer) üben eine verführerische Wirkung auf uns aus.
• Gerade in einer Zeit, in der der Konsum uns verheißt, uns jeden erdenklichen materiellen Wunsch immer und überall erfüllen zu können, kommt uns der Verzicht auf Bedürfnisbefriedigung fast anachronistisch, zumindest altmodisch vor.
• Keine Beziehung ist vollkommen. Von der Liebe haben wir aber oft die Vorstellung, sie müsse perfekt sein. Wenn wir von unserer Partnerschaft enttäuscht sind, meinen wir oft, der Grund dafür liege (allein) beim Partner – wir hätten nur nicht den Richtigen oder die Richtige gefunden. Also geht man/frau auf die Suche nach einer besseren Alternative. Erst wenn mehrere Versuche gescheitert sind, kommen wir darauf, dass das Problem vielleicht auch an uns selbst liegen könnte.
• Treue bedeutet auch Bindung und Gebundensein. Ein Seitensprung verspricht zumindest vorübergehend eine Befreiung aus dem Gefühl, eingeengt, festgelegt und angebunden zu sein.
• Eine langjährige Beziehung verliert mit der Zeit leicht an Farbigkeit und Faszination. Gewohnheit und Langeweile können sich einschleichen. Der Glanz der anfänglichen Anziehung lässt nach, so dass man/frau sich nach erotischer und sexueller Abwechslung sehnt.
• In langjährigen Beziehungen gibt es immer wieder gegenseitige Missverständnisse, Kränkungen und Verletzungen. Ein Seitensprung oder eine Affäre kann (bewusst oder unbewusst) dazu dienen, Rache am Partner zu üben oder ihm damit ein früher erlebtes Unrecht heimzuzahlen.
• Manchmal wird eine Nebenbeziehung dazu benutzt, um eine ins Ungleichgewicht geratene Beziehung – sei es im Machtverhältnis, sei es im emotionalen Engagement – wieder »auszubalancieren«.
• Aktuelle Partnerschaftskonflikte erhalten zusätzliche Nahrung aus schwierigen Konstellationen in den Herkunftsfamilien der beiden Partner. Wenn die eigenen Eltern emotional oder physisch abwesend waren, wenn sie fremdgegangen sind oder einen geliebten Partner verloren haben, kann dies zur Hypothek für die nächste Generation werden.
Wir sehen, es gibt mannigfaltige Gründe für die Schwierigkeit, treu zu sein. Im zweiten Teil des Buches, der von der Untreue und ihren Folgen handelt, werden wir auf die tieferen Motive für Seitensprünge und Nebenbeziehungen eingehen. Im Folgenden wollen wir uns erst einmal der Frage zuwenden, wieso es uns heute einerseits besonders schwerfällt, treu zu sein, weshalb aber andererseits viele von uns danach streben, treu zu sein und treu zu bleiben.
Warum das Thema Treue wieder aktuell ist
Warum ist Treue wieder ein aktuelles Thema geworden? Die Zeit scheint reif zu sein, menschliche Werte wieder in den Mittelpunkt zu stellen. In vielen Bereichen, sowohl im Privatleben als auch im gesellschaftlichen Zusammenleben, sind Beziehungen bedrohlich brüchig geworden. Das in der globalen Wirtschaft vorherrschende Profitdenken hat sich auch in unseren privaten Beziehungen ausgebreitet und unsere Wertmaßstäbe in Richtung Eigennutz verschoben. Wenn wir heute eine Beziehung eingehen, fragen wir uns oft: »Was bringt sie mir? Was habe ich davon?« In einer spaß- und lustbetonten Gesellschaft geht es eher um die Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse und Gelüste als um den Aufbau tiefer, langfristiger Beziehungen. Der Begriff »Lebenspartner« wird vielfach durch das Wort »Lebensabschnittspartner« ersetzt. Mann und Frau werden dazu animiert, ihre Partner nach Laune wie modische Kleidung an- und abzulegen. Doch kurzfristige Affären hinterlassen nicht selten einen schalen Geschmack. Irgendwann fragt man/frau sich: Ist das alles, was das Leben zu bieten hat?

War früher alles besser?

Besinnung ist angesagt. Es geht hier nicht um eine Rückbesinnung auf die »gute alte Zeit«, in der die Tradition noch gegolten hat und man wusste, was man zu tun und lassen hatte. Zum Glück sind solche Zeiten vorbei. Sie haben zwar eine gewisse Verlässlichkeit gebracht, aber um den Preis von Zwang, Furcht und falscher Scham. Man war vielleicht äußerlich treu, auch wenn man sich mit seinem Partner nicht verstand, aber häufig aus Furcht vor Schande – »Was werden die anderen denken, wenn ich mich scheiden lasse?« Viele Menschen blieben bei ihrem Partner, weniger aus Liebe denn aus Gewohnheit und Resignation. Da voreheliche Sexualität verboten war, gingen Mann und Frau in die Ehe, ohne dass man sich intim kannte. Wenn sich nach der Heirat herausstellte, dass man sexuell nicht zusammenpasste, konnte man nicht so leicht aus der Verbindung herausgehen. Gefangen in gesellschaftlichen Konventionen, mussten sich viele Menschen mit der einmal eingegangenen Partnerschaft arrangieren.

Die Auswirkungen der sexuellen Revolution

Das unterdrückte Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung brach sich in der sexuellen Revolution der 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts Bahn. Man widersetzte sich vielen bis dahin geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Endlich durften Mann und Frau ihre geheimsten Wünsche in Erotik und Beziehung ausleben. Diese Befreiungsbewegung war getragen von viel Idealismus und Optimismus.
Heute geht man viel schneller miteinander ins Bett, wenn man Gefallen aneinander findet. Moderne Verhütungsmittel, eine liberale Abtreibungspraxis und eine größere gesellschaftliche Toleranz bewahren junge Menschen vor dem Zwang, gleich eine Familie gründen zu müssen, wenn sie mit einem Partner intim werden. Liebesbeziehungen können somit leichter wieder gelöst werden.
Diese Entwicklung ist ein großer Fortschritt, da sie viele unglückliche Verbindungen verhindert. Aber die neue Freiheit erkaufen wir auch durch eine größere Beliebigkeit. Wir schauen nicht mehr so genau hin, wen wir uns da ausgesucht haben. Die neue Freizügigkeit verführt dazu, Liebe und Sexualität wie einen Konsumartikel zu betrachten und als solchen zu behandeln: »Was du begehrst, nimm und genieße!« Damit geht eine Wegwerfmentalität einher, die uns viele Prominente vorleben: »Wenn dir der alte Partner nicht mehr passt, stoß ihn ab und such dir einen neuen!« Das Versprechen fürs Leben, das man gestern gegeben hat, gilt heute schon nicht mehr.
Wo die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse zum obersten Ziel wird, führt die falsch verstandene Freiheit zum Egoismus. Auf der gesellschaftlichen Ebene beobachten wir, wie Rücksicht und Fürsorge für andere schwinden und uns die soziale Einstellung verloren geht. In persönlichen Beziehungen wird das Gegenüber immer mehr zum »Objekt«, etwas, das wie eine Ware behandelt werden kann. Liebe wird dann zum Tauschhandel. Nach sexuellen Abenteuern bleibt am Ende nicht nur ein schaler Geschmack zurück. Sie hinterlassen nicht selten innere Leere und Einsamkeit.

Wie sich sexuell wechselnde Partnerschaften der Eltern auf Kinder auswirken

Auch in der Familie finden Kinder und Jugendliche immer häufiger fragwürdige Vorbilder: Eltern gehen fremd, lassen sich scheiden, finden sich mit anderen Partnern zu Patchworkfamilien zusammen. Durch das Zusammenwürfeln verschiedener Familien finden Heranwachsende immer schwerer zu einer klaren Identität. Ihre Identität verschwimmt: Bin ich immer noch das Kind meines geschiedenen Vaters, auch wenn ich ihn jahrelang nicht mehr gesehen habe? Wieso darf ich meine Großeltern nicht mehr sehen? Wie soll ich mich gegenüber dem neuesten Lover meiner Mutter verhalten? Wie lange wird dieses Verhältnis halten? Warum muss ich auf einmal mit ihm und seinen Kindern zusammenleben und mit ihnen meine Sachen und meine Mama teilen? Was passiert mit meinen leiblichen Geschwistern, die beim Vater leben? Manche Kinder verwechseln den Begriff »Halbgeschwister« und »Stiefgeschwister« – sie wissen nicht mehr, zu wem sie gehören.

Wenn sich Familienbindungen auflösen

So lösen sich in unserer modernen Gesellschaft Familienbindungen langsam auf. Loyalitäten zur leiblichen Familie lockern sich, neue Bindungen zu Nichtverwandten entstehen. Es wäre jedoch ein Kurzschluss zu behaupten, alles stünde zum Besten, wenn man nur die traditionelle Familienstruktur beibehielte. Für manch ein Kind kann es ein Segen sein, wenn es vor einem prügelnden Vater oder vor einer übergriffigen Mutter geschützt wird, wenn es aus einem verwahrlosten Elternhaus herausgenommen und in eine neue, fürsorgliche Umgebung kommt. Es ist jedoch für jedes Kind wichtig zu wissen, woher es kommt, wer seine leiblichen Eltern sind und wie es diesen ergeht. Hier zwei Beispiele:
Ein Mann hat seinen Vater nie gekannt. Er wuchs nur mit seiner Mutter auf, die wechselnde sexuelle Beziehungen pflegte. Erwachsen geworden, kann er nicht treu sein. Immer wieder zeugt er mit einer Frau ein Kind, dann verlässt er sie und findet eine neue Beziehung.
Eine Frau wuchs größtenteils mit ihrer Mutter auf. Ihren Vater kannte sie nur aus ihren ersten Lebensjahren. Sie erinnert sich hauptsächlich daran, dass er jähzornig war. Sie hatte als Kind Angst vor ihm. Der Vater verließ die Familie, kurz nachdem sie in die Schule kam. Als sie erwachsen war, heiratete sie einen unscheinbaren Mann, von dem sie keine Gewalt zu befürchten brauchte, und blieb ihm Jahrzehnte treu. Sie fühlte sich von ihm zwar nicht geliebt, aber sie wusste keine Alternative. Außerdem war sie dankbar dafür, dass er nicht gewalttätig war. Irgendwann forschte sie nach ihrem Vater. Sie fand ihn in einer neuen Familie, lernte ihn als alten Mann neu kennen. Es wurde kein besonders herzliches Verhältnis daraus. Dann starb er. Kurz danach realisierte sie, wie sehr sie in ihrer Ehe unter der Lieblosigkeit ihres Mannes gelitten hatte. Sie lernte einen liebevollen Partner kennen und trennte sich von ihrem Mann.

Eine diffuse Identität führt zu diffusen Beziehungen

Wenn wir diese beiden Beispiele anschauen, bekommen wir ein Gefühl dafür, wie sich die Beziehung der Eltern auf die späteren Beziehungen ihrer Kinder auswirkt. In beiden Fällen kannten die Kinder ihre Väter nicht oder nur wenig. So konnte der junge Mann keine feste männliche Identität entwickeln. Seine Frauenbeziehungen blieben diffus. Er zeugte Kinder und verließ sie, so wie er selbst von seinem Vater verlassen worden war. Seine Partnerinnen waren nur solange interessant, wie sie keine Kinder hatten. Sobald sie Mütter wurden, nahm er Reißaus, so wie er einst vor seiner überbehütenden Mutter geflohen war.
Im zweiten Fall blieb die Frau bei ihrem Mann, auch wenn er sie nicht liebte, weil sie auf keinen Fall so einen gewalttätigen Partner haben wollte, wie sie ihren Vater erlebt hatte. Sie lief sozusagen vor dem Schreckensbild ihrer Kindheit weg. Als sie ihren Vater nach Jahren wiedersah, fand sie zwar einen unsympathischen, grobschlächtigen Mann vor, aber sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Sie musste nicht mehr vor ihm davonlaufen. Dadurch erlosch auch ihr Bedürfnis, bei ihrem lieblosen Mann zu bleiben. Sie fand einen Partner, der sowohl friedfertig als auch liebevoll war.
Wir können hier also festhalten: Der Grund, weshalb es heute so schwer ist, eine dauerhafte Beziehung einzugehen und treu zu sein, liegt auch darin, dass unsere Identität in den jetzigen Zeiten unsicherer gewordenen ist – es ist kein Zufall, dass beide Kinder in den erwähnten Beispielen in den Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt kamen.

Treue kommt aus dem Wesenskern

Eine Treuebindung kann ich nur mit meinem ganzen Wesen eingehen. Ich möchte einem Menschen treu sein, weil er mich in meinem Wesenskern berührt. Liebe ist stets eine Verbindung zwischen meinem Wesenkern und dem Kern meines Gegenübers. Dem jungen Mann aus dem oberen Beispiel fehlt ein wesentlicher Teil seiner männlichen Identität – er kennt seinen Vater nicht. In diesem Bereich seines Wesenskerns klafft eine Lücke, er ist hier gewissermaßen hohl geblieben. Daher fällt es ihm schwer, eine tiefere Herzensverbindung zu einer Frau aufzubauen. Außerdem hat er vergeblich versucht, die Lücke des Vaters auszufüllen und den Ersatzmann für seine Mutter zu spielen. Da er seine Mutter nur als eine unglückliche, verlassene Frau kannte, meint er, alle Frauen seien bedürftig und besitzergreifend wie sie. Deshalb flüchtet er vor jeder nahenden Liebesbeziehung.
Im Grunde läuft er aber vor seinem eigenen Schatten weg. Er käme aus dem Teufelskreis heraus, wenn er die Wurzeln seiner Bindungsangst in der inneren Not als Kind erkennen würde. Dies ist jedoch ein schmerzlicher Prozess, für den man eigentlich die Hilfe eines Therapeuten benötigt. Manchmal ist ein Mann erst dazu bereit, wenn er selbst Vater wird – dann erkennt er, wie sein eigenes Kind sein Schicksal wiederholt.
Während das Herz des Mannes aus dem ersten Beispiel »hohl« geblieben ist, ist das Herz der Frau aus dem zweiten Beispiel so sehr von dem Bild des gewalttätigen Vaters, den sie aus ihrer Kindheit kannte, besetzt, dass sie keinen Mann wirklich nahe an sich heranlassen kann. Ihre distanzierte Ehe ist eine Art Kompromiss: »Ich tue dir nichts, du tust mir nichts. Ich fühle mich neben dir zwar einsam, aber zumindest bin ich nicht ganz allein auf der Welt.«

Nur wer sich selbst kennt, kann auch richtig lieben

Weshalb es vielen von uns heute so schwerfällt, eine wirklich intime Beziehung einzugehen, liegt also auch in der traurigen Tatsache begründet, dass wir uns selbst so wenig kennen. Wir sind von den Medien und von der sich immer schneller verändernden Umwelt so sehr in Beschlag genommen, dass wir uns ständig in Äußerlichkeiten und in oberflächliche Kontakte verwickeln. (Das Internet und das Handy sind die herausstechendsten Symbole dieser Entwicklung.) Wir haben überhaupt keine Zeit und keine Energie mehr, uns selbst zu widmen. Damit meine ich nicht ein egozentrisches Um-sichselbst-Kreisen, sondern die Pflege unserer eigentlichen Person, unseres Selbst. Vor lauter Herumrennen auf der Suche nach der Befriedigung unserer momentanen, kurzlebigen Bedürfnisse vergessen wir, uns auf das zu konzentrieren, was unserem Leben Sinn und Erfüllung gibt. Damit verfehlen wir uns – wir verlieren uns.
Eine kurzweilige sexuelle Begegnung reizt zwar, ähnlich wie ein gutes Essen, unsere äußeren Sinne, aber sie vermittelt keine Erfüllung, sie verleiht unserem Leben keine neue Perspektive, wir erleben keine Tiefe in dem kurzen Kontakt. Es bleibt ein schaler, manchmal ein unangenehmer Geschmack auf der Zunge zurück, wie von künstlichen Aromen.
Unsere Sexualität, die die Pforte zu tiefsten, uns transformierenden Erfahrungen öffnen könnte, verfällt dann zum handhabbaren Sex, der benutzt wird, um schnell Kontakt mit einem an sich Unbekannten herzustellen. Wir überspringen dabei wichtige intime Grenzen, sowohl bei uns selbst als auch bei unserem Gegenüber. Selbst wenn wir uns nackt ausziehen, bleiben wesentliche Teile unseres Selbst verhüllt. Je schamloser wir uns gebärden, desto tiefer verbirgt sich unser Innerstes. Vor einem respektlosen In-Besitz-genommen-Werden, vor einer unsensiblen Berührung zieht sich unser Innerstes instinktiv zurück. Voreiliger Sex kratzt nur an der Oberfläche. Er kann niemals unseren Kern erreichen.
Denn es gibt eine natürliche Scham, die unser Innerstes schützt. Sie umhüllt unsere zarten und verletzlichen Seiten wie die festen Schalen einer Knospe, die sich erst nach und nach, im Laufe eines langsamen Prozesses des gegenseitigen Kennenlernens und sich Anvertrauens öffnen und die Blüte freigeben. Wir wollen erkannt werden, so, wie wir wirklich sind, aber wir offenbaren uns nur dem Blick eines Liebenden.
Jeder weiß, dass Liebe das Wertvollste ist, was uns widerfahren kann. Unser Leben verliert seinen Sinn, wenn wir nicht lieben und nicht geliebt werden. Daraus erwächst unsere tiefe Sehnsucht nach Intimität und Verbindlichkeit.
Treue kommt vom Vertrauen. Uns einem anderen Menschen wirklich anzuvertrauen, braucht Zeit, manchmal gar Jahre, bis wir uns trauen, uns ganz fallen zu lassen, uns ganz hinzugeben. Dies für uns in Anspruch zu nehmen, bedarf Beständigkeit und Geduld. Es ist etwas, das wir unserer schnelllebigen Zeit abringen müssen.
Was ist Treue nicht?
Um den Begriff »Treue« klarer definieren zu können, ist es nützlich, herauszustellen, was Treue nicht ist.
Treue ist nicht blind, starr, einseitig, bequem oder opportun, sie ist keine Symbiose, bloße kindliche Treue, etwas Erzwungenes oder Erpresstes, bloße Pflichterfüllung, Abhängigkeit, ein geschlossenes System. Sie bedeutet nicht, keine anderen nahen Beziehungen haben zu dürfen, sie ist nicht kritiklos, alternativlos und sie ist kein Zweckbündnis.

Treue ist nicht blind

»Blinde Treue« beinhaltet die Einstellung: »Wenn ich einmal ein Versprechen abgegeben habe, darf ich es nie mehr revidieren. Egal, ob die Voraussetzungen, unter denen ich das Versprechen abgegeben habe, noch zutreffen. Egal, ob mein Partner mir treu ist. Egal, ob sich die Umstände verändert haben.« Dieses »Egal« entlarvt das Treueversprechen als etwas Starres, etwas Unkorrigierbares.
In früheren Zeiten galt eine solche Haltung als Tugend: Unbeugsamkeit, Härte gegen sich selbst, Gehorsam bis zum bitteren Ende. Es sind im Grunde soldatische Tugenden. Eine solche Haltung hat zwei gravierende Nachteile: Zum einen kann sie von Autoritäten ausgenutzt werden, sei es von egoistischen Eltern, sei es von einem despotischen Regime – siehe der Fahneneid im Dritten Reich, der jeden Soldaten auf den »Führer« einschwor. Zum anderen lässt sie keinen Raum für eigenständiges Urteilen und Entscheiden.
Eine reife Form der Treue ist eine, die dem Menschen den Raum und die Freiheit lässt, stelbstständig und ohne Druck und Beeinflussung von außen seine eigene Entscheidung zu fällen. Erst dann kann er wirklich mit seiner ganzen Person zu einem Versprechen stehen. Dies schließt auch mit ein, dass er sein Versprechen von Zeit zu Zeit neu anschauen und bei Bedarf abändern oder revidieren darf. Ein solches Verständnis von Treue traut dem Menschen zu, sein eigenes Urteil zu bilden. Es mutet ihm die Verantwortung für sein eigenes Leben zu. Es fordert von ihm, erwachsen zu sein, zu seiner Urteilskraft und zu seinem Gewissen – der höchsten inneren moralischen Instanz in einem Menschen – zu stehen. Es fordert den mündigen Bürger.
Blinde Treue entlässt dagegen den Menschen aus seiner Eigenverantwortung. Sie ist aus dieser Sicht eine bequeme Lösung. Man braucht nur einmal ein Versprechen abzugeben, danach kann man das eigene Denken und Urteil fahren lassen. Eine solche Einstellung bekommt leicht etwas Mechanisches, Marionettenhaftes. Sie kann sich bis zur Unmenschlichkeit steigern, die uns in der Tötungsmaschinerie in den Vernichtungslagern im Dritten Reich begegnet.

Treue bedeutet nicht Symbiose

Symbiose heißt verschmolzen sein. Das neugeborene Kind lebt mit seiner Mutter in einer Symbiose – es kann nicht ohne sie überleben (zumindest nicht ohne eine fürsorgliche Bezugsperson). Als Kinder befinden wir uns lange in symbiotischer Bindung zu unseren Eltern, zu unserer Sippe, zu unserer unmittelbaren Umgebung. Sie bilden den nährenden Hintergrund für uns. Wir sind auf sie angewiesen. Aufgrund dieser Angewiesenheit sind wir als Kinder keine unabhängigen Individuen. So wie die Jungtiere einer Herde allen Bewegungen der erwachsenen Tiere folgen, so übernehmen wir automatisch die Urteile und Standpunkte unserer Eltern und unserer Umwelt.
Symbiose hat oft Uniformität zur Folge. Alle Beteiligten machen das Gleiche. Manche alte Paare ziehen sich gleich an, haben dieselben Freunde, fahren jedes Jahr zum selben Urlaubsort – symbiotisches Verhalten ist also keineswegs auf die Kindheit beschränkt! Wenn man genauer hinschaut, haben natürlich beide Partner nicht immer denselben Geschmack. Meist stellt der eine Partner nur seine Bedürfnisse und Interessen zurück, während der andere meint, alle Entscheidungen für beide fällen zu können beziehungsweise zu müssen. Den Hang zu einer symbiotischen Beziehung findet man häufig bei Menschen, bei denen eine gute Symbiose mit der Mutter und dem Elternhaus gefehlt hat (etwa wenn ein Kind zu früh oder zu plötzlich von der Mutter getrennt wurde), oder wenn die frühkindliche Symbiose nicht gut aufgelöst wurde (wenn zum Beispiel eine bedürftige oder einsame Mutter das Kind festhält und nicht ziehen lässt). Dann neigt man dazu, auch im Erwachsenenleben ähnlich symbiotische Beziehungen zu etablieren.4
Die frühkindliche Symbiose löst sich normalerweise mit dem Älterwerden des Kindes. Schon das Kind, das krabbeln kann, bewegt sich gerne von der Mutter weg. Das in diesem Alter beliebte Versteckspiel (»Kuckuck! Wo bin ich?«) bereitet das Kind spielerisch auf die langsame Trennung von der Bezugsperson vor. Es braucht einerseits die Sicherheit, dass die Mutter da ist, wenn es aus seinem Versteck herauskommt. Es freut sich andererseits aber ebenso über die Möglichkeit, sich »unsichtbar« zu machen.
Mit dem Trotzalter gewinnt das Kind zum ersten Mal ein Gefühl für sein Ich, das es vehement gegen den Willen der Mutter abzugrenzen sucht. Die Verzweiflung, die damit einhergeht, entspringt dem inneren Konflikt im Kind, der durch die notwendige Trennung von der Mutter ausgelöst wird. Eine kluge Mutter respektiert den Willen des selbstständiger werdenden Kindes, sie kann aber bei Bedarf auch angemessene Grenzen ziehen. So erlebt das Kind langsam, zwischen dem »Ich« und dem »Du« zu unterscheiden – eine wichtige Stufe in der Entwicklung seines Selbst. So gewinnt das Kind seine Autonomie, lernt dabei gleichzeitig, Rücksicht auf seine Umwelt zu nehmen.
Für Mütter (und Väter) kann es natürlich auch schmerzlich sein, wenn sich das Kind entfernt. Lebenskluge Eltern wissen aber, dass ihr Kind in liebevoller Beziehung zu ihnen bleiben wird, auch wenn es erwachsen wird und sein eigenes Leben führt. Ein Teenager, der sich zum ersten Mal länger im Ausland aufhält, drückt es in einem Brief an die Eltern so aus: »Ich kann so gut hier sein und mein neues Leben genießen, weil ich weiß, dass Ihr meine Stütze und mein Rückgrat bleibt.« Er fühlt sich frei zu gehen und sein eigenes Leben auszuprobieren. Gleichzeitig ist er sich sicher, dass die Eltern jederzeit da sind, wenn er sie braucht. Er braucht keine Angst zu haben, fallen gelassen zu werden, wenn er sich entfernt oder anderer Meinung ist als die Eltern. Er braucht nicht zu klammern.

Kindliche Treue

Gleichzeitig ist es wichtig für ein Kind, zu wissen, dass die Eltern nicht leiden, wenn es weggeht und sein eigenes Leben führt. Kinder sind – entgegen der herkömmlichen Meinung – bedingungslos für ihre Eltern da, wenn sie spüren, dass diese traurig oder einsam sind, oder wenn sie das Gefühl haben, den Eltern geht es nicht gut.
Dafür haben Kinder bereits ab dem Säuglingsalter einen siebten Sinn. Sie sind zur Stelle, wenn sie merken, den Eltern geht es schlecht. Manche Kinder werden auffällig »pflegeleicht« – scheinbar selbstgenügsam fordern und verlangen sie nichts für sich selbst. Andere Kinder helfen schon früh im Haushalt oder beim Aufziehen ihrer jüngeren Geschwister mit, wenn die Eltern krank werden, sich trennen oder sonst überfordert sind. Dies ist manchmal nicht zu vermeiden, solche Notsituationen kommen in jeder Familie vor. Wenn diese aber zum Regelfall werden, hat das betreffende Kind ein Problem: Es kann sich nicht guten Gewissens vom Elternhaus entfernen. Das Kind wird zu früh »erwachsen«, es übernimmt die Vater- oder Mutterrolle für die Geschwister, es geht nicht auf Partys, bleibt auch nach der Ausbildung im Elternhaus oder zumindest in nächster Nähe der Eltern. Manch ein Kind verzichtet aufs eigenständige Leben oder aufs eigene Glück, um für die Eltern da zu sein. Es heiratet nicht, gründet keine Familie, hat keine Kinder – seine Eltern sind seine Kinder. Wenn die Eltern alt und gebrechlich werden, sind sie selbstverständlich als Erste zur Stelle.
In solchen Familien kehrt sich die Eltern-Kind-Beziehung um: Die Eltern bleiben kindlich und unreif, sie fordern, vom Kind ernährt und versorgt zu werden. Selbst wenn das Kind darüber ärgerlich wird und rebelliert, wird es irgendwann reumütig zurückkehren und sich, wenn auch widerwillig, um die Eltern kümmern. Eine derartige Ausnutzung der natürlichen kindlichen Treue ist bitter fürs Kind. Sie fesselt es wie ein Gummiband – selbst wenn das Kind Kontinente zwischen sich und die Eltern schiebt, spürt es den unerbittlichen Zug nach Hause. Seine Flucht bewirkt das Gegenteil: Je weiter es sich entfernt, desto stärker zieht das innere Band an.

Treue ist nichts Erzwungenes oder Erpresstes

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass Treue nichts ist, das man von einem anderen Menschen erzwingen oder erpressen kann.
Erzwungene Bindungen (etwa erzwungene Eheschlie ßungen) kommen in demokratischen Ländern zum Glück nicht mehr häufig vor. Aber auch hier existieren sie weiter im Untergrund. Wir finden sie sowohl in bestimmten Subkulturen wie Sekten als auch in der von der Öffentlichkeit »geschützten« Sphäre der Familie in Form von Kindesmisshandlung und -missbrauch. Die Dunkelziffer ist groß.
Erzwungene Beziehungen werden aufrechterhalten durch die Ausübung oder Androhung von Gewalt. Oft sind sie mit einer starken materiellen oder seelischen Abhängigkeit des Opfers vom Täter verbunden, wenn etwa ein junges Mädchen in die Hände eines Dealers oder eines Zuhälters gerät. In gewaltgeprägten Beziehungen müssen mächtige Außeninstanzen eingreifen, um das Opfer aus den Klauen des Täters zu befreien und es zu schützen. Schutzeinrichtungen wie Frauenhäuser oder Kinderschutzbund sind dazu ebenso notwendig wie gesetzliche Maßnahmen, die nicht nur pro forma auf dem Papier stehen, sondern tatkräftig durchgesetzt werden.

Emotionale Erpressung

Erpressung ist ein subtileres Mittel der Beeinflussung. In zwischenmenschlichen Beziehungen erweist sie sich oft wirksamer als rohe Gewalt. Physische Gewalt wirkt nur so lange, wie das Opfer direkt in der Macht des Täters steht. Sobald dieser in seiner Aufmerksamkeit nachlässt, kann das Opfer entfliehen. Emotionale Gewalt in Form seelischer Abhängigkeit braucht keine Fesseln. Sie wirkt im Opfer selbst. Die physische Anwesenheit seines Peinigers ist gar nicht mehr notwendig. Wenn eine Mutter am Telefon zur Tochter sagt: »Mir geht’s so schlecht, wenn du dich nicht meldest«, braucht die Mutter gar nicht real depressiv oder krank zu sein, um der Tochter ein schlechtes Gewissen zu machen. Wenn ein Mann seiner Frau sagt, er bringe sich um oder gehe vor die Hunde, wenn sie ihn verlässt, muss sie schon sehr viel Mut aufbringen, um sich über eine solche Drohung hinwegzusetzen.
Schuldgefühle lassen sich leicht in einem Menschen auslösen, wenn man an sein Mitgefühl, seine Liebe oder seine Dankbarkeit appelliert. Dabei erweist sich Dankbarkeit als eines der wirksamsten Instrumente zur emotionalen Erpressung. Werbegeschenke sind hier ein gutes Beispiel. Man schenkt zunächst jemandem etwas, nutzt dann die Dankesschuld des Beschenkten, um implizit Forderungen zu stellen.
Ein kleines Beispiel aus dem Alltag: Vor Jahren bin ich auf das Angebot eines Buchklubs eingegangen und habe mir ein Buch kostenlos schicken lassen. Im Inserat wurde zugesichert, dass der Besteller zu nichts verpflichtet sei. Einige Wochen später rief mich ein junger Mann an und fragte freundlich, ob ich in den Buchklub eintreten möchte. Ich sagte Nein, danke. Daraufhin wechselte er den Ton und wurde ziemlich böse. Er zählte mir auf, wie teuer die Buchgeschenke seinem Unternehmen zu stehen kämen, dann legte er unvermittelt auf.
Erpressungen sind subtile Machtstrategien. Das Perfide an ihnen ist, dass das Opfer gar nicht merkt, wie es langsam in einen Knäuel von Verpflichtungen eingewickelt wird. Es merkt nicht, welche Macht der Täter ausübt. Dieser verschleiert seine Macht oft unter dem Deckmantel der Ohnmacht. Er ist aggressiv, aber seine Aggression zeigt sich in seiner scheinbaren Hilflosigkeit – wir nennen dies ein passiv-aggressives Verhalten. Weil der Täter das Opfer mit seinen Argumenten zu verwirren weiß, durchschaut dieses seine Absicht nicht – es kann sie aber spüren, wenn es »auf seinen Bauch hört«. Übelkeit steigt auf, man fühlt sich bedrängt, man möchte weglaufen, fühlt sich aber wie gefesselt. Die angebotene Süße schmeckt wie Industriezucker – sie hat einen unangenehmen Beigeschmack und macht nicht satt und zufrieden.
Solche Machtstrategien kann man entlarven, indem man auf die eigene innere Stimme hört und sich weigert, das Verlangte zu tun. Sobald die Tochter zu der Forderung, die Mutter zu besuchen, Nein sagt, wird diese nicht wie angedroht zusammenbrechen oder todkrank werden. Sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach aufbrausen und die Tochter mit Anklagen überschütten, oder sie wird sich bei den Verwandten über die Undankbarkeit der Tochter beklagen. Nun wird ihre bis dahin verborgene Aggression – und ihr Machtanspruch – offensichtlich. Ebenso wenig wird der Ehemann sich umbringen, wenn seine Frau ihn verlässt. Viel wahrscheinlicher ist es, dass er sich ein neues Opfer sucht. Es gibt leider genügend Frauen mit Helfersyndrom, die nur darauf warten, einen armen, verlassenen Mann zu trösten.
Erpresste und erzwungene Beziehungen haben nichts mit Treue zu tun. Wirkliche Treue ist freiwillig und gegenseitig. In einer erpressten oder erzwungenen Beziehung wird Zuwendung nicht freiwillig geschenkt, sie enthält eine versteckte Forderung nach Gegenleistung. Die Liebe, die vom fordernden Partner kommt, ist keine echte Liebe. Sie ist Mittel zum Zweck, ein gezielt eingesetztes Druckmittel.
Wirkliche Liebe fordert nichts. Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, liebe ich ihn einfach. Ich bin machtlos, oder besser: Meine Liebe ist machtfrei. Sie verpflichtet den geliebten Menschen zu nichts. Wenn ich ihm Gutes tue, tue ich es, weil ich ihn liebe. Punkt, fertig.
Echte Liebe fordert nicht. Ich kann zwar um einen Menschen, den ich liebe, werben, aber ich kann nichts tun, wenn er meine Liebe nicht erwidert. Aber ich kann mich schützen: Ich brauche mich nicht einem Menschen auszuliefern, dem ich gleichgültig bin und der mich in meiner Zuneigung ausnutzt. Es ist wichtig, mich zurückzuziehen und dafür zu sorgen, dass aus meiner Liebe keine klaffende Wunde wird.
Natürlich ist eine einseitige Liebe schmerzlich. Sie zwingt zu Verzicht. Wenn der Schmerz abgeklungen ist, wenn die Wunde verheilt ist, kann ich nachspüren, was diese Liebe in mir ausgelöst hat. Jede Liebe, auch eine einseitige, bringt neue Saiten in uns zum Klingen, erweckt etwas Wesentliches in uns. Dieses können wir schätzen und es in unserem Leben fruchtbar werden lassen.

Pflichterfüllung ist nicht Treue

Umgekehrt ist eine Beziehung, die nicht aus Liebe, sondern hauptsächlich aus Pflichtgefühl aufrechterhalten wird, nicht Treue im eigentlichen Sinne. Eine wirkliche Treuebindung kommt von Herzen. Wir sind treu, weil wir mit unserem ganzen Wesen zu dieser Beziehung, zu diesem Menschen stehen. Wir sind ihm treu aus Liebe. Uns verbindet eine Herzensbeziehung.