VON HASEN UND ANDEREN EUROPÄERN - Tanja Maljartschuk - E-Book

VON HASEN UND ANDEREN EUROPÄERN E-Book

Tanja Maljartschuk

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Beschreibung

Geschichten vom Leben in einer großen Stadt. Und was für einer Stadt! Kiew als Fokus: Minimale Verschiebungen von Realität und Fiktion holen die Leser dieser glänzend geschriebenen Geschichten ganz plötzlich aus dem Alltagsgeschehen heraus, und sie finden sich wieder in einer ungewöhnlichen, irrealen Lage. Teilt doch die Bewohnerin dieser großen Stadt Kiew ihr Leben unversehens mit einer Qualle oder einem Schmetterling, und ganz normale Stadtbewohner wie Hund und Ratte oder der gemeine europäische Hase finden sich ebenfalls ein...

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Tanja MaljartschukVon Hasen und anderen Europäern

Tanja Maljartschuk

VON HASENUND ANDEREN EUROPÄERN

Geschichten aus Kiew

Aus dem Ukrainischenvon Claudia Dathe

edition.fotoTAPETABerlin

INHALT

Aurelia aurita

(Die Qualle)

Rattus norvegicus

(Der Ratz)

Corvus corax

(Die Krähe)

Canis lupus familiaris

(Der Haushund)

Gallus domesticus

(Das Haushuhn)

Lepus europaeus

(Der Hase)

Puma concolor

(Der Puma)

Sus domestica

(Das Schwein)

Thysania agrippina

(Der Schmetterling)

Aurelia aurita

(Die Qualle)

1

Bella nimmt zögerlich Platz. Sie fühlt sich unbehaglich. Eine Frau im weißen Kittel, offenbar die Ärztin, isst genüsslich einen Pfirsich, den ihr jemand als Gefälligkeit für die Urinprobe gegeben hat. Eine andere Frau im weißen Kittel, offenbar die Krankenschwester, studiert das Praxisjournal. Die Krankenschwester hat keinen Pfirsich bekommen, obwohl sie es eigentlich verdient hätte. Die Ärztin und die Krankenschwester sitzen sich gegenüber. Bella sitzt auf einem Stuhl daneben.

„Guten Tag“, sagt Bella, aber niemand schaut sie an.

Wozu bin ich überhaupt hergekommen, denkt Bella, die können mir sowieso nicht helfen, die kassieren nur ab. Nicht, dass es mir ums Geld leid tut, ich bezahle, aber helfen können die mir hier nicht. Das sieht man doch gleich: Für Menschen haben die Zwei nichts übrig. Und wer andere nicht mag, kann sowieso nicht helfen, selbst wenn er plötzlich den Drang verspürt.

Durch das schmutzige Sprechzimmerfenster fällt brennend heiß die Sonne.

„Diese Hitze!“, sagt die Ärztin zur Schwester. Ein Tropfen Pfirsichsaft rollt ihr ins Dekolleté. „Ich will ans Meer.“

Bella hüstelt leise, die Ärztin reißt verärgert den Kopf herum und nimmt endlich zur Kenntnis, dass noch jemand im Raum ist.

„Geburtsjahr“, sagt sie.

Bella begreift, dass sie gemeint ist, aber sie versteht es nicht.

„Ihr Geburtsjahr!“

Bella klatscht vor Freude in die Hände.

„Ach so: 78.“

„Die ganze Zahl, bitte.“

„Neunzehnhundert.“

Die Ärztin schaut Bella verstimmt an.

Endlich hat sie mich gesehen, denkt Bella. Manche Ärzte können ja mit einem kurzen Blick aufs Äußere die Diagnose stellen.

Was der wohl fehlt, denkt die Ärztin und tilgt mit einer Serviette sorgfältig die Pfirsichspuren von Händen und Gesicht. Wahrscheinlich hat ihr Mann sie verlassen und jetzt tut ihr alles weh. Undefinierbare Kopfschmerzen. Genau.

Die Schwester reicht der Ärztin das Praxisjournal und sagt:

„Das Wasser im Schwarzen Meer hat 27 Grad. Hab ich gestern im Radio gehört!“

„Oh“, seufzt die Ärztin theatralisch. „27 Grad! Warm wie im Kochtopf! Wo ist mein Badeanzug? Ich will ans Meer, für einen ganzen Monat!“

„Dann fahren Sie doch“, mischt sich Bella zaghaft ein.

„Fahren Sie doch! Fahren Sie mal weg, wenn Ihnen die Leute hier von früh bis spät die Bude einrennen!“

„Haben Sie denn keinen Urlaub?“

Die Ärztin schaut Bella schief an. Verstopfung, denkt sie. Kann wahrscheinlich nicht scheißen. Solche wie die sehe ich hier jeden Tag bis zum Abwinken. Meine Güte, wieso bin ich überhaupt Allgemeinärztin geworden?

„Also.“ Die Ärztin macht sich an die Arbeit. „ Sie heißen?“

„Bella.“

„Bella? Sind Sie Ungarin?“

„Nein, nein.“ Bella ist es unangenehm. „Aber ich war schon zweimal dort.“

„Wo?“

„In Ungarn.“

Ärztin und Schwester werfen einander ein schiefes Lächeln zu. Diagnose: Klapsmühle, Erdgeschoss, Abteilung 2, Zimmer 6. Noch Fragen?

„Und wie ist es da so, in Ungarn?“, flüstert die Schwester freundlich.

„Ist schon lange her, dass ich da war. Kann mich ehrlich gesagt nicht mehr so richtig dran erinnern. Ich habe mir dort eine schöne türkise Jacke gekauft.“

Bella seufzt verträumt.

„Die Jacke“, fährt sie fort, „ist dann in der Waschmaschine hängengeblieben, und ich musste sie wegschmeißen.“

Die Tür geht auf, und jemand steckt seinen kahlen, aber sehr bärtigen Kopf herein.

„Darf ich?“, fragt der Kopf.

„Nein, wo sind wir denn hier eigentlich?“, poltert die Ärztin. „Warten Sie draußen! Sie sehen doch, dass ich gerade eine Patientin habe!“

Schnell geht die Tür wieder zu.

Die Ärztin wendet sich entschlossen Bella zu.

„Bella, Jahrgang 78. Neunzehnhundert. Warum sind Sie hier? WAS FEHLT IHNEN?“

Bella schweigt. Zögert.

„Also wissen Sie, so, dass mir jetzt direkt … direkt was weh tun würde, das nicht. Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können … ob ein Arzt da … überhaupt was machen kann, keine Ahnung …“

„Sagen Sie jetzt, was Ihnen fehlt und halten Sie hier nicht den Verkehr auf! Draußen warten noch andere!“

„Ja, ja, ich erzähl ja schon.“

„Also?“

„Ich sehe im Traum immer einen Mann.“

„Ihren?“

„Nein.“

„Einen, den Sie kennen?“

„Nein.“

„Wie oft träumen Sie von ihm?“

„Jede Nacht.“

„Seit wann?“

„Keine Ahnung. Seit ein, zwei Jahren.“

„Diagnose: Klapsmühle, Erdgeschoss, Abteilung 2, Zimmer 6.“ Bella geht.

Die Ärztin schaut schweigend aus dem Fenster. Draußen sind ein Straßenbahndepot und ein Straßenbahnfriedhof zu sehen.

„Vielleicht hätte ich nicht so …“, brummt sie vor sich hin.

„Grigorowna, jetzt machen Sie sich mal keine Vorwürfe. Wir sind alle nur Menschen!“ Allotschka hat nur darauf gewartet, zu Wort zu kommen. „Wer hat schon eiserne Nerven. Sie sind eben explodiert, kann doch Vorkommen …“

„Es ist ja nicht so, dass ich … Es war einfach … Ich glaub, ich kenn sie irgendwoher … Ich hab sie schon mal gesehen …“

„Soll ich Ihnen einen Tee machen? Dass Sie ein bisschen zu sich kommen? Mach ich gleich. Schwarzen oder grünen?“

Die Hryhoriwna ist eine zierliche blutarme Blondine um die 45. Sie sieht aus wie eine Heuschrecke, die jemand in einem dicken Buch gepresst hat.

„Vielleicht ist es sogar gut, dass Sie dieses Jahr nicht ans Meer fahren“, sagt Allotschka und brüht den versprochenen Tee auf.

„Wieso das denn?“

„Ich habe gehört, dass es dieses Jahr auf der Krim gleich mehrere Plagen auf einmal geben soll. Zuerst die Quallen, von denen soll’s im Flachen solche Massen geben, dass an Baden gar nicht zu denken ist. Als würden Sie in Quallen baden und nicht im Wasser. Da kann einem richtig angst und bange werden, so viele sind das. Und dann die Heuschrecken. Iiiih. Alles voller Heuschrecken, auch am Strand. Ganze Heuschreckenschwärme. Die sind sogar schon ein paar Mal über Urlauber hergefallen.

„Alla, du bist doch Krankenschwester.“

„Na, und? Was hat das denn damit zu tun?“, empört sich Allotschka. „Heuschrecken fallen keine Menschen an. Und Quallen sind nichts als Wasser. Neunundneunzig Prozent Wasser.“

„Grigorowna“, sagt Allotschka und stellt die Tasse mit Tee, ohne Zucker und Zitrone, vor sie hin, „ich habe Ihnen nur erzählt, was ich im Fernsehen gesehen habe. Und nur dass Sie’s wissen: Quallen habe ich mein Lebtag noch nie gesehen.“

„Jetzt ist mir’s eingefallen, wer sie ist“, ruft die Hryhoriwna eine Viertelstunde vor Ende der Sprechstunde.

Die uralte Oma, die vor ihr sitzt, sagt:

„Wie? Was sagen Sie? Ich bin Kriegsveteranin, ich muss nicht bezahlen.“

„Und wer ist sie nun?“, fragt Allotschka gelangweilt und führt die uralte Oma in den Flur hinaus.

„Diese Bella … Sie wohnt im Haus gegenüber. Ganz sicher. Jetzt weiß ich’s wieder.“

„Also eine Nachbarin von Ihnen.“

„Meine Diagnose stimmt.“ Die Hryhoriwna seufzt erleichtert.

„Sie ist wirklich verrückt.“

„Und wie haben Sie das gemerkt?“

„Manchmal reicht dem Arzt ein Blick, und er weiß alles über einen Patienten.“

Allotschka schickt den Rest der Warteschlage weg. Für heute ist Schluss.

„Sie ist doch nicht etwa gefährlich?“, fragt sie und schließt die Tür von innen ab.

„Wer, Bella? Nein. Eine Katzenmutti. Sie füttert alle Katzen weit und breit. Katzen, Hunde, würde mich nicht wundern, wenn sie auch Ratten füttert. Ein richtiger Zoo ist das, da vorm Haus. Die kann keiner leiden.“

Die Hryhoriwna macht sich vorm Spiegel zurecht, zieht die Schlappen aus und ihre Absatzschuhe an, schlüpft aus dem weißen Kittel, darunter trägt sie ein dünnes salatgrünes Synthetikkleid, so würde sich eine Heuschrecke kleiden, die sie sich zufällig in einen Menschen verwandelt hat.

„Bella“, sagt die Hryhoriwna, „was für ein blöder Name. Passt zu ihr. Egal, wie früh ich auf stehe, sie ist schon im Hof und kippt ihre Pampe in die Plastikschälchen. Da wimmelt’s nur so vor lauter Viechern. Am liebsten würde man einen großen Bogen drum machen. Manche Hunde gehen einem bis zur Hüfte. Ich wohne im Erdgeschoss, ich seh ja alles. Die Leute legen sich mit ihr an, und was bringt’s? Nichts. Sie schaut dich an, als hätte man sie gerade vom Kreuz abgenommen, klickert mit den Augen und schweigt. Die Hygiene war schon da und die Leute haben Hundefänger beauftragt und Beschwerden an die Wohnungsverwaltung geschickt – alles umsonst.“

„Die sehen immer so nett aus“, sagt Allotschka aufgebracht, „weil sie die armen Tiere füttern, aber wenn man mal bisschen tiefer bohrt, sieht man, was Sache ist. Denen fehlt einfach ein Mann. Weiber knallen doch durch, wenn sie keinen Kerl haben.“

Die Hryhoriwna starrt die Schwester ungläubig an. So was, hmm … Vulgäres hätte sie Allotschka nicht zugetraut. Laut sagt sie: „Hündchen hier, Kätzchen da, das ist der äußere Ausdruck eines verdrängten Sexualtriebes.“

„Genau das wollte ich sagen.“

Schwester Allotschka wird dunkelrot.

Zu spät, denkt die Hryhoriwna.

2

Die Hryhoriwna hat vom Krieg geträumt. Sie bekommt kaum die Augen auf. Sie fühlt sich, als hätte sie an Armen und Beinen, an ihrem ganzen Körper fremdes Blut. In ihren Ohren hallen noch die Geschosse, die irgendwo in der Nähe detoniert sind.

„Was das nur ist!“, ruft die Hryhoriwna in das morgendliche Dämmerlicht. „Ich habe den Krieg doch gar nicht miterlebt. Und mir auch nie Kriegsfilme angeschaut. Wo kommt das denn her?“ Barfuß stolpert sie ins Bad und macht sich prustend unterm kalten Wasser frisch. Langsam kommt sie zu sich.

„Wieder zu früh auf.“

Sie tritt ans Fenster.

Vor dem Haus gegenüber füttert Bella die Hunde und Katzen. Die Pampe wird gerecht auf die bunten Plastikschälchen aufgeteilt. Jedes Tier hat sein eigenes Schälchen und geht an kein fremdes.

Hat alles seine Ordnung, denkt die Hryhoriwna widerwillig. Sie gehorchen ihr.

Der Wasserkocher brodelt. Die Hryhoriwna brüht sich eine große Tasse Kaffee auf. Der Kaffeeduft kitzelt ihre Nase, zu gern hätte sie jetzt eine geraucht.

Gut, dass ich keine Zigaretten da habe, sonst würde ich schwach werden.

Sie stellt sich mit ihrer Kaffeetasse ans Fenster.

Dort ist alles unverändert – Bella wuselt noch immer um ihre Tiere herum.

Hündchen hier, Kätzchen da, denkt die Hryhoriwna, aber was fehlt, ist der Sex.

Der Sex ist es, was fehlt, sagt sie laut.

Bella streichelt nie die Hunde und Katzen, die sie füttert. Manche besonders dankbaren Tiere streichen um Bellas Beine herum, lecken ihr die Schuhe, aber Bella braucht ihre Dankbarkeit nicht.

Ich füttere sie bloß, denkt Bella und sitzt auf der Rabatte vor dem Haus, füttern heißt, das Leben zu erhalten und nichts weiter. Ich erhalte ihnen das Leben, und was sie damit machen, ist ihre Sache. Ich füttere sie, denkt Bella, um mein Nichtstun zu rechtfertigen, um wenigstens irgendetwas zu tun.

Es ist halb acht.

Die Hryhoriwna hetzt zur Arbeit in die Poliklinik. Dasselbe salatgrüne Kleid, mit einem dünnen Kunstledergürtel zusammengehalten. Die Beine, dürr und krumm, sehen in den Absatzschuhen noch krummer und dünner aus. Über der Schulter eine große glänzende Umhängetasche. Schwarzer Lidstrich. Die Lippen fest zusammengepresst, als wären sie gar nicht da.

Schnell, mit erhobenem Kopf geht die Hryhoriwna an Bella vorbei. Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, sagt sich die Hryhoriwna, ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Für Verrückte kann es sogar nützlich sein, wenn man ihnen vorbeugend sagt, dass sie verrückt sind. Sie glauben es natürlich nicht, aber sie können sich schon mal an den Gedanken gewöhnen.

„Entschuldigen Sie.“ Bella berührt die Hryhoriwna an der Schulter. Die Hryhoriwna bleibt wie vom Donner gerührt stehen.

„Entschuldigen Sie“, wiederholt Bella, „Sie sind doch die Ärztin aus der Poliklinik?“

„Ich?“ Die Hryhoriwna zeigt ungläubig auf sich. „Ähm! Ich. Ja, ich bin die Ärztin.“

„Sie können sich vielleicht nicht mehr an mich erinnern“, murmelt Bella, „ich war gestern bei Ihnen in der Sprechstunde …“

„Nein, ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, wissen Sie, es kommen jeden Tag so viele Patienten, die kann man sich nicht alle merken …“

„Ja, ja, das macht nichts … Ich wollte mich nur entschuldigen …“ „Entschuldigen? Wofür?“

„Ich habe Sie“, sagt Bella, „in eine Situation gebracht, die Sie gezwungen hat, unhöflich zu sein. Aber es ist nicht Ihre Schuld. Meine Schuld. Ich hätte nicht kommen sollen. Ärzte können mir nicht helfen. Entschuldigen Sie. Wahrscheinlich wollte ich bloß mit jemandem reden.“

Die Hryhoriwna krümmt sich zusammen, wird immer kleiner, öffnet ihre große glänzende Tasche und schaut hinein, und dann, als hätte sie sich vergewissert, dass es für sie darin zu eng ist, hängt sie sich die Tasche über die Schulter. „Jetzt erinnere ich mich“, sagt die Hryhoriwna kaum hörbar, „Sie waren das mit dem unbekannten Mann, der Ihnen im Traum erscheint.“

„Entschuldigen Sie“, wiederholt Bella und gibt zu verstehen, dass das Gespräch beendet ist. Sie läuft zurück zur Rabatte, wo ihr herrenloser Zoo gerade das morgendliche Mahl beendet.

Die Hryhoriwna schaut Bella noch eine Zeitlang nach.

Unverschämtheit!, denkt die Hryhoriwna, von wegen, Ärzte können ihr nicht helfen … Die Ärzte wissen alles über dich!

Die Hryhoriwna schreit auf und wischt sich den heißen Schweiß von der Stirn.

Sie springt aus dem Bett.

Wirft sich ihren verwaschenen Bademantel über und läuft aus der Wohnung.

Draußen ist es frisch. Still. Bella verteilt das Essen für die Hunde und Katzen auf die Schälchen.

Die Hryhoriwna setzt sich auf die Bank daneben und schweigt. Bella schweigt auch, obwohl sie den Gast sofort bemerkt hat. Der größte Hund, ein roter mit einer weißen Schwanzspitze, knurrt die Hryhoriwna verstimmt an.

„Psst.“ Bella streicht dem Hund über den Rücken, und er beruhigt sich.

„Und ich träume vom Krieg“, sagt die Hryhoriwna aus heiterem Himmel. „Andauernd träume ich vom Krieg. Wenn ich nur wüsste, wieso. Ein Unfug.“

Bella setzt sich neben sie. Unglaublich, diese Ruhe, denkt die Hryhoriwna, eine Ruhe strahlt die aus.

„Überall Blut, Leichen, Bomben und Panzer“, sagt die Hryhoriwna. „Wo das nur herkommt? Ich habe mich nie mit dem Krieg befasst, bin nicht im Krieg gewesen, habe davon nichts gehört und nichts gesehen. Keiner aus meiner Familie oder von meinen Freunden ist im Krieg umgekommen. In meinem ganzen Leben habe ich keinen einzigen Kriegsfilm gesehen. Höchstens vielleicht Das Haus, in dem ich lebe. Aber das war’s dann auch schon. Und da kommt eigentlich auch gar kein richtiger Krieg vor. Die Menschen sterben zwar, aber das wird nicht gezeigt.“

Die Hryhoriwna schluchzt hilflos.

„Sie brauchen vielleicht einfach mal Ruhe“, sagt Bella.

Eigentlich weiß sie nicht, was sie sagen soll, denn mit Träumen kennt sie sich nicht aus.

„Ich habe schon Angst, mich schlafen zu legen … Und Sie?“

„Ich nicht. Ich habe keine Angst. Ich freue mich auf meinen Schlaf.“

Bellas Gesichtsausdruck ändert sich. Sie sieht verträumt aus.

Pfui, denkt die Hryhoriwna.

„Und was macht er mit Ihnen im Traum … also, Ihr Mann da?“

„Er bringt mir Schwimmen bei.“

„Was?“

„Ich habe immer ein- und denselben Traum: Ich stehe bis zur Hüfte im Wasser, er ist auch im Wasser, und er bringt mir Schwimmen bei.“

„Können Sie denn nicht schwimmen?“

„Nein.“

„Im Traum können Sie nicht schwimmen?“

„Ich kann überhaupt nicht schwimmen.“

Sie ist tatsächlich verrückt, denkt die Hryhoriwna.

„Berührt er Sie?“, fragt sie plötzlich.

„Nie. Er steht neben mir und sagt mir, was ich machen soll.“

„Komisch.“

„Das ist überhaupt nicht komisch. Mir reichen seine Worte. Ich kann schon beinahe schwimmen.“

Die Hunde und Katzen haben ihre Schälchen ausgeleckt und sich in der Nähe zu einem Nickerchen hingelegt. Der größte Hund, der rote mit der weißen Schwanzspitze, liegt vor der Hryhoriwna. Als wolle er sie bewachen.

„Wenn Sie endlich schwimmen können, vielleicht ändert sich dann alles?“

„Was soll sich denn ändern?“

„Na ja, vielleicht ändert er sein Verhalten Ihnen gegenüber? Sie wollen doch, also … er gefällt Ihnen doch?“

Bella wird feuerrot.

„Er sieht gut aus“, sagt sie. „Sehr gut. Aber wissen Sie, ich kenne ihn überhaupt nicht. Wir haben immer nur übers Schwimmen gesprochen, über nichts anderes. Über nichts Persönliches. Er bringt mir Schwimmen bei, das ist alles. Keine Ahnung, was er für einer ist. Vielleicht ist er furchtbar dumm. Es ist alles so sinnlos.“

„Und im wirklichen Leben sind Sie ihm nie begegnet?“

„Nein, nie. Wenn ich ihm begegnet wäre, würde ich mich daran erinnern.“

„Komisch.“

Der Hryhoriwna kommt es auf einmal vor, als befände sie sich in einem dieser herrlich verzwickten Krimis, die sie als Jugendliche so gern gelesen hat.

„Verstehen Sie, Bella, Sie müssen ihn irgendwo gesehen haben. Ihr Gehirn hat sich das doch nicht einfach ausgedacht.“

„Wieso nicht?“

Bella macht eine Faust.

Oho, denkt die Hryhoriwna.

Eine Weile sitzen sie schweigend da.

„Warum sind Sie denn nun zum Arzt gegangen? WAS FEHLT IHNEN, BELLA?“

Bella weiß nicht, was sie antworten soll. Sie rutscht auf der Bank hin und her und kaut an ihren Nägeln.

„Man könnte es mit einer Behandlung versuchen“, sagt die Hryhoriwna. „Kommen Sie doch noch mal vorbei, wir machen ein paar Tests, ich schreibe Ihnen eine Überweisung. Und dann sehen wir weiter. Wir schauen mal. Vielleicht ist die Ursache schnell gefunden. Aber ich muss alles wissen. Also, Bella? Was wollten Sie mir noch sagen?“

Bella ist den Tränen nahe.

Nur das nicht, denkt die Hryhoriwna, jetzt macht die mir hier ein Liebesdrama, muss ich mir das antun?

„Ich will mehr“, sagt Bella.

„Ausgeschlossen, meine Liebe. Den Mann gibt’s doch nur im Traum! Er ist nicht echt!“

„Wieso nicht echt?“ Bella reibt sich die geröteten Augen. „Er geniert sich einfach. Er ist schüchtern.“

„Bella, es ist ein Traum. Er ist in Ihrem Kopf. Er – das sind Sie.“

„Das kann nicht sein“, Bella fängt leise an zu schluchzen, „er ist so anders.“

Bella steigt bis zur Hüfte ins Wasser und wartet. Das Wasser ist blau und warm. Bella sieht im Wasser ihre Zehen und winzig kleine Forellen. Sie schwimmen um Bellas Beine und knabbern sie an, Bella gefällt das.

„Sind Sie bereit?“, hört sie plötzlich seine Stimme irgendwo von hinten.

„Ja“, antwortet sie.

„Wie schwimmen wir heute? Kraul oder Hundepaddeln?“

„Wenn's geht, Hundepaddeln. Wissen Sie, ich mag Hunde.“

Er lächelt kaum merklich. Aber er darf eigentlich nicht lächeln.

Er ist der Lehrer. Ein strenger Lehrer.

Wieder habe ich etwas Dummes gesagt, denkt Bella.

„Gehen wir ins tiefere Wasser“, sagt er.

„Ich habe Angst.“

„Sie brauchen keine Angst zu haben. Im Flachen werden Sie es nie lernen. Sie werden immer Angst haben. Los.“

Bella macht einen Schritt nach vorn. Das Wasser reicht ihr schon bis zur Brust. Noch einen Schritt, dann reicht’s ihr bis zum Hals.

„Ich habe Angst. Ich gehe nicht weiter.“

„Sie gehen nicht unter. Ich bin doch da.“

„Ich habe keine Angst unterzugehen.“

„Und wovor haben Sie Angst?“

Vor Ihnen, denkt Bella, sagt es aber nicht laut.

„Na, los!“

Bella macht noch einen Schritt und zappelt hilflos im Wasser. Sie schaut auf ihre wild umherpaddelnden Beine und die ausgewachsenen Forellen auf einer Unterwasserwiese. Die verwunderten Fischaugen glitzern in der Sonne.

„Ich kann nicht schwimmen. Die Fischaugen blenden mich“, flüstert Bella panisch.

„Was?“

„Nichts.“

„Bewegen Sie die Arme. Vergessen Sie, dass Ihr Körper ein Gewicht hat. Bewegen Sie Arme und Beine. Zerteilen Sie das Wasser.“

„Ich gehe unter.“ Bella schluckt Wasser.

„Ich halte Sie. Sie gehen nicht unter. Sie schwimmen.“

Seine Hände brennen an ihrer Taille.

„Lassen Sie mich los! Fassen Sie mich nicht an!“, schreit Bella.

„Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie brauchen Hilfe.“

„Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich brauche nur Ihre Stimme.“

Bella rudert panisch durchs Wasser, um ins Flache zu gelangen.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Ich bin doch geschwommen.“

„Angsthase.“

„Was haben Sie gesagt?“

Bella steht und keucht schwer. Sie spuckt das Wasser aus.

„Hundepaddeln ist schwierig“, sagt sie.

„Ja, stimmt. Sie müssen lernen, wie ein Mensch zu schwimmen.

Menschen schwimmen anders.“

„Kann ich nicht.“

Er seufzt. Ich bin ihm über, denkt Bella. Er hat mich satt.

„Sie tun mir leid“, sagt Bella.

„Warum?“

„Weil Sie sich mit mir abplagen müssen, obwohl Sie gar nicht wollen.“

„Wer sagt denn das?“

„Das sehe ich.“

„Das ist meine Arbeit. Ich mache sie gern.“

Bella schaut ihn einen kurzen Augenblick an. Sie denkt: Er mag seine Arbeit, aber mich mag er nicht. Ganz recht. Ich will zu viel. „Sie sehen gut aus“, sagt Bella plötzlich.

„Danke.“

„Entschuldigen Sie bitte. Ich bin mit einem Stein in der Brust geboren. Ich werde nie schwimmen lernen.“

„Das kommt Ihnen nur so vor. Ich hatte hunderte solche wie Sie. Und alle haben es gelernt. Es ist nicht schwer. Sie dürfen nur keine Angst vorm Wasser haben.“

„Ich habe keine Angst vorm Wasser.“

„Und wovor dann?“

„Vor Ihnen“.

Die Hryhoriwna ist sehr nervös.

„Es ist so voll heute“, sagt sie zu Allotschka.

„Ich kann die Leute wegschicken, wenn Sie wollen. Ich sage, Sie sind krank.“

„Nein, nein. Sag Ihnen, ich habe jetzt Pause. Ich gehe mir einen Pfannkuchen oder so was holen. Ich habe Hunger.“

Die Hryhoriwna tritt in den Flur und läuft schnell zur Treppe, damit sie die verärgerten Rufe der Patienten nicht hört. An der Treppe bleibt sie stehen. Sie überlegt.

‚Nur ganz kurz. In einer fachlichen Angelegenheit.‘

Sie läuft in den zweiten Stock und öffnet die der Treppe nächstgelegene Tür mit dem Schild „Chirurg“.

„Kann ich reinkommen?“

„Hryhoriwna? Natürlich, kommen Sie rein.“

Der grauhaarige Mann, ebenfalls im weißen Kittel, steht auf.

„Artem Mykolajowytsch, nur für einen Moment. Ich hab mal eine Fachfrage.“

Artem Mykolajowytsch fordert die Hryhoriwna mit einer Geste auf, sich zu setzen. Dabei berührt er absichtlich ihre Hand, und die Hryhoriwna spürt ihn wieder – diesen Kälteschauer, aber in einem ganz anderen Teil des Körpers.

„Hryhoriwna, Sie dürfen nicht nur mit einer Fachfrage, Sie dürfen auch einfach so.“

„Ist was Fachliches“, murmelt die Hryhoriwna. „Also, es ist nicht furchtbar wichtig, aber vielleicht können Sie mir einen Rat geben.“ „Wollen Sie eine Praline?“ Artem Mykolajowytsch holt aus einer Schreibtischschublade eine Schachtel Kiew am Abend.

„Ihre sind immer die besten“, sagt die Hryhoriwna.

„Für Sie nur das Beste.“

„Artem Mykolajowytsch, Sie flirten doch nicht etwa mit mir?“

„Mit so einer schönen Frau muss man einfach flirten.“ Artem Mykolajowytsch grinst, und die Hryhoriwna nimmt sich eine Praline aus der Schachtel. „Hryhoriwna, ich bin ganz Ohr.“

Die Hryhoriwna räuspert sich.

„Es geht um Folgendes“, sagt sie. „Eine Bekannte von mir … also, die träumt immer von einem Mann. Zwei Jahre schon. Die träumt von einem fremden Mann.“

Artem Mychajlowytsch ist nicht überrascht von dem, was er da hört. „Nichts Besonderes. Wenn eine Frau keinen Mann hat, wird ihre Phantasie aktiviert. Hryhoriwna“, Artem Mykolajowytschs Stimme wird intimer, „ich hab’s Ihnen schon immer gesagt: Sie brauchen einen Mann.“

„Sie haben mich falsch verstanden“, schreit die Hryhoriwna auf und schiebt sich mit dem Stuhl Richtung Tür, „es geht nicht um mich.“

„Es muss Ihnen nicht peinlich sein, ich bin Ihr Freund“, sagt Artem Mykolajowytsch.

„Es ist mir nicht peinlich. Deswegen bin ich ja zu Ihnen gekommen und erzähle Ihnen das von der Bekannten. Vielleicht haben Sie einen Rat?“

„Ich seh da kein Problem. Soll sie doch von ihm träumen, na und. Tut doch keinem weh.“

„Bella geht es nicht gut damit.“

„Wem?“

„Meiner Bekannten. Bella. Meine Bekannte heißt Bella.“

„Komischer Name. Ist sie Ungarin?“

„Nein, aber sie war schon zweimal da.“

„Wo?“

„In Ungarn.“

Artem Mykolajewytsch lehnt sich nachdenklich auf seinem Stuhl zurück.

Er ist ein imposanter Mann, denkt die Hryhoriwna, und willensstark. An seiner Schulter fühlt man sich sicher. Der hat alles im Griff. „Hryhoriwna“, sagt Artem Mykolajowytsch schließlich, „das ändert nichts an der Sache. Diese Frau, Bella, wie Sie sie nennen, braucht einen Mann. Das ist das einzige, was hilft. Und zwar je früher, umso besser. Mangelnde sexuelle Befriedigung kann zu Schizophrenie führen.“

„Schizophrenie?“

„Ja. Der Mann springt aus dem Traum in die Wirklichkeit.“

„Wie das denn?“

„Sie sieht ihn plötzlich im realen Leben, so geht das. Vielleicht sieht sie ihn schon. Fragen Sie sie doch mal.“

„Nein, nein“, widerspricht die Hryhoriwna, „er erscheint Bella nur im Traum. Ganz bestimmt. Aber …“

„Was ‚aber‘?“

„Aber sie will mehr.“

Artem Mychajlowytsch steht auf. Er stellt sich hinter die Hryhoriwna und legt ihr seine Hände in den Nacken. Die Hryhoriwna erstarrt.

„Vielleicht“, flüstert sie, „weiß die Medizin eben doch nicht alles. In der Physiologie, ja, da ganz sicher, aber im Seelischen? Das sind doch alles ganz individuelle Dinge. Alles hängt von der Psyche ab, von dem einzelnen Menschen. Bella verhehlt nicht, dass der Mann ihr gefällt. Er gefällt ihr. Aber Bella traut sich nicht, ihm das zu sagen.“

„Hryhoriwna“, Artem Mykolajowytsch flüstert ebenfalls, „Sie machen denselben Fehler. Sie sprechen von ihm wie von einer realen Person.“

„Vielleicht ist er ja irgendwo? Sogar irgendwo hier in der Stadt? Und man muss Bella nur helfen, ihn zu finden. Kann doch sein. Es passieren doch immer wieder ungewöhnliche Dinge. Ich habe mal ein Buch gelesen, da ging’s um was Ähnliches … Da hat eine Frau von einem Mann geträumt, und dann hat sie ihn gefunden …“

Artem Mykolajewytsch beugt sich über die Hryhoriwna und küsst ihr rechtes Ohr. Die Hryhoriwna hält den Atem an. Sie weiß, dass sie jetzt alles ganz schnell beenden muss, aber nicht sofort, nicht jetzt. Gleich.

„Meine Liebe“, Artem Mykolajewytsch küsst sie auf die Halsgrube, „mich brauchst du nicht zu suchen. Ich bin hier.“

„Artem.“

„Bella. Nennst du dich so in deinen Phantasien?“

Die Hryhoriwna springt auf wie angestochen.

„Ich phantasiere nicht. Bella ist meine Bekannte. Ich bin nicht Bella.“

Artem Mycholajowytsch steckt verlegen die Hände in die Taschen seines weißen gestärkten Kittels.

„Ich muss weg. Ich habe ja gesagt, ich hätte nur eine Fachfrage. Danke, dass Sie mich angehört haben, Artem Mychajlowytsch.“

„Keine Ursache.“

In der Tür dreht sich die Hryhoriwna noch mal um:

„Und schöne Grüße an Alina“.

„Richte ich ihr aus“.

Jetzt sieht er nicht mehr so allmächtig aus, denkt die Hryhoriwna, als sie Artem Mychajlowytschs gebeugte Gestalt anschaut. Männer werden hilflos, wenn man plötzlich ihre Frauen erwähnt.

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Proben abgeben. Warum bist du nicht hingegangen?“, fragt die Hryhoriwna Bella.

Sie sitzen auf der Bank an der Rabatte, umgeben von satten Hunden und Katzen.

„Ich weiß nicht“, antwortet Bella, „ich glaube, es nützt nichts.“

„Sag das nicht. Manchmal hilft’s schon, wenn man einfach nur die Proben abgibt. Ich bin Allgemeinärztin. Ich weiß, wovon ich rede. Das kommt öfter vor. Dass ein Patient die Proben abgibt und sofort gesund ist.“

„Aber ich fühle mich nicht krank. Eher unglücklich. Das ist doch keine Krankheit, oder?“

„Nein, sicher nicht. Aber ein Bekannter von mir, ein Chirurg, der sagt, dass das zu Schizophrenie führen kann.“

„Ja?“

„Na ja, plötzlich siehst du diesen Mann im realen Leben und nicht nur im Traum.“

Bella schweigt und streichelt eine räudige Katze, die ihr zuschnurrt.

„Du siehst den doch nicht im realen Leben, oder?“ Beunruhigt beochtet die Hryhoriwna Bella.

„Hab ich nicht nötig“, murmelt die. „Der Traum reicht mir.“

„Pass bloß auf. Wenn du ihn im realen Leben siehst, dann sag mir gleich Bescheid. Sonst kann du wirklich Probleme kriegen.“

„Er ist nicht hier.“

Sonntag. Die Hryhoriwna schlendert über den Chreschtschatyk, die zentrale Einkaufsstraße von Kiew. Sonntags dürfen hier keine Autos fahren. Die Hryhoriwna läuft direkt auf der Straße, auf dem Mittelstreifen. Sie hat gute Laune. Sie hat 1000 Hrywnia dabei und will shoppen – ein paar Oberteile, vielleicht ein paar kurze Röcke. Sie betritt das Kaufhaus und geht in die Kosmetikabteilung im Erdgeschoss. Kauft sich ein Shampoo, ein Duschgel und ein Deo, denn alles ist fast aufgebraucht. Die Hryhoriwna macht gern einen Einkaufsbummel, wenn sie Geld hat. In solchen Momenten fühlt sie sich sicher. Und schön. Dazugehörig zum aktiven Teil der Welt.

Die Hryhoriwna freut sich aufs Shoppen. Sie stellt sich vor, wie sie nach Hause zurückkommen, die Einkaufstüten aufs Bett legen und alles nacheinander anprobieren wird. Die Sachen werden ihr gut stehen, denn sie weiß, was sie nehmen muss. Sie wählt immer diese bräunlich-grünen-salatfarbenen Töne, die gefallen ihr.

Wenn’s einer Frau auch noch so mies geht, denkt die Hryhoriwna, bleibt ihr doch mmer noch das Shoppen.

Die Hryhoriwna probiert viel mehr an, als sie schließlich kauft. Das macht sie immer so. Sie probiert alles an, was ihr gefällt. Auch Sachen, die sie sich gar nicht leisten kann.

Nachmittag. Bis zum Ladenschluss ist noch viel Zeit. Die Hryhoriwna geht langsam, ohne zu hetzen. Die Vorfreude ist das schönste. Vielleicht pfeift sie auch auf alles und kauft sich in der Mutter-und-Kind-Apotheke an der Passage diese unverschämt teure Creme in der blassrosa Tube. Mit der superteuren Creme im Gesicht wird sie dann die Sprechstunden in der Poliklinik besser durchstehen. Wenn ihr alles trostlos scheint, was oft vorkommt, wird sie einfach an die Creme denken.

Solche Dinge, denkt die Hryhoriwna, machen das gemeinhin öde Leben einer Frau leichter.

An der Kreuzung Chreschtschatyk und Prorizna-Straße stößt die Hryhoriwna auf eine große Menschenansammlung. Sofort befällt sie eine Unruhe. Vielleicht ist es ein Amateurkonzert, um das sich die Hans-Dampf-in-allen-Gassen scharen. Solche Konzerte gibt es sonntags auf dem Chreschtschatyk nicht wenige. Aber diese Leute sehen kein bisschen glücklich aus. Im Gegenteil, je näher die Hryhoriwna kommt, umso sicherer ist sie, dass dort etwas Unangenehmes passiert. In den Gesichtern der Menschen liest die Hryhoriwna Verwirrung und Angst.

Sie bekommt bleischwere Beine, und in ihrem Bauch rumort es. Noch ist es nicht zu spät, sagt sich die Hryhoriwna, geh zurück zum Majdan Nezaleshnosti und verschwinde in der Metro. Noch ist Zeit.

Aber eine unbekannte Kraft, vielleicht der Selbstzerstörungstrieb zieht die Hryhoriwna immer weiter in die Menge hinein.

„Was ist denn passiert?“, will die Hryhoriwna wissen.

Sie bekommt keine Antwort. Die Menschen trippeln in der Straßenmitte herum wie blinde Hühner. Sie wissen nicht, wohin sie fliehen sollen, denn sie wissen nicht, woher die Gefahr kommt. „Uns hat’s alle am Arsch!“, ruft ein langhaariger Mann mit Gitarre. „Haut ab!“

Mit einem verzweifelten Schrei stürzen die Leute nach allen Seiten davon.

Oh, Gott, denkt die Hryhoriwna, das wird wieder nichts mit dem Shoppen.

Die Frau, die auf dem Chreschtschatyk die blinkenden und bellenden Hunde verkauft, schmeißt die Kiste mit ihren Hunden auf die Straße und rennt zur Metrostation Goldenes Tor. Die Hunde jaulen, als wären sie echt.

Die Armen, denkt die Hryhoriwna.

Auch sie muss fliehen. Aber ihre Beine sind auf dem Mittelstreifen festgewachsen und versagen den Dienst. Die Hryhoriwna will um Hilfe schreien, bingt aber keinen Ton heraus.

Helft mir, denkt die Hryhoriwna, helft mir doch! Lasst mich nicht hier zurück! Ich habe Angst! Nehmt mich und tragt mich an einen sicheren Ort. Versteckt mich unterm Ladentisch in der Mutter-und-Kind-Apotheke, die ist ganz in der Nähe!

Blitzschnell ist der Chreschtschatyk leer. Eine unnatürliche feindliche Stille bemächtigt sich der Hryhoriwna. Sie steht ganz still. Stumm und schlapp. Ganz allein steht sie da mitten auf der übergroßen und überbreiten Straße, mit tausend Hrywnia in der Tasche, und wartet auf ihr Ende wie ein Kaninchen, das von einem Scheinwerfer geblendet wurde.

Auf die Balkone der umliegenden Häuser tritt lautlos ein Uniformierter nach dem anderen. Die Hryhoriwna weiß sofort, dass es Leute von der Armee sind. Sie hat sie im Fernsehen gesehen. Die Hryhoriwna hat gelogen. Das Haus, in dem ich lebe ist nicht der einzige Kriegsfilm, den sie gesehen hat. Da war noch der Film Die Schlacht um Moskau. Und der zeigte Krieg. Mit Panzern, Bomben und toten Soldaten in Schützengräben. Und mit Hitler und Stalin. Und Shukow. Und mit Soja Kosmodemjanskaja.

„Panfilow ist gefallen“, schießt der Hryhoriwna ein Zitat aus dem Film durch den Kopf. „Panfilow ist gefallen“. „Genosse Rokossowski, Krasnaja Poljana muss eingenommen werden!“

Die Hryhoriwna weint. Die Soldaten auf den Balkonen legen ihre Karabiner an (oder wie die Waffen da bei denen heißen) und zielen direkt auf die Hryhoriwna. Sie stürzt nieder, auf den von der nachmittäglichen Sonne erhitzten Asphalt des Chreschtschatyk, fällt mit dem Gesicht nach unten und schlägt ihre Hände schützend über den Kopf.

Sie können mich gar nicht sehen, redet sich die Hryhoriwna ein. Jawohl! Warum habe ich bloß dieses grasgrüne Kleid angezogen?! Gleich werden sie mich erschießen.

Von allen Seiten fahren Panzer auf den Chreschtschatyk. Die Hryhoriwna spürt am ganzen Körper, wie die Erde zittert. Die Hryhoriwna zittert auch.

„Rokossosowski!“, will sie plötzlich schreien, „Rokossowski!“

Die Panzer haben die Hryhoriwna umzingelt und stellen den Motor ab. Plötzlich ist es wieder still.

Die Hryhoriwna hebt den Kopf. Wie Elefantenrüssel sind die riesigen Panzerrohre auf sie gerichtet.

„Hört mal“, sagt die Hryhoriwna zu den Panzern, „ich habe tausend Hrywnia. Wollt ihr die?“

Die Panzer schütteln verneinend die Rüssel.

„Was wollt ihr dann? Was wollt ihr von mir? Ich bin eine einfache Ärztin mit einem kleinen Gehalt. Ich habe nichts, nicht einmal eine Familie. Ich habe niemandem etwas getan.“

„Niemandem, ach ja?“

Die oberste Luke des nächststehenden Panzers geht auf, und der kleine gefärbte Schopf von Alina schiebt sich heraus.

„Hab ich’s doch gewusst“, schreit Alina. „Du bist hinter meinem Mann her! Machst mir Artem Mychajlowytsch abspenstig! Hab ich auf den ersten Blick gesehen!“

Die Hryhoriwna steht auf und schüttelt sich. Sie sieht Alina Serhijiwna, die Frau des Chirurgen, lange an und sagt dann ruhig: „Ach, du kannst mich mal.“

Und verlässt erhobenen Hauptes das Schlachtfeld.

3

Was bin ich für ein Mensch?, denkt Bella.

Sie steigt ins Wasser.

Heute ist das Wasser dunkel, fast schwarz.

Was mache ich hier eigentlich? Was will ich von ihm? Ich muss ihn in Ruhe lassen. Ihn und mich.

„Heute ist das Wasser irgendwie schwarz“, sagt Bella.

„Sie müssen in jedem Wasser schwimmen können.“

Seine Stimme kommt Bella gleichgültig und fern vor wie das gegenüberliegende Ufer.

„Wozu?“

„Wie bitte?“

„Wozu muss ich überhaupt schwimmen lernen?“

„Niemand hat Sie gezwungen. Sie wollten es selbst.“

„Wollte ich nicht.“

Bella dreht ihm das Gesicht zu. Er ist verlegen.

„Ich dachte, Sie wollten …“

Er hat schwarze Augen, stellt Bella fest. Wahrscheinlich hat ihr Schwarz das Wasser infiziert.

Bella überwindet sich und lächelt.

„Es war ein Witz“, sagt sie, „natürlich wollte ich. Das war nur ein Witz. Nicht böse sein.“

„Fangen wir an.“ Er hat den Witz offenbar nicht verstanden. „Rücken gerade. Bleiben Sie locker. Das Wasser tut Ihnen nichts.“ „Wer weiß, vielleicht ist da im Wasser was, und das tut mir was …“ „Seien Sie still. Sie reden zu viel. Schweigen Sie und hören Sie auf zu denken. Schwimmen Sie einfach.“

„Ich muss aber denken. Ich denke pausenlos.“

„Still!“

Er nimmt Bella an der Hand und zieht sie zu sich heran. Bella verliert das Gleichgewicht.

„Stoßen Sie sich vom Grund ab und schlagen Sie mit den Beinen. Ich halte Sie. Keine Angst. Schlagen Sie mit den Beinen, als wären es Flossen.“

„Was sind denn Flossen?“

„Machen Sie, was ich sage!“

Bella hängt in seinen Armen.

„Warum bewegen Sie sich denn nicht, Bella? Das Wasser trägt Sie, Sie müssen nur ein bisschen mithelfen. Sie gehen ja unter wie ein Stein.“

Er hat mich zum ersten Mal beim Namen genannt, denkt Bella. „Ich lerne das nie. Lassen Sie mich.“

„Nein.“

„Wirklich nicht?“

Plötzlich hält er inne und sagt, während er mit seinen schwarzen Augen ins schwarze Wasser schaut: „Was wollen Sie von mir, Bella?“

Schwester Allotschka kommt ins Sprechzimmer gestürmt und setzt sich der Hryhoriwna gegenüber.

„Haben Sie schon gehört?“, setzt sie vielsagend an.

„Was?“ Die Hryhoriwna fühlt sich schlapp und sogar ein bisschen krank. Allotschka und ihr urplötzlicher Überschwang gehen ihr auf die Nerven.

„Erinnern Sie sich noch an die Katzenmutti, die bei uns war? Sie haben noch gesagt, das wäre Ihre Nachbarin. Die hatte so einen komischen Namen, was Französisches oder Italienisches …“

„Ungarisch.“

„Ach ja, ungarisch.“

„Und? Sag schon, jetzt mach’s nicht so spannend.“

Allotschka macht eine theatralische Pause.

„Einen Tee, Grigorowna?“, sagt sie.

„Alla! Was ist los? Raus mit der Sprache!“

„Heute früh haben sie sie mitgenommen.“

„Wer hat sie mitgenommen? Wohin?“

„Na, in die Klapsmühle. Hat mir der Fahrer vom Notarzt erzählt, ich hab gleich gewusst, dass sie das ist.“

Die Hryhoriwna steht auf und läuft nervös um Allotschka herum. „Kann ich mir nicht vorstellen. Warum hätten sie sie denn mitnehmen sollen?“

„Hryhoriwna, wenn ich’s Ihnen sage. Das war unsere Katzenmutti, hundertprozentig. Wie Sie’s vorausgesagt hatten: Erdgeschoss, Zimmer sechs!“

Allotschka holt zwei Pfefferkuchen aus ihrer Tasche, beißt in den einen hinein und gibt den anderen der Hryhoriwna.

„Hier, essen Sie was. Sie haben doch bestimmt noch nicht gefrühstückt, oder?“

„Alla, jetzt erzähl mir alles genau.“

„Was gibt’s da groß zu erzählen? Ist splitterfasernackt auf der Straße rumspaziert.“

„Wie?“

„Ja, ja. Nackt, vollkommen nackt ist sie auf Ihrer Petropawliwska-Straße rumgelaufen, zwei Dutzend Hunde und Katzen um sie rum. Das muss ein Anblick gewesen sein! Die Hunde haben sie so verteidigt, dass gleich zwei Sanitäter gebissen wurden. Ein Lärm war das, da sind sogar die Alarmanlagen der Autos ringsum angegangen.“

„Das gibt’s doch nicht, Alla.“

„Was es nicht alles gibt … Ich hab’s Ihnen doch gesagt: wenn eine Frau keinen Sex hat, dreht sie durch.“

Die Hryhoriwna lässt sich kraftlos auf den Stuhl fallen und schlägt die Hände vors Gesicht.

„Hryhoriwna, ist Ihnen nicht gut? Ich will heute ein bisschen früher weg. Meine Tante hat Geburtstag.“

„Ja, natürlich.“

Die Hryhoriwna atmet die stickige arzneigeschwängerte Luft.

„Hör mal, Alla, kannst du mir dafür auch einen Gefallen tun. Schnorr mir doch bitte bei jemandem eine Zigarette, ja?“

„Hryhoriwna, Sie haben doch zwei Jahre durchgehalten …“

„Fragt sich, wozu?“

In dem weißen Leinenhemd, mit den struppigen Haaren und den vor Angst und Verwunderung geweiteten Augen sieht Bella richtig attraktiv aus.

Wenn ich ein Mann wäre, denkt die Hryhoriwna, könnte ich mich in sie verlieben.

Bella hockt auf dem Krankenhausbett. Im Zimmer stehen noch sechs weitere Betten, aber die Patienten rühren sich nicht und atmen nicht. Sie starren einfach an die Decke.

„Bella! Was ist los?“ Die Hryhoriwna setzt sich auf die Bettkante.

„Wie konnte das passieren?“

„Ich weiß nicht“, antwortet Bella.

Zwei breitschultrige Männer in grünen Kitteln schlendern über den Flur und werfen hin und wieder einen Blick ins Zimmer. Das ist also der Unterschied zwischen denen und uns, denkt die Hryhoriwna, wir tragen weiße Kittel, sie grüne.

„Abrupte Bewegungen sind hier verboten“, sagt Bella. „Rennen, springen, rufen, niesen, singen ist verboten.“

„Hm …“, sagt die Hryhoriwna zögerlich, „kann man gut drauf verzichten.“

„Ich beklage mich ja gar nicht. Überhaupt nicht. Ich hab’s gut hier.“

Die Hryhoriwna schweigt.

Durchs Fenster sieht man eine Kirche.

„Du hast einen schönen Blick aus dem Fenster“, sagt sie einen Augenblick später.

„Wir können zum Beten in die Kirche gehen.“

„Ist das erlaubt?“

„Der Zaun hat ein Loch. Die Patienten kriechen durch.“

„Und keiner haut ab?“

„Nein. Alle kommen zurück.“

Die Hryhoriwna rückt näher an Bella heran.

„Bella, was ist passiert? Du warst doch eigentlich normal.“

„Normal?“

Ist wahrscheinlich nicht so geschickt, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, denkt die Hryhoriwna. Bloß nicht unter Druck setzen. Sie wird schon mit der Sprache rausrücken.

„Es ist mir so peinlich, es ist mir so peinlich, das alles“, murmelt Bella dumpf. „Ich benehme mich wie eine richtige Idiotin. Geschieht mir recht, dass sie mich abgeholt haben.“