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Die in den Jahren 2020 bis 2022 entstandenen Texte, Anekdoten und Erzählungen handeln nicht von der Pandemie, haben diese aber als Hintergrund. Viele davon wurden zu ihrer Entstehungszeit auf Facebook veröffentlicht. Die Reaktionen und Kommentare sind zum Teil integriert in die Reflexionen der Autorin über das Schreiben und die Literatur, in die satirischen Texte über den Pandemie-Alltag in Madrid oder das Dorfleben in Andalusien.
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Seitenzahl: 94
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Brigitte Aschwanden ist in der Nähe von Basel geboren und aufgewachsen. Später lebte sie in Madrid, widmete sich dem Tanz und der Performancekunst, bevor sie nach Zürich zurückkehrte, Germanistik studierte und in Zug als Deutschlehrerin arbeitete. Jetzt lebt sie wieder in Madrid.
Von Zeit zu Zeit ist ihre dritte Veröffentlichung. Zuvor sind bei Books on Demand der autobiografische Roman Wurzelhacken (2019) und Nicht im Traum (2020) erschienen.
Beginn einer neuen Zeitrechnung
Andalusische Improvisationen
Vom Lesen und Vergessen
Geschichte einer Geschichte
Fragen, die man sich stellte:
Vor zwei Wochen:
Soll ich mich ins Kino setzen und die Direktübertragung von Händels Agrippina aus dem MET genießen?
Ich hatte das Ticket schon Wochen vorher gekauft und ging hin. Zum Glück hatte ich einen Platz ausgewählt, wo nur zwei Sitze nebeneinander stehen. Also ziemlich außerhalb der Zuschaueragglomeration, am Rande sozusagen. Allerdings war der Sessel neben mir von einem älteren Herrn belegt, älter als ich, der vor Beginn dauernd hustete. Das halte ich keine drei Stunden aus, dachte ich. Kaum aber setzte die Musik ein, hörte er auf, und drei Stunden lang kein Husten mehr. Muss wohl ein nervöser Tick gewesen sein.
Vor zehn Tagen:
Soll ich an die Chorprobe und mit ans Konzert nach Segovia, Busfahrt und Spanferkelessen inbegriffen, oder besser nicht?
Vor einer Woche:
Soll ich an die Frauendemo?
Soll ich ins Yoga?
Alle diese Entscheidungen wurden mir erspart, weil ich Rückenschmerzen hatte.
Vor sechs Tagen, als alle Schulen geschlossen wurden:
Soll ich zu meinem Sohn fahren und Kinder hüten oder kochen, während die Eltern arbeiten?
Sowohl er als auch seine Frau ließen uns verstehen, dass wir, die Großeltern, eine Risikogruppe seien und sie schon zurechtkämen.
Vor fünf Tagen:
Ob ich wohl noch ins Reina Sofía soll, um mir eine Ausstellung anzusehen, die nächstens zu Ende geht?
Ich ging hin, aber es war Dienstag und das Museum geschlossen.
Soll ich auf dem Rückweg im Benteveo bei meinen Freunden einen Kaffee trinken? Ich trat ein, weil nicht viel los war, verzichtete aber auf Umarmungen und Wangenküsse.
Vorgestern haben sie das Lokal geschlossen.
Vor vier Tagen
war es immer noch eine offene Frage im Chor, ob geprobt werden sollte. Da war mir schon klar, dass das viel zu riskant war. Die Probe wurde im letzten Moment abgesagt.
Ob ich mit einer Freundin einen Spaziergang durch den Stadtpark machen sollte, war eigentlich noch keine Frage. Wir verzichteten auf Begrüßung mit Körperkontakt und hielten eine gewisse Distanz. Auf der Bank, wo wir eine halbe Stunde plauderten, schauten wir geradeaus. Sie ging von dort aus zum Zahnarzt und ich kehrte durch den Retiro zurück. Unterdessen war es ein Uhr und die Wiesen um den Teich herum voller Studenten, die in Gruppen zusammen saßen oder lagen und ebenfalls plauderten, aber so als ob nichts geschehen wäre. Die Uni war – wie die Schulen – vor zwei Tagen geschlossen worden.
Vorgestern
Soll ich im Bus zum Physiotherapeuten oder besser zu Fuß, obwohl es eine Stunde dauert?
Diese Entscheidung wurde mir abgenommen, weil er von dem Tag an alle Termine absagte.
Gestern
Noch einmal: Ist es unverantwortlich, das Haus zu verlassen und früh am Morgen in den Retiro zu gehen?
Wir zogen um neun los, hielten Abstand und sahen Dinge, die wir im Stadtpark noch nie gesehen hatten: die Ruine einer romanischen Kirche und – Pfauen! Einer stellte sein wunderschönes Rad zur Schau, drehte sich um die eigene Achse und zeigte uns gleich auch noch die Hinterseite. Sensationell.
Um vier wurde der Retiro geschlossen. Es mussten immer mehr geworden sein. Leute, nicht Pfauen.
Um zehn Uhr abends verkündete der Regierungschef den Notstand. Jetzt waren wir angehalten, zuhause zu bleiben, und es stellten sich neue Fragen.
Gedanken
13.3.2020
Es ist Abend geworden und ich fühle mich glücklich, dass heute keine schlechten Nachrichten eingetroffen sind. Niemand hustet in der Familie, niemand muss ins Spital. So wenig braucht es plötzlich für das Glück.
14.3.2020
Es ist ein gutes Gefühl, sich in seine eigene Blase zu flüchten, während draußen das Leben pulsiert, die Stadt lärmt, die Leute sprechen, grölen, schreien. Und drinnen Ruhe, Konzentration, Arbeit: lesen, schreiben, nachdenken.
Aber es ist kein gutes Gefühl, wenn draußen absolute Ruhe herrscht, die Straßen menschenleer, und ich weiß, dass ich die Wohnung nicht verlassen darf (soll), während zwei Wochen. Oder mehr. Wer weiß.
Eine Art Platzangst geistert herum.
15.3.2020
Vor zwei Wochen noch schloss ich die Fenster, um Ruhe zu haben. Dauernd hörte man Leute sprechen, rufen, nachts auch grölen. Oder Koffer vorüberrollen, alleine oder in Rudeln. Oder Lieferwagen an- und abfahren.
Heute ging ich auf den Balkon, um zu schauen, was los war, weil ich jemanden (eine Person!) sprechen hörte.
Die neuen Fragen:
Was bringt es, Handschuhe zu tragen, wenn man sich trotzdem an der Nase kratzt oder eine Zigarette raucht (heute gesehen).
Wo kriege ich Handschuhe her?
Taugen auch die, welche ich normalerweise fürs Putzen brauche, wenn ich sie anschließend mit Geschirrspülmittel wasche?
Wie komme ich zu einem Mundschutz, falls es nötig wird? Und wann ist es nötig? Um Einkaufen zu gehen? Wohl kaum. Wenn einer von uns beiden Symptome der Krankheit zeigt? Gewiss, aber ist es dann nicht eh zu spät?
Und wie steht es mit der Hygiene? Jeden Tag Wäsche waschen, 90 Grad? Wir nicht, solange keiner hustet. Entweder sind wir Virenträger oder eben nicht. Oder ist das falsch überlegt?
Fördert Ipuprofen die Infektion, statt das Fieber zu senken und die Muskelschmerzen zu lindern? Das Gerücht geht um, zur Zeit wird noch abgeklärt. Vorerst mal besser Paracetamol nehmen.
Können wir die Fenster öffnen und lüften? (Fragen im Chat.)
Wie lange lebt so ein Virus? Zum Beispiel auf den Äpfeln, die wir kaufen, oder im Kopfsalat?
Sollen wir auf die Putzfrau verzichten, die in mehreren Häusern putzt? Und sie trotzdem bezahlen, weil sie's braucht?
Und weitere Gedanken:
19.3.2020
Jetzt, wo die Sonne wieder scheint, macht es richtig Spaß, auf dem Balkon zu sitzen und den Leuten zuzuschauen, den wenigen, die unten vorbeigehen.
Vor einer Woche noch war es eine Masse, ein stetiger Fluss, nichts zum Beobachten, die Details gingen unter.
22.3.2020
Eigentlich genieße ich die Ruhe. Und ich fühle mich weniger getrennt vom Rest der Welt als vorher, wo ich versuchte, mich abzuschotten von der Hektik in der Stadt und dem Medienrummel. Nichts verband mich mit den lärmenden Horden auf der Straße, den Bier trinkenden und in Gruppen lautstark disputierenden Barbesuchern, den hypnotisierten und narkotisierten, tanzenden Massen in den Diskotheken, den schnaufenden, schwitzenden Gruppen von Mountainbikern auf den Wanderwegen, den Großeinkäufern mit ihren vollbeladenen Einkaufswagen in den Supermärkten, den schreienden Demonstranten, für oder gegen was auch immer.
Jetzt hingegen bleibe ich zuhause und fühle mich verbunden mit all den Tausenden, die auch zuhause bleiben, und abends um acht öffnen wir die Balkontür und begegnen den Nachbarn, die auch klatschen und applaudieren. (Der Applaus gilt den Krankenschwestern, Ärzten und dem Pflegepersonal in den Spitälern.) Ich habe schon angefangen zu grüßen. Wenn das so weitergeht, werden wir unsere Nachbarn kennenlernen!
Dass es fast drei Monate dauern würde, bis wir uns wieder ohne bestimmten Grund auf die Straße begeben und spazieren gehen konnten, wusste ich noch nicht. Reisen war kurz darauf auch wieder möglich. Impfstoffe gab es noch keine und die Ära der PCR-Tests war noch nicht eingeläutet. Wir waren der Meinung, das Ganze sei vorüber.
Die lange Zeit des Eingeschlossen-Seins gab Anlass zu Vielem, unter anderem zum Schreiben. Zu Stilübungen verschiedenster Art, die ich, mangels sozialer Kontakte, auf Facebook veröffentlichte. Ein kleines Like musste genügen, als Ersatz für Gespräche und Rückmeldungen.
Facebook war für mich bis zu dem Zeitpunkt ein ungelesenes Buch gewesen. Ich hatte mir – ungern – ein Konto eröffnet, um in den Genuss der Online-Übertragungen meines Yoga-Lehrers zu kommen.
Die erste Stilübung, die ich aus lauter Langeweile durchführte oder weil ich endlich mit dem Schreiben, mit dem richtigen, literarischen, anfangen wollte und nicht wusste, wie, bekam den Titel Der Gang ins Yoga:
Auf dem Weg ins Yoga in der nach Hundepisse riechenden Calle de la Cabeza (der Kopfstraße) musste ich jeweils eine dicke, unförmige, junge Frau mit Kopfhörern überholen, die eine sehr alte Frau wortlos spazieren führte. Etwa zur gleichen Zeit blieb ein Lieferwagen halb auf dem Gehsteig stehen, damit die alten Leute, die darin saßen und unbeteiligt zum Fenster hinaus schauten, ausgeladen und ins Tageszentrum verfrachtet werden konnten, das sich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße befindet und neben dessen Eingang die Betreuer, den Rauch nach einem letzten Zug an der Zigarette ohne Eile in die kühle Morgenluft blasend, bereits auf ihre Zöglinge warteten. Ich musste deshalb auf die andere Seite der Straße wechseln, was mich, in Anbetracht der Tatsache, dass die Straße klein und sozusagen ohne Verkehr ist, nicht störte. Hundepisse gab es auf beiden Seiten.
Nun wird das Yoga online abgehalten, ich lege meine Matte zuhause vors Handy und der morgendliche Gang durch die Calle de la Cabeza fällt weg. Es ist mir nicht bekannt, ob die junge, dicke Frau weiterhin die sehr alte Frau spazieren führt und ob das Tageszentrum geöffnet ist und jeden Morgen seine Klientel in Empfang nimmt. Dass die Straße am frühen Morgen weiterhin nach Hundepisse riecht, davon gehe ich aus.
Die Texte, welche in der Zeit entstanden, als die erste Pandemie-Welle abgeflaut war, beschäftigen sich allesamt mit dem Vorher und Nachher, dem Damals und Jetzt, Ausdruck des Gefühls, dass nichts mehr war wie vorher. Wir glaubten, Zeugen und Protagonisten einer neuen Normalität (in den Worten der Regierung) zu sein. Postpandemisch war die Zeit allerdings nicht, kurz danach, im Oktober, sollte die zweite Welle anrollen, und wir wussten nicht, dass es mehrere geben sollte.
Dass ich mich mit aus Langeweile durchexerzierten Stilübungen ins Schreiben katapultieren wollte, ins richtige, literarische ‒ dachte ich ‒, scheint ein Allgemeinplatz zu sein, für den Schriftsteller (die richtigen!) beneidenswerte Worte und Metaphern finden. So habe ich vor kurzem bei Enrique Vila-Matas gelesen, dass er in Barcelona, als er noch sehr jung war, einer von den Schriftstellern gewesen sei, die nichts zu sagen hatten und daher nur Kieselsteine durch die Straßen ihrer eigenen unendlichen Langeweile zu treten wussten.
Und ich wusste, dass meine kurzen Texte eben solche aus purer Langeweile gekickten Kieselsteine waren, wohl wissend, dass er ein erfolgreicher, vielfach übersetzter Schriftsteller ist (ein richtiger!) und ich es wohl nicht weiter bringen würde als zum Kieselsteine kicken.
Es beruhigt mich in dem Zusammenhang wenig, dass Rafael Chirbes (auch ein richtiger!) sagt beziehungsweise schreibt: »Schreiben, auch wenn du nichts im Kopf hast. Es ist das Rad, das sich im Leeren dreht. Aber die Idee ist nicht von vornherein da, sie kommt nach und nach, während du schreibst.«
Oft fand ich für meine Stilübungen tatsächlich nicht einmal einen Kieselstein auf der Straße, den ich hätte treten können, hatte ich doch sprichwörtlich nichts zu sagen, ein Rad im Kopf, das sich im Leeren drehte.
Die Frage ist, worüber ich schreibe – schrieb ich Ende Dezember 2021 – , wenn ich aus meinen vier Wänden kaum herauskomme, außer für gelegentliche Einkäufe oder Spaziergänge, letztere doch immerhin ausgedehnt. Aber auch das Repertoire der Spaziergänge ist eingeschränkt. Natürlich kann ich im Stadtzentrum herumstreunen, das ist aber dieser Tage überrannt von Fußgängern, Taxis und sonstigem Verkehr, laut und hektisch. Außerdem traue ich der Luft, die ich einatme, nicht. Vermutlich mehr CO2 als O2. Auch der Stadtpark ist gut besucht und ich kenne