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Fische, die nicht fressen wollen, ein Besuch des Papstes, Madrider Kneipen, eine Leiche im Abfallsack, eine missglückte Weihnachtsfeier, nächtliche Strassen ... Orte, Eindrücke, Erinnerungen und Träume verknüpfen sich vor dem Hintergrund des Alltags in Madrid zu einem lockeren narrativen Gefüge. Nach der Entdeckung alter Traumnotizen überlässt sich Anna ihren umherschweifenden Gedankengängen und gibt in Gesprächen mit Freundinnen zu, dass sie damit eine Blase schafft, in der sie sich vor dem Lärm der Medien, der Strassen und der Welt schützt. Aber der Moment naht, in dem das Madrider Alltagsleben zum Stillstand kommt und Annas persönlicher Rückzug unversehens zum staatlich verordneten Rückzug wird.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2020
Brigitte Aschwanden ist in der Nähe von Basel geboren und aufgewachsen. Später lebte sie in Madrid, widmete sich dem Tanz und der Performancekunst, bevor sie nach Zürich zurückkehrte, Germanistik und Romanistik studierte und in Zug als Deutschlehrerin arbeitete. Jetzt lebt sie wieder in Madrid.
Nicht im Traum ist ihr zweiter Roman. Zuvor erschien als Book on Demand der autobiografische Roman Wurzelhacken. Erinnerungen (2019).
Ein über jeden Verdacht erhabener Erzähler
Ob ich drehen, schieben oder verzerren soll?
Die Decke könnte einstürzen
Ein Hindernis nach dem andern
Baby in der Bar vergessen
Als ob nichts geschehen wäre
Die Leiche im Abfallsack
Soll ich ihn als Mensch behandeln?
Das konnte nicht gewesen sein
Morgengrauen
Glattes, nichtssagendes Parkett
Eine andere Art von Karussell
Der Retiro
Es regnete in Strömen, als sie aus dem Kino traten. Sehr passend, nach einem Film, der sich A Rainy Day in New York nennt, meinte Eva, während sie ihren winzigen Knirps aus der Handtasche nestelte und zu öffnen versuchte. Für ihre zwei Köpfe reichte es, wenn sie sie zusammensteckten, Schultern und Handtaschen würden nass werden. In dem engen Altstadtsträßchen kamen die Leute auf dem Gehsteig kaum aneinander vorbei. Das Wasser tropfte von den vorstehenden Dächern in die Pfützen und von den Regenschirmen in die Kragen der zwei Frauen. Vor den Kneipen standen unbeirrt die rauchenden Biertrinker herum, so dass Ausweichen und der Schritt ins fließende Wasser im Straßengraben unvermeidlich waren. Also auch nasse Schuhe. Nur schon der Gedanke, sich mit triefendem Schirm und nassen Füssen unter die Menge in einer dieser vollgestopften Kneipen zu drängen, war unangenehm.
Komm, lass uns in die Markthalle gehen, dort gibt es auch jede Menge Buffets und Theken, schlug Anna vor. Madrid ist nicht New York ...
... und wir küssen uns nicht im Regen, fiel Eva ihr ins Wort. Unglaublich, wie romantisch Woody Allen sich gibt.
Auch die Markthalle war gut besucht, der Boden nass wie die Schuhe der Zufluchtsuchenden. Aber an der Theke von Carlotas Käseladen waren zwei Hocker frei, in einer angenehm geschützten Nische etwas weiter weg von den lärmenden und lachenden Samstag-Abend-Ausgehern.
Sie sei Tag für Tag mit Papierkram beschäftigt, seufzte Eva auf die Frage, ob sie nun, nach ihrer Versetzung in den Ruhestand, mehr zum Schreiben komme. Und Anna hatte den Ausdruck »Versetzung in den Ruhestand« bewusst boshaft gewählt. Von Amt zu Amt, und dann auch noch dieser Psychologie-Kongress. Die Vorbereitung ihres Vortrags habe sie wochenlang auf Trab gehalten. Die Poesie muss halt warten, meinte sie resigniert. Ich hoffe aber, dass der Poetik-Workshop bald wieder in Gang kommt, sonst muss ich den Dozenten privat engagieren.
Unterdessen standen zwei Gläser Rotwein vor ihnen und zwei Kugeln einer leckeren Masse aus Roquefortkäse und anderen Zutaten. Da sie schon aufs Schreiben zu sprechen gekommen waren und nicht aufs Lesen, was neben dem Kino auch ein rekurrentes Thema der beiden war, legte Anna dar, was sie zurzeit beschäftigte. Sie habe vor ein paar Tagen alte Traumnotizen gefunden und beim Durchlesen gestaunt, was für skurrile Geschichten da zusammenkämen. Außerdem weckten diese Träume aus vergangenen Tagen in ihr Erinnerungen an weit zurückliegende Ereignisse.
Anna vertiefte sich in ihre Käsekugel, nippte am Rotwein und ließ den Blick über die in die Halle drängende, klatschnasse Menge von Schutzsuchenden schweifen.
Und?, spöttelte Eva. Wirst du mir gleich einen Vortrag über Freud halten? Traumdeutung, und so? Oder beginnst du gleich mit Jung?
Mach dich nicht lustig über mich!, wehrte sich Anna. Ich will meine Träume nicht deuten. Aber ich glaube, mir ist da ein Material in die Hände gekommen, aus dem ich etwas machen sollte.
Eva fragte mit vollem Mund: Was meinst du? Ein Buch?
Na ja, das ist etwas hoch gegriffen, lachte Anna. Aber es stecken schon gute Geschichten in diesen Träumen, die mir da in die Hände gefallen sind. Da bin ich doch einmal zum Bahnhof gegangen, um den Papst abzuholen, in aller Selbstverständlichkeit. Ich habe mich noch darüber gewundert, dass er einfach so im Zug anfahren würde, ohne Tamtam, und mich gefragt, wie ich ihn ins Hotel bringen solle. Im Bus etwa?
Eva lachte.
Soll ich dir die ganze Geschichte erzählen?, fragte Anna.
Nur zu!
Am Bahnhof war es noch zu früh, ich trank etwas in einer Bar, hängte ein bisschen herum, sprach mit den Kellnern, und dann musste ich mich doch beeilen. Aber auf welchem Gleis soll der Papst ankommen? In plötzlichem Stress suchte ich nach der Ankunftstafel, eilte einen Gang entlang, und da sah ich ihn schon mit großen Schritten entgegen kommen, in der Hand einen kleinen Koffer. Die Schöße seines Regenmantels öffneten sich und ließen die weiße Soutane sehen. Ich ging auf ihn zu und stellte mich vor.
»Hallo«, antwortet er, »ich bin Franziskus, sehr erfreut. Und das hier sind meine Mutter und ihr Partner.« Dabei wies er auf ein Paar, das auf uns zukam. Mir fielen die halblangen, dunklen, elegant frisierten Haare der Frau auf und ich dachte: Da sieht man doch, dass ihr Sohn ein erfolgreicher, berühmter Mann ist und sie sich um ihr Auftreten kümmern muss. Außerdem hat sie jetzt sicher keine Geldprobleme mehr und kann sich den Friseur leisten.
Franziskus zeigte sich aufgeräumt, unkompliziert. Nun war da doch ein Auto, und wir stiegen ein. Der Papst und seine Mutter hinten, der Partner der Mutter vorne neben dem Chauffeur, und der Papst hielt mir die Tür auf, damit ich mich hinten neben ihn ins Auto zwängen konnte. Er hatte keinerlei Berührungsängste. Bevor wir übrigens zum Auto gegangen waren, hatte ich die kleine Gruppe an der Bar vorbeigeführt, meine Kellner von vorher gegrüßt und unauffällig auf meine Begleiter gedeutet. Der Papst!, hatten meine Lippen lautlos formuliert und ich hatte mit den Augen gezwinkert.
Eva war der Erzählung amüsiert gefolgt und bestellte nun zwei Gläser Wein, vom selben.
Und noch eine Kugel Roquefort, fügte Anna hinzu, sonst wird mir nächstens schwindlig.
Es sei doch verblüffend, wie ein Traum ohne die geringste Anstrengung eine Geschichte erfinden könne, nahm sie den Faden wieder auf. Sozusagen im Schlaf.
Ja, lachte Eva, und der Traum als Erzähler ist erst noch über jeden Verdacht erhaben! Alles ist möglich und wird mit größter Selbstverständlichkeit erzählt. Und akzeptiert. Den Traum als Erzähler stellt man nicht in Frage, und schon gar nicht wertet man ihn. Und falls du den Traum selber geträumt hast, kannst du dich, was immer du auch im Traum getan hast oder gefühlt, entschuldigend auf dein Unbewusstes berufen. Dich als bewusste Person, also dich als Ich, die den Traum geträumt hat, trifft keine Schuld. Du hast ja geschlafen.
Anna drehte ihr Glas zwischen den Fingern und blickte eher skeptisch. Es gebe schon Träume, wo ihr ihr Unbewusstes ziemlich auf den Wecker gehe, meinte sie.
Ich gehe mir mehr auf den Wecker, wenn ich mich erinnere, als wenn ich träume, entgegnete Eva. Ich würde sogar behaupten, es gibt Erinnerungen, die ich nie erzählen würde. Aber leg sie einem Traum in den Mund, lass ihn als Erzähler fungieren, und du wirst sehen, es klingt ganz akzeptabel. Schließlich ist es nur ein Traum.
Zum Beispiel?, fragte Anna, die ihren Blick nicht vom beschlagenen Glas der Eingangstür abwendete, an dem die Regentropfen in fröhlichen Schlangenlinien hinunterglitten.
Pff. Eva ließ die Luft zwischen ihren Lippen hindurch entwischen, während sie kurz überlegte. Du kannst beliebige Szenen aus einer Ehe nehmen. Solche, wie sie Ingmar Bergman erzählt, zum Beispiel. Wir würden uns scheuen, solche unangenehmen Erfahrungen auszupacken. Na ja, auch er schiebt die Fiktion des Films vor.
Anna nippte an ihrem Wein und machte sich hinter die zweite Käsekugel, während sie ihrer Freundin interessiert zuhörte.
Soll ich als Beweis eine solche Szene in Traumformat erfinden?, fragte diese. Pass auf.
Wir sitzen in einem Auto. Mein Mann, unser fünfjähriger Sohn und ich. Das Auto holpert über einen Feldweg und die letzten Meter legen wir auf der Wiese zurück. Wir sind auf einem Campingplatz irgendwo in den Bergen. Das kleine Zelt ist schnell aufgestellt. Andere Zelte sind keine zu sehen. Nach dem Abendessen (belegte Brote?) richte ich mich gemütlich ein, breite die Schlafsäcke auf dem Zeltboden aus und ziehe mich mit dem Kleinen ins Innere zurück. »Ich fahre jetzt ins Dorf hinunter«, sagt mein Mann, »Eliana wohnt dort. Wir haben uns verabredet. Es ist ganz in der Nähe.«
Eliana? Ich habe keine Ahnung, wer das ist, antworte auch nicht, da mir das Vorhaben absolut unverschämt vorkommt. Wir sind hier schließlich auf einem gemeinsam geplanten Wochenendausflug! Und abgesehen davon ist weit und breit keine Seele! Ich alleine mit dem Jungen auf einer Kuhweide in den Bergen! Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, der Kleine soll nicht denken, dass da etwas nicht in Ordnung ist, und Angst bekommen.
Nach zwei, drei Geschichten schläft der Junge und ich lese noch ein wenig mit Hilfe der Taschenlampe. Als ich das Licht ausmache, werde ich mir der immensen Dunkelheit um mich herum bewusst. Ich muss eingeschlafen sein, denn nun höre ich Geräusche. Tiere! Es ist stockdunkel im Zelt. Ich bin wieder hellwach. Mein Sohn schlummert friedlich, der dritte Schlafsack ist immer noch leer. Die Geräusche kommen langsam näher. Wildschweine? Ich habe Angst. Was immer auch passiert, hier ist niemand, den ich um Hilfe bitten könnte. Und er weiß das! Er weiß, dass er seine Frau und seinen Sohn mitten in der Nacht alleine auf einer gottverdammten Waldlichtung zurückgelassen hat. Es ist eine Kuh, die sich dem Zelt nähert. Ich höre, wie sie das Gras wegzupft und kaut, Erleichterung. Kühe sind nicht gefährlich. Aber was, wenn sie über die Zeltschnüre stolpert und uns unter sich begräbt? Allmählich wird die Angst von einer unheimlich großen Wut abgelöst. Als ich erneut aufwache, ist draußen heller Sonnenschein, er schläft und schnarcht im Schlafsack und die Wut ist immer noch da. Sie legt sich über die ganze Welt. Auch die sonnenbeschienene Wiese, das Vogelgezwitscher, der Duft nach Pinienwald sind wuterfüllt. Wie soll ich diese Wut vor dem Sohn verbergen, der sich jetzt verschlafen die Augen reibt?
Ich bemühe mich um einen unbeschwerten Ton, begrüße ihn und sage, er solle Papa bitten, ihm das Frühstück zu machen. Dann marschiere ich in den Wald. Laufen, laufen, laufen. Das einzige, wozu ich fähig bin. Der Wald endet an einem Abhang. Weit, weit unterhalb der Felsfluh sehe ich das Dorf, wo er die halbe Nacht verbracht hat.
Als ich von dem ausgedehnten Spaziergang zurückkomme, sind die Onkel, Tanten und Cousins bereits angekommen. Ich hatte keine Ahnung, dass wir den Sonntag zusammen verbringen würden. Er muss das ohne mich arrangiert haben. Vermutlich kurzfristig. Und nun würde ich den ganzen Tag lachen müssen.
Eva schwieg und sah ihre Freundin erwartungsvoll an.
Komm schon! Jetzt lachte Anna ihrerseits. Das hast du nicht frei erfunden, jetzt, während du erzählt hast! Gib zu, das hast du wirklich geträumt!
Eva nahm den hingeworfenen Handschuh auf: Vielleicht habe ich es auch wirklich erlebt!, und sah Anna herausfordernd in die Augen.
Na, dann würde ich endlich verstehen, warum du geschieden bist! Prost!, und Anna hob ihr Glas.
Erst jetzt bemerkten sie, dass schon wieder kein Wein mehr drin war. Und dass sich die Markthalle ziemlich geleert hatte und dass an der Glasscheibe der Eingangstür keine Tropfen mehr hingen. Carlota konnte nun, nachdem der Besucheransturm nachgelassen hatte, endlich verschnaufen. Sie kam hinter dem Tresen hervor und setzte sich zu ihnen, nachdem sie die Gläser nachgefüllt hatte, sich selber auch eins.
Sagt bloß nicht, ihr sprecht über Männer, bemerkte sie, weil sie die letzten Worte mitbekommen hatte.
Ganz sicher nicht!, konterten die beiden entrüstet. Wir erzählen uns Träume!
Anna hat sie über Jahre hinweg aufgeschrieben, ergänzte Eva.
Carlota schaute erstaunt. Ich falle abends ins Bett und schlafe wie ein Stein. Zum Träumen habe ich keine Zeit, und zum Aufschreiben schon gar nicht. Wüsste nicht, wann. Um acht Uhr muss ich schon wieder hier sein.
Zum Träumen hast du die ganze Nacht Zeit! Und du träumst ganz bestimmt. Bloß zum Erinnern und Aufschreiben kommst du nicht, erwiderte Eva.
Jetzt, wo du das sagst ... Carlota ließ den Wein genüsslich über die Zunge gleiten. An Träume erinnere ich mich nicht. Ich meine, an ganze Abläufe oder Geschichten, aber manchmal bleibt ein besonders intensives Bild hängen. Und eines ist mir geblieben, obwohl Jahre vergangen sein müssen. Es hat mit meiner Großmutter zu tun, die damals schon sehr, sehr alt war und ihr Bett kaum mehr verließ.
Carlotas Blick verlor sich irgendwo in der nun ruhig daliegenden Markthalle.
Sie lag in einem stattlichen Bett, das so groß war, dass ich selber im Schneidersitz neben ihr auf dem weißen Laken Platz hatte. Ich saß dort und betrachtete sie. Ihr Kopf mit dem ungekämmten weißen Haar ruhte auf einem schneeweißen Kissen. Sie war sehr bleich und trug ein ebenfalls weißes Nachthemd voller Rüschen und Spitzen, die ihren Hals vollständig verbargen ... Es könnte auch ein Kleid gewesen sein ... Im Stil des 19. Jahrhunderts ...
Viktorianisch, wie die Frauen in diesem Film über Oscar Wilde, meinst du?
Carlota hatte den Einwurf nicht gehört, sie war in ihrer Vorstellung weit weg.
Insgesamt ein Bild in Weiß- und Grautönen, denn im Zimmer herrschte Dämmerlicht. Ich saß also dort auf dem Bett und schraubte den Kopf meiner Großmutter ab. Als ob es eine Puppe wäre. Ich hielt den Kopf einen Moment lang in der Hand, betrachtete ihn. Dann schraubte ich ihn wieder an.
Und? Die beiden Zuhörerinnen blickten sie gebannt an.
Und nichts. Das war es. Das Bild. Und jetzt muss ich euch rauswerfen. Morgen ist schon bald.
Tatsächlich waren sie die Letzten, die sich nun auf den Heimweg machten. Alle Markthallenstände waren geschlossen, auch die Wermut- und die Ceviche-Bar, alle Imbissbuden, die Pizzeria und das Sushi-Restaurant. Dort, wo sich tagsüber Äpfel, Birnen, Trauben, Auberginen, Zwiebeln und allerlei anderes Obst und Gemüse zu bunten, hohen Bergen auftürmten, wo Sardinen neben Seebarschen und Doraden auf dem schmelzenden Eis ihre Augen aufsperrten und Pouletschenkel- und brüstchen in Reih und Glied auf ihre Käufer warteten, starrten nun die Stände mit den leeren Augen ihrer heruntergelassenen metallenen Rollläden schweigend auf die menschenleeren Gänge.
Liebe Eva.
Ich hänge dir einen Traum an (= original Traumnotiz vom Mai 2015), einfach weil er (der Traum) sich so Mühe gegeben hat. Ich habe den Text nicht ins Spanische übersetzt, aber du kannst ihn sicher gut verstehen.
Danke für gestern Abend und bis bald.
Anna
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Elektronische Oper
Wir spielen Musik für eine Aufführung, live. Ich soll, ich darf einen elektronischen Tonerzeuger bedienen, dessen Knöpfe und Schieber ich nicht verstehe, aber das macht Spaß. Ich drehe an einem Knopf, ein tiefer, mehrstimmiger Ton erklingt, ich lasse den Schieber nach oben gleiten, der Ton biegt, wölbt, verzerrt sich. Und er passt gut zur Handlung auf der Bühne. Als ob es die Musik einer Oper wäre und der Figur aus dem Mund strömte. Ich drehe, schiebe, stoße, bin völlig in meinem Element.
Nach dem ersten Akt muss die Bühne verlegt werden, wir Musiker befinden uns nicht mehr in Blickkontakt, und trotzdem muss der Ton genau zu den Bewegungen der Figuren passen. Jemand, der an einem Ort steht, der den Blick auf die Bühne ermöglicht und gleichzeitig Blickkontakt mit den Musikern garantiert, übernimmt die Aufgabe, mich zu dirigieren. Mittels Gesten wird er mir zeigen, wann ich einsetzen soll, ob ich drehen oder schieben oder verzerren soll. Jetzt läuft nicht mehr alles so ruhig, geradezu gemütlich ab. Alle sind angespannt, gereizt. Vor allem der Dirigent des Orchesters, das anscheinend auch vor Ort ist. Der zweite Akt sollte beginnen, aber ich sehe den Dirigenten von der Bühne her das Sträßchen herunter zu uns laufen. »Hast du mir meinen Frack bereitgelegt?«, fährt er einen meiner Kollegen an. Dieser fällt aus allen Wolken. »Nein!« Nun rastet der Dirigent aus, beginnt zu schreien, schnappt sich seinen Frack (das Jackett) und läuft das Sträßchen wieder hinauf Richtung Bühne. Gleichzeitig versucht er, mit den Armen rudernd in sein Jackett zu schlüpfen.
Und, hast du den Traum gelesen? fragte Anna am nächsten Abend, kaum hatten sich die Türen der U-Bahn hinter ihnen geschlossen.
Ja, meinte Eva, während sie sich nach freien Sitzplätzen umsahen, dein Traum hat ganze Arbeit geleistet. Auf die Idee mit der elektronischen Musik, die aus dem Mund zu klingen scheint, muss man erst mal kommen.
Zwei junge Männer standen auf und machten Platz. Das Alter hatte seine Vorteile!
Fantastisch! Nicht? Anna wühlte in ihrer großen Tasche und zog ein Bündel bedruckter Blätter hervor, während neben ihnen ein alter Mann ein Wägelchen mit darauf festgebundenem Lautsprecher in Position brachte und ein Mikrofon zum Mund führte. Dann begann er zu singen, so grässlich, wie Anna es selten gehört hatte. Dank dem Playback konnte sie erkennen, dass es sich um Yellow Submarine handelte. Nein, kein Playback, der Mann spielte auf seinem Apparat eine komplette Version, aber nicht der Beatles, und sang mit. »Singen« war viel gesagt. Zum Schluss bat er um eine kleine Unterstützung der Live-Musik und klapperte mit einem Plastikbecher herum.
Nimmt mich wunder, was der unter »live« versteht, meinte Eva und wandte sich wieder Anna mit ihren Blättern zu.
Hier, meine gesammelten Traumnotizen. Ich habe sie transkribiert. Meistens waren sie auf Zettel gekritzelt, andere habe ich in alten Tagebüchern als Einschübe gefunden. Die älteste Traumnotiz stammt von 1976, die letzten, die ich gefunden habe, sind von 2015. Elektronische Oper ist eine dieser letzten Notizen. Ich habe ...
Na ja, »Notizen« klingt in diesem Fall eher bescheiden, kam Eva dazwischen. Auch du hast dich beim Aufschreiben ins Zeug gelegt, nicht nur der Traum beim Träumen.