Vorboten - Jürgen Heimbach - E-Book

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Jürgen Heimbach

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Beschreibung

Wieland Göth kehrt ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg in sein besetztes Heimatdorf zurück. In den schlammigen Straßen und Gassen patrouillieren französische Soldaten zwischen misstrauischen Dörflern und verbitterten Bauern. Abgeblätterte Plakate künden von dem Verschwinden einer jungen Frau – Wielands Schwester. Ein ehemaliger russischer Zwangsarbeiter wird verdächtigt, sie ermordet zu haben. Wieland versucht, ihr Verschwinden zu verstehen, aber die Dorfbewohner haben ihr Urteil längst gefällt. Als ein Separatist ermordet wird, heizt sich die Stimmung immer mehr auf. In Hinterzimmern und in Predigten verschleiert fordern nationale Kräfte die Freiheit des deutschen Volkes. Wieland gerät zwischen die Fronten und muss bald nicht nur sein eigenes Leben schützen.

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Über dieses Buch

Wieland Göth kehrt nach dem Ersten Weltkrieg in sein Heimatdorf zurück. In den schlammigen Straßen patrouillieren französische Soldaten, ein Mord an einem Separatisten sät Unruhe. In Hinterzimmern fordern nationale Kräfte die Freiheit des deutschen Volkes. Wieland gerät zwischen die Fronten und muss bald nicht nur sein eigenes Leben schützen.

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Jürgen Heimbach (*1961) studierte nach einer kaufmännischen Ausbildung Germanistik und Philosophie und arbeitet als Redakteur für 3sat. Sein Werk umfasst Romane, Jugendbücher und Kurzgeschichten. Sein Roman Die Rote Hand wurde 2020 mit dem Glauser-Preis für den besten Kriminalroman ausgezeichnet.

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Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jürgen Heimbach

Vorboten

Kriminalroman

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Lektorat: Susanne Gretter

© by Jürgen Heimbach 2021

© by Unionsverlag, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jack Carey (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31104-6

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Version vom 26.01.2023, 15:27h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

VORBOTEN

Die Stimme des Mädchens1 – Wieland Göth blickte von der Anhöhe hinunter in …2 – Müde?«, knurrte der Mann auf dem Kutschbock …3 – Es war kaum drei Wochen her, da waren …4 – Das Gehen auf dem aufgeweichten Boden fiel ihm …5 – Das Dorf Rombelsheim, das bei Kriegsbeginn knapp fünfhundert …6 – Wieland hatte sein Elternhaus schon früh gehasst und …7 – Die Schreie einer Kuh weckten Wieland früh am …8 – Er eilte zum nächsten Haus. Es gehörte dem …9 – In einem Schrank im Badezimmer fand Wieland das …10 – Als er die Kirche erreichte, lag das Dorf …11 – Wieland eilte zurück zum Hof des Bauern Neubert …Die Stimme des Mädchens12 – Else war in der Nacht eine ferne Gestalt …13 – Er ging den Weg zurück nach Rombelsheim …14 – Die nächsten beiden Tage verbrachte Wieland im Haus …15 – Am nächsten Tag verließ Wieland früh am Morgen …16 – Karl-August Grün und seine Frau Walburga erwarteten Wieland …17 – Wieland griff nach einer leeren Flasche, starrte sie …18 – Die Dorfstraße lag im Dunkeln. Im Lichtschein einer …19 – Wieland folgte dem Mann bis vor die Wirtschaft …20 – Mami, Mami. Da kommt der Mann!« Aufgeregt lief …21 – Wieland verkroch sich die nächsten beiden Tage im …22 – Wieland hatte nicht mehr an das Glockenfest gedacht …23 – Am Morgen kam Gudrun ins Schlafzimmer ihrer Mutter …24 – Der nächste Tag begann mit einem heftigen Streit …25 – Es war völlig dunkel in der Küche …26 – Da lang«, sagte Willi und zeigte auf die …27 – Der Mittag war schon vorüber, als Wieland das …28 – Wieland verließ das Schulhaus und machte sich auf …29 – Sie waren zu viert, und sie kannten sich …30 – Erschöpft ließ sich Wieland auf das Strohlager fallen …31 – Josepha hatte die Nacht über an Olegs Bett …32 – Kann ich trotzdem noch zum Film?«, fragte Apollonia …33 – Zu dritt eilten sie zum Gut des Grafen …Die Stimme des MädchensNachwortDanksagung

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Die Stimme des Mädchens

Ich weiß schon seit einer Woche, dass er kommen wird. Und jetzt steht er da, wie in meinem Traum. Er steht auf der Straße und blickt zum Fenster hoch. Trotzdem bin ich erschrocken und schnell zurückgewichen. So schnell ich konnte. Und ungeschickt, wie ich bin, habe ich natürlich den Vorhang berührt. Er hat bestimmt bemerkt, wie er sich bewegt hat.

Wovon er wohl träumt? Vom Krieg?

Von seiner Mutter? Ob ihm jemand gesagt hat, dass sie tot ist?

In meinen Träumen ist er oft gestorben.

Ich habe ihn sofort erkannt. Trotz des Bartes, trotz seiner dünnen Gestalt, trotz der schmutzigen, zerrissenen Kleidung. Wie eine Vogelscheuche sieht er aus. Der verlorene Blick, die Unsicherheit, als frage er sich, ob er umkehren oder weitergehen soll. Sieben Jahre ist er fort gewesen. Sieben Jahre wurde er vergessen. Niemand hat etwas von ihm gehört. Gefallen, hieß es schon in den ersten Kriegstagen. Dann, dass er verwundet in einem Lazarett liege, blind vom Gas. Einer von den Gueules cassées sei er, einer von denen mit den zerschlagenen Fressen. Andere wollten wissen, dass er sich gedrückt und in der Etappe vergnügt habe, während seine Kameraden starben, verwundet und zu Krüppeln geschossen wurden. Wieder andere behaupteten, er sei mit den Freikorps gegangen. Seltsam. Ausgerechnet er. Zu seinem Bruder Wolfgang hätte das gepasst. Ihr Vater, der Dorflehrer, kam aus der Stadt. Niemand im Dorf hätte seine Söhne Wolfgang und Wieland genannt. Wolfgang hat sich oft geprügelt, ist früh den Mädchen nach, war immer einer von den Lauten. Wieland war anders. Schmal, verletzlich, ist in der Stadt zur Schule gegangen. Und dann in den Krieg. Freiwillig, wie es hieß. Aber genau wusste das niemand. Er war ja schon ein Jahr vor dem Krieg fortgegangen aus dem Dorf. Keiner hat verstanden, warum. Es gab nur Gerüchte. Wolfgang ging auch, aber das war so klar wie das Amen in der Kirche. Und jetzt? Wolfgang ist als Krüppel zurückgekehrt, vom Krieg zerschossen. Nicht nur am Bein, das ihn zum Hinken zwingt, wurde er getroffen. Vor allem im Kopf. Oder in seiner Seele, wie der Herr Pfarrer sagt. Ein Kriegszitterer. Wegen all den Granaten, die auf ihn geschossen wurden. Und verschüttet war er zweimal. Wieland sieht gesund aus. Oder fast. Seine rechte Schulter hängt ein wenig. Warum ist er jetzt gekommen? Hat er vielleicht doch erfahren, dass seine Mutter tot ist? Es ist schon drei Jahre her, dass Wolfgang sie gefunden hat. In dem alten Schulraum hing sie an einem Strick. Ganz kalt und steif war sie. Der Arzt aus der Stadt hat gesagt, dass sie schon mindestens drei Tage dort hing. Ihr Mann, sein Vater, der Dorfschullehrer, der lag oben in seinem Zimmer, hinter den Vorhängen, die schon seit Jahren nicht mehr aufgezogen worden waren. Lag da oben, und sie hing da unten. Manchmal hört einer, der am Haus vorbeigeht, die Schreie von seinen Schmerzen. Keiner im Dorf hat geglaubt, dass er so lange leben, dass er so lange durchhalten würde.

Wieland steht da unten, wie in meinem Traum, der mich in dieses Haus, hinter dieses Fenster geführt hat, nur Flügel und Schwert fehlen, und das Feuer. Müde sein Blick. Das erkenne ich trotz der Entfernung.

In meinem Traum ist er mit dem Schwert durchs Dorf gerast. Um wieder Ordnung herzustellen. Eine andere Ordnung als die, die sich einige hier wünschen. Ich weiß, dass meine Träume wahr sind. Auch wenn alle denken, dass ich verrückt bin. Schriftsteller sind Verrückte.

Früher hat Wieland Stimmen gehört. Das weiß kaum einer. Einmal habe ich ihn mit seiner Mutter auf einem Hügel sitzen sehen. Wenn sie bei ihm war, haben die Jungen aus dem Dorf nicht gewagt, ihn zu schlagen oder zu bespucken. Sie nahm ihm die Angst, wenn er die Stimmen hörte. Von den Tieren. Vom Rauschen des Windes in den Ästen. Von den Liedern der Frauen auf den Feldern bei der Ernte. Vom Gebrüll der Toten auf dem Friedhof. Oder auch nur die Stimmen all der Geschöpfe in den Büchern, die er immer bei sich trug und las, während die anderen spielten, sich prügelten, Streiche ausheckten, den Mädchen imponieren wollten.

Seine Mutter war eine schöne Frau. Ich habe nie verstanden, warum sie in das Dorf zurückgekommen ist. Mit dem Lehrer. Sie hätte in der Stadt bleiben sollen. Einen Professor heiraten. Sie war eine Stadtfrau. Schön und groß und stolz. Und schlau. Wie Wieland, das hat er von ihr. Der Pfarrer hat gesagt, sie sei zu schlau. Dass es nicht gut sei, wenn Frauen schlau sind. Sie ging immer aufrecht. Sie hatte einen strengen Blick. Viele machten einen Bogen um sie. Mir gefiel das. Im Sommer ging sie mit dem Korb unterm Arm raus, um Beeren zu sammeln. Und manchmal nahm sie den kleinen Koffer, in dem sie ihre Nähsachen aufbewahrte, und brach zum Grafen auf. Ich habe einmal gesehen, wie der Graf sie in seiner Kutsche zurück ins Dorf gefahren hat. Er selbst saß auf dem Kutschbock, sie neben ihm, ein Stück weggerückt. Und als er das Pferd zum Halten gebracht hatte, ist sie heruntergesprungen und mit dem Fuß umgeknickt. Trotzdem ist sie schnell weggehinkt. Ohne Schmerzen zu zeigen. Der Graf hat ihr etwas nachgerufen. Aber sie hat sich nicht einmal umgedreht. Ist einfach in den Ort hinein und der Graf ihr nicht nach. Wieland, der hinter einem Baum stand, hat alles beobachtet.

Jetzt steht er wieder da unten, schaut die Dorfstraße entlang. Bestimmt steigt ihm der Gestank aus den schmalen Abwasserrinnen in die Nase. Er sieht noch einmal kurz zu meinem Fenster herauf, dann dreht er sich um, blickt zu dem kleinen Hügel hinter dem Dorf, auf dem der Friedhof liegt.

1

Wieland Göth blickte von der Anhöhe hinunter in das Tal, durch das in seinem breiten Bett der Rhein floss. Im Norden konnte er die Türme der Kirchen sehen, die die Dächer der Häuser von Mainz überragten. Schon zweimal hatte er die Stadt besucht, aber das war früher, als er im Begriff war, zum Mann zu werden. Das erste Mal war er mit seinem Vater dort, der sich auf eine Stelle an einem Gymnasium beworben hatte. Sie waren aus dem Dorf im rheinhessischen Hinterland angereist, in dem er aufgewachsen war. Beim zweiten Mal hatte er seinen älteren Bruder Wolfgang zur Musterungskommission für das Deutsche Heer begleitet. Sein Vater hatte darauf bestanden, weil er hoffte, dass seine so unterschiedlichen Söhne sich dabei näherkommen würden. Es war ein Desaster, Wieland brach die Reise ab und kehrte Tage vor seinem Bruder zurück ins Elternhaus. Die Stadt hatte keinen großen Eindruck bei ihm hinterlassen, und in das Dorf seiner Kindheit, in dem er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, wollte er nicht mehr zurückkehren. Doch nun, nach sieben Jahren und einem Krieg, der ihn weit fortgeführt hatte, hatte er seinen Vorsatz verworfen. Er kehrte zurück mit dem Ziel, einen Mann zu töten.

2

Müde?«, knurrte der Mann auf dem Kutschbock. Mit einem Schlag aus dem Handgelenk ließ er die Peitsche auf das Maultier vor ihm niedergehen, das unbeeindruckt die Geschwindigkeit hielt. Der Kutscher kaute auf dem Rest eines kalten Stumpens.

Mühsam quälte sich das Fuhrwerk über den vom Regen aufgeweichten Boden.

Wieland Göth, der neben ihm saß, gab ein ebenso lakonisches »Ja!« von sich. Seine Kleidung war feucht und schlammbespritzt, seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Zwischen seinen Füßen stand ein vor Dreck starrender Rucksack. Bei jedem Holpern des Fuhrwerks drückte er seine Beine zusammen, damit das Gepäckstück nicht vom Bock rutschte.

»Von weit her?« Mit den Worten wehte ihn kalter Zigarrenatem an.

»Süden«, log Wieland und schaute auf ein Feld zu seiner Rechten, wo ein Bauer hinter seinem Pflug herlief, der von einem ausgemergelten Ochsen gezogen wurde. Ein Kind, nicht älter als fünf oder sechs, wieselte um das Tier herum und trieb es mit einem dünnen Ästchen an.

»Und wohin?«, wollte der Kutscher wissen.

Wieland wartete mit der Antwort, bis der Kutscher das Fuhrwerk um ein tiefes, mit Regenwasser gefülltes Loch gelenkt hatte.

»Rombelsheim«, sagte er schließlich.

»Zum Grafen?«

Der Kutscher zog jetzt seinen grauen Hut tiefer in die Stirn, und Wieland sah weiter vor sich hin. »Wieso zum Grafen?«, fragte er zurück.

»Nur so.« Der Kutscher kaute vernehmlich auf seiner Zigarre. »Bekommt im Moment öfters Besuch, der Graf. Aus der Stadt.«

Wieder vergingen einige Sekunden, bis Wieland reagierte. »Und was für Leute sind das?«

»Woher soll ich das wissen? Aus der Stadt eben. Sieht man.«

»Was machen die beim Grafen?«

»Warum wollen Sie das wissen?« Etwas Lauerndes lag in der Frage des Kutschers. Er ließ die Peitsche durch die Luft zischen. Das Tier zeigte wieder keine Reaktion.

»Reden«, antwortete er schließlich. Er nahm den Stumpen aus dem Mund, spuckte aus, wischte sich den Nieselregen aus dem Gesicht. »Was man halt machen kann.«

»Was machen?« Wieland versuchte, desinteressiert zu klingen.

Der Kutscher blickte den Mann neben sich an, als habe er einen Idioten vor sich. »Gegen die Franzosen. Gegen die Verräter. Sind Sie doch auch gegen, oder? Sonst können Sie gleich runter vom Bock.«

»Verräter«, wiederholte Wieland nur, aber das schien dem Mann zu genügen.

»Mehr weiß ich auch nicht.« Wieder sah er zu Wieland hinüber. »Sie sehen aus, als kämen Sie gerade aus dem Feld.«

»Der Krieg ist nie zu Ende.«

Der Kutscher gab ein zustimmendes Knurren von sich, darin etwas wie »Unbesiegt«, kurz darauf brachte er das Fuhrwerk an einer Abzweigung zum Stehen. »Da lang!« Er deutete mit seiner Peitsche geradeaus.

Wieland griff seinen Rucksack und kletterte vom Bock.

»Wenn Sie sich was verdienen wollen …« Der Kutscher verschluckte ein Lachen und wies mit der Peitsche zu den zwei einsam am Wegesrand stehenden Bäumen. An einem hing ein Plakat, von der Feuchtigkeit mitgenommen, die Ecken eingerollt. Wieland trat näher heran. Zwei Gesichter waren darauf abgebildet, Zeichnungen, die Konturen noch zu erkennen. Darunter die Aufforderung, den Mann, den Mörder des neben seinem Konterfei abgebildeten Mädchens, zu melden. Trotz des schnellen und nicht sehr gekonnten Strichs war zu erkennen, dass er ein junger hübscher Bursche war. Wie auch das Mädchen. Wieland sah den Ernst in ihren Augen, die Entschlossenheit, die sie schon als kleines Mädchen gezeigt hatte, eine Unnachgiebigkeit, für die sie mit vielen Schmerzen hatte bezahlen müssen.

»Dreihundert Reichsmark«, rief ihm der Kutscher zu. »Hat der Graf gespendet.«

Wieland betrachtete noch immer die Zeichnung, während er hinter sich das Zischen der Peitsche hörte, dann rumpelte das Fuhrwerk los.

Er marschierte in die Richtung, die ihm der Kutscher angezeigt hatte.

3

Es war kaum drei Wochen her, da waren sie in das Krankenzimmer gekommen und schnurstracks auf sein Bett zugelaufen. Sie hatten ihn lange angesehen, einander zugenickt, ihn wieder ins Visier genommen.

Ins Visier, genau so hatte er das wahrgenommen.

Ein Mann und eine Frau. Sie war eine der Krankenschwestern, und ihr Gesicht war ihm bekannt vorgekommen, er überlegte, wo er ihr schon einmal begegnet war. Erst später war es ihm eingefallen. Ihr Blick war ernst und durchdringend. Als wollte sie einen Gedanken in seinen Kopf pflanzen.

Der Mann an ihrer Seite war älter. Nicht groß, dafür korpulent. Das Sprechen überließ er ihr. Aber die Vertrautheit zwischen den beiden war deutlich spürbar. Nicht die Vertrautheit von Verliebten. Eher die von Verschworenen. Dann waren sie gegangen, und er hatte seinen Entschluss gefasst.

Schon Tage vor dem Auftauchen der beiden kursierten in der Hauptstadt Gerüchte, dass ein Putsch nationalistischer Offiziere bevorstünde. Sie hatten auch Wieland Göth in seinem Zimmer im zweiten Stock des Berliner Lazaretts erreicht. Er wollte nicht riskieren, in den Wirren von Straßenkämpfen aufgehalten zu werden. Deshalb hatte er am Tag nach dem Besuch der beiden ein paar Medikamente eingesteckt und das Krankenhaus gegen die Anweisung des Arztes früh am Morgen verlassen.

In einem Zugabteil der dritten Klasse erfuhr er, wenige Kilometer hinter Berlin, dass aus dem Gerücht eine historische Tatsache geworden war. Unter der Führung eines Generals von Lüttwitz hatten sich Teile der Reichswehr und ehemalige Angehörige der alten Armee und Marine gegen die demokratisch gewählte Regierung erhoben. Wenig später endete für Wieland die Zugfahrt. Ein Generalstreik legte fast den gesamten Bahnverkehr im Reich lahm, und er war gezwungen, einen großen Teil seines Wegs zu Fuß zurückzulegen.

Hin und wieder zeigte ein Bauer oder ein fliegender Händler Erbarmen und nahm ihn für eine kurze Strecke auf seinem Fuhrwerk mit. Als Tage später der Bahnverkehr wieder aufgenommen wurde, lag die Hauptstadt schon sehr weit hinter ihm.

Nun blickte er zurück zu dem Posten mit dem geschulterten Gewehr und dem Adrian-Helm, den er gerade passiert hatte, um Zutritt in das besetzte Rheinland zu erhalten. Drei Stunden hatte der französische Feldwebel ihn warten lassen, seine Papiere wieder und wieder geprüft, Rücksprache gehalten, Fragen gestellt. Wieland hatte verschwiegen, dass er aus der Hauptstadt kam, erklärt, was nicht gelogen war, seine Eltern besuchen zu wollen. Verschwiegen hatte er aber auch, dass er seit Jahren nicht mehr in Rombelsheim gewesen war.

Auf der sich kräuselnden Oberfläche des Rheins flimmerten die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages. Um fünf Uhr hatte der Posten ihn endlich durchgewunken. Und ihn darauf hingewiesen, dass um sechs Uhr am Abend die Sperrstunde begann.

Müde schleppte er sich in die Stadt, schlurfte durch die engen, stinkenden Gassen, sprang zur Seite, als eine Straßenbahn, die er nicht beachtet hatte, hinter ihm laut bimmelte. Überall französische Soldaten, zu denen die Stadtbewohner gebührend Abstand hielten. An einem Brunnen wusch er sich sein Gesicht, trank ein paar Schlucke Wasser, biss in das letzte Stück Brot, das er noch bei sich trug, da tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum und blickte in das ausgezehrte Gesicht einer alten Frau, die ihn kurz musterte und ihm dann mit dünner Stimme empfahl, bald von der Straße zu verschwinden. Der Franzose verstünde keinen Spaß. Besonders, nachdem vor ein paar Tagen ein Separatist umgebracht worden war. Mit einem Bajonett erstochen, fügte sie noch an. Dann war sie auch schon weg. Er sah sie noch auf ein Plakat spucken, das den Besuch des Marschalls Pétain in der Stadt und einen Aufmarsch der französischen Truppen für den 23. Mai ankündigte. Dann waren die Schritte schwerer Stiefel zu hören. Wieland nahm seinen Rucksack und schlich davon, hielt Ausschau nach einem Schlafplatz. In einer schmalen Gasse, nahe einer Kohlehandlung, lief ihm eine Katze über die Füße, hielt kurz inne, sah vorwurfsvoll zu ihm auf, um dann unter einer Treppe zu verschwinden. Wieland, noch immer die Geräusche der Stiefel im Ohr, hatte sich gebückt und war dem Tier unter die Treppe gefolgt. Leidlich windgeschützt unter einer zerschlissenen Armeedecke hatte er den letzten Schluck Wein aus der Flasche getrunken, die ihm ein Winzer unterwegs zugesteckt hatte. In der rechten Hand hielt er sein Messer, wie in jeder Nacht, seit er wieder in Deutschland war. In Bremerhaven war er wegen einem Stück Brot überfallen und an der Schulter verletzt worden, eine Wunde, die er in Berlin hatte behandeln lassen müssen.

Er war von einem Geräusch geweckt worden, nicht mehr als das Schaben eines ungeschickt bewegten Fußes, vielleicht ein oder zwei Meter von ihm entfernt. Doch bevor er sich aus der Decke herausschälen konnte, war schon jemand über ihm gewesen, und eine Hand drückte seine Kehle zu, eine andere versuchte, ihm das Messer zu entwenden.

»Das ist mein Platz!«, zischte ihm jemand mit Alkoholfahne ins Gesicht. »Mein Platz! Ich bring dich um!«

In dem Moment war die Katze zwischen die beiden Männer gesprungen. Wieland hatte die kurze Verwirrung des Angreifers genutzt, nach seiner leeren Weinflasche gegriffen und sie dem Mann auf den Schädel geschlagen. Das Glas zerbrach, der Mann taumelte, zischte ihm ein wütendes »Ich bring … dich … um!« entgegen. Wieland hatte ihm den abgeschlagenen Flaschenhals ins Gesicht gerammt. In Erwartung eines neuen Angriffs hatte er schon nach seinem Messer gegriffen, um im richtigen Moment zustechen zu können. Doch der Angreifer hatte nur »Mein Auge! Mein Auge!« gewimmert.

Langsam beruhigte sich Wielands Atem. Er packte seine Sachen zusammen und kroch unter der Treppe hervor, sah sich um, trat, als er sicher war, dass niemand in der Nähe war, auf die Straße und lief im Schutz der Hauswände die Gassen entlang durch die Stadt in die Nähe des Bahnhofs, ohne einem patrouillierenden französischen Soldaten zu begegnen.

Am nächsten Morgen hatte er sich von dem wenigen Geld, das er noch besaß, ein Billett nach Bad Kreuznach gekauft. Im Abteil war er sogleich in einen Dämmerschlaf gefallen, bis ein Schaffner ihn rüde anstieß, um seine Fahrkarte zu kontrollieren, und ihn dabei mit unverhohlener Abscheu anstarrte. Er war gleich wieder eingeschlafen und hätte um ein Haar den Halt in der Kurstadt an der Nahe verpasst. Beim Sprung aus dem schon abfahrenden Zug stolperte er mit seiner verletzten Schulter gegen einen Lichtmast und stöhnte auf.

Er wartete, bis der Schmerz nachließ. Ein Stück hinter der Stadt hatte ihn dann der Kutscher mitgenommen, der jetzt hinter einer Biegung verschwand.

4

Das Gehen auf dem aufgeweichten Boden fiel ihm schwer. Immer wieder musste er Pausen einlegen, bis er schließlich den kleinen Friedhof oberhalb des Dorfes erreichte, das versteckt in einer Senke lag. Nur die Kirchturmspitze, die sich gegen den grauen Mittagshimmel abhob, verriet den Ort.

Wieland blieb einen Meter vor dem hüfthohen Holztor stehen. Vorsichtig nahm er seinen Rucksack von der Schulter, stellte ihn auf den Boden und ließ seinen Blick über die Gräber des kleinen Friedhofs wandern. In der Mitte der Anlage stand einsam ein dürrer Baum, an dem ein Plakat befestigt war. Nur wenige Meter von ihm entfernt hockte eine alte Frau in einer grauen Strickjacke und einem ebenso farblosen Tuch um den Kopf vor einem Grab. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Wieland beobachtete ihre gleichmäßigen Bewegungen mit der Harke, bis sie ihren Kopf zu ihm drehte und ihn einige Sekunden musterte. Dann schaute sie ihm so direkt ins Gesicht, dass es fast an Schamlosigkeit grenzte. Sie verzog keine Miene, gab nicht zu erkennen, ob sie ihn erkannt hatte, was auch nicht einfach war angesichts seiner verschmutzten Kleidung, des verfilzten Bartes und der Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er erwiderte ihren Blick ebenso ungerührt, bis sie sich mit ihrer freien Hand vom Boden abstützte, aufstand und auf ihn zukam. Hinter der Mauer blieb sie stehen und musterte ihn wieder, als versuche sie, die Gesichtszüge unter seinem Bart freizulegen.

»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte sie schließlich. »Hier gibt es nur Hunger und Tod.«

Dann drehte sie sich abrupt um und trippelte, ohne noch einmal zu ihm herüberzublicken, an dem dürren Baum vorbei und zu der dem Dorf zugewandten Seite des kleinen Friedhofs hinüber, wo sie ihn durch einen schmalen Gang verließ. Wieland blickte ihr nach, bis sie die Senke erreicht hatte.

Er packte seinen Rucksack, stieß mit einem Fußtritt das Holztor auf und lief langsam an den Gräbern vorbei, las dabei die Inschriften. Das Plakat an dem Baum war das gleiche, das er schon an der Weggabelung gesehen hatte. In einem Mauerwinkel, etwas abseits, fand er, wonach er gesucht hatte. Verwundert betrachtete er den glatt polierten, marmornen Grabstein, der so auffällig anders als die anderen hier war. Drei Rosen lagen auf der frisch geharkten Erde, wie ein Fächer drapiert, die Blüten dem Grabstein zugewandt, auf dem in schnörkelloser Schrift der Name Hella Göth eingraviert war, darunter das Jahr ihrer Geburt und das ihres Todes. 1868 und 1917. Göth betrachtete die Rosen, rot und so frisch, als seien sie gerade erst erblüht.

Er kniete sich nieder, nahm eine der Blumen, roch an der Blüte. Richtete sich mühsam wieder auf, spürte die langen Tage und die kalten Nächte, in denen er von Berlin hierher unterwegs war, nach Rombelsheim, dem Dorf im Westen Rheinhessens, an der Grenze zur Pfalz, in dem er aufgewachsen war.

Er verließ den kleinen Friedhof durch den schmalen Gang, durch den schon die Alte gegangen war, ohne noch einmal einen Blick auf das Grab seiner Mutter zu werfen.

Bis zum frühen Nachmittag blieb er vor dem Friedhof unter einem Busch sitzen, dann machte er sich auf zum Dorf. Vor dem ersten Haus im Ort blieb er auf der unbefestigten Straße stehen. Rechts und links begrenzten schmale, in Stein gefasste Kanäle den Weg, in denen das Abwasser schwappte. Der Geruch hatte sich in den Jahren, in denen er fort gewesen war, nicht verändert.

Wieland blickte die Straße entlang, dann schaute er hoch zum Fenster in der oberen Etage. Der Vorhang bewegte sich ein wenig.

Noch konnte er umkehren, das Dorf hinter sich lassen. Dieses Mal für immer.

5

Das Dorf Rombelsheim, das bei Kriegsbeginn knapp fünfhundert Einwohner gezählt hatte, lag an einer langen Straße, an der sich auf beiden Seiten aus groben Steinen gemauerte Häuser reihten, mit den Höfen der Bauern und den Geschäften eines Bäckers, eines Fleischers, einem Laden für Kurzwaren und ein paar Handwerksbetrieben. Zwei Wirtschaften gab es, eine in der Hauptstraße, die andere in einer der wenigen Gassen, die zu den Häusern in der zweiten und dritten Reihe führten, die meist noch kleiner und schiefer waren. In der letzten Reihe, am Dorfrand, duckten sich aus Bauresten zusammengeschusterte Behausungen, in denen die Tagelöhner wohnten, die sich bei den Bauern und kleinen Gewerbetreibenden verdingten. Ziemlich genau in der Mitte beschrieb die Hauptstraße einen lang gezogenen Bogen durch das kleine Dorf. Im Scheitelpunkt des Bogens lag die evangelische Kirche, und dahinter, etwas versetzt, das Pfarrhaus. Auf der anderen Seite des Kirchplatzes, rechts vom Gotteshaus, war in einem Haus mit einem schmalen Balkon über der Eingangstür die Bürgermeisterei untergebracht. Am Rande des Ortes schlängelte sich der Bach entlang, der durch das Tal führte.

Stimmengemurmel riss Wieland aus seinen Gedanken. In einiger Entfernung von ihm hatten sich neun oder zehn Bewohner zusammengefunden, die ebenso neugierig wie misstrauisch zu ihm herübersahen. Zwei Männer darunter, die sich auf Holzkrücken stützten.

Er sah noch einmal nach oben, wo er das Mädchen hinter dem Vorhang wusste, unbeweglich, darauf wartend, dass er endlich ging und sie aus ihrer Starre erlöste.

Er tat ihr den Gefallen, kehrte um und umrundete das Dorf in einem weiten Bogen. Sein Elternhaus, das ehemalige Schulgebäude, lag am anderen Ende des Dorfes, durch einen großen Acker vom letzten Haus, dem Hof des Bauern Neubert, getrennt.

6

Wieland hatte sein Elternhaus schon früh gehasst und gehofft, es nie wieder betreten zu müssen, als er es ein Jahr vor Kriegsausbruch verließ. Auf dem langen Weg von Berlin nach Rombelsheim hatte er genügend Zeit gehabt, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er diesen Vorsatz bald brechen würde. Dennoch überkam ihn ein Gefühl der Beklemmung, als er den Acker hinter dem Schulgebäude hinunterging. Der feuchte, schwere Boden klebte an seinen Stiefeln, und er kam nur langsam voran.

Das Haus war dreigegliedert. Der quadratische Mittelteil beherbergte den Flur und die Küche, auf der linken Seite lag der Trakt mit dem Saal für die Schüler, rechts der Wohnbereich, in dem Stockwerk darüber die Schlafzimmer.

Er ging um das Haus herum zur Vorderseite und schaute hinüber zum Neubert-Hof. Auch hier hatten sich einige Dorfbewohner versammelt. Niemand machte Anstalten, zu ihm zu gehen oder ihn zu sich zu rufen. Kein Zeichen der Begrüßung oder der Ablehnung.

Wieland kannte die meisten Gesichter, und doch waren sie ihm so fremd wie vor sieben Jahren. War er früher schon ein Fremdkörper in diesem Dorf gewesen, so kam er sich jetzt wie ein Aussätziger vor. Einer, der aus der Welt draußen eine Krankheit einschleppt, von der alle fürchten, sich daran anzustecken. Niemand hätte aber genau sagen können, was für eine Krankheit das war. Erinnerung vielleicht? Oder bildete er sich das nur ein?

Die Gruppe rückte langsam ein paar Meter näher, war aber immer noch so weit von ihm entfernt, dass eine Unterhaltung nur durch lautes Rufen möglich gewesen wäre. Wieland zögerte, konnte sich aber auch nicht entschließen, ins Haus zu gehen.

Er suchte in der Gruppe nach Bertram, dem Sohn vom Neubert. Bertram war früher sein Freund und Beschützer gewesen. Ob er aus dem Krieg zurückgekehrt war? Weder ihn noch den Bauern oder dessen Frau konnte er in der Gruppe erkennen. Auch sein Bruder Wolfgang war nicht zu sehen, aber das war ihm nur recht. Dass er nicht gefallen war, wusste er bereits von Regina, der Krankenschwester. Auf dem langen Weg war ihm eingefallen, woher er die Frau kannte, die ihn im Krankenhaus mit dem korpulenten Mann aufgesucht hatte. Sie kam aus einem der Nachbarorte und war die Cousine von Else, dem Mädchen aus Rombelsheim.

Eine Frau in der Gruppe starrte zu ihm herüber. Sie suchte offensichtlich die Deckung der anderen. Er musste genau hinschauen, um sie zu erkennen. Sie trug ein Tuch um den Kopf. Neben ihr stand ein kleines Mädchen. Wieland überlegte, ihr ein Zeichen zu geben, da nahm das Mädchen die Hand der Frau und zog sie mit sich fort.

Während Wieland den beiden nachschaute, löste sich ein alter Mann aus der Gruppe und kam mit kleinen Schritten auf ihn zu. Die Lederschürze, die er um die Hüften gebunden hatte, wippte bei jedem Schritt vor seinen Beinen. Das Gehen bereitete ihm offensichtlich Mühe.

Es war Schubert, der Schuster, ein geachteter Mann im Dorf, der Tod seines einzigen Sohnes, der schon am zweiten Kriegstag gefallen war, hatte ihn tief getroffen.

»Gut, dass noch einer überlebt hat!«, sagte er zur Begrüßung, und trotz der weichen Stimme war seine Verbitterung nicht zu überhören. »Das Dorf kann jeden Mann gebrauchen. Gerade jetzt!«, fügte er hinzu, ergriff mit beiden Händen Wielands Rechte und drückte sie einige Sekunden lang. »Richte dich ein und komm dann ins Dorf!«, sagte er und wandte sich um. 

Wieland sah hinter ihm her, bis er die Gruppe wieder erreicht hatte, und wollte sich gerade abwenden, um ins Haus zu gehen, da näherte sich vom Dorf her ein junger Mann mit schnellen Schritten. Er lief an der Gruppe, die sich schon in Auflösung befand, vorbei direkt auf Wieland zu. Er schätzte ihn auf höchstens sechzehn Jahre. Die blauen Augen im scharf geschnittenen Gesicht musterten ihn abschätzig. Er war mit einer alten Arbeitshose und Jacke bekleidet. In der Hand hielt er eine Flasche, die er Wieland entgegenstreckte.

»Vom Grafen«, erklärte er. »Sie sollen sich morgen bei ihm melden. Bald werden wir den Mörder Ihrer Schwester haben, und er wird seine gerechte Strafe bekommen.«

Der Junge grinste und zeigte eine Reihe fauler Zähne. Mit der freien Hand deutete er einen Schnitt durch die Kehle an.

Da Wieland keine Anstalten machte, die Flasche entgegenzunehmen, stellte der Junge sie mit spöttischem Blick vor ihm ab und ging.

Wieland griff nach seinem Rucksack, die Flasche ließ er stehen. Dann stieg er die wenigen Stufen zur Tür des ehemaligen Schulgebäudes empor, die er mit seiner gesunden Schulter aufstieß. Im Türrahmen blieb er kurz stehen, dann trat er ins Innere und stellte im Flur auf den mit Ornamenten verzierten Fliesen seinen Rucksack ab. Rechts war die Holztreppe ins obere Stockwerk. Ein Wimmern war von dort zu hören. Einige Sekunden lauschte er den Geräuschen, dann ging er an der Treppe vorbei in die Küche, ein großer quadratischer Raum, die hellen Fliesen voller Risse, die sich wie eine Flusslandschaft zwischen den Ornamenten hindurchschlängelten. Als Kind hatte Wieland sich vorgestellt, dass diese Risse sich langsam, kaum merklich verbreiterten, bis sie schließlich so groß waren, dass er in ihnen unterging. Das machte ihm keine Angst. Denn es würde ihn aus dieser Welt der Schreie und Prügel befreien. Jetzt starrte er auf einen der Risse zu seinen Füßen. Ihm wurde der Gestank bewusst, der das Haus beherrschte. Schmutz, Schweiß, Alkohol, Urin. Krankheit. Tod. Als würden die Gerüche aus den Rissen aufsteigen und gegen die Kälte im Haus ankämpfen. Vergeblich. 

Die Krankenschwester und ihr korpulenter Begleiter hatten ihm dies anschaulich beschrieben, dennoch übertraf der Geruch seine Vorstellung bei Weitem.

Eine Stimme, nicht verständlich.

Wieland ging zurück zur Treppe.

»Wolfgang?!«

Er bewegte sich nicht.

»Wo treibst du dich wieder rum?«

Jedes Wort transportierte die Anstrengung, die es den Sprecher kostete.

»Wolfgang!«

Wieland ballte die Fäuste.

»Wolfgang! Komm endlich hoch!« Mehr ein Krächzen jetzt. Hilflos und aggressiv zugleich.

Wieland starrte auf einen dunklen Fleck an der Wand. Die Stimme wandelte sich in Musik, eine Stimme, eine dunkle Stimme, fremde Worte. Wie früher, wenn sich sein Kopf mit Musik füllte, um die Schreie nicht hören zu müssen.

Er ging zurück in die Küche. Setzte sich an den Tisch, zögerte das Hinaufgehen hinaus, schaute in den Ofen, in dem die Glut schon lange erloschen war.

»Wolf…?«

Kaum verständlich drang jetzt die Stimme zu ihm herunter.