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Vorhang E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Vorhang auf für Hercule Poirots letzten Fall!  Poirot, inzwischen von Arthritis gezeichnet und gelähmt, bittet seinen alten Freund Captain Hastings, zu ihm auf den Landsitz Styles mit seiner illustren Gesellschaft zu kommen. Einst haben die beiden hier ihren ersten gemeinsamen Fall gelöst. Nun soll Hastings sich an Poirots Stelle an die Fersen eines Serienmörders heften, dessen Identität Poirot zwar längst klar ist, für dessen Überführung ihm jedoch die Beweise fehlen. Und so betitelt er den Täter auch Hastings gegenüber nur als  »X« . Dass X wieder zuschlägt, ist für Poirot nur eine Frage der Zeit. Aber wird es Hastings gelingen, seinem alten Freund zu helfen und dem Mörder zuvorzukommen?   

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Agatha Christie

Vorhang

Poirots letzter Fall

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Atlantik

Erstes Kapitel

I

Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, eine frühere Er fahrung oder eine einstige Empfindung erneut zu durchleben?

»Das habe ich schon einmal durchgemacht …«

Warum verfehlen diese Worte nie ihre Wirkung und bewegen uns stets bis ins Innerste?

Das war die Frage, die mich beschäftigte, während ich im Zug saß und die flache Landschaft von Essex vorüberziehen sah.

Wie lang war es her, dass ich genau die gleiche Reise unternommen hatte? Und dabei (lächerlicherweise) geglaubt hatte, der beste Teil meines Lebens liege bereits hinter mir? In jenem Krieg verwundet, der für mich stets der Krieg bleiben sollte – auch wenn er inzwischen von einem weiteren, noch erbitterteren in den Hintergrund gedrängt worden war.

Im Jahre 1916 war sich der junge Arthur Hastings schon alt und gereift vorgekommen. Wie wenig hatte ich geahnt, dass das Leben damals für mich gerade erst anfing!

Am Ende meiner Zugfahrt hatte mich, auch wenn ich es da noch nicht wusste, die Begegnung mit dem Mann erwartet, dessen Einfluss mein ganzes Leben prägen und bestimmen sollte. Mein Plan war eigentlich gewesen, meinem alten Freund John Cavendish, dessen kürzlich wiederverheiratete Mutter einen Landsitz namens Styles besaß, einen Besuch abzustatten. Ich hatte mir davon nicht mehr als eine angenehme Auffrischung alter Bekanntschaften versprochen, ohne vorherzusehen, dass ich binnen kurzem in die finsteren Verwicklungen eines mysteriösen Mordfalls verstrickt werden würde.

Eben in Styles war ich jenem seltsamen kleinen Mann, Hercule Poirot, wiederbegegnet, der erstmals in Belgien meinen Weg gekreuzt hatte.

Wie gut erinnerte ich mich an meine Verblüffung, als ich die hinkende Gestalt mit dem großen Schnauzbart mir die Dorfstraße entlang hatte entgegenkommen sehen!

Hercule Poirot! Seit jener Zeit war er mein teuerster Freund, sein Einfluss für mein ganzes Leben bestimmend gewesen. Durch ihn, im Verlauf einer unserer Verbrecherjagden, hatte ich meine zukünftige Frau kennengelernt, die treuste und holdeste Gefährtin, die ein Mann nur hätte finden können.

Jetzt ruhte sie in argentinischer Erde, nachdem sie so gestorben war, wie sie es sich gewünscht hätte: ohne lange leiden oder die Gebrechen des Alters erleben zu müssen. Allerdings hatte sie einen sehr einsamen und unglücklichen Mann zurückgelassen.

Ach, hätte ich nur die Zeit zurückdrehen – und dieses Leben aufs Neue durchleben können! Hätte heute nur jener Tag des Jahres 1916 sein können, als ich zum ersten Mal nach Styles reiste … Welche Veränderungen hatten seitdem stattgefunden! Wie viele vertraute Gesichter waren verschwunden! Styles selbst war von den Cavendishs veräußert worden. John Cavendish war gestorben, seine Frau Mary (jenes faszinierende, rätselhafte Geschöpf) war zwar noch am Leben, wohnte aber inzwischen in Devonshire. Laurence wiederum lebte mit Frau und Kindern in Südafrika. Veränderungen, wohin das Auge sah.

Eines allerdings war seltsamerweise gleich geblieben: Ich war auf dem Weg nach Styles, um mich dort mit Hercule Poirot zu treffen.

Wie erstaunt war ich gewesen, sein Schreiben, mit dem Briefkopf »Styles Court, Styles, Essex« zu erhalten!

Ich hatte meinen alten Freund seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Zu jener Gelegenheit hatte mich sein Anblick erschüttert und betrübt. Er war mittlerweile ein sehr alter Mann und durch Arthritis fast gelähmt. Er war in der Hoffnung auf eine Besserung seines Gesundheitszustands nach Ägypten gereist, aber, wie sein Brief mir verriet, eher noch kränker zurückgekehrt. Dennoch war sein Ton heiter …

II

Und wundert es Sie nicht, mon ami, die Adresse zu sehen, von der aus ich Ihnen schreibe? Weckt sie nicht alte Erinnerungen? Ja, ich bin hier, auf Styles. Stellen Sie sich nur vor: Jetzt ist es ein sogenanntes guest house. Von einem Ihrer so typisch britischen alten Colonels geführt – ganz »alte Schulkrawatte« und »Tropenhelm«. Bien entendu, dafür, dass der Rubel rollt, sorgt seine Gattin. Sie ist eine clevere Geschäftsfrau, die Dame, aber mit einer Zunge wie Cayennepfeffer, und der arme Colonel, er leidet sehr darunter. An seiner Stelle würde ich zum Hackebeil greifen!

Ich sah ihr Inserat in der Zeitung, und mich kam die Lust an, den Ort, der mein erstes Zuhause in diesem Lande gewesen war, erneut aufzusuchen. In meinem Alter genießt man es, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Und dann, stellen Sie sich nur vor, treffe ich hier einen Gentleman an, einen Baronet, der ein Freund des Arbeitgebers Ihrer Tochter ist. (Dieser Satz klingt ein wenig wie aus der Schulgrammatik, n’est-ce pas?)

Immédiatement fasse ich einen Plan. Er möchte die Franklins dazu bewegen, den Sommer hier zu verbringen. Ich für mein Teil werde Sie dazu überreden, und so werden wir alle vereint sein, en famille. Es wird überaus angenehm werden. Deswegen, mon cher Hastings, dépêchez-vous, finden Sie sich mit der möglichst großen Geschwindigkeit hier ein! Ich habe Ihnen ein Zimmer mit Bad reservieren lassen (Sie erkennen, es ist modernisiert worden, unser gutes altes Styles) und mit Mrs Colonel Luttrell um den Preis gefeilscht, bis ich zu einem Arrangement très bon marché gelangt bin.

Die Franklins und Ihre bezaubernde Judith sind bereits seit einigen Tagen hier. Es ist alles arrangiert, also machen Sie keine fiesen Matenten!

A bientôt,

stets der Ihre, Hercule Poirot

Die Aussicht war verlockend, und ich beugte mich gern und unverzüglich den Wünschen meines Freundes. Ich hatte keine Verpflichtungen und nicht mal ein richtiges Zuhause. Von meinen Kindern war der eine Sohn bei der Navy, der andere verheiratet und mit der Verwaltung der Ranch in Argentinien befasst. Meine Tochter Grace war mit einem Soldaten verheiratet und hielt sich gegenwärtig in Indien auf. Mein verbleibendes Kind, Judith, war von jeher mein heimlicher Liebling gewesen, obwohl ich sie nie auch nur einen Augenblick lang verstanden hatte. Ein seltsames, undurchsichtiges, verschlossenes Kind, das seine Meinung leidenschaftlich gern für sich behielt – was mich bisweilen beleidigt und bekümmert hatte. Meine Frau war da verständnisvoller gewesen. Es sei kein Mangel an Vertrauen aufseiten Judiths, versicherte sie mir, eher etwas wie ein unüberwindlicher Zwang. Aber mitunter machte auch sie sich Sorgen um das Kind. Judiths Gefühle, sagte sie, seien zu intensiv, zu konzentriert, und ihre instinktive Zurückhaltung beraube sie jeglichen Sicherheitsventils. Sie hatte seltsame Anfälle von brütender Schweigsamkeit und eine grimmige, fast erbitterte Neigung zur Parteilichkeit. Sie war die Gescheiteste in der Familie, und wir hatten ihren Wunsch nach einer Hochschulausbildung mit Vergnügen erfüllt. Sie hatte ein knappes Jahr zuvor ihren Bachelor of Science gemacht und anschließend bei einem Arzt, der über Tropenkrankheiten forschte, eine Stelle als Sekretärin angenommen. Die Ehefrau des Arztes war irgendwie chronisch leidend.

Ich hatte gelegentlich die Befürchtung gehabt, Judiths Begeisterung für ihre Arbeit und die Verehrung, die sie ihrem Chef entgegenbrachte, könnten Anzeichen dafür sein, dass sie kurz davor stand, ihr Herz zu verlieren, aber ihr sachlicher, geschäftsmäßiger Umgangston hatte mich schließlich beruhigt.

Ich glaubte durchaus, dass Judith mich lieb hatte, aber Überschwänglichkeit war ihrem Wesen fremd, und meine »sentimentalen, antiquierten Ansichten«, wie sie sie nannte, erregten oft ihre Ungeduld und ihren Spott. Mir war, ehrlich gesagt, vor meiner Tochter etwas bang!

An diesem Punkt wurden meine Überlegungen unterbrochen, weil der Zug in den Bahnhof von Styles St. Mary einfuhr. Der zumindest hatte sich nicht verändert. Die Zeit war spurlos an ihm vorübergezogen. Er kauerte noch immer inmitten von Feldern, scheinbar ohne jeden Daseinsgrund.

Als mein Taxi allerdings durch das Dorf fuhr, erkannte ich, wie viele Jahre tatsächlich vergangen waren. Styles St. Mary hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert: Tankstellen, ein Kino, zwei weitere Gaststätten und Reihen von Mietshäuschen.

Schließlich bogen wir in die Toreinfahrt von Styles ein. Hier schienen wir die modernen Zeiten wieder hinter uns zu lassen. Der Park war weitgehend so, wie ich ihn in Erinnerung hatte, aber die Auffahrt war schlecht gepflegt, und überall wucherte Unkraut aus dem Kies. Wir bogen um eine Kurve, und das Herrenhaus kam in Sicht. Es war äußerlich unverändert und hätte einen neuen Anstrich dringend gebrauchen können.

Wie bei meiner ersten Ankunft vor vielen, vielen Jahren stand eine weibliche Gestalt über eines der Gartenbeete gebeugt. Mir stockte das Herz. Dann richtete sich die Gestalt auf und kam mir entgegen, und ich musste über mich selber lachen. Einen größeren Gegensatz zur drallen Evelyn Howard hätte man sich nicht vorstellen können.

Diese hier war eine zerbrechliche ältere Dame mit einer Wolke von lockigem weißem Haar, rosigen Wangen und zwei kalten blassblauen Augen, die in entschiedenem Widerspruch zu ihrer – für meinen Geschmack eine Spur zu dick aufgetragenen – Jovialität standen.

»Na, wenn das man nicht Captain Hastings ist«, mutmaßte sie forsch. »Und ich hab so dreckige Hände, dass ich keine zum Schütteln erübrigen kann! Wir sind entzückt, Sie bei uns begrüßen zu können – nach allem, was wir über Sie schon gehört haben! Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Mrs Luttrell. Mein Mann und ich haben diesen Kasten in einem Anfall geistiger Umnachtung gekauft und versuchen seitdem, daraus ein gewinnbringendes Unternehmen zu machen. Ich hätte früher nie gedacht, dass ich eines Tages Hotelbesitzerin sein würde! Aber ich muss Sie warnen, Captain Hastings, ich bin eine sehr geschäftstüchtige Frau. Extras berechnen ist mein Lieblingssport!«

Wir lachten beide, als wäre das ein großartiger Witz, aber mir kam der Verdacht, dass Mrs Luttrells Worte aller Wahrscheinlichkeit nach bitterer Ernst gewesen waren. Hinter der Maske der reizenden alten Dame sah ich steinerne Härte aufblitzen.

Obwohl Mrs Luttrell gelegentlich einen leichten irischen Akzent anklingen ließ, hatte sie kein keltisches Blut in den Adern. Es war nichts als Pose.

Ich erkundigte mich nach meinem Freund.

»Ach, der arme kleine Monsieur Poirot. Wie sehr er sich auf Ihr Kommen gefreut hat! Das hätte ein Herz aus Stein erweichen können. Richtig in der Seele weh tut es mir, ihn so mitgenommen zu sehen.«

Wir hatten uns auf den Weg zum Haus gemacht, und sie streifte sich jetzt die Gartenhandschuhe ab.

»Und auch Ihre reizende Tochter«, fuhr sie fort. »Was für ein prächtiges Mädel sie doch ist! Wir bewundern sie alle maßlos. Aber ich bin nun mal altmodisch, ich find’s eine Schande und eine Sünde, dass ein solches Mädchen, das eigentlich auf Partys gehen und mit jungen Männern tanzen sollte, ihre Zeit damit zubringt, Karnickel aufzuschneiden und den ganzen Tag in ihr Mikroskop zu starren. Sollen sich doch die ollen Scharteken damit abgeben, meine ich.«

»Apropos Judith«, sagte ich. »Ist sie irgendwo in der Nähe?«

Mrs Luttrell zog ein komisches Gesicht.

»Ach, das arme Mädchen. Sie ist in diesem Atelierdings am Ende des Gartens eingepfercht. Ich vermiete es an Dr. Franklin, und er hat es sich nach seinen Vorstellungen eingerichtet. Käfige voller Meerschweinchen hat er da, die armen Viecher, und Mäuse und Karnickel. Ich weiß wirklich nicht, was ich von dieser ganzen Wissenschafterei halten soll, Captain Hastings. Ah, da ist ja mein Mann.«

Colonel Luttrell war gerade um die Ecke des Hauses gekommen. Er war ein sehr langer, spindeldürrer alter Mann mit einem ausgemergelten Gesicht, milden blauen Augen und der Angewohnheit, unschlüssig an seinem weißen Schnurrbärtchen zu zupfen.

Er hatte eine diffuse, irgendwie verfusselte Art.

»Ah, George, gerade ist Captain Hastings eingetroffen.«

Colonel Luttrell reichte mir die Hand. »Sie sind mit dem Siebzehn-Uhr- … äh … -vierzig gekommen, was?«

»Womit hätte er wohl sonst kommen sollen?«, sagte Mrs Luttrell scharf. »Und was spielt das überhaupt für eine Rolle? Geh mit ihm nach oben und zeig ihm sein Zimmer, George. Und dann möchte er vielleicht direkt zu Monsieur Poirot – oder hätten Sie lieber erst einen Tee?«

Ich versicherte ihr, dass ich keinen Tee wollte und es vorziehen würde, umgehend meinen Freund zu begrüßen.

Colonel Luttrell sagte: »Ist recht. Kommen Sie. Ich vermute, dass man … äh … Ihr Gepäck schon nach oben gebracht hat – was, Daisy?«

Mrs Luttrell entgegnete spitz: »Das ist deine Sache, George. Ich habe im Garten gearbeitet. Ich kann mich nicht um alles kümmern.«

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich – ich kümmere mich darum, meine Liebe.«

Ich folgte ihm die Vortreppe hinauf. Im Eingang begegnete uns ein schmächtiger grauhaariger Mann, der gerade mit einem Feldstecher herausgeeilt kam. Er hinkte und hatte ein jungenhaftes, eifriges Gesicht. Leicht stotternd, sagte er: »D-drüben beim B-bergahorn nistet eine Mönchsgrasmücke!«

Als wir die Eingangshalle betraten, sagte Luttrell: »Das war Norton. Netter Bursche. Vogelnarr.«

In der Halle selbst stand, neben dem Tisch, ein sehr großer, kräftiger Mann. Er hatte offenbar gerade telefoniert. Sich aufrichtend, sagte er: »Bauunternehmer gehören gehängt, gestreckt und gevierteilt, und zwar durch die Bank. Nie kriegen sie was richtig hin, verflucht noch eins!«

Er sah so drollig und so zerknirscht aus in seiner Wut, dass wir beide lachen mussten. Mir war der Mann auf Anhieb sympathisch. Wenngleich weit über die fünfzig, sah er mit seinem braun gebrannten Gesicht sehr gut aus. Er machte den Eindruck, als hätte er sein Leben im Freien verbracht, und er sah darüber hinaus wie die Sorte Mann aus, die heute immer seltener wird: ein Engländer der alten Schule, geradlinig, ein Liebhaber der frischen Luft und daran gewöhnt, Befehle zu erteilen.

So war ich kaum überrascht, als Colonel Luttrell ihn mir als Sir William Boyd Carrington vorstellte. Wie ich wusste, war er Gouverneur einer indischen Provinz gewesen, und zwar ein äußerst erfolgreicher. Er hatte außerdem den Ruf eines hervorragenden Schützen und Großwildjägers. Die Sorte Mann, dachte ich wehmütig bei mir, die wir in diesen degenerierten Zeiten nicht mehr hervorzubringen scheinen.

»Aha«, sagte er. »Freut mich, jener Sagengestalt, ›mon ami Hastings‹, endlich leibhaftig zu begegnen!« Er lachte. »Dieser liebenswerte alte Belgier redet nämlich ausgiebig von Ihnen. Und dann haben wir natürlich Ihre Tochter bei uns. Sie ist ein prächtiges Mädel.«

»Judith redet vermutlich nicht viel von mir«, sagte ich mit einem Lächeln.

»Ach wo, viel zu modern dafür! Diesen Mädchen von heute scheint es schon peinlich zu sein, auch nur zuzugeben, dass sie überhaupt einen Vater oder eine Mutter besitzen.«

»Eltern«, sagte ich, »sind praktisch eine Schande.«

Er lachte. »Na ja – die Rolle ist mir erspart geblieben. Ich habe leider keine Kinder. Ihre Judith ist ein sehr gutaussehendes Ding, aber schrecklich intellektuell. Ich finde das ziemlich besorgniserregend.« Er griff wieder zum Telefonhörer. »Hoffe, es stört Sie nicht, Luttrell, wenn ich gleich Ihre Vermittlung zum Teufel wünsche. Ich bin kein geduldiger Typ.«

»Heizen Sie denen nur richtig ein«, sagte Luttrell.

Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, und ich folgte ihm. Er führte mich in den linken Flügel des Hauses und dort zu einer Tür am Ende des Korridors, und ich begriff, dass Poirot dasselbe Zimmer für mich ausgesucht hatte, in dem ich schon seinerzeit untergebracht gewesen war.

Hier hatte sich einiges geändert. Während ich den Korridor entlangging, standen manche Türen offen, und ich sah, dass die altmodischen großen Zimmer durch neu errichtete Zwischenwände zu mehreren kleineren umgebaut worden waren.

Mein eigenes, von vornherein nicht sehr großes Zimmer hatte sich lediglich insofern verändert, als fließendes warmes und kaltes Wasser installiert und eine Ecke zu einem kleinen Bad abgetrennt worden war. Die Möbel waren billige moderne Fabrikate, was mich ziemlich enttäuschte. Ich hätte einen Einrichtungsstil vorgezogen, der eher der Architektur des Hauses entsprach.

Mein Gepäck war bereits heraufgeschafft worden, und der Colonel erklärte, Poirots Zimmer liege direkt gegenüber. Er wollte mich gerade dorthin begleiten, als von der Eingangshalle ein scharfes »George!« heraufgellte.

Colonel Luttrell scheute wie ein schreckhaftes Pferd. Seine Hand fuhr an seine Oberlippe.

»Ich – ich – kann ich Sie jetzt allein lassen? Klingeln Sie nur, wenn Sie etwas brauchen …«

»George!«

»Ich komme, meine Liebe, ich komme.«

Er hastete den Korridor entlang davon. Einen Augenblick lang stand ich nur da und sah ihm hinterher. Dann überquerte ich mit leichtem Herzklopfen den Korridor und pochte an Poirots Tür.

Zweites Kapitel

Nichts ist meiner Ansicht nach so traurig wie die Verwüstungen, die das Alter bewirkt.

Mein armer Freund. Ich habe ihn schon häufig beschrieben. Jetzt noch einmal, um Ihnen den Unterschied vor Augen zu führen: Durch Arthritis gelähmt, bewegte er sich in einem Rollstuhl fort. Seine ehemals füllige Gestalt war abgemagert. Jetzt war er ein schmächtiges Männlein. Sein Gesicht war von Furchen und Falten durchzogen. Schnurrbart und Haar waren zwar nach wie vor pechschwarz, aber wenngleich ich es, um ihn nicht zu verletzen, um nichts in der Welt ausgesprochen hätte, hielt ich das für einen Fehler. Irgendwann kommt immer der Augenblick, wo gefärbte Haare nur noch peinlich aussehen. Es hatte eine Zeit gegeben, da es mich überrascht hatte zu erfahren, dass die Schwärze von Poirots Haar aus einer Flasche kam. Doch jetzt war die Künstlichkeit augenfällig, und sie erzeugte lediglich den Eindruck, dass er sich eine Perücke aufgesetzt und seine Oberlippe geschmückt hatte, um Kinder zu belustigen!

Nur seine Augen waren dieselben geblieben, klug und funkelnd und jetzt – ja, ohne Zweifel – milde vor Rührung.

»Ah, mon ami Hastings – mon ami Hastings …«

Ich beugte mich hinab, und er, wie es seine Gewohnheit war, umarmte mich herzlich.

»Mon ami Hastings!«

Er lehnte sich zurück und musterte mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf.

»Ja, ganz der Alte – der gerade Rücken, die breiten Schultern, das Grau der Haare – très distingué. Wissen Sie, mon ami, Sie haben sich gut gehalten. Les femmes, sie interessieren sich noch immer für Sie? Ja?«

»Also wirklich, Poirot«, protestierte ich. »Müssen Sie …«

»Aber ich versichere Ihnen, mon ami, es ist ein Kriterium. Es ist das Kriterium. Wenn die sehr jungen Mädchen zu einem kommen und freundlich, ach so freundlich reden … das ist das Ende! ›Das arme Alterchen‹, sagen sie, ›wir müssen lieb zu ihm sein. Es muss furchtbar sein, in so einem Zustand zu sein.‹ Aber Sie, Hastings – vous êtes encore jeune. Sie haben noch Möglichkeiten. Nur zu, zwirbeln Sie ruhig Ihren Schnurrbart, ziehen Sie nur die Schultern hoch – ich sehe Ihnen ja doch an, dass es stimmt – Sie würden andernfalls nicht so verlegen dreinschauen!«

Ich lachte auf. »Sie sind wirklich unverbesserlich, Poirot. Und wie geht es Ihnen?«

»Mir?«, sagte Poirot mit einer Grimasse. »Ich bin ein Wrack. Ich bin eine Ruine. Ich kann nicht laufen. Ich bin verkrümmt und verkrüppelt. Glücklicherweise kann ich noch selbstständig essen, aber ansonsten muss man mich behandeln wie ein bébé. Ins Bett legen, waschen und anziehen. Enfin, es ist nicht amüsant. Glücklicherweise, verfällt auch die Fassade, ist das Kernstück doch so gut wie neu.«

»Ja, wahrhaftig. Wirklich ein Herz aus Gold!«

»Das Herz? Vielleicht. Ich meinte aber nicht das Herz. Das Gehirn, mon cher, ist das, was ich mit Kernstück meine. Mein Gehirn, es funktioniert noch einwandfrei.«

Zumindest konnte ich klar erkennen, dass die für das Selbstwertgefühl zuständigen Hirnbereiche noch keinen Schaden genommen hatten.

»Und, wie gefällt es Ihnen hier?«, fragte ich.

Poirot zuckte die Achseln. »Es erfüllt seinen Zweck. Sie verstehen, es ist nicht das Ritz. Nein, wirklich nicht. Das Zimmer, in dem man mich zunächst untergebracht hatte, war ebenso klein wie unzulänglich möbliert. Ich bin ohne Preisaufschlag in dieses hier umgezogen. Und dann die Küche: Sie ist englisch im schlimmsten Sinne des Wortes. Diese riesigen, steinharten Rosenkohle, die die Engländer so lieben. Die Kartoffeln entweder zu hart oder zu Tode gekocht. Die Gemüsen, die nach Wasser, Wasser und noch einmal Wasser schmecken. Das vollständige Fehlen des Salzes und Pfeffers in jedem Gericht …« Er verstummte mit Nachdruck.

»Das klingt entsetzlich«, sagte ich.

»Ich klage nicht«, sagte Poirot und fuhr genau damit fort: »Und dann kommt noch die Modernisierung, die sogenannte. Die Badezimmer, die Hähne überall, und was kommt aus ihnen heraus? Lauwarmes Wasser, mon ami, zu den meisten Stunden des Tages. Und die Handtücher – so dünn, so dürftig!«

»Ja, die alten Zeiten hatten durchaus ihr Gutes«, sagte ich nachdenklich. Ich erinnerte mich an die Dampfschwaden, die aus dem Warmwasserhahn des einzigen Badezimmers gequollen waren, das Styles ursprünglich besaß – eines jener Badezimmer, in denen eine gigantische Wanne mit Mahagoni-Verkleidung stolz im Zentrum des Raums thronte. Erinnerte mich auch an die gigantischen Badetücher und die blanken Messingkannen voll kochend heißem Wasser, die mehrmals am Tag in der altmodischen Waschschüssel gestanden hatten.

»Aber man darf nicht klagen«, sagte Poirot noch einmal. »Ich leide gern – für einen guten Zweck.«

Mir kam ein plötzlicher Gedanke.

»Hören Sie, Poirot, Sie sind doch nicht etwa … äh … knapp bei Kasse, oder? Ich weiß, dass der Krieg die Kapitalanlagen stark getroffen hat …«

Poirot beruhigte mich sofort.

»Nein, nein, mon ami. Ich lebe in höchst behaglichen Verhältnissen. Ja, man kann sagen, ich bin reich. Nicht die Lage der Wirtschaft führt mich hierher.«

»Dann ist ja gut«, sagte ich und fuhr fort: »Ich glaube, ich kann Ihre Gemütslage nachvollziehen. Wenn das Alter voranschreitet, neigt man mehr und mehr dazu, sich im Geist den alten Zeiten zuzuwenden. Man versucht, alte Gefühle in sich wieder wachzurufen. Einerseits ist es mir schmerzlich, hier zu sein, und doch bringt es mir andererseits hundert alte Gedanken und Empfindungen zurück, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie jemals gehabt hatte. Ich wette, Ihnen geht es da ebenso.«

»Nicht im Geringsten. Ich empfinde überhaupt nicht so.«

»Es waren schöne Zeiten«, sagte ich wehmütig.

»Sie dürfen gern für sich selbst sprechen, Hastings. Für mich war meine Ankunft in Styles St. Mary ein trauriger und schmerzlicher Augenblick. Ich war ein Flüchtling, verwundet, aus Heim und Heimat vertrieben, auf die Almosen fremder Menschen angewiesen. Nein, es war nicht vergnüglich. Ich wusste damals nicht, dass England einmal meine Heimat werden und ich hier glücklich sein würde.«

»Das hatte ich vergessen«, räumte ich ein.

»Genau. Immer schreiben Sie anderen die Gefühle zu, die Sie selbst haben. Hastings war glücklich – alle waren glücklich!«

»Nein, nein«, protestierte ich lachend.

»Und außerdem ist es gar nicht wahr«, fuhr Poirot fort. »Sie blicken zurück, sagen Sie, mit Tränen in den Augen: ›Ach, die glücklichen Tage! Damals war ich jung.‹ Aber in Wahrheit, mon ami, waren Sie nicht so glücklich, wie Sie glauben. Sie waren erst kurz zuvor schwer verwundet worden, Sie grämten sich darüber, dass Sie nicht mehr zur Kriegsverwendung taugten, Ihr Aufenthalt in einem tristen Genesungsheim hatte Sie in eine abgrundtiefe Depression gestürzt, und soweit ich mich erinnere, machten Sie sich unverzüglich daran, die Situation noch weiter zu verkomplizieren, indem Sie sich in zwei Frauen gleichzeitig verliebten.«

Ich lachte und errötete.

»Was für ein Gedächtnis Sie haben, Poirot!«

»Ta ta ta – ich erinnere mich jetzt an die melancholischen Seufzer, die Sie ausstießen, während Sie Albernheiten über zwei schöne Frauen murmelten.«

»Erinnern Sie sich auch, was Sie dazu sagten? Sie sagten: ›Und keine von beiden ist für Sie! Aber courage, mon ami. Wir werden auch wieder zusammen auf die Jagd gehen, und dann, wer weiß …‹«

Ich verstummte. Denn die nächste Jagd hatte Poirot und mich nach Frankreich geführt, und ebendort war ich der Frau begegnet, welche …

Sanft tätschelte mein Freund mir den Arm.

»Ich weiß, Hastings, ich weiß. Die Wunde ist noch frisch. Aber verweilen Sie nicht bei ihr, blicken Sie nicht zurück. Blicken Sie lieber nach vorn.«

Ich machte eine wegwerfende Geste.

»Nach vorn? Was gibt’s dort schon, was eines Blickes würdig wäre?«

»Eh bien, mon ami, es gibt Arbeit zu erledigen.«

»Arbeit? Wo?«

»Hier.«

Ich starrte ihn an.

»Gerade eben«, sagte Poirot, »haben Sie mich, durch die Blüte, wie man so sagt, gefragt, warum ich hierhergekommen bin. Möglicherweise ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass ich darauf keine Antwort gegeben habe. Ich gebe sie Ihnen jetzt: Ich bin hier, um einen Mörder zur Strecke zu bringen.«

Ich starrte ihn mit noch größerem Erstaunen an. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde phantasieren.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Aber gewiss ist es mein Ernst. Aus welchem Grund hätte ich Sie sonst so eindringlich bitten sollen, sich mir anzuschließen? Meine Glieder, sie sind nicht mehr beweglich, aber mein Gehirn, wie ich schon sagte, ist unbeeinträchtigt. Und bedenken Sie, meine Vorgehensweise ist schon immer dieselbe gewesen: mich zurücklehnen und nachdenken. Dazu bin ich noch fähig – tatsächlich ist es das Einzige, was mir noch möglich ist. Für die bewegtere Seite der Unternehmung werde ich meinen unschätzbaren Hastings an meiner Seite haben.«

»Das ist wirklich Ihr Ernst?«, brachte ich atemlos hervor.

»Natürlich ist das mein Ernst. Sie und ich, Hastings, gehen noch einmal auf die Jagd!«

Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass Poirot wirklich nicht scherzte.

So phantastisch seine Aussage auch klang, hatte ich keinen Grund, an seiner Urteilskraft zu zweifeln.

Mit einem kleinen Lächeln sagte er: »Endlich sind Sie überzeugt. Anfangs, nicht wahr, da glaubten Sie, ich leide an der Weichwerdung des Gehirns?«

»Nein, nein«, sagte ich hastig. »Nur scheint das hier wirklich nicht der Ort zu sein …«

»Ah, finden Sie?«

»Natürlich habe ich noch nicht alle kennengelernt …«

»Wen haben Sie denn schon kennengelernt?«

»Nur die Luttrells, einen Mann namens Norton, der wie ein harmloser Bursche wirkt, und Boyd Carrington – und ich muss sagen, dass er mir auf Anhieb ungeheuer sympathisch war.«

Poirot nickte. »Nun, Hastings, ich kann Ihnen versichern, wenn Sie den Rest der Hausbewohner kennengelernt haben, wird Ihnen meine Aussage auch nicht glaubwürdiger erscheinen als jetzt.«

»Wer ist denn sonst noch da?«

»Die Franklins – Doktor und Mrs –, die Krankenschwester, die Mrs Franklin pflegt, und Ihre Tochter Judith. Dann gibt es noch einen Mann namens Allerton, ein ziemlicher Schwerenöter, und eine Miss Cole, eine Frau in den Dreißigern. Und sie alle, das darf ich Ihnen versichern, sind ausnahmslos äußerst reizende Leute.«

»Und einer von ihnen ist ein Mörder?«

»Und einer von ihnen ist ein Mörder.«

»Aber warum – wie – warum glauben Sie …?«

Es fiel mir schwer, meine Fragen in Worte zu fassen, sie purzelten wild übereinander.

»Beruhigen Sie sich, Hastings. Lassen Sie uns mit dem Anfang beginnen. Reichen Sie mir doch bitte die Schatulle, dort auf dem Sekretär. Bien. Und jetzt den Schlüssel – so …«

Er schloss die Kassette auf und entnahm ihr einen Stoß von maschinenbeschriebenen Blättern und Zeitungsausschnitten.

»Das können Sie später in aller Ruhe studieren, Hastings. Die Zeitungsausschnitte würde ich mir an Ihrer Stelle vorerst sparen. Es sind lediglich Presseberichte über verschiedene Tragödien, stellenweise ungenau, gelegentlich suggestiv. Um sich einen Überblick über die Fälle zu verschaffen, sollten Sie zunächst die Zusammenfassung lesen, die ich angefertigt habe.«

Gespannt begann ich mit der Lektüre.

FALLA: ETHERINGTON

Leonard Etherington. Üble Angewohnheiten – nahm Drogen und trank. Absonderlicher, sadistischer Typus. Ehefrau jung und attraktiv. Mit ihm furchtbar unglücklich. Etherington starb, scheinbar an einer Lebensmittelvergiftung. Arzt hat seine Zweifel. Obduktion ergab Tod infolge Arsenvergiftung. Unkrautvernichter reichlich im Haus vorhanden, aber bereits lange vor dem Todesfall angeschafft. Mrs Etherington verhaftet und des Mordes angeklagt. Sie war zuletzt mit einem Verwaltungsbeamten befreundet gewesen, der kurz danach auf seinen Posten in Indien zurückkehrte. Kein Hinweis auf konkreten Ehebruch, aber Anzeichen tiefer Sympathie zwischen den beiden. Junger Mann war inzwischen mit einem Mädchen verlobt, das er während der Rückreise auf dem Schiff kennengelernt hatte. Zweifel bezüglich der Frage, ob Mrs Etherington Brief mit entsprechender Mitteilung vor oder nach Ableben ihres Mannes erhielt. Sie selbst sagt, davor. Gegen sie sprechen nur Indizien, Fehlen anderer Verdächtiger und Unwahrscheinlichkeit eines Unfalls. Während des Prozesses werden ihr große Sympathien entgegengebracht – wegen Charakters des Ehemannes und der schlechten Behandlung, die sie durch ihn erfahren hatte. In seiner Zusammenfassung sprach der Richter zu ihren Gunsten, mit Hinweis darauf, dass Verurteilung nur möglich, wenn kein berechtigter Zweifel an Schuld der Angeklagten besteht.

Mrs Etherington wurde freigesprochen. Der allgemeine Konsens aber lautete, dass sie schuldig war. Weiteres Leben sehr schwierig, da Freunde usw. sich von ihr abwandten. Zwei Jahre nach dem Prozess starb sie infolge versehentlicher Einnahme einer Überdosis Schlafmittel. Coroner befand auf Tod durch Unfall.

FALLB: MISS SHARPLES

Ältliches Fräulein. Bettlägerig. Schwierige Patientin mit starken Schmerzen. Gepflegt wurde sie von ihrer Nichte, Freda Clay. Miss Sharples starb an einer Überdosis Morphium. Freda Clay gestand Fehler ein: Anblick ihrer leidenden Tante sei ihr unerträglich gewesen, und sie habe ihr zur Linderung der Schmerzen eine höhere Dosis Morphium verabreicht. Polizei hielt vorsätzliche Tat für wahrscheinlicher als Unfall, aber dürftige Beweislage ließ Anklageerhebung nicht empfehlenswert erscheinen.

FALLC: EDWARD RIGGS

Landarbeiter. Verdächtigte seine Frau der Untreue mit ihrem Kostgänger, Ben Craig. Craig und Mrs Riggs erschossen aufgefunden. Geschosse konnten mit Riggs’ Gewehr in Verbindung gebracht werden. Riggs stellte sich der Polizei, gab an, er halte sich für den wahrscheinlichen Täter, könne sich aber an nichts erinnern. Er habe »einen Filmriss gehabt«. Riggs wurde zum Tode verurteilt, Strafe anschließend in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt.

FALLD: DEREK BRADLEY

Hatte eine Affäre mit einem Mädchen. Ehefrau fand das heraus und drohte, ihn zu töten. Bradley starb an Vergiftung durch – ihm in seinem Bier verabreichtes – Zyankali. Mrs Bradley verhaftet und des Mordes angeklagt. Brach im Kreuzverhör zusammen. Verurteilt und gehängt.

FALLE: MATTHEW LITCHFIELD

Älterer Tyrann. Vier Töchter im Haus, denen er jedes Vergnügen oder eigenes Geld verwehrte. Eines Abends wurde er, heimkehrend, vor der Nebentür seines Hauses überfallen und durch einen Schlag auf den Kopf getötet. Später, nach Abschluss der polizeilichen Ermittlung, erschien seine älteste Tochter, Margaret, auf dem Polizeirevier und bekannte sich schuldig des Mordes an ihrem Vater. Gab an, die Tat begangen zu haben, »damit ihre jüngeren Schwestern die Chance hätten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, bevor es zu spät wäre«. Litchfield hinterließ ein großes Vermögen. Margaret Litchfield wurde für unzurechnungsfähig erklärt und in die forensisch-psychiatrische Klinik Broadmoor eingewiesen, starb aber kurz darauf.

Ich las aufmerksam, aber zunehmend verwirrt. Schließlich legte ich das letzte Blatt aus der Hand und blickte Poirot fragend an.

»Nun, mon ami?«

»An den Fall Bradley erinnere ich mich«, sagte ich langsam, »ich hatte ihn seinerzeit in der Presse verfolgt. Sie war eine sehr gutaussehende Frau.«

Poirot nickte.

»Aber Sie müssen mich aufklären. Was hat es mit dem Ganzen auf sich?«

»Sagen Sie mir zuerst, was Sie davon halten.«

Ich war ziemlich ratlos.

»Was Sie mir zu lesen gegeben haben, war die skizzenhafte Schilderung von fünf verschiedenen Morden. Sie ereigneten sich alle an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Irgendwelche augenfälligen Ähnlichkeiten scheinen zwischen ihnen nicht zu bestehen. Ich meine damit, einer war ein Mord aus Eifersucht, einmal ging es um eine unglückliche Ehefrau, die ihren Mann loswerden wollte, ein anderes Mal war Geld das Motiv, ein weiterer Mord geschah, könnte man sagen, aus uneigennützigen Beweggründen, da die Täterin sich nicht der Strafe zu entziehen versuchte, und der fünfte war eindeutig der brutalste von allen und wurde wahrscheinlich unter Alkoholeinfluss verübt.« Nach kurzem Schweigen fügte ich unsicher hinzu: »Oder habe ich eine Gemeinsamkeit übersehen, die doch zwischen all diesen Fällen besteht?«

»Nein, nein, Ihr Resümee war ganz zutreffend. Das Einzige, was Sie noch hätten erwähnen können, aber nicht erwähnt haben, ist die Tatsache, dass in keinem dieser Fälle irgendein ernsthafter Zweifel bestand.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht.«

»Mrs Etherington zum Beispiel wurde freigesprochen. Dennoch war jeder davon überzeugt, dass sie es getan hatte. Freda Clay wurde zwar nicht angeklagt, aber niemand kam auf den Gedanken, dass es eine andere Erklärung als Mord geben könnte. Riggs gab an, sich nicht zu erinnern, seine Frau und deren Liebhaber getötet zu haben, aber es stellte sich niemals die Frage, ob es nicht jemand anders getan haben könnte. Margaret Litchfield schließlich legte ein Geständnis ab. Sie sehen also, Hastings – in jedem Fall gab es genau einen klaren Verdächtigen und keine weiteren.«

Ich runzelte die Stirn. »Ja, das ist wahr – aber ich verstehe nicht, welche konkreten Schlüsse Sie daraus ziehen.«

»Ah, aber jetzt komme ich zu einem Punkt, der Ihnen noch nicht bekannt ist. Was wäre, Hastings, wenn alle diese von mir skizzierten Fälle genau eine gemeinsame Unbekannte hätten?«

»Wie meinen Sie das?«

Bedächtig sagte Poirot: »Ich beabsichtige, Hastings, meine Worte mit der größten Vorsicht zu wählen. Ich will es so formulieren: Es gibt eine bestimmte Person – X. In keinem dieser Fälle hatte X (scheinbar) das geringste Motiv, das jeweilige Opfer zu beseitigen. In einem der fünf Fälle hielt sich X, soweit ich feststellen konnte, zur Tatzeit sogar zweihundert Meilen vom Tatort entfernt auf! Dennoch werde ich Ihnen Folgendes verraten: X stand mit Etherington auf vertrautem Fuße, X lebte eine Zeit lang im selben Dorf wie Riggs, X war mit Mrs Bradley bekannt. Ich besitze einen Schnappschuss von X und Freda Clay, wie sie nebeneinander auf der Straße gehen. Und schließlich war X in der Nähe des Hauses, als der alte Matthew Litchfield starb. Was sagen Sie jetzt?«

Ich starrte ihn an. Dann sagte ich langsam: »Ja, das geht tatsächlich ein bisschen zu weit. Bei zwei Fällen könnte es Zufall sein, vielleicht sogar bei drei, aber fünf sind entschieden zu viel. So unwahrscheinlich es auch klingt, muss zwischen all diesen Morden irgendeine Verbindung bestehen.«

»Sie vermuten also dasselbe, was ich vermutet habe?«

»Dass X der Mörder ist? Ja.«

»In diesem Falle, Hastings, werden Sie bereit sein, zusammen mit mir noch einen Schritt weiter zu gehen. Hören Sie, was ich Ihnen sage: X ist in diesem Haus.«

»Hier? Auf Styles?«

»Auf Styles. Und welcher logische Schluss drängt sich damit auf?«

Ich wusste, was kommen würde, schon während ich sagte: »Nur zu – sprechen Sie es aus!«

Tiefernst entgegnete Hercule Poirot: »Schon bald wird hier ein Mord geschehen – genau hier!«

Drittes Kapitel

Ein, zwei Sekunden lang starrte ich Poirot bestürzt an, dann fand ich die Sprache wieder.

»Nein, wird er nicht«, sagte ich. »Sie werden ihn verhindern.«

Poirot warf mir einen liebevollen Blick zu.

»Mein getreuer Freund. Wie sehr ich Ihren Glauben an mich zu schätzen weiß! Tout de même bezweifle ich, dass er in diesem speziellen Falle gerechtfertigt ist.«

»Unsinn. Natürlich können Sie ihn unterbinden.«

Mit tiefernster Stimme sagte Poirot: »Denken Sie einen Augenblick nach, Hastings. Man kann einen Mörder fassen, das ja. Aber wie stellt man es an, einen Mord zu unterbinden?«

»Na ja, man – man – also, ich meine – wenn man es im Voraus weiß …«

Ich verstummte ziemlich betreten – denn plötzlich erkannte ich die Schwierigkeiten.

Poirot sagte: »Sehen Sie? Das ist nicht so einfach. Tatsächlich gibt es nur drei Methoden. Die erste besteht darin, das Opfer zu warnen. Ihn oder sie in Alarmbereitschaft zu versetzen. Das gelingt nicht immer, denn manche Menschen sind unglaublich schwer davon zu überzeugen, dass sie in Lebensgefahr schweben – möglicherweise sogar vonseiten einer ihnen nahestehenden Person. Sie geraten in Empörung und weigern sich, einem Glauben zu schenken. Die zweite Vorgehensweise ist die, den Mörder zu warnen. Ihm in nur leicht verhüllenden Wendungen zu sagen: ›Ich kenne Ihre Absichten. Sollte Soundso sterben, mein Freund, kommen Sie auf direktestem Wege an den Galgen.‹ Diese Methode hat zwar häufiger Erfolg als die erste, noch häufiger aber missglückt auch sie. Denn kein Geschöpf auf Erden, mon ami, ist so dünkelhaft wie ein Mörder. Ein Mörder oder eine Mörderin ist immer gescheiter als alle anderen – niemand wird ihn oder sie jemals verdächtigen – die Polizei wird im finstersten Dunkel tappen et cetera. Deswegen schreitet er oder sie jeder Warnung zum Trotze zur Tat, und einem selbst bleibt nur die schale Befriedigung, ihn oder sie anschließend an den Galgen zu bringen.« Er verstummte und sagte dann nachdenklich: »Zweimal habe ich in meinem Leben einen Mörder gewarnt – einmal in Ägypten, einmal woanders. In beiden Fällen war der Verbrecher von seinem Vorhaben nicht abzubringen … Es könnte sich auch hier so verhalten.«

»Sie sagten, es gebe noch eine dritte Möglichkeit«, erinnerte ich ihn.

»Ah ja. Diese Methode erfordert den größtmöglichen Scharfsinn. Man muss erraten, wann und wo genau der Täter zuschlagen wird, und man muss gerüstet sein, genau im psychologisch richtigen Augenblick einzugreifen. Man muss den Mörder, wenn schon nicht direkt auf frischer Tat, so doch beim unzweifelhaften, unbestreitbaren Tatvorsatz ertappen.

Und das, mon ami«, fuhr Poirot fort, »das kann ich Ihnen versichern, ist ein Unterfangen von großer Schwierigkeit und délicatesse, und ich würde keinen Augenblick lang die Garantie für sein Gelingen übernehmen. Ich mag von mir eingenommen sein, aber so eingenommen doch nicht!«

»Mit welcher Methode beabsichtigen Sie, es in diesem Fall zu versuchen?«

»Möglicherweise mit allen drei. Die erste ist die schwierigste.«

»Inwiefern? Ich hätte angenommen, sie sei die einfachste.«

»Ja, wenn man das vorgesehene Opfer kennt. Aber haben Sie nicht begriffen, Hastings, dass ich das Opfer hier gar nicht kenne?«

»Was?«