... vorm Tor der Leichenwagen - Edmund Crispin - E-Book
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Edmund Crispin

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Beschreibung

London zu Beginn der 50er Jahre.

Gervase Fen, Literaturprofessor aus Oxford und Gelegenheitsdetektiv, arbeitet als Experte bei der Produktion eines Films über den großen Dichter Alexander Pope, als eine grauenvolle Nachricht das Filmstudio erschüttert: Die junge und aufstrebende Schauspielerin Gloria Scott stürzte sich von der Waterloo Bridge direkt in ihren Tod. Ein tragischer, wenn auch unverständlicher Selbstmord. So scheint es jedenfalls, bis herauskommt, dass Gloria Scott nicht ihr echter Name war. Erst kürzlich machte sich jemand daran, in ihrem Apartment alle Hinweise auf ihre wahre Identität verschwinden zu lassen. Als dann noch ein Kameramann vergiftet wird, ist Gervase Fens Interesse endgültig geweckt. Gemeinsam mit seinem alten Freund Inspektor Humbleby begibt er sich auf Spurensuche …

Fesselnd, geistreich und humorvoll zugleich - Edmund Crispin ist ein Meister des klassischen britischen Detektivromans!

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Seitenzahl: 320

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Über Edmund Crispin

Edmund Crispin (eigentlich Bruce Montgomery) wurde 1921 geboren. Er studierte an der Merchant Taylors School und am St. Johns College Oxford moderne Sprachen und war dort zwei Jahre als Organist und Chorleiter tätig. Nach kurzer Lehrtätigkeit widmete sich Crispin ganz dem Komponieren – hauptsächlich von Filmmusik – und dem Schreiben. Einige Jahre war er Krimi-Kritiker bei der Sunday Times in London. Bis zu seinem Tod im Jahre 1978 lebte Crispin in Devon.

Informationen zum Buch

Wer ist Gloria Scott – beziehungsweise: Wer war sie? Eben aufsteigender Stern am Himmel des englischen Nachkriegsfilms – aber woher kam sie, welches war ihr wirklicher Name? Denn sie beging Selbstmord, zumindest angeblich. Dann sinkt auch noch der Regisseur, bei einer Drehbuchkonferenz tot zu Boden – auf geheimnisvolle Weise vergiftet. Dann ereignen sich noch weitere Morde, zumeist mit Colchicin, und rätselvolle und gefährliche Geschehnisse kommen hinzu, um ein immer noch verwirrenderes Handlungsgeflecht herzustellen. Die Filmateliers von Long Fulton und dann Lanthorn House, verwilderter Landsitz der Familie Crane, die viel mit dem Film zu tun hat, sind die dramatischen Schauplätze. Ein Kriminalroman, so raffiniert und logisch aufgebaut, so gescheit, so nachdenken erfordernd, so sehr intelligentes Rätselspiel, dass man ihm gewiss mit atemloser Spannung folgen wird.

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Edmund Crispin

… vorm Tor der Leichenwagen

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Heinrich Benz

Inhaltsübersicht

Über Edmund Crispin

Informationen zum Buch

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ANMERKUNG DES VERFASSERS

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

Impressum

Euch alle wird der Rache Blitz erschlagen,

Und oft steht dann vorm Tor der Leichenwagen.

ALEXANDER POPE:

Ode auf eine Unglückliche

ANMERKUNG DES VERFASSERS

Nachdem die gesamte Auflage dieses Buchs bereits gedruckt war, las ich zufällig in einer Zeitung, dass ein Kommissar Capstick von Scotland Yard die Ermittlungen in einem Fall leitete. Ich brauche nicht zu betonen, dass der Kommissar Capstick in meinem Buch und der echte Kommissar Capstick von Scotland Yard (den ich wegen dieses Fehlgriffs um Verzeihung bitte) nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Ich erfand den Namen Capstick beim Nachdenken über meine Geschichte, aber die Wirklichkeit hatte ihn bereits vor mir gefunden.

E.C.

ERSTES KAPITEL

1

Wenn man um den Piccadilly Circus einen Kreis schlägt mit einem Radius von achtzehn Meilen, findet man an seiner Peripherie verstreut die wichtigsten Filmateliers: Denham, Elstree und andere. Long Fulton liegt im Nordwesten. Wer von Oxford aus dorthin reisen will, tut gut daran, erst den Zug nach London zu nehmen und dann vom Londoner Marylebone-Bahnhof aus weiterzufahren. Die direkte Route quer durch das Land ist ebenso lang wie langweilig; sie ist mit viermaligem Umsteigen verbunden auf Bahnhöfen, die immer kleiner und älter werden, so dass der Reisende gewissermaßen eine Geschichte der Eisenbahn in Bildern in umgekehrter Richtung zu sehen bekommt. Am Ende erwartet ihn schließlich ein altersschwacher, zugiger Autobus. Es ist also ratsam, dieses Unternehmen gar nicht erst zu versuchen. Dass Gervase Fen sich darauf versteifte, es dennoch zu tun, kann erstens seinen angeborenen perversen Neigungen zugeschrieben werden, und zweitens der Tatsache, dass der Frühling ihn gewöhnlich faul und schlaff machte; sich im 20-Meilen-Tempo durch die sprießende Märzlandschaft zu schlängeln, war deshalb eine Beschäftigung, die gut zu seiner Stimmung passte. Wenn er um sechs aufstand, konnte er bequem bis um zehn in Long Fulton sein, dem Zeitpunkt, an dem die Drehbuchkonferenz laut Ankündigung beginnen sollte. Und da sie in Wirklichkeit nie vor halb elf oder elf anfing – das ist nun einmal so beim Film –, hatte er stets Gelegenheit, in der Kantine noch eine Tasse Kaffee zu trinken oder durch das Gewirr hinfällig wirkender Gebäude zu wandern, in denen die geistigen Kinder des Leiper-Konzerns von ungezügelter Kindheit bis hin zum Schnitt, zur Betitelung und zum Kopieren hochgepäppelt wurden, bevor sie ihre Premiere auf dieser oder jener Leinwand des Londoner Westends erlebten. Fen konnte diesen Produkten nie viel Geschmack abgewinnen; er brachte es einfach nicht fertig, britische Filme als unentbehrlich für ein menschenwürdiges Dasein zu betrachten, und maß daher seiner eigenen vorübergehenden Tätigkeit in den Ateliers nicht allzu viel Bedeutung bei: Er fungierte als fachmännischer Berater in Fragen, die das Leben und das Werk des Dichters Alexander Pope berührten.

Bei seinem dritten Besuch in den Ateliers – an einem Tag gegen Ende März mit den schnell fliegenden Wolken und dem klaren Sonnenlicht der Tagundnachtgleiche – erfuhr er zum ersten Mal von der Existenz eines Mädchens, das sich Gloria Scott nannte.

Die Ateliers hatten das Dorf Long Fulton so gut wie vernichtet. Man hätte darüber eine Menge empörter Zuschriften in der Times lesen können, wäre diese Vernichtung ein Verlust gewesen, aber das mochte selbst mit bestem Willen niemand behaupten. Es stellte sich nämlich bald heraus, dass nur wenig zugunsten des Dorfes vorgebracht werden konnte. In architektonischer Hinsicht war es schlechthin unbedeutend, und das völlige Fehlen historischer oder literarischer Erinnerungen ließ selbst den unternehmungslustigsten und erschöpfendsten Reiseführer verstummen. Darüber hinaus steht fest, dass die Dorfbewohner selbst sich jedem Versuch widersetzt hätten, sie vor der Invasion des Leiper-Konzerns zu schützen, denn die Errichtung der Ateliers erlaubte ihnen nicht nur berauschende Blicke auf jene Götter, zu deren Anbetung sie sich zweimal wöchentlich im Regent-Kino in Gisford versammelten (unpersönliche und auswechselbare Götter übrigens, aber von immerwährendem Reiz) – sie ermöglichte es ihnen auch, durch allerlei Schliche räuberischen Profit aus der Invasion zu schlagen. So wurde Long Fulton durch die unwiderstehliche Mischung von Gold und Göttlichkeit verführt wie Danaë – wenngleich es weniger schön war. Der Zustand der Sklaverei, der unausweichlich daraus folgte, war der Natur und den Instinkten der Dorfbewohner wunderbar angemessen. Solange sie sich selbst und ihren eigenen dürftigen Einfällen überlassen gewesen waren, hatten sie Long Fulton so sehr in Grund und Boden gewirtschaftet, dass es tatsächlich unterzugehen drohte. Daher waren sie nur zu froh, ihre Unabhängigkeit den Ateliers überantworten zu können, und wie ein einziger Mann hätten sie sich gegen jeden Plan erhoben, ihnen ihr Dorf zurückzuerstatten.

Man lebte in Long Fulton praktisch mitten in den Ateliers. Sie ragten drohend hinter der Kirche auf – ein weitläufiges Gewirr verschiedenartigster Gebäude, die an die Spielzeughäuser eines unordentlichen Riesenkindes erinnerten, das sie achtlos in die Ecke des Zimmers gefeuert hat. Nach der Straße zu gab es so etwas wie eine Fassade, aber der Versuch, den dahinterliegenden Gebäuden dadurch einen gewissen Zusammenhang zu verleihen, war so offensichtlich gescheitert, dass es ästhetisch weitaus befriedigender gewesen wäre, hätte man diesen Versuch gar nicht erst gemacht. Die Straße, für einen so starken Verkehr nicht gebaut, war ausgefahren; der Verputz der meisten Gebäude schrie nach Erneuerung; die Bombenschäden waren nicht ordnungsgemäß repariert, sondern nur notdürftig zurechtgeflickt (bis zum Schluss hatte der deutsche Geheimdienst zäh an der Ansicht festgehalten, die Ateliers seien eine Art Waffenfabrik). Die großen Aufnahmehallen schließlich, die einsam die übrigen Gebäude überragten, sahen aus, als wollten sie beim nächsten Windstoß zusammenstürzen. All dies hatte zweifellos wirtschaftliche Gründe (die Industrie windet sich ja ständig in irgendeiner finanziellen Krise); aber die allgemeine Unordnung des Ortes wurde noch betont durch das umliegende Gelände, das übersät war mit naturgetreu imitierten Flugzeugtrümmern, halb demolierten Sperrholzhäuschen, riesigen blauen Rundhorizonten, geheimnisvollen Pyramiden aus Sand, kleinen Leuchttürmen und einem Durcheinander anderen Krams.

Auch das Innere der Hallen vermittelte keinen besseren Eindruck. In den Wänden waren zickzackförmige Risse; der Putz rieselte von den Decken und ließ sich auf dem Haar des Besuchers nieder; alles war verstaubt und von zweifelhafter Sauberkeit; mindestens ein Drittel der zahllosen Telefonapparate, die die wichtigsten Einrichtungsgegenstände bildeten, war ständig gestört. Darüber hinaus war das ganze Gelände so unvernünftig und unübersichtlich angelegt, dass man glauben konnte, es befinde sich noch im Zustand des Urchaos. Es gab freilich ein paar feste Orientierungspunkte, zum Beispiel die Musikabteilung und die Drehbuchabteilung, aber der Rest schien nur aus unzähligen kahlen Zimmerchen zu bestehen, die einheitlich mit Stühlen, einem Tisch und dem unvermeidlichen Telefon ausgestattet waren und für offizielle und inoffizielle Beratungen benutzt wurden. Sie ließen sich nur durch ein surrealistisches System von einstelligen Zahlen und Buchstaben voneinander unterscheiden, und so war es ein beträchtliches Wagnis, ohne jegliche Hilfe einen bestimmten Raum zu suchen. Was den Ateliers vor allem fehlte, war ein Brennpunkt, etwa in Gestalt eines einzigen Haupteingangs. Tatsächlich gab es aber deren drei, die sich in nichts voneinander unterschieden, höchstens darin, dass jeweils nur einer den Besucher an das Ziel seiner Wünsche brachte und die beiden anderen nicht. An keinem der drei gab es eine Auskunfts- oder Orientierungsmöglichkeit. Für den Fremden war dies alles einigermaßen verwirrend.

Aber Fremde kamen selten; aus naheliegenden Gründen ermutigte sie die Gesellschaft nicht zum Besuch des Geländes. Was aber die Angestellten von Mr Leiper betraf, die in gewohnten Bahnen einer vertrauten Tätigkeit nachgingen, durfte man annehmen, dass sie sich allein zurechtfanden. Sie bildeten übrigens eine sehr bunte Gemeinschaft: unzählige Techniker, die ständig an einen nächsten Streik dachten; tadellos frisierte Stenotypistinnen von ebenso vollendeter Haltung wie die Heldinnen in den Romanen gewisser Autorinnen; Kameraleute und Ateliersekretärinnen; jüngere Regieassistenten; ältere glatt rasierte Produzenten und leitende Angestellte in saloppen Anzügen; Schauspieler und Schauspielerinnen in ihrem Make-up; Statisten, die ihre Langeweile wie ein Kleidungsstück zur Schau trugen; Kantinenpersonal, Portiers und Boten. Ihrer gemeinsamen Arbeit war es zu danken, dass Wigan seine Portion Romantik bekam, West Hartlepool ein Stück mitreißendes Abenteuer, Birmingham und Aberystwyth einen Tropfen Balsam auf die Wunden, die das Leben schlägt. So konnten Jane und George, Sally und Dick händchenhaltend, den Kopf auf des anderen Schulter gelehnt, dank den Bemühungen des Ateliers für mindestens drei Stunden dem Krieg und den Kriegsgerächten, dem häuslichen Zank und der öffentlichen Zwietracht, der Langeweile, der Bosheit, dem Alltagseinerlei und dem Kampf ums Dasein entfliehen … Kurzum, Long Fulton war schon ein beachtlicher Quell dieser mächtigsten Religion unserer Tage. Aus diesem Grund hätte man von den Dienern solcher Religion billigerweise ein gewisses Maß an Hybris erwarten dürfen. Aber die Leute vom Bau waren im Großen und Ganzen keineswegs überheblich oder eingebildet. Wie Gulliver unter den Riesen von Brobdingnag waren sie sich der Mängel und der schmutzigen Seiten der Einrichtung, der sie dienten, schmerzlich bewusst und wurden daher immer wieder überrascht, wenn nicht sogar abgestoßen von den Huldigungen, die diese Einrichtung unaufhörlich von ihren Millionen Anbetern verlangte. Nur selten stieg der Glanz eines »Filmjobs« jemandem in den Kopf – und wenn auch das Mädchen, das sich Gloria Scott nannte, an solchem Größenwahn gelitten haben mochte, so ließ sich das mit ihrer Jugend entschuldigen, und zudem war sie eine recht unbedeutende Person. Ihr Tod und seine schrecklichen Folgen erregten vielleicht gerade deshalb so großes Aufsehen, weil sie so unbedeutend war. Es war, als sei eine Bombe in einem Gebiet explodiert, das die Behörden zuversichtlich als völlig sicher bezeichnet hatten …

2

Der Autobus von Gisford fuhr nur bis zum Bären, einem dahinsiechenden Gasthaus am anderen Ortsausgang. Von dort aus musste Fen zu Fuß gehen. An jenem Morgen überquerte er gerade die Hauptstraße, in die Lektüre der Ambassadors von Henry James vertieft, als eine kleine Limousine neben ihm stoppte.

»Zum Atelier«, rief eine Stimme aus dem Innern des Wagens. »Können Sie mir bitte sagen, ob ich hier zum Filmatelier komme?«

Die eine Hälfte von Fens Aufmerksamkeit verweilte noch bei dem unvernünftigen Strether, der Hauptfigur seines Buchs, mit der anderen gab er eine bejahende Antwort. Er wollte sie gerade durch genauere Angaben ergänzen, als ein Ausruf ihn innehalten ließ.

»Ach, Professor Fen!«, sagte der Wageninsasse herzlich. »Das ist aber eine nette Überraschung. Wie geht’s Ihnen?«

Fen schüttelte schnell die Betäubung ab, die die Prosa von Henry James stets bei ihm hervorrief, bückte sich und schaute zum Wagenfenster hinein.

Er sah einen kleinen, adretten, lebhaften Mann zwischen fünfzig und sechzig, der wie ein wohlwollender Gnom freundlich hinter dem Steuer saß, mit angegrautem Haar, einem runden, glattrasierten, rosigen Gesicht und unschuldigen blauen Augen. Im Mundwinkel hatte er eine Zigarre, auf dem Kopf einen grauen Homburg und an den Füßen blank gewichste braune Schuhe. Man hätte ihn für einen gut situieretn, sympathischen Handlungsreisenden mit kulturellem Ehrgeiz halten können, und vielleicht war eine solche Wirkung auch beabsichtigt, denn die Gewohnheit des Sichtarnens war ihm schon oft nützlich gewesen im Umgang mit der komplexen Verbrecherwelt der Hauptstadt. Aber seine äußere Erscheinung war nur ein getreues Abbild seiner wahren Natur: Er war tatsächlich und ohne jede Affektiertheit ein sympathischer, ordentlicher Mann von entwaffnendem Charme und unaufdringlicher Bildung. Wenn ihm diese Eigenschaften auch bei seiner Arbeit in Scotland Yard zu Hilfe kamen, so hatte er doch stets erfolgreich der Versuchung widerstanden, des Guten zu viel zu tun und sie zur Pose werden zu lassen.

»Humbleby«, sagte Fen, als er ihn erkannte, und streckte die Hand aus. Humbleby zog sie zu sich in den Wagen und schüttelte sie schlaff. »Das ist jetzt zwei Jahre her, nicht wahr, oder schon drei?«

»Knapp zwei Jahre, glaube ich«, sagte Humbleby und nickte beifällig seinem eigenen Scharfsinn zu. »Der Fall Sanford war im September 1947. Sind Sie in der Zwischenzeit einmal dort gewesen? Wie ich höre, sind Sie doch nicht ins Parlament gekommen. Ist auch besser so. Haben Sie gehört, dass Myra …«

Ein paar Minuten lang plauderten sie über den Fall, der sie zusammengebracht hatte. Aber plötzlich hatte Fen genug von diesen Erinnerungen:

»Was wollen Sie eigentlich in den Ateliers? Sind Sie dienstlich hier?«

Humbleby nickte. »Gewissermaßen. Ich glaube, Sie nannten das einmal kriminalistische Urlaubsbeschäftigung. Es ist aber nichts Sensationelles, soweit man’s bis jetzt beurteilen kann … Bin ich nun eigentlich auf dem richtigen Weg zu den Ateliers?«

»Dort drüben sind sie.« Fen deutete hin. »Die weißen Gebäude hinter den Bäumen. Das Tor ist etwa zweihundert Yards weiter auf der linken Seite. Ich will übrigens auch dorthin. Falls Sie mich mitnehmen könnten …«

»Aber selbstverständlich.« Humbleby machte die Tür auf, und Fen kletterte hinein. »Was lesen Sie denn da?«

»The Ambassadors.«

»Ein Betäubungsmittel«, sagte Humbleby. »Ich war schon immer der Meinung, dass Henry James unter das Rauschgiftgesetz fallen sollte. Vielleicht könnte man ihn bei Geburten verwenden. Fahren wir!«

Da Humbleby kein Talent zum Autofahren hatte, bewegten sie sich ruckartig die fast verlassene Straße hinunter. Die Sonne schien mit unpersönlichem Wohlwollen auf sie herab, und ein Hund, der den Absichten des Wagens nicht traute, bellte ihn vom Bordstein her ängstlich an. Humbleby streckte ihm im Vorbeifahren die Zunge heraus.

»Und Sie«, sagte er, »wollen Sie sich einmal die Ateliers anschauen, oder sind Sie beruflich hier tätig?«

»Letzteres.« Fen hielt die Luft an, als sie sich einer Biegung der Straße näherten, und wagte erst wieder zu atmen, als sie sicher hinter ihnen lag. »Nur eine Gelegenheitsarbeit. Ich bin als literarischer Berater tätig für einen Film, den sie hier drehen wollen.«

»Großer Gott!«, sagte Humbleby. »Was ist denn das für ein Film?«

»Über das Leben von Pope.« Seine letzten Worte gingen unter in dem gebieterischen, aber offenbar völlig zwecklosen Lärm von Humblebys Hupe. »Über das Leben von Pope«, wiederholte er gereizt.

»Meinen Sie etwa den Dichter aus dem 18. Jahrhundert?«

»Ja.«

»Aber um Himmels willen, in Popes Leben gibt’s doch überhaupt nichts, woraus man einen Film machen könnte.«

»Das sollte man meinen.« Fen schüttelte düster den Kopf. »Aber trotzdem wird ein Film über ihn gedreht. Und der Grund …«

Fen hielt inne und deutete gebieterisch auf das Ateliertor, an dem sie mittlerweile angekommen waren. Sie bogen ein und fuhren an einer Art von Schilderhäuschen vorbei. Der Portier schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Eigentlich sollten die Ausweise vorgezeigt werden, aber diese Vorschrift wurde nur an den Tagen beachtet, an denen Statisten bestellt waren. »Der Grund«, wiederholte Fen hartnäckig, »ist folgender: Vor ein paar Monaten starb Andrew Leiper, und sein Bruder –«

Aber Humbleby hörte nicht zu. Stattdessen suchte er eine Lücke in der Reihe teuer aussehender Wagen – größtenteils Denkmäler für den geglückten Versuch, die Steuerbehörden zu hintergehen –, die mit der Nase zur Wand vor den Ateliers abgestellt waren. Er fand einen freien Platz und manövrierte mühsam hinein.

»Ja?« ,fragte er ermutigend, »was sagten Sie doch?«

»Ich sagte, dass diese Gesellschaft früher einem Mann namens Andrew Leiper gehörte. Aber dieser Andrew Leiper ist unlängst gestorben und hat die Gesellschaft und noch andere Objekte seinem älteren Bruder Giles hinterlassen.«

Fen deutete nach oben zur Fassade, wo eine Gruppe Arbeiter damit beschäftigt war – übrigens schon seit drei Wochen, denn sie hatten’s nicht eilig –, in der großen vergoldeten Inschrift ›ANDREW LEIPER FILMS INC!‹ das Wort ›ANDREW‹ durch ›GILES‹ zu ersetzen. »Si monumentum requiris …«

»Richtig.« Humbleby stellte den Motor ab, nahm seine Zigarre aus dem Mund und betrachtete aufmerksam ihr Ende. »Aber welche unmittelbare Bedeutung hat die Lage, die Sie geschildert haben, für …«

»Darauf komme ich gleich. Dieser Giles ist ein literarischer Sonderling, was übrigens sein einziger Anspruch auf Originalität ist. Er glaubt zum Beispiel, dass Shakespeares Werke vom Earl of Rutland stammen, mit Ausnahme des Sturm, den er Beaumont und Fletcher zuschreibt. Er hat sogar ein kleines Buch geschrieben, das diese Behauptung beweisen soll. Er glaubt ferner, dass Dryden impotent war und dass die blutschänderischen Beziehungen zwischen Emily Brontë und ihrem Bruder Bramwell für Stürmische Höhen verantwortlich sind. Vermutlich behauptet er sogar, dass Bramwell den Roman geschrieben hat und nicht Emily … Aber dies nur nebenbei. Das Entscheidende ist nun, dass Giles auch über Pope Ideen entwickelt hat. Kennen Sie die Ode auf eine Unglückliche?«

»Dr. Johnson«, sagte Humbleby mit der vorsichtigen Überlegung, mit der man sich im Gespräch auf Glatteis begibt, »hat sie als Apologie des Selbstmords gedeutet.«

»Richtig. Und …«

»Aber mir gefällt sie«, unterbrach ihn Humbleby mit plötzlicher Begeisterung. »Mir gefällt sie sogar sehr gut.« Er begann theatralisch zu deklamieren: »Was winkst du, Geist, mir dort im Mondesschatten / dadam dadam dadam zu jener Lichtung? / ’s ist sie! – Doch warum Blut auf ihrem Busen –«

»Bitte! Bitte!« Fen kramte eine Packung Zigaretten aus seiner Manteltasche und zündete sich eine an. »Ihre Erinnerung an das Gedicht ist wohl etwas lückenhaft. Ich erkläre Ihnen besser, worum es darin geht. Es handelt sich um –«

»Aber das ist doch völlig unnötig …«

»Es ist eine Elegie auf eine junge Frau, die sich umgebracht hat, weil ihr Mann sie – hm – schmählich verlassen hat. Der Dichter …«

»Aber ich erinnere mich ja ganz genau daran«, sagte Humbleby, »wirklich ganz genau.«

»Der Dichter beklagt dieses Ereignis und verkündet anschließend seine Überzeugung, dass die Rache nicht nur den Gatten, sondern auch seine ganze Familie treffen wird.«

»›Der Leichenzüge Schwarz wird alle Wege füllen‹«, sang Humbleby in feierlicher Antiphon.

»Decken! Wird alle Wege decken! … Die junge Frau war möglicherweise eine Mrs Weston, eine geborene Miss Gage. Aber das ist nur eine Vermutung. Höchstwahrscheinlich ist das Gedicht bloß eine poetische Phantasieübung, und es gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass Pope irgendwie persönlich in die Sache verwickelt war. Und das bringt uns zu Giles Leiper.«

»Endlich kommen wir wieder zu Giles Leiper.«

»Er glaubt, dass Pope doch persönlich betroffen war. Das ist eine von Leipers albernen Ansichten. Vor Kurzem hat er tatsächlich in irgendeiner unseriösen Zeitschrift einen Artikel veröffentlicht, in dem er behauptet, dass Pope mit diesem Mädchen ein Liebesverhältnis hatte, und deshalb habe ihr Tod ihn so bestürzt. Will man uns glauben machen«, zitierte Fen voller Widerwillen, »dass ein so tief empfundenes Gedicht lediglich eine gefühllose Versübung ist? Stimmt es nicht viel besser mit unserem Wissen um Dichtung und Dichter überein, wenn wir annehmen, dass Pope zutiefst persönlich an dieser Frau interessiert war?«

»Ist das nicht auch Ihre Ansicht?« fragte Humbleby, den diese Vorstellung zu überraschen schien.

»Nein, das ist nicht meine Ansicht. Und selbst wenn dem so wäre, gibt es in diesem Fall nicht die geringste Rechtfertigung für die Annahme, dass Popes Beziehungen zu dem Mädchen mehr als platonisch waren … Gleichviel – der Film dreht sich in der Hauptsache um diese angenommene Liebesbeziehung, aber natürlich kommt noch eine Menge anderes Zeug mit hinein.« Fen dachte nicht ohne Vergnügen daran. »Lady Mary Wortley Montagu zum Beispiel. Dann Addison und Swift. Man sieht Swift, wie er den ganzen Tag auf dem Land herumläuft, wie er seinen Gulliver schreibt und verliebt an Stella denkt. Sogar seine spätere Geisteskrankheit wird vorweggenommen: Man zeigt ein paar kleine Anfälle davon. Bolingbroke kommt widersinnigerweise auch darin vor.«

Humbleby lachte: »Und Dryden und Wycherly und Händel und Gay und Königin Anne. Diesen Film darf ich nicht versäumen. Wie weit ist er denn?«

»Es ist noch nichts im Kasten.«

»Im Kasten?«

»Ja. Oh, verzeihen Sie! Dieser Jargon ist ansteckend. Ich meine, man hat mit den eigentlichen Dreharbeiten noch gar nicht angefangen. Wir sind noch im Stadium der Drehbuchkonferenzen.« Fen sah auf seine Uhr. »Heute morgen haben wir wieder eine, deswegen bin ich hier.«

Humbleby warf den Rest seiner Zigarre zum Wagenfenster hinaus. »Ich hoffe, Sie haben’s nicht eilig.«

»Nein, nicht besonders. Aber bevor ich gehe, sagen Sie mir doch bitte, was Sie hierherführt. Das heißt, wenn es nichts Vertrauliches ist.«

»Nein, vertraulich ist es nicht.« Bei der Erinnerung an seinen Auftrag hatte sich Humblebys sanftes Gesicht etwas verdüstert. »Da Sie die Leute hier kennen, könnten Sie mir vielleicht sogar behilflich sein.«

»Ein Verbrechen?«

»Ja. Auch Selbstmord ist ein Verbrechen. Das einzig Besondere an diesem Fall ist der Umstand, dass das arme Ding noch so jung war. Und dass sie sich’s im letzten Augenblick anders überlegt hat – allerdings zu spät, um sich zu retten …« Humbleby straffte sich wie jemand, der vor einer notwendigen, aber höchst unangenehmen Aufgabe steht. »Sagen Sie, sind Sie jemals einem Mädchen namens Gloria Scott begegnet?«

3

Eine Gruppe älterer, abgestumpfter, mürrischer Frauen kam zum Ateliertor herein – Putzfrauen offenbar. Ihre krächzenden Stimmen drangen unangenehm durch die klare Morgenluft, als sie dem Portier ein paar mühsame Witze zuriefen. Die Männer auf dem Gerüst hatten aufgehört zu arbeiten und stärkten sich mit kaltem Tee. Aus der Ferne kam eine Folge dumpf widerhallender Schläge, als ob Holzbalken auf- oder abgeladen würden. Und während Humbleby sprach, hüllte eine dunkle Wolke die Ateliers in ihren Schatten, so dass die flachen Hügel, die noch von der Sonne beschienen waren, wie poliertes Metall glänzten.

»Gloria Scott?«, fragte Fen. »Nein, ich glaube, der Name sagt mir nichts.«

Humbleby spielte geistesabwesend mit dem Revers seines hellgrauen Mantels. »Ich bin mir nicht im Klaren, ob sie überhaupt hier gearbeitet hat. Jedenfalls hat Miss –«, er kramte in seinem Gedächtnis, »Miss Flecker von hier aus angerufen. Sie sagte, sie könne sie identifizieren. Kennen Sie zufällig Miss Flecker?«

»Nein«, sagte Fen ungeduldig. »Bis jetzt verstehe ich von alldem nichts. Erzählen Sie bitte!«

»Haben Sie schon die Morgenzeitungen gelesen?«

»Nur die Times und die Mail.«

»In der Mail steht es. Ein Foto des Mädchens mit einem Aufruf zur Identifizierung.«

Fen zog die Zeitung aus seiner Tasche und blätterte sie durch. »Da«, sagte Humbleby und deutete auf die Stelle. Es war das Foto eines hübschen Mädchens von höchstens zwanzig Jahren mit einem etwas schmollenden Ausdruck – eines jener auf »interessant« zurechtgemachten Porträts, wie Schauspielerinnen sie bevorzugen: Mund, Nase, Hals und Brüste waren durch geschickte Beleuchtung stark betont. Der knappe Begleittext teilte lediglich mit, dass die Polizei zu erfahren suche, wer das Mädchen sei.

»In gewissem Sinne erkennt man sie natürlich wieder«, sagte Fen nachdenklich. »Man findet dieses Foto oder ein Dutzend andere, die sich kaum davon unterscheiden, vor fast jedem Kino im ganzen Land … War sie brünett, dunkelblond, rothaarig? Auf Schwarz-Weiß-Fotos wirkt eins wie das andere.«

»Kastanienbraun, als ich sie sah. Schönes, tiefes Kastanienbraun, mit Schlamm und Wasserpflanzen aus der Themse verziert.«

Fen blickte Humbleby mitfühlend an. »Ja und?«, sagte er, »was steckt dahinter?«

»Es geschah gestern am frühen Morgen – das heißt, in der vorletzten Nacht ungefähr um zwei. Das Mädchen nahm ein Taxi in der Half Moon Street, Ecke Piccadilly. Sie sprach dort mit einem Mann, den der Fahrer sich nicht genau angesehen hat. Als Adresse gab sie ein Haus in der Stamford Street an, auf der anderen Themseseite. Als sie dann mitten auf der Waterloo-Brücke waren, ließ sie halten. Sie schien mit ihren Nerven am Ende zu sein, deshalb fuhr der Fahrer nicht gleich weg, als sie bezahlt hatte. Er sah ihr nach, wie sie zum Geländer hinlief, und sobald er erkannte, was sie vorhatte, rannte er hinter ihr her. Die Brücke war fast leer, aber ein Polizeiwagen fuhr gerade darüber, und die Männer darin sahen sofort, was da vor sich ging. Der Taxifahrer griff noch nach ihr, als sie sich fallen ließ, aber es war zu spät. Sie tauchte noch einmal auf und schrie – sie war flach aufs Wasser aufgeschlagen. Sie können sich vorstellen, welche Wirkung das hat bei dieser Höhe. Einer der Männer aus dem Streifenwagen sprang ihr nach, aber sie war schon tot, als er sie ans Ufer brachte.«

Die Putzfrauen waren in den Ateliergebäuden verschwunden. Ein kleiner, offener Lastwagen, vollgepackt mit Zimmerleuten in blauen Arbeitsanzügen, kam geräuschvoll aus einem verborgenen Eingang zur Linken. Aber Fen nahm kaum Notiz davon: Er stand im Geist auf der menschenleeren, lampenerhellten Weite der Waterloo-Brücke und blickte über das Geländer hinab auf eine Gestalt, die sich mühsam durch Schlamm und Untiefen bewegte und hinter sich den schlaffen Körper eines Mädchens mit kastanienbraunem Haar zog … Die Wolke, nach Nordwesten abgetrieben, gab die Sonne wieder frei, aber Fen schauderte trotzdem etwas, denn er spürte auf seinem Mund den Nachtwind und in seiner Nase den Geruch des Flusses bei Ebbe. Solche Visionen waren natürlich dem Fall nicht angemessen, sie ergaben gewiss nur ein unvollständiges und einseitiges Bild. Aber er schob sie nur zögernd beiseite.

»Ja«, sagte er, »und weiter?«

Humbleby rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her – vielleicht weil er sich bewusst war, dass ein Mensch dann am theatralischsten wirkt, wenn er am aufrichtigsten ist.

»Natürlich hat sich der Kommissar sofort der Sache angenommen. Zufällig ist er mein Schwager. Vor Jahren, als er noch Sergeant war, haben wir einmal einen Fall zusammen bearbeitet, da traf er meine Schwester in meiner Wohnung, der Ärmste … Na ja, ich hatte ihn lange nicht gesehen, und da ich gerade Urlaub mache, habe ich gestern morgen einmal bei ihm im Büro reingeschaut, und da hat er mir alles erzählt. Wie Sie sich denken können, ist die Identifizierung des Mädchens die Hauptschwierigkeit. Sie hatte ihre Handtasche auf der Brücke fallen lassen, aber sie enthielt nichts, was Aufschluss geben konnte – außer dem Foto, und bei dem fehlt der Name des Fotografen. Ihre Kleider waren alle neu und nicht gezeichnet, also helfen die uns auch nicht weiter.«

»Aber die Adresse!« Fen war überrascht, dass Humbleby den nächstliegenden und augenscheinlichsten Zugang zu dem Problem übersah. »Die Adresse, die sie dem Taxichauffeur angab!«

»Zwecklos. Wir haben das Haus gefunden, aber das hat uns auch nichts genützt. Sie war erst am vorhergehenden Nachmittag dort eingezogen und hatte weder das Anmeldeformular ausgefüllt noch ihre Lebensmittelkarten abgegeben. Natürlich hatte sie der Wirtin ihren Namen gesagt, aber die ist ziemlich taub und hat ihn nicht verstanden. Es sieht tatsächlich so aus, als hätten die Parzen sich verschworen, uns Schwierigkeiten zu machen.«

»Aber ihre Sachen – ihre Papiere und so weiter?«

»Ach ja! Das ist der einzig wirklich merkwürdige Punkt in der Angelegenheit.« Humbleby machte eine Pause; es freute ihn, etwas Seltsames erzählen zu können. »Als wir hinkamen, waren ihr Zimmer und ihre Sachen schon durchsucht worden.«

Amseln flogen in unregelmäßiger Formation über sie hinweg und streiften neugierig über die Atelierdächer. An einem Fenster in der gegenüberliegenden Wand erschien ein geschniegelter junger Mann, starrte sie misstrauisch an, murmelte etwas zu einem unsichtbaren Begleiter hinter sich und verschwand wieder. Humbleby spielte zerstreut mit dem Türgriff; er war normalerweise nicht nervös, und Fen deutete dies als ein Zeichen beträchtlicher Unruhe.

»Durchsucht?«, fragte er. »Wonach denn?«

»Nach Anhaltspunkten für die Identifizierung. Alles Derartige wurde entfernt und mitgenommen: Papiere, Fotos, die Vorsatzblätter von ein paar Büchern. Die Wäschereizeichen waren aus allen Kleidern herausgeschnitten, und von dem Papierfutter in einem Kofferdeckel wurde ein Stück herausgerissen; offenbar standen ein Name und eine Adresse darauf. Der Betreffende war sehr gründlich; er hat nichts übersehen, soweit wir feststellen konnten.«

»Das ist aber doch einigermaßen ungewöhnlich«, sagte Fen ziemlich verwirrt. »Wenn sie ermordet worden wäre, dann … Aber es besteht doch wohl kein Zweifel …«

»Nicht der geringste. Es war einwandfrei Selbstmord. Aber wohlgemerkt, es könnte durchaus sein, dass irgendjemand nicht wünscht, dass das Motiv ihres Selbstmords bekannt wird, und auf diese Weise versucht hat, es zu vertuschen. Vielleicht war sie schwanger. Das werden wir erfahren, wenn der Befund der Leichenschau vorliegt.«

Fen nickte. »Merkwürdig. Und insofern interessant, als dem Betreffenden klar gewesen sein muss, dass trotz seiner Bemühungen durchaus noch die Möglichkeit der Identifizierung besteht. Es sei denn …«

»Es sei denn …?«

»Sie sagten, Sie hätten herausbekommen, dass sie Gloria Scott hieß?«

»Das hat uns diese Miss Flecker am Telefon gesagt.«

»Aha. Ich möchte ja nichts Verkehrtes suggerieren, aber mir kommt’s so vor, als sei dies möglicherweise ein Künstlername.«

Humbleby dachte darüber nach. »›Gloria‹«, murmelte er. »Ja, ich verstehe schon. In diesem Fall wollte der Unbekannte wahrscheinlich ihren wirklichen Namen vertuschen.«

»Ganz recht … Aber das ist ja alles vorläufig nur Hypothese. Über ein paar Punkte brauche ich noch Klarheit. Gibt es zum Beispiel Hinweise für den Zeitpunkt, zu dem das Zimmer des Mädchens durchsucht wurde?«

Humbleby hatte mittlerweile vom Türgriff abgelassen und spielte jetzt mit dem Ganghebel. »Ja«, sagte er, »dafür haben wir einen ziemlich genauen Anhaltspunkt. Es ist höchstwahrscheinlich gestern Morgen passiert.«

»Nach ihrem Selbstmord?«

»Ja, nachher. Ich will Ihnen die Einzelheiten ersparen: Jedenfalls konnte von dem Augenblick an, wo sie einzog – Donnerstagnachmitag, also vorgestern –, bis gestern morgen etwa um neun unmöglich jemand unbeobachtet in ihr Zimmer und wieder hinausgehen und lange genug darin bleiben, um das zu tun, was getan wurde. Nur die Wirtin hätte das machen können, aber es liegt kein Grund vor, sie zu verdächtigen. Aus bestimmten Gründen konnten mein Schwager und ich erst gestern Nachmittag hingehen, aber da war das Unglück bereits geschehen.« Humbleby machte eine erwartungsvolle Pause. Dann fragte er: »Nun, was halten Sie davon?«

»Nicht viel.« Fen rümpfte geringschätzig die Nase und bewegte seine langen Beine hin und her, um den Krampf loszuwerden, der ihn beschlichen hatte. »Nicht viel. Die Beseitigung der Identifizierungsmerkmale hängt möglicherweise gar nicht mit dem Selbstmord zusammen. In diesem Fall ist sie vorläufig ganz unverständlich. Aber wenn sie damit zusammenhängt, dann erhebt sich die Frage, woher der Betreffende wusste, dass sich das Mädchen umgebracht hat. Stand gestern Morgen schon etwas darüber in den Zeitungen?«

»Nur eine kurze Notiz. Kein Bild und kein Name, denn zu diesem Zeitpunkt war uns noch gar kein Name bekannt.«

»Der Unbekannte kann dabei gewesen sein, als sich das Mädchen in den Fluss stürzte, vermute ich. Oder als man sie herauszog. Wissen Sie zufällig, ob viele Leute dabeistanden?«

»Ein paar … Ja, das wäre eine Möglichkeit.« Humbleby hatte in den ersten Gang geschaltet und mühte sich ab, den Hebel wieder freizubekommen. »Die Geschichte ist ziemlich dunkel«, sagte er schwer atmend, »das lässt sich nicht leugnen.«

»Lassen Sie doch Ihren Wagen in Ruhe, Humbleby, sonst machen Sie noch irgendwas kaputt … Ja, die einzige Möglichkeit ist die, mehr über das Mädchen in Erfahrung zu bringen. Deswegen sind Sie wahrscheinlich hier?«

Humbleby ließ von seinen Bemühungen ab und betrachtete widerwillig den Ganghebel. Dann zog er einen Fetzen Papier aus der Tasche, schrieb darauf: Vorsicht, Du hast in den ersten Gang geschaltet und lehnte ihn gegen die Windschutzscheibe.

»Ja, deswegen bin ich hier. Diese Miss Flecker hat das Bild in der Zeitung gesehen und heute Morgen um halb neun angerufen. Ich habe mich erboten, sie auszufragen … Wenn ich ehrlich sein soll: Ich war schon immer neugierig, wie’s in einem Filmatelier aussieht, und dies ist die erste Gelegenheit für mich.«

Fens Krampf wurde in der Enge des Wagens unerträglich. Er brach die Unterhaltung plötzlich ab, indem er die Tür öffnete und ausstieg.

»Na, Sie werden enttäuscht sein«, sagte er unfreundlich. »Aber wenn ich jetzt nicht gehe, komme ich noch zu spät. Vielleicht können wir’s so einrichten, dass wir uns beim Mittagessen treffen.«

»Warten Sie! Warten Sie!«, rief Humbleby und kletterte hastig auf der anderen Seite aus dem Wagen. »Ich komme mit. Sie können mir vielleicht helfen, dieses Mädchen zu suchen, wegen dem ich hier bin.«

»Ich bezweifle sehr, dass ich das kann. Aber ich will mein Bestes tun.«

Sie gingen über den Kies zum nächsten der drei Eingänge, stiegen ein paar Stufen hinauf, traten ein und befanden sich in einem kreisrunden Vestibül, auf dessen Fußboden in einem verblichenen Mosaik das Monogramm »ALF« zu lesen war. Rechts stand eine Art Empfangstisch, der das untere Drittel einer Tür mit romanischem Bogen verdeckte. Hinter dem Tisch war niemand. Nach hinten blickte man in einen Gang, der sich in einiger Entfernung verzweigte; auf beiden Seiten war eine Anzahl von Türen mit der Aufschrift »Privat«. In Filmateliers herrscht eine ständige Angst vor Feuer: Überall standen Eimer, lagen Schlauchrollen und hingen Feuerlöscher, aber von sonstiger Einrichtung oder gar von menschlicher Tätigkeit war keine Spur zu entdecken. Die Stille und die Kühle des Raumes brachten Fen und Humbleby etwas in Verlegenheit. Sie blieben stehen.

»In meiner Einfalt«, sagte Humbleby, »hatte ich eine Art Mischung zwischen einem altrömischen Bordell und einer Autofabrik erwartet. Wir sind zwar wohl erst in den Außenbezirken, aber immerhin –«

Er brach ab, als sich von links, aus einem Durchgang, den sie bisher noch nicht bemerkt hatten, Schritte näherten, die von lauten, krampfartigen Hustenanfällen übertönt wurden – Geräusche, die die Umgebung etwas vermenschlichten. Ihr Urheber entpuppte sich als kleiner, schmächtiger Mann zwischen dreißig und vierzig, der mit einem Taschentuch vor dem Mund in das Vestibül kam. Er hatte ein dunkles Gesicht von der Hässlichkeit einer Witzfigur mit schönen, großen Augen. Humbleby, der ziemlich regelmäßig ins Theater ging, erkannte ihn sofort. Fen offenbar auch, denn er sagte ohne besonderes Mitgefühl:

»Sie sind krank.«

»Und nicht zu knapp«, krächzte der Neuankömmling. »Haben Sie zufällig ein bisschen Whisky bei sich?«

»Nein.«

»Man sollte eigentlich annehmen, dass es in dieser gottverlassenen Gegend hier irgendwo Whisky gibt, aber es ist nichts zu machen. Ich geh mal ins Dorf und sehe nach, ob ich dort welchen auftreiben kann … Übrigens, die Drehbuchkonferenz ist auf elf verschoben. Und nicht im Zimmer zwölf, sondern in CC. Weiß der Teufel, wo das ist. Ach ja, und Leiper ist nicht dabei heute; das bedeutet, dass ich auch nicht komme, wenn sich’s vermeiden lässt.« Der Mann ging auf die Tür zu. »Ich habe schon eine Menge blöder Filme gesehen, aber –«

»Einen Augenblick«, sagte Fen. »Wissen Sie, wo Miss Flecker steckt?«

Der Mann überlegte; sein Gesicht wurde rot, und er nieste zweimal, bevor er antwortete. »Flecker? Flecker? Das ist doch ein Mädchen in der Musikabteilung?«

»Und wo ist die Musikabteilung?«

»Oh, ganz einfach.« Er deutete. »Gehen Sie hier runter und dann nach rechts, wo sich der Gang verzweigt, und dann …, nein, das stimmt doch nicht, ich hab’s mit der Tonaufnahme verwechselt. Moment mal …, ich glaube, Sie müssen nach links abbiegen –«

»Sie haben keine Ahnung, wo es ist«, sagte Fen kalt.

»Doch, doch! Ich war bestimmt schon einmal dort. Das Dumme an diesem Bau ist, dass sich alles zu wiederholen scheint, aber es ist nie eine genaue Wiederholung. Irgendein Raum oder Gang ist doch immer ein bisschen anders. Ich will Ihnen mal was sagen«, ihm war ein Gedanke gekommen, der ihn zu befriedigen schien, »fragen Sie doch jemanden, das wird das Beste sein.« Er ging wieder auf die Tür zu. »Ja, das wird wohl das Beste sein. Na, vielleicht seh ich Sie später.« Beim Weggehen bekam er wieder einen Hustenanfall.

»Das war Stuart North?«, fragte Humbleby. Er sprach den Namen mit großer Ehrfurcht aus. »Ich wusste gar nicht, dass er zum Film übergewechselt ist.«

»Er hat erst einen Film gemacht bis jetzt«, sagte Fen. »Visum für den Himmel oder so ähnlich – irgend so ein alberner Titel. In dem Film, von dem ich Ihnen erzählt habe, soll er Pope spielen. Dann will er wieder zur Bühne zurück.«

»Als Pope kann ich ihn mir ganz gut vorstellen. Er hat die richtige körperliche Erscheinung, wenn er dazu noch ein bisschen verunstaltet wird. Und sein Gesicht ist auch nicht ganz unähnlich.«

»Ich glaube nicht, dass Popes körperliche Missbildung allzu stark betont wird in diesem Film«, sagte Fen ausweichend. »Aber wir machen uns wohl besser auf die Suche nach der Musikabteilung. Da meine Konferenz verschoben ist, kann ich mitkommen. Fragen wir doch dieses Mädchen!«

»Dieses Mädchen«, das sich gerade mit dem glasigen, angespannten Blick eines Amateurzauberers näherte, der vor dem kritischsten Teil seiner Vorführungen steht, war eine blonde Stenotypistin. Sie war so unsagbar gepflegt, dass zu befürchten war, sie werde bei einer Berührung entzweigehen. (»Also doch altrömisches Bordell«, dachte Humbleby mit Befriedigung. »Allmählich wird’s besser.«) Das Mädchen erklärte sich bereit, sie zur Musikabteilung zu führen. In ihrer Obhut wanderten sie durch ein Gewirr von kahlen Gängen und Treppen und hielten schließlich vor einer unbeschrifteten Tür, wo ihre Führerin ernsthaft versicherte, sie seien nun am Ziel. Sie dankten und traten in ein kleines Zimmer mit zwei Schreibtischen, einem mächtigen Aktenschrank und einem guten halben Dutzend junger Leute, die unter lebhaftem Diskutieren Tee tranken. Ein nett aussehender Jüngling löste sich von dieser Gruppe und fragte Fen und Humbleby nach ihren Wünschen.

»Wir suchen eine Miss Flecker«, sagte Humbleby.

»Ich will mal nachsehen, ob sie frei ist.« Der Jüngling stellte seine Tasse hin und öffnete die Tür zu einem Nebenzimmer. »Judy«, rief er hinein, »hier sind zwei Herren, die dich sprechen wollen.«

»Wer ist’s denn?«, fragte das Mädchen. Sie lispelte ein klein wenig und sprach nicht unangenehm langsam und gedehnt.

»Wer sind Sie, bitte?«, erkundigte sich der junge Mann liebenswürdig von der Tür her.

»Kriminalinspektor Humbleby von Scotland Yard.«

»Heiliger Himmel … Judy, es ist –«

»Ja, schon gut, ich hab’s gehört«, sagte die Stimme. »Lass die Herren bitte hereinkommen. Treten Sie näher, Herr Inspektor!«, rief sie. »Und – Johnny, sei so nett und bring den Herren auch eine Tasse Tee!«

4

Als sie eintraten, erhob sich zu ihrer Begrüßung ein Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren hinter einem mit Papieren überladenen Büroschreibtisch. Es war Miss Flecker. Sie hatte glattes schwarzes Haar, kühle graue Augen und einen hellen Teint. Außerdem besaß sie zwei der seltensten körperlichen Eigenschaften ihres Geschlechts: breite Schultern und lange Beine. Sie trug ein marineblaues Kostüm, darunter eine austernfarbene Bluse und eine Diamantbrosche mit einem dunklen, fast schwarzen Saphir in der Mitte. Ohne ihren intelligenten und etwas spöttischen Blick wäre sie eine durchschnittliche Illustrierten-Schönheit gewesen. Humbleby blieb stehen und riss die Augen auf. Nach kurzer Überlegung wandte sie sich an ihn:

»Also, Herr Inspektor! Nehmen Sie bitte Platz!«