Vorsicht Operation! - Meike Hemschemeier - E-Book

Vorsicht Operation! E-Book

Meike Hemschemeier

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  • Herausgeber: Pantheon
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Warum die Kliniken operieren statt heilen

In Deutschland werden Menschen operiert, die keine Operation brauchen. Sie werden damit inakzeptablen Risiken ausgesetzt. Die Jagd auf operierbare Patienten wird öffentlich totgeschwiegen, in den Kliniken selbst aber hat sie nichts Heimliches: Sie ist methodisch, gut organisiert und Software-unterstützt. Die investigative Reporterin Meike Hemschemeier bringt ein System zum Vorschein, das Menge statt Qualität belohnt und das die deutschen Kliniken komplett befallen hat, von der Führungsebene bis zum Reinigungsteam

In kaum einem Land der Welt wird so viel operiert wie in Deutschland. Tendenz steigend. Dabei ist eine Vielzahl der Operationen unnötig und sinnlos – manche sind sogar schädlich. Operiert wird trotzdem, denn teure OPs bringen den Kliniken satte Gewinne und erfüllen ihre Businesspläne. Vorsicht Operation! seziert ein milliardenschweres, korrumpiertes System, das unsere Gesundheit wissentlich aufs Spiel setzt. Experten- und Insiderstimmen sowie geheime Dokumente bieten intime Einblicke in Krankenhäuser und Operationssäle. Meike Hemschemeier zeigt, wo eine Qualitätsdebatte zu unserem Medizinsystem ansetzen muss, um nicht nur Tausende von unnötigen Operationen zu vermeiden, sondern tatsächliche Heilung wieder zu gewährleisten.

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Seitenzahl: 294

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Das Buch

In kaum einem Land der Welt wird so viel operiert wie in Deutschland. Tendenz steigend. Dabei ist eine Vielzahl der Operationen unnötig und sinnlos – manche sind sogar schädlich. Operiert wird trotzdem, denn teure OPs bringen den Kliniken satte Gewinne und erfüllen ihre Businesspläne.

Vorsicht Operation! seziert ein milliardenschweres, korrumpiertes System, das unsere Gesundheit wissentlich aufs Spiel setzt. Experten- und Insiderstimmen sowie geheime und belastende Dokumente – vertrauliche E-Mails, Chefarzt-Bonus-Vereinbarungen, Fangprämienverträge – bieten intime Einblicke in Krankenhäuser und Operationssäle. Meike Hemschemeier zeigt Patienten und Betroffenen, was sie in diesem System tun können, um nicht zu kapitulieren. Und sie zeigt auch, wo eine Qualitätsdebatte ansetzen muss, um Tausende von unnötigen Operationen zu vermeiden und tatsächliche Heilung wieder zu gewährleisten.

Die Autorin

Meike Hemschemeier, Jahrgang 1972, hat Journalistik und Biologie in Dortmund studiert und war anschließend für den WDR tätig. Seit 2000 hat sie zahlreiche, mehrfach ausgezeichnete Dokumentationen zu gesellschaftspolitischen Themen als freiberufliche Autorin und Regisseurin erstellt. Vorsicht Operation! ist ihr erstes Buch.

Meike Hemschemeier

VORSICHT OPERATION!

Wie wir zu Kranken gemacht werden und was wir dagegen tun können

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Rechte für die Karten im Innenteil des Buches liegen bei Peter Palm, Berlin (Quelle: Destatis). Die übrigen Abbildungen werden abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Weißen Liste gGmbH, Berlin.

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Erste Auflage

August 2015

Copyright © 2015 by Pantheon Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Lektorat: Antje Korsmeier, München

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Reproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-13968-1V004

www.pantheon-verlag.de

»Wenn Sie wissen wollen, was warum in unseren Arztpraxen und Kliniken passiert, folgen Sie der Spur des Geldes.«

Dr. Bernd Hontschik, Orthopäde und Mitglied der Betriebskommission der Städtischen Kliniken Frankfurt am Main-Höchst

Inhalt

Vorwort

1. Unnötige Operationen

2. Karl will wieder laufen

3. Ein Code für alle Fälle – Wie Krankenhäuser Geld verdienen

4. Gute Patienten, schlechte Patienten

5. Johann will wieder leben

6. Risiken und Nebenwirkungen

7. Willkommen in der Fabrik

8. Businesspläne – Patienten fangen und das Beste draus machen

9. Am seidenen Faden

10. Warum Ärzte operieren

11. Lehrjahre

12. Denn sie wissen nicht, was sie tun

13. Schrott mit Prüfmarke

14. Innovationsfreunde ist die schönste Freude

15. Ausgeliefert

16. Wege aus der Fabrik

17. Notnägel für Patienten

Nachwort

Anmerkungen

Vorwort

Ich bin keine Ärztin. Ich habe nicht Medizin studiert. Ich kann Ihnen keine medizinischen Ratschläge geben und Ihnen auch nicht sagen, ob Sie falsch therapiert worden sind. Fragen aber lernt man in meinem Beruf. Ich bin Wissenschaftsjournalistin. Dieses Buch ist deshalb kein klassischer Medizinratgeber, sondern die Geschichte einer Recherche, ein Roadmovie durch unser Gesundheitssystem. Es beginnt bei Zahlen, die es nicht gibt, findet zu Menschen, die unnötig operiert wurden, schleicht sich dann hinter die Kulissen unserer Krankenhäuser. Die Recherche fördert überwiegend Fakten zutage, die für Klinikangestellte bedrückender Alltag sind. Die meisten Patienten aber wissen kaum etwas darüber, was in unserem Gesundheitssystem vorgeht. Es sollte sie zu Hunderttausenden auf die Straße treiben.

Ein kurzer Rückblick zum Beginn dieser Recherche: Als ich an einem Film über Infektionen im Krankenhaus arbeitete, erzählte mir ein Wissenschaftler, dass jedes Jahr fast ein Fünftel aller Deutschen in eine Klinik kommt. Ich war sprachlos. Seitdem verfolge ich die OP-Zahlen, die das Statistische Bundesamt jährlich veröffentlicht: 2005 waren es 12,1 Millionen. 2013 schon 15,8 Millionen. Eine Steigerung von 30 Prozent. Jedes Jahr wurden damit ungefähr 411 000 mehr Eingriffe gemacht und abgerechnet als noch im Jahr zuvor. Mich irritierten diese Zahlen. Warum dieser stetige Zuwachs?

Die Gründe, so lässt es die Deutsche Krankenhausgesellschaft gern verlauten, liegen auf der Hand: medizinischer Fortschritt und eine alternde Bevölkerung. Doch Monate am Telefon, über Fachartikeln, in Wohnungen verzweifelter Patienten und in Operationssälen belehrten mich eines Besseren. Immer komplexer wurde das Netz aus Ursachen, immer mehr drängende Fragen tauchten auf: Wann ist eine Operation wirklich nötig? Wie oft haben Chirurgen Frauen, Männer und Kinder vor sich auf den Operationstischen, die gar nicht operiert werden müssten? Warum operieren die Ärzte dann trotzdem? Wieso dürfen Operationen durchgeführt werden, deren Nutzen gar nicht klar ist, und warum wird das von den gesetzlichen Krankenkassen auch noch bezahlt? Weshalb gibt es bei manchen OP-Disziplinen auffällige Zuwachsraten, bei anderen hingegen überhaupt keine? Wie können wir Patienten uns davor schützen, unnötig operiert zu werden? Und warum sagt uns keiner, welche Krankenhäuser gute Arbeit machen – und in welchen wir vielleicht unser Leben aufs Spiel setzen?

Ich fing an, Ärzte auszufragen. Die Art und Weise, wie sie auswichen, weckte meine Neugier. Ich startete eine Recherche, die Jahre dauern sollte. Ich stand Medizinern, Klinikchefs und Ärztevertretern gegenüber, die vage die Schultern hoben und mir zu verstehen gaben, dass sie nichts sagen würden. Zu einem Thema, über das es offenbar viel zu sagen gab. Schließlich fand ich eine Handvoll Mutige, die mir für eine Fernsehdokumentation der ARD Interviews gaben und dabei erschreckende Fakten auspackten. Nach der Sendung fiel in diese wenigen Stimmen ein ganzer Chor ein: Chirurgen, Orthopäden, Neurologen, Notärzte, Gynäkologen, Pfleger, Physiotherapeuten, ehemalige Chefärzte, niedergelassene Mediziner und Vertreter gesetzlicher Krankenkassen schickten E-Mails und Briefe und gewährten mir weitere wertvolle Einblicke in den Kosmos Krankenhaus und die labyrinthartige Struktur unseres Gesundheitssystems. Auch viele Patienten schilderten mir, was sie erlebt haben. Daraus entwickelte sich die Idee zu diesem Buch. Es sollte die zahlreichen Gründe für unnötige Operationen in Deutschland von verschiedenen Seiten beleuchten.

Sofern es gesicherte Daten gibt, werde ich sie nennen und die Quellen offenlegen. Oft allerdings gibt es keine offiziellen Zahlen. In einem solchen Fall beruhen die Schilderungen auf den Aussagen von unterschiedlichen Insidern. Manche haben mir viel Zeit eingeräumt und lange Interviews gegeben – Zeugenaussagen gewissermaßen. Ich habe die Interviews zum Teil zusammengefasst, den persönlichen Sprachgebrauch der Gesprächspartner aber nicht angetastet. Fachausdrücke oder unverständliche Zusammenhänge habe ich mit Anmerkungen versehen.

Viele meiner Informanten waren nur unter Wahrung ihrer Anonymität zu Aussagen bereit. Journalistisch ist das heikel, weil sich die Aussagen nicht nachprüfen lassen. Ich habe mich in etlichen Fällen trotzdem entschieden, die Aussagen zu verwenden. Zum einen, weil sie keine Einzelmeinungen sind; die Informationen vieler Interviewpartner decken sich. Zum anderen ist es in den meisten medizinischen Bereichen fast unmöglich, Informanten zu finden, die ihren echten Namen preisgeben wollen. Die Angst, den Job zu verlieren und als Nestbeschmutzer zu gelten, ist groß. Schließlich spricht noch ein weiteres Argument für die Verwendung der anonymen Aussagen: Es ist mir nicht daran gelegen, einzelne Ärzte oder Kliniken zu kritisieren. Um die geht es mir nicht. Die Probleme entstehen aus dem System, in das die Kliniken und Ärzte eingebunden sind.

Ich will weder Panik verbreiten noch zum Hass auf Ärzte anstiften. Es gibt in Deutschland zahlreiche gute Ärzte und andere »Gesundheitsarbeiter«. Ihnen ist es zu verdanken, dass trotz aller Probleme in unserem Gesundheitssystem vieles funktioniert. Aber diese Menschen zerreißen sich zwischen ihren ethischen Ansprüchen und den Forderungen, die das System an sie stellt: Es hat den Patienten aus den Augen verloren und den Profit ins Visier genommen. Als kranker Mensch oder zukünftiger Patient ist es nicht leicht, sich das vor Augen zu führen. Wer krank ist, möchte sich anvertrauen können. Die Wahrheit aber ist: Sie können in unseren Krankenhäusern und Arztpraxen nicht automatisch davon ausgehen, dass das Beste für Ihre Gesundheit getan wird. Sie können aber sehr wohl davon ausgehen, dass die Empfehlungen vieler Ärzte in etwa so unabhängig sind wie die eines Versicherungsmaklers, der Provision kassiert.

Gesundheitspolitik ist in Deutschland Wirtschaftspolitik. Schon das Wissen darum macht einen Unterschied.

In diesem Sinne: Fangen wir an.

1. Unnötige Operationen

Ich treffe fast täglich Menschen, die sich Sorgen machen, weil ihnen jemand eine Operation empfohlen hat. Oder die froh sind, dass sie gerade eine Operation gut überstanden haben. Wenn ich durch den Kindergarten meines Sohnes gehe, höre ich: Armbruch genagelt, Mandeln abgeschält, Polypen raus. Auf dem Wochenmarkt erzählen Bekannte von Arthroskopien und Bandscheibenoperationen. Im Fitnessstudio fachsimpeln vor allem die älteren Semester über Gelenkprothesen.

Dass Operationen überhaupt unnötig sein können, darauf würden die meisten Menschen nie kommen. Sie halten die OP für die einzige Lösung ihres Problems. Sie vertrauen dem Arzt, der sie ihnen empfohlen hat. Sie fühlen sich bestärkt durch die Nachbarin, bei der die OP »gar kein Problem« war. Sie nehmen an, dass Ärzte klare Vorgaben haben, wenn es um das Verordnen von Operationen geht. Das ist nicht ganz falsch. Aber eben auch nicht ganz richtig. Die ärztlichen Berufsverbände geben tatsächlich zu vielen Krankheitsbildern sogenannte »Leitlinien« heraus. Darin stehen Empfehlungen, in welchen Fällen das Skalpell gezückt werden soll und in welchen nicht. Von solchen Empfehlungen aber dürfen Ärzte abweichen. Und das tun sie auch. In manchen Fällen begründet, in anderen nicht. Warum aber, fragte mich einmal die Mutter einer Zehnjährigen, der die Mandeln entfernt worden waren, warum um Himmels willen sollte mir mein Arzt eine Operation empfehlen, die unnötig ist?

Antworten darauf gibt es viele. Alle sind unangenehm. Teil des Problems ist, dass kaum jemand sie wirklich hören will. Unnötige Operationen beflecken, um es etwas reißerisch zu formulieren, die weißen Kittel der Ärzte mit unschuldig vergossenem Blut. Das ist keine schöne Vorstellung. Sie zerstört das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Wer will das schon? Den Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik und in den Krankenhäusern kommt das zupass: Wenn keiner Antworten erwartet, müssen sie nicht darüber reden. Das tun sie nämlich nicht gern. So laut es auch sämtliche Spatzen von den Dächern pfeifen, sie bleiben dabei: Was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Zumindest, wenn jemand ein offizielles Statement haben will. Hinter verschlossenen Türen sieht das Ganze anders aus. Aber dazu später mehr.

Zunächst noch mal zurück zur öffentlichen Debatte, die seit Jahren auf der Stelle tritt. Das Kommunikationsmuster ist immer gleich. Vereinfacht gesagt, läuft es wie folgt ab: Gesundheitsökonomen oder Vertreter der Krankenkassen weisen auf den großen Operationseifer in Deutschland hin. Repräsentanten der Krankenhäuser, manchmal auch der Ärzteschaft, widersprechen – natürlich gebührend empört – und fordern Beweise. Wohl bekannte Zahlen mit all ihren Stärken und Schwächen werden wieder einmal diskutiert. Zahlen, wie sie zum Beispiel die OECD liefert. 2013 entsandte die Organisation Mitarbeiter zu einer Konferenz mit dem Bundesgesundheitsministerium. Ziel des Treffens: Die OECD wollte eine »internationale Perspektive« in die deutsche Dauerdebatte um OP-Zahlen einbringen. Konkret hieß das: Fachleute hatten ein Dossier zusammengestellt, in dem Behandlungszahlen aus deutschen Krankenhäusern mit denen der anderen 33 Mitgliedsstaaten verglichen wurden.1 Darin war zu lesen:

– Unter den OECD-Ländern – viele davon wohlhabend – nimmt Deutschland den zweiten Platz bei der Anzahl der Krankenhausbesuche ein. Dafür gibt es eine spezielle Kennzahl, die »Krankenhausentlassungen« heißt. In Deutschland kamen in dem berechneten Zeitraum auf tausend Bürger 240 Krankenhausentlassungen. Der OECD-Durchschnitt lag bei 155. Bei unseren direkten Nachbarn, den Niederländern, waren es 116 Entlassungen.

– Bei vielen Operationsdisziplinen belegt die Bundesrepublik Rang eins oder zwei.

– Die Zahlen steigen weiter – viel schneller als in den meisten anderen Ländern.

Grund zur Sorge? Aber nein, sagen die Lobbyisten der Krankenhäuser und mancher Ärzteverbände in solchen Situationen. Das spricht für uns! Deutschland ist eben ein reiches und gerechtes Land, in dem – Sozialversicherungssystem sei Dank – alle Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Flächendeckend. Quasi ohne Wartezeiten. Wer sagt denn, dass viel auch zu viel ist?

Tatsächlich ist das eine gute Frage, eine große Frage, die einen schön breiten Schatten wirft, in dem sich die Verfechter des Status quo verstecken können. Und von denen gibt es viele. Denn es geht um Geld. Um sehr viel Geld. Rund 300 Milliarden Euro fließen jedes Jahr in das deutsche Gesundheitswesen. Das entspricht ziemlich genau dem deutschen Staatshaushalt von 2014. Vergessen Sie die Automobilindustrie. Von keiner Branche hängen mehr Arbeitsplätze ab als von unserem Gesundheitssystem: Zurzeit sind es 5,2 Millionen. Viele haben es sich darin bequem gemacht. Viele haben ein Interesse daran, dass alles bleibt, wie es ist. Groß und komplex. Still und schweigend.

Was ich in den ersten Wochen meiner Recherche erlebte, war daher vorauszusehen. Unnötige Operationen? Die Ärzte schwiegen, die Vertreter der Ärzte schwiegen, die Krankenhausrepräsentanten leugneten. Stattdessen bekam ich Ratschläge. Einer der häufigsten lautete: das Thema besser fallen zu lassen. Für Nicht-Mediziner viel zu kompliziert. Einer sagte es unverblümt: »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Viel Glück dann noch.«

Den Abfuhren begegnete ich mit einer Art wütender Zahlensuche. Ich hoffte, ich würde Daten finden, mit denen ich die Leugner überführen könnte. Ich hatte mich bis dahin nur wenig mit der Erhebung und Auswertung von Daten in unserem Gesundheitssystem beschäftigt. Ich startete hoffnungsvoll.

Als Erstes suchte ich nach der Zahl der Operationen, die in Deutschland pro Jahr gemacht werden. Diese Angabe war scheinbar schnell zu finden: Das Statistische Bundesamt listete für das Jahr 2012 15,7 Millionen Operationen auf. Ich schrieb die Zahl auf einen Zettel und klebte ihn an meine Bürowand. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. Denn in der Tabelle, die ich gefunden hatte, waren nur die sogenannten »vollstationären« Patienten erfasst. Also die Operierten, die nach dem Eingriff mindestens eine Nacht in der Klinik bleiben. Was aber war mit den ambulanten Operationen? Auch diese Zahl fand ich beim Statistischen Bundesamt: Es waren 2012 1,9 Millionen. Machte insgesamt also schon 17,6 Millionen Eingriffe. Bei rund 80 Millionen Einwohnern eine stolze Zahl. Doch auch das war noch nicht alles. Eine Mitarbeiterin des Statistischen Bundesamtes schrieb mir, dass die Zahl der ambulanten OPs noch nicht die Eingriffe einschließe, bei denen Belegärzte das Skalpell geführt haben – was nicht selten vorkommt. Auch alle Operationen, die niedergelassene Ärzte wie Chirurgen in medizinischen Versorgungszentren, Orthopäden, Dermatologen, Zahnärzte und Gynäkologen in ihren Praxen durchführen, fehlen in den Statistiken.

Als ich die großen Krankenkassen um Zahlen dazu bat, kamen umständliche Antworten, die unter dem Strich besagten: Keine Ahnung. – So verblüffend es sein mag: Wir wissen genau, wie viele Autos von welchem Hersteller in Deutschland pro Jahr gebaut werden, aber wie viele Menschen hier jährlich operiert werden, das ist nicht herauszubekommen.

Noch schwieriger ist die Datenlage bei den unnötigen Eingriffen. Vorab eine Definition, die mir eine Fachanwältin für Medizinrecht gegeben hat:

Unnötige Operationen sind Eingriffe, die am gesunden Menschen durchgeführt werden. Oder an Kranken, denen man mit anderen Methoden ebenso gut oder besser hätte helfen können. Zum Beispiel mit einer kleineren OP, einer Physio- oder Psychotherapie, mit Medikamenten oder schlicht: mit Geduld zum Abwarten.

Es gibt zwei große Gruppen von unnötigen Operationen. Das sind erstens Eingriffe, die grundsätzlich sinnlos sind. Sie helfen einfach nicht. Oder sie bringen dem Patienten so wenig, dass der Nutzen in keinem Verhältnis zu den Operationsrisiken steht. Vielleicht wundern Sie sich darüber, aber das gibt es häufiger, als man denkt. Anders als bei Medikamenten muss der Nutzen von Operationsmethoden oder Implantaten in Deutschland nicht nachgewiesen werden, bevor sie zur Anwendung kommen. Für neue Operationsmethoden gibt es keine Probephase, keine verbindlich vorgeschriebenen klinischen Tests, keine systematische Datenerhebung. Medizinprodukte, die den Patienten bei OPs eingebaut werden, unterliegen zwar Funktionsprüfungen, doch über den Nutzen sagen diese in der Regel nichts aus.

Studien in der Chirurgie sind ein langwieriges, teures, mühseliges Unterfangen. Lange Zeit waren sie deshalb unüblich. Unter deutschen Chirurgen sogar geradezu verpönt. Die Assistenten lernten von den Chefärzten. Was die Chefs sagten und taten, war richtig. Diese Einstellung hat sich in den letzten Jahren geändert, international stark, in Deutschland immerhin ein wenig. Ich fand heraus, dass engagierte Mediziner den Nutzen zumindest einiger Operationen inzwischen wissenschaftlich untersucht haben. Ich komme darauf später noch im Detail zurück. Hier nur ein Beispiel: Therapeutische Arthroskopien am Knie beim Gelenkverschleiß (Arthrose), so zeigen viele Studien, bringen nichts. Dennoch wurde eine solche Operation nach Angaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) 2009 an rund 200 000 Patienten in Deutschland gemacht. Obwohl solche Studien zunehmen, weiß man bis heute nicht, wie viele Eingriffe insgesamt sinnlos sind.

Bei der zweiten großen Gruppe unnötiger Operationen geht es um Eingriffe, die zwar grundsätzlich sinnvoll sind und helfen können, die aber an Patienten durchgeführt werden, die das nicht brauchen. Ein Beispiel dafür ist künstlicher Gelenkersatz: Hüft- und Kniegelenkprothesen gehören zu den segensreichsten medizinischen Errungenschaften. Für Menschen mit starkem Gelenkverschleiß, denen jede Bewegung zur Qual wird, sind sie eine Erlösung. Menschen, die gar keinen oder geringen Gelenkverschleiß haben, brauchen keine Prothesen. Mediziner sagen dazu: Bei diesen Menschen gibt es für diese Operation keine »Indikation«. Das heißt, es gibt keine oder nicht ausreichende Krankheitszeichen, die eine solche Operation notwendig machen. Sie ist unnötig.

Natürlich dürfte es solche Fälle gar nicht geben. Es gibt sie aber zuhauf, wie viele Ärzte und Patientenanwälte berichten. Zahlen dazu gibt es trotzdem nur wenige. Zudem ist ihre Aussagekraft begrenzt. So hat das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) in den letzten Jahren einige Eingriffe unter die Lupe genommen. Die Experten wollten zum Beispiel wissen, wie viele der Hüft- und Knieoperationen medizinisch gerechtfertigt waren. Sie legten dafür Kriterien fest und kamen 2013 zu dem Schluss, dass der Einbau von Hüftprothesen in 95,2 Prozent aller Fälle nötig und richtig war. Dementsprechend bei 4,8 Prozent nicht. Beim Auswechseln von Hüftprothesen waren sogar 6,4 Prozent der Eingriffe nicht eindeutig »indiziert«. Rechnet man das auf die Gesamtzahl der Hüftgelenk-Operationen wegen Gelenkverschleiß hoch, bedeutet das: Bei 8989 Menschen wurde eine Hüfte eingesetzt oder ausgetauscht, obwohl die Operation nach den Kriterien von AQUA nicht gerechtfertigt war.

Auch der Einsatz von Kniegelenken wurde untersucht. In dieser Disziplin wurden 5552 Patienten ohne korrekte Indikation operiert. Was nicht wenig ist. Man darf aber annehmen, dass es noch mehr sind, wenn man Folgendes bedenkt: Es sind die Krankenhäuser, die die Daten für diese Statistik liefern. Das ist in etwa so, als dürfte sich ein Schüler selbst die Noten geben.

Viel schlimmer aber ist: Für die meisten anderen Operationen gibt es nicht einmal solche Schätzungen.

Nachdem ich einige Wochen in dem trüben Datenteich gefischt hatte, wurde mir klar, dass ich nach Zahlen suchte, die es nicht gibt. Es konnte sie beim aktuellen Stand der Forschung nicht geben. Das frustrierende Fazit nach vier Wochen Recherche lautete: Keine Interviewpartner, keine Zahlen. Fast hätte ich aufgegeben. Die Kommunikationschefin einer großen deutschen Uniklinik rettete mich. Sie bahnte mir den Weg zu einem wichtigen Mann in der Chirurgen-Zunft: Professor Dr. Hartwig Bauer.

»Es ist ein riesiges Geschäft«, sagte er mir gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Als wir das erste Mal telefonierten, war er im zehnten Jahr Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Also der Standesvertretung derjenigen, die – neben anderen – in der Kritik stehen. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Hartwig Bauer das Problem so lange wie möglich verschwiegen oder zumindest kleingeredet hätte. Aber er ist eben auch Arzt, genauer gesagt Chirurg. Wie viele seiner Kollegen liebt er seinen Beruf. Wie viele ist er mit hohem Idealismus in seine Karriere gestartet. Einige Entwicklungen der letzten Jahre hat er nur zähneknirschend ertragen. Zum Glück, sagte er, gehe er nun bald in Rente.

Ich traf ihn einige Wochen später in München, in einem Restaurant in der Nähe des Hauptbahnhofs. Hartwig Bauer ist ein kompakter Mann mit dunklen Augen hinter einer randlosen Brille und bedächtiger Gestik. Er ist eine Institution im deutschen Medizinbetrieb und hat großen Rückhalt in seiner Zunft. In den langen Jahren seiner Verbandsarbeit hat er sich eine Position erarbeitet, von der aus er – vorsichtig – Kritik üben darf. Was er auch beharrlich tut. Die Operationszahlen in Deutschland, so sagte er mir, bereiteten ihm Unbehagen. »Es gibt, muss man fast juristisch sagen, deutliche Anhaltspunkte für Fehlentwicklungen.«

Hartwig Bauer ebnete mir den Weg zu einigen Wissenschaftlern und Institutionen. Aus diesen ersten Kontakten ergaben sich weitere. Vertreter von Krankenkassen, Experten von Universitäten und Wirtschaftsinstituten schickten mir Studien und nannten Indizien, die letztlich alle auf eine dringende Vermutung hinausliefen: In zahlreichen, vielleicht sogar in den meisten Kliniken werden unnötige Operationen durchgeführt. Menschen werden mit allen Risiken und Nebenwirkungen in Narkosen versetzt, Körper aufgeschnitten, Knochen zersägt, Familien in Sorge gestürzt.

Die Indizien sind im Wesentlichen folgende:

Die starke Zunahme der Operationen

Niemand weiß genau, wie viele Patienten in Deutschland pro Jahr operiert werden. Nur die Anzahl der Operationen in den Krankenhäusern ist bekannt – wenn man von den Eingriffen der Honorar- und Belegärzte absieht. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2003 insgesamt 13,4 Millionen Eingriffe durchgeführt (vollstationär und ambulant). 2012 waren es 17,6 Millionen. Einige große Studien aus den letzten Jahren konnten nachweisen, dass die Zuwachsraten nicht mit dem demografischen Wandel begründet werden können. Sicher, wir werden älter. Aber so rasant nun auch wieder nicht. Laut einer Untersuchung der Krankenversicherung AOK lässt sich damit nur ein Drittel des Anstiegs der OP-Zahlen erklären. Die AOK hat anhand der Daten ihrer 24 Millionen Versicherten zudem ausgerechnet, dass vor allem jene Eingriffe mehr geworden sind, die für die Kliniken lukrativ sind. Besonders auffällig ist: Die Anzahl der Rückenoperationen hat sich unter den AOK-Versicherten zwischen 2005 und 2010 mehr als verdoppelt.

Wirbelsäulen-OPs pro Jahr (Durchschnittswert 2009–2013)

Die ungleiche Verteilung der Operationen

Die Deutschen werden nicht in allen Landesteilen gleich häufig operiert. Wo Sie wohnen, entscheidet mit darüber, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie operiert werden. Der Wissenschaftsjournalist und FAZ-Autor Volker Stollorz hat zusammen mit einem Programmierer des Heidelberger Instituts für Theoretische Studien (H-ITS) in dreimonatiger Arbeit die Daten des Statistischen Bundesamts zu Krankenhausoperationen in eine interaktive Deutschlandkarte übersetzt. Dieser sogenannte Operations-Explorer setzt Millionen von Einzeldaten wie ein Mosaik zusammen. So entsteht ein Bild des großen Ganzen. Deutschland von oben sozusagen. Aus der Ferne sieht man: Erstaunliches. Gibt man zum Beispiel den Code für Wirbelsäulenoperationen ein, zeigt sich eine Insel der Unglückseligen: Die drei dunklen Hotspots in der Mitte der Republik sind die Landkreise Fulda, Hersfeld-Rotenburg und der Vogelsbergkreis. In diesen Regionen werden – warum auch immer – siebenmal mehr Operationen dieser Disziplin abgerechnet als in den Regionen mit den geringsten OP-Zahlen. Wenn man sich die Zahlen dazu genauer anschaut, möchte man an der Autobahn die Hinweise auf Kulturdenkmäler durch Warnschilder ersetzen: Achtung, in dieser Region wird statistisch betrachtet jedem Fünfzigsten der Rücken aufgeschnitten. Zum Vergleich: In Dresden ist es jeder 350.

Einsatz von Kniegelenken pro Jahr (2009–2013)

Gibt man den Code für Kniegelenk-Erstimplantationen ein, fällt wieder Mitteldeutschland auf. Vor allem aber Bayern. Wenn Ihnen Ihre Knie lieb sind, ziehen Sie lieber nach Baden-Württemberg. Auffällig viele Landkreise in Bayern wiederum sind eine gute Adresse, wenn Sie Wert darauf legen, dass Ihre Kinder ihre Mandeln behalten.

Mandel-OPs pro Jahr (2009–2013)

Meiden sollten Sie in diesem Fall den Nordwesten Deutschlands, unbedingt aber Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz. Hier kommen auf 100 000 Einwohner 1096 Mandeloperationen bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren. Im Vergleich dazu: Der Landkreis mit den wenigsten Mandeloperationen in dieser Altersgruppe ist Sonnenberg im Süden Thüringens. Dort wurden gerade 111 Operationen pro 100 000 Einwohner gemeldet. Wo Kinder besonders häufig zur Mandelentfernung in den Operationssaal geschoben werden, können Sie selbst auf der Internetseite von »Faktencheck Gesundheit« nachschauen.2 Die Seite bietet ähnliche interaktive Karten an wie der OperationsExplorer – leider nur für einige ausgewählte Eingriffe, dafür aber für jeden einsehbar. Dort können Sie auch die eifrigsten Aufschneider im Kreißsaal ausfindig machen: Während in Dresden nur 17 Prozent der Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt kommen, sind es in der kreisfreien Stadt Landau in der Pfalz fast 52 Prozent.

Wichtig an all diesen Informationen ist: Die Alters- und Geschlechterverteilung in den einzelnen Kreisen ist bei der Datenauswertung berücksichtigt worden. »Standardisiert«, wie Statistiker sagen. Das heißt: Die zum Teil gewaltigen Unterschiede bei den Operationszahlen lassen sich nicht darauf zurückführen, dass in manchen Kreisen die Anzahl der Kleinkinder oder der jungen, gebärfähigen Frauen oder der gebrechlichen Alten höher ist als in anderen. Das wiederum bedeutet, dass in manchen Regionen möglicherweise zu wenig operiert wird, in anderen dagegen zu viel.

Der Vergleich mit anderen Ländern

Auch im Ausland fallen die deutschen OP-Zahlen auf. 2013 veröffentlichte die OECD die Daten ihrer 34 Mitgliedstaaten zu Eingriffen am Herzen. Sie schloss dabei Herzkatheter und Bypässe ein. Deutschland lag an der Spitze. Weit abgeschlagen folgte Israel auf Platz zwei – mit über einem Drittel Eingriffen weniger. Bei dem Einsatz von Hüftprothesen haben die Schweizer die Deutschen knapp auf den zweiten Platz verwiesen. Das ist ein schwacher Trost, wenn man sich den Durchschnittswert der OECD-Länder anschaut. Er liegt 80 Prozent unter den deutschen Hüft-OP-Zahlen. Das Gleiche gilt für das Einsetzen von Knieprothesen. Bei Gallenblasen-, Mandel- und Prostataentfernung tummeln sich mehrere Länder an der Spitze. Deutschland gehört immer dazu. Interessant ist der Vergleich mit den Niederländern, deren Gesundheitssystem weltweit als eines der besten gilt: Dort gibt es nur halb so viele Gebärmutterentfernungen und auch nur halb so viele Krankenhausbesuche pro tausend Einwohner. Die Lebenserwartung der Niederländer ist übrigens höher als die der Deutschen.

Die wahrscheinlich hohe Anzahl sinnloser Operationen

Es gibt viel zu wenig gute Untersuchungen darüber, welche Operationen den Patienten auch wirklich etwas bringen. Tatsächlich sind vier von fünf Operationsmethoden wissenschaftlich nicht gut geprüft. Das ist eine ungeheure Zahl. Bei einigen Operationsarten haben Forscher allerdings bereits geduldig und mühsam gemessen, ob sie den Patienten wirklich helfen. So gibt es mehrere gute Untersuchungen, die ergeben haben, dass viele Rückenoperationen langfristig wenig nutzen. Den operierten Patienten geht es nach ein paar Jahren genauso gut wie denen, die nicht operiert wurden.

Die unterschiedlichen Empfehlungen von operierenden und nicht-operierenden Ärzten

Die Techniker Krankenkasse hat auf ihrer Internetseite ein Zweitmeinungsportal für Patienten eingerichtet, die von einem Arzt die Empfehlung zu einer Rückenoperation erhalten haben. Die Kasse will auf diese Weise vor einem möglicherweise schweren Eingriff ermitteln, ob andere Mediziner die Empfehlung bestätigen. Für eine solche zweite Meinung schickt die Krankenkasse ihre Patienten in Schmerzzentren, die auf Menschen mit Rückenleiden spezialisiert sind. In diesen Zentren arbeiten keine Chirurgen, sondern Physio-, Psycho- und Schmerztherapeuten. In den ersten beiden Jahren haben 500 Versicherte diesen Service genutzt und eine zweite Meinung eingeholt. Ich habe den Pressesprecher der Techniker Krankenkasse angerufen und ihn gefragt, wie vielen Patienten von der Operation abgeraten wurde. Er sagte: »84 Prozent. Die Therapeuten konnten 420 Patienten Alternativen zur OP anbieten.« Ich war entgeistert. »Bei 84 Prozent war die Operation nicht nötig?« – »So sieht es aus«, sagte der Mann.

Ich notierte die Informationen auf einem gelben Zettel und klebte ihn zu den anderen an meine Bürowand. Nach zwei Monaten Recherche stand ich nun vor einem unübersichtlichen Zahlenwald. Viele dieser Zahlen waren erschreckend. Aber sie berührten mich nicht. Bis ich die Menschen dahinter entdeckte.

2. Karl will wieder laufen

Der Erste, der mir die Geschichte seiner unnötigen Operation anvertraute, war Karl Seiters. Er teilt sein Leben in zwei Abschnitte ein: die Zeit vor und die Zeit nach der OP.

In seinem früheren Leben war er Grundlagenforscher für Mikrofarbpartikel in einem großen Chemiekonzern. Sein Ausgleich war der Sport. Er musste raus. Er brauchte Luft. Er machte weite Radtouren und liebte die Berge. Mit 38 Jahren entdeckte er das Laufen für sich. Der Betrieb bot ein Training an, das die Sportikone Ulrike Meyfarth leitete. Karl, ein großer, schlaksiger Mann, war schnell mit dem Laufvirus infiziert. Bald lief er mehrmals in der Woche lange Strecken und trainierte für den Marathon. Einatmen. Ausatmen. Er steckte mitten in einem quälenden Scheidungsprozess und rannte buchstäblich um sein Leben.

Eines Abends spürte er beim Bergablaufen einen stechenden Schmerz im rechten Knie. Am nächsten Tag war der Schmerz wieder da. Er nahm Tabletten, cremte, bandagierte, ging zur Physiotherapie. Doch nichts half. Er ließ sich zu einer Arthroskopie überreden, einer kleinen Operation, bei der durch einen Schnitt ins Knie eine winzige Kamera ins Gelenk eingeführt wird. In Karls Knie schwammen kleine Knorpelstückchen herum, wie Flocken in einer Schneekugel. Die wurden ausgespült. Obwohl der Nutzen dieser Operation eindrucksvoll von einem amerikanischen Arzt infrage gestellt wurde, hatte Karl nach dem Eingriff fünf Jahre Ruhe. Im sechsten Jahr bildete sich ein daumengroßer Knubbel am selben Knie. Beunruhigt ging Karl wieder zu seinem Orthopäden. Bei einer Computertomografie stellte sich heraus, dass der Knubbel eine Wassereinlagerung war. Ein sogenanntes »Ganglion«. Er ließ es entfernen, doch es kehrte wieder. Bald tat jede Bewegung weh. Das Knie verleidete ihm das Joggen, das Radfahren, den Alltag, das Weglaufen. Er hielt es eine Weile aus, diszipliniert, mit zusammengebissenen Zähnen. Dann beschloss er, dem Problem auf den Grund zu gehen. Er tat das mit der Gründlichkeit, die ihm als Wissenschaftler in Fleisch und Blut übergegangen war.

Bei unserem ersten Treffen führt mich Karl zu seinem Esstisch, auf dem er mehrere dicke Aktenordner bereitgelegt hat. Dutzende von medizinischen Befunden, Broschüren und Umschlägen mit Röntgenbildern sind darin abgeheftet, nach Datum geordnet, mehrfarbig markiert. Befangen beginnt er zu erzählen. Seine Wortwahl verrät, dass er inzwischen zum Fachmann für seine eigene Krankheit geworden ist: »Ich habe drei Ärzte konsultiert und mein Knie vorgestellt. Die Vorgeschichte erzählt. Und dieses Ganglion, was sich da immer wieder gebildet hat, auch gezeigt. Und ich hab von drei Fachärzten drei unterschiedliche Meinungen gehört.«

Karl legt mir die Arztbriefe mit den verschiedenen Therapieempfehlungen vor. Der ersten Meinung zufolge sollte das Ganglion einfach noch mal entfernt werden. Der zweite Orthopäde schrieb, dass die Ursache der Probleme wahrscheinlich gar nicht das Knie sei. Die Schmerzen rührten angeblich daher, dass Karls Bein nicht ganz gerade ist. Der Arzt wollte daher das Kniegelenk lassen, wie es war, das Bein aber begradigen. Sein Vorschlag: den Oberschenkelknochen durchtrennen, gerade richten und wieder zusammenwachsen lassen. »Umstellung« nennen das die Ärzte. Eine große Operation, die eine lange Genesungszeit nach sich zieht. Beide Möglichkeiten überzeugten Karl nicht. Zumal beide Ärzte für den Erfolg der Eingriffe nicht die Hand ins Feuer legen wollten. So entschied Karl, zu einem dritten Arzt zu gehen. Nennen wir ihn Dr. Zehner.

Dr. Zehner war Chefarzt der Orthopädie in einer Klinik in Nordrhein-Westfalen. Karl hatte von der Klinik viel gehört. Die regionalen Zeitungen berichteten häufig über das Haus und dessen moderne Operationsmethoden. Die Prothesenabteilung des eher kleinstädtischen Krankenhauses war auf Expansionskurs. Neue, teure Geräte waren angeschafft worden, von denen sich die Geschäftsführer einen »Wettbewerbsvorteil« versprachen. So stand es in einem kleinen Artikel der Klinikzeitung, den Karl zum damaligen Zeitpunkt nicht kannte.

Karl stellte gewissenhaft eine Mappe mit seinen Computertomografie-Aufnahmen und den Therapie-Empfehlungen der anderen Ärzte zusammen und machte einen Termin bei der Klinik aus. Dr. Zehner war freundlich und nahm sich Zeit. Die erneute Entfernung des Geschwulstes verwarf er sofort. Das Richten des Oberschenkelknochens überdachte er kurz, schlug dann aber eine vollkommen andere Lösung für das Problem vor. Bei der Erinnerung an diese Situation legt Karl unwillkürlich die Hand auf sein operiertes Knie mit der langen Narbe. »Der Arzt sagte, na ja, diese Umstellung wird wahrscheinlich nicht zum Erfolg führen. Da ist ein künstliches Gelenk die bessere Alternative.«

Dr. Zehner versicherte Karl, die Knieprothese würde die Probleme beenden. Er könne vielleicht nicht mehr joggen, aber auf jeden Fall Fahrrad fahren, wandern und schwimmen. Die Schmerzen beim Aufstehen nach langem Sitzen, beim Treppensteigen und Gehen – kurz: beim Leben –, all das sei dann Vergangenheit. Er rühmte eine neue OP-Methode, bei der ein computergestütztes Navigationsgerät zum Einsatz kommt. Das ermögliche einen absolut präzisen Einsatz der Prothese. Sie halte 15 bis 20 Jahre. In der Zeit sei »volle Belastung schmerzfrei möglich«. So stand es später auch in dem Arztbrief, den Dr. Zehner an Karls Hausärztin schickte. Karl war fasziniert. Das Hightech-Verfahren ließ sein Wissenschaftlerherz höherschlagen. Er fuhr mit dem Rad nach Hause. Es war Mai, er trug eine kurze Hose. Bei jedem zweiten Tritt in die Pedale kam ihm sein Knie entgegen, das ihn mittlerweile seit Jahren ärgerte. Jetzt hatte er endlich wieder Hoffnung. »Das ist mir so gut verkauft worden, dass ich selber, unheimlich angesteckt durch diese Euphorie des Arztes, nach Hause gefahren bin und mir gedacht habe: Ja, genau so soll es sein. Schmerzfrei, belastbar und endlich wieder Sport.«

Die Operation zog er daraufhin nicht mehr in Zweifel. Er hatte drei Ärzte gefragt und drei unterschiedliche Meinungen bekommen. »Hätte ich noch fünf Ärzte gefragt, hätte ich mich mit weiteren fünf Empfehlungen herumschlagen müssen.« Karl Seiters vertraute dem Arzt, den er sich ausgesucht hatte. Was hätte er auch tun sollen? »Ich habe das Gesundheitswesen und auch die Ärzte damals so gesehen – und ich muss sagen, ich hoffe, es gibt noch welche, die ich auch heute so sehen kann –, als Ärzte, die mir als Patient helfen. Die einen beruflichen Ethos haben. Die mir nichts empfehlen, was sie nicht an sich oder einer nahestehenden Person operieren würden. Aber ich habe das nicht so gesehen, dass da einzelne dazwischen sind, die den wirtschaftlichen Erfolg und ihr eigenes Weiterkommen an die erste Stelle stellen.«

Der Eingriff, zu dem er sich am 14. August 2007 aufmachte, muss ihm vorgekommen sein wie eine bevorstehende Geburt: Die Prozedur würde man sich gern ersparen, aber drum herum kommt man nun mal nicht.

Die Operation lief laut OP-Bericht nach Plan. Das Erwachen war brutal. Der Katheter, der Schmerzmittel direkt in Karls Bein leiten sollte, war beschädigt. Obwohl er vor Schmerzen schrie, dauerte es Weile, bis das Problem erkannt und behoben wurde. Als das Morphium endlich wirkte, ging es ihm besser. Das neue Kniegelenk nahm er trotzdem vom ersten Augenblick an als störend wahr. »Die Prothese hatte von Anfang an einen Beugeschmerz und einen Anschlagsschmerz. Wie ein Türscharnier, das irgendwo zum Anschlag kommt, als würde etwas blockieren in dem Gelenk.« Ohne starke Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, hält er die Schmerzen bis heute nicht aus. Immer wieder: Gang zur Apotheke, gemustert werden vom Personal, zuschauen, wie der Sicherheitsschrank geöffnet wird, nach Hause humpeln mit großer weißer Tüte. Es gebe Tage, erzählt er mir, an denen es etwas besser gehe. Dann fährt er in die Stadt und trinkt beim Italiener einen Cappuccino. An anderen Tagen verkriecht er sich zu Hause. Die Schmerzen machen reizbar.

Als Karl für meinen Kaffee Milch aus dem Kühlschrank holt, sehe ich, dass dieser fast nur Medikamente enthält. Und Quark. Für die Quarkumschläge, die er noch immer jeden Abend macht. Sie lassen das Kniegelenk abschwellen. »Etwa vier Monate nach der Operation«, sagt Karl, »fing ich an darüber nachzudenken, dass irgendetwas schiefgelaufen sein muss. Warum hört diese Prothese, die man mir mit so einem Heilungsversprechen verkauft hat, warum hört die nicht auf wehzutun? Da wollte ich doch hin. Ich wollte raus aus den Schmerzen und hatte jetzt mehr als vorher.«

Kurz darauf suchte Karl zermürbt eine Klinik in Hamburg auf, die sich auf den Einbau von Prothesen spezialisiert hat. Für die Ärzte dort war sein Fall nichts Ungewöhnliches. Das Knie ist ein kompliziertes Gelenk und die Prothese ein Fremdkörper. Patienten, die mit ihrer Prothese Probleme haben, sind häufig. Auch die Statistiken belegen das eindrucksvoll. Als die Krankenkasse Barmer GEK ihre Mitglieder befragte, die eine Knieprothese erhalten hatten, zeigte sich, dass nicht einmal die Hälfte »uneingeschränkt zufrieden« war. Jeder Fünfte war fünf Jahre nach der Operation ganz und gar unzufrieden.3 Sechs Jahre nach der OP nahmen noch 30 Prozent der Patienten Schmerzmittel.4 Die genaue Ursache der Schmerzen ist meist nicht zu finden.