Wähle das Leben! - Daisaku Ikeda - E-Book

Wähle das Leben! E-Book

Daisaku Ikeda

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwischen 1971 und 1974 erörterten der britische Historiker Arnold Toynbee und Daisaku Ikeda, spiritueller Führer der buddhistischen Bewegung Soka Gakkai, entscheidende Themen, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben: Kriege und weltweite Konflikte, immer knapper werdende Ressourcen und dringend notwendiger Umweltschutz oder auch Fragen nach der eigenen gesellschaftlichen Stellung oder der Rolle von Religion. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 615

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchvorderseite

Titelseite

Arnold Toynbee / Daisaku Ikeda

Wähle das Leben!

Ein Dialog

Aus dem Englischen von Karl Berisch

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel The Toynbee-Ikeda Dialogue, Choose Life by Kodansha International Ltd., bei Oxford University Press.

© Soka Gakkai and the Executors of the Estate of the late Arnold J. Toynbee 1976

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Soka Gakkai in Deutschland, K.d.ö.R., Mörfelden-Walldorf 2025

 

Kontaktadresse für Produktsicherheitsfragen: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Covermotiv: John_Walker - GettyImages-485771472.jpg

 

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

 

ISBN druck: 978-3-451-03582-1

ISBN ebook (EPUB): 978-3-451-83634-3

Anmerkung der Redaktion:

Dieses Werk wird in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht, um die Authentizität des Werkes zu wahren. Es ist zu beachten, dass die Aussagen im Kontext der Entstehungszeit des Werkes zu verstehen sind. In wenigen Fällen wurden redaktionelle Anpassungen vorgenommen, um den geänderten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen Rechnung zu tragen.

Inhalt

Vorwort

I DAS PERSÖNLICHE UND DAS GESELLSCHAFTLICHE LEBEN

1 Das elementare menschliche Sein

Einige unserer tierischen Aspekte

Vererbung und Umwelt

Körper und Geist

Das Unbewusste

Vernunft und Intuition

2 Die Umwelt

Das Einssein von Mensch und Natur

Natürliche und vom Menschen geschaffene Katastrophen

Großstadtprobleme

Rückkehr aufs Land

Drohendes Verhängnis

Das Ende der Umweltverschmutzung

3 Der Intellekt

Erziehung und Bildung

Der Einfluss der Literatur

Die Intellektuellen und die Massen

Das Engagement der Intellektuellen und Kunstschaffenden

Die Grenzen des wissenschaftlichen Intellekts

4 Gesundheit und Wohlfahrt

Die Verantwortung der Ärztinnen und Ärzte

Organverpflanzungen

Medizinische Behandlung – wissenschaftlich und ganzheitlich

Unterstützung für die ältere Generation

Bruttosozialprodukt oder Bruttosozialwohlfahrt

Geburtenkontrolle

5 Der Mensch als gesellig lebendes Tier

Die Arbeiterbewegung

Die Freizeit und ihre Verwendung

Die Wertbegriffe in sozialen Organisationen

Die Bindung an Organisationen

Das Establishment und die Kluft zwischen den Generationen

Die Neutralität der Massenmedien

Beschränkungen der Pressefreiheit

Abschaffung der Todesstrafe

Selbstmord und Sterbehilfe

II DAS POLITISCHE LEBEN

6 Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts

Die Vereinigten Staaten

Der Wettlauf um die Raumforschung

Japan und Großbritannien

Die konstitutionelle Monarchie

Der Niedergang der Nationalstaaten

Empfänglichkeit bestimmter Länder für den Kommunismus

Vaterlandsliebe zur ganzen Welt

7 Waffen und Krieg

Wirtschaftswachstum und Krieg

Die friedliche Nutzung der Atomkraft

Marionettenkriege und Asien

Selbstverteidigung und die japanische Verfassung

Die Polizeikräfte der Zukunft

Das Wesen und die Zukunft des Krieges

8 Die Wahl eines politischen Systems

Führungsqualitäten

Sicherungen gegen Faschismus

Die Macht und der Missbrauch der Macht

Demokratie oder Diktatur

Demokratie oder Meritokratie

9 Eine Welt

Internationale Währung

Die Rolle Ostasiens

Japans Beitrag zur Zukunft

Von der Bipolarität zur Multipolarität

Die Einigung der Welt

III PHILOSOPHIE UND RELIGION

10 Die Natur der Dinge

Der Ursprung des Lebens

Die Frage des ewigen Lebens

Das Universum

Vernunftbegabte Wesen auf anderen Planeten?

Jenseits von Wellen und subatomaren Teilchen

Religiöse Wege zur letztendlichen Realität

Der buddhistische Weg

11 Die Rollen der Religion

Religion als Quelle der Lebenskraft

Die drei westlichen Religionen

Rückkehr zum Pantheismus

12 Gut und Böse

Die Mischung von Gut und Böse

Umgang mit Begierden

Die Bedeutung des Schicksals

Vom wahren Fortschritt

Liebe und Gewissen

Liebe und Mitgefühl

Die Sphäre der Liebe ausweiten

Der höchste menschliche Wert

Vorwort

Das Inhaltsverzeichnis dieses Buches zeigt den Leserinnen und Lesern auf einen Blick, dass es einen weiten Themenkreis umfasst. Es sind Themen, die den beiden Gesprächspartnern persönlich am Herzen lagen. Ihr Dialog erscheint nun als Buch, und die Autoren hoffen, dass dieselben Themen auch für ihre Zeitgenossen in Japan, in der Englisch sprechenden und in der übrigen Welt von allgemeinem Interesse sein werden.

Ursprünglich war es ein mündlich geführter Dialog. Die zwei Teilnehmer trafen sich in London zu einem mehrtägigen Gespräch. Es wurde von Richard L. Gage aufgezeichnet, der eine geschickte und mühevolle redaktionelle Arbeit geleistet hat; denn das Auge eines Lesers verlangt eine andere Darstellung als das Ohr eines Hörers. Die beiden Autoren sind Herrn Gage sehr dankbar für den Dienst, den er ihnen geleistet hat; und sie glauben, dass die Leserschaft des Buches ihre Dankbarkeit teilen werden.

Die in dem Buch besprochenen Themen sind sehr verschiedener Art. Einige sind von besonders dringlichem Interesse für unsere Gegenwart; andere wiederum sind von dauernder zeitloser Bedeutung und von dem unbekannten Zeitpunkt an, da unsere Vorfahren zum Bewusstsein erwachten, von Menschen durchdacht und erörtert worden. Wahrscheinlich werden diese immerwährenden Probleme diskutiert werden, solange die Menschheit in der psychosomatischen Form weiterbesteht, in der wir in unserer materiellen Umgebung existieren, das heißt in der Bio­sphäre, die den Planeten Erde umhüllt.

Daisaku Ikeda ist Ostasiate; Arnold Toynbee ist Europäer. In dem letzten Kapitel der Geschichte der Menschheit hat der Westen die Führung übernommen und eine dominierende Rolle gespielt. In dem vorliegenden Buch bringt Toynbee Gründe dafür vor, dass in Zukunft die Führung vom Westen an Ostasien übergeben wird. Auf der technischen Ebene ist die Menschheit schon geeint durch die weltweiten Aktivitäten der westeuropäischen Völker in den vergangenen fünfhundert Jahren; und die Autoren erwarten und hoffen übereinstimmend, dass im nächsten Kapitel der Geschichte auch die politische und geistige Einigung gelingen wird. Dabei hat Ikeda mehr Hoffnung als Toynbee, dass dieser große Wandel auf freiwilligem Wege bewerkstelligt werden kann, auf der Grundlage der Gleichheit aller Menschen und ohne dass ein Teil der Menschheit über die anderen herrscht – ein Übel, das in der Vergangenheit nur zu oft der Preis einer politischen und geistigen Einheit in einem weniger als weltweiten Maßstab gewesen ist.

Toynbee ist im Allgemeinen pessimistischer als Ikeda, wenn er erwartet, dass die Menschheit einen hohen Preis für jene grundlegenden Veränderungen zu zahlen haben wird für die Veränderungen in der Einstellung, dem Ziel und dem Verhalten, die beiden Autoren als unerlässliche Bedingungen für das Überleben der Menschheit erscheinen. Ist Toynbees stärkerer Pessimismus lediglich eine Folge seines Alters? (Bekanntlich neigen alte Leute dazu, zu denken, dass die Welt »vor die Hunde geht«.) Oder kommt er daher, dass Toynbee als Europäer bis zu einem gewissen Grade Oswald Spenglers Glauben an den Untergang des Abendlandes im 20. Jahrhundert teilt? Oder ist er sich als Historiker besonders (vielleicht übermäßig) des bisherigen tragischen Versagens der Menschheit bewusst, auf der politischen und noch mehr auf der geistigen Ebene – ein Versagen, das im auffallenden Gegensatz zu ihren glanzvollen technischen Fortschritten steht?

Ein anderer möglicher Grund für Toynbees Befürchtung, das nächste Kapitel der Geschichte könne grausamer und gewalttätiger werden, als Ikeda für notwendig hält, ist der Unterschied zwischen den religiösen Traditionen, in denen die Autoren aufgewachsen sind.

Toynbee wurde als Christ erzogen; Ikeda ist Buddhist der nördlichen Form (Mahayana). Buddhismus und Christentum haben sich weit ausgedehnt (weiter als bisher jede nichtreligiöse Institution); aber die Mittel und Folgen ihrer Expansion waren verschieden. Der Buddhismus, fast nur durch friedliche Durchdringung verbreitet, begnügte sich mit einer freundschaftlichen Koexistenz mit anderen Religionen und Philosophien, die er dort vorfand, wo er propagiert wurde. So kam er zu einem Modus vivendi mit dem Taoismus und Konfuzianismus in China, mit dem Shintoismus in Japan. Im Gegensatz dazu ist das Christentum wie seine Schwesterreligion, der Islam, auf Ausschließlichkeit bedacht; in zahlreichen Fällen ist es mit Gewalt aufgezwungen worden – wie zum Beispiel dem größten Teil der Bewohnerinnen und Bewohner des Römischen Reichs, den Sachsen und den präkolumbischen Völkern Mexikos und Perus. Das Bewusstsein dieser dunklen Seite der Geschichte des Christentums kann eine christliche oder ehemals christliche Person stärker als eine buddhistische Person mit Skepsis erfüllen über die Möglichkeit, größere gesellschaftliche Veränderungen auf friedlichem Wege durchzusetzen.

Trotz des Unterschieds in dem religiösen und kulturellen Herkommen der Autoren ist ein bemerkenswerter Grad von Übereinstimmung in ihren Anschauungen und Zielen zutage getreten. Die Übereinstimmung ist weitgehend, die Meinungsverschiedenheiten sind verhältnismäßig gering. Beide glauben, der Mensch müsse unablässig danach streben, seiner angeborenen Neigung, die übrige Welt zu unterdrücken, Herr zu werden; und er müsse stattdessen versuchen, sich dem Dienst an der Menschheit so vorbehaltlos zu widmen, dass sein Ich identisch mit der letztendlichen Realität wird, die für einen buddhistischen Menschen der Buddhazustand ist. Und beide glauben, dass diese letztendliche Wirklichkeit keine menschenähnliche göttliche Persönlichkeit ist.

Sie glauben auch übereinstimmend an die Wirklichkeit des Karma, ein Sanskritwort, das wörtlich »Handlung« besagt, doch im Vokabular des Buddhismus die spezielle Bedeutung eines ethischen »Bankkontos« hat, auf dem die Bilanz sich während eines psychosomatischen Menschenlebens auf der Erde durch neue Eintragungen auf der Soll- oder Habenseite ständig ändert. Die Karmabilanz des Menschen wird in jedem Augenblick von der Plus- oder Minussumme der bisherigen Soll- oder Habeneintragungen bestimmt; aber der Träger des Karma kann und wird durch seine weiteren Handlungen die Bilanz zum Besseren oder Schlechteren wenden. Tatsächlich gestaltet er sein Karma selbst und hat auf diese Weise, wenigstens zum Teil, einen freien Willen.

Wie die Autoren es sehen, besteht die immerwährende geistige Aufgabe des Menschen darin, sein Ich zu erweitern, bis es sich mit der letztendlichen Realität deckt, von der es in Wahrheit untrennbar ist. Der Hinduausspruch Tat tvam asi (»Das bist du«) bedeutet: »Das [die letztendliche Wirklichkeit] ist das, was du [ein menschliches Wesen] bist.« Aber die Feststellung der Identität von »du« und »das« ist nur ein Vorhaben; es muss zur praktischen Wirklichkeit durch emsige geistige Bemühung gemacht werden, denn eine solche, vom einzelnen Menschen vorgenommen, ist der einzig wirksame Weg zu einem besseren Leben. Die Veränderung von gesellschaftlichen Institutionen ist nur insoweit wirksam, als sie Symptome und Folgen der geistigen Selbstverwandlung der Personen sind, deren wechselseitige Beziehung das Netzwerk bilden, aus dem eine menschliche Gesellschaft besteht.

Die Übereinstimmung zwischen Ostasien und Europa in dem hier veröffentlichten Dialog ist also sehr groß. Wie kommt das? Heute steht die Menschheit überall auf der Erde zahlreichen dringenden Problemen gegenüber, die uns alle bedrängen, ob arm, ob reich, ob technisch fortgeschritten oder rückständig, einerlei, ob die Religion des Einzelnen oder seines Volkes aus der indischen oder der jüdischen Überlieferung stammt. Die Universalität dieser heutigen gemeinsamen Probleme ist die historische Folge der weltweit verflochtenen technologischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die durch die Ausdehnung der Aktivitäten der westeuropäischen Völker in den letzten fünf Jahrhunderten entstanden sind. Tatsächlich erleben wir die Geburt einer allgemeinen weltweiten Kultur, die in dem technischen Rahmen des Westens ihren Ursprung hat, aber nunmehr geistig durch Beiträge aus allen historischen Regionalkulturen bereichert wird. Dieser neuerliche Trend in der Geschichte der Menschheit mag auch zum Teil die verblüffend große Gemeinsamkeit in den Weltanschauungen von Daisaku Ikeda und Arnold Toynbee erklären. Möglicherweise sind die Autoren auch in ihrem Austausch von Ideen über Philosophie und Religion in solche Tiefen der unterbewussten psychischen Sphären der menschlichen Natur getaucht, dass sie auf Elemente gestoßen sind, die alle Menschen immer und überall gemeinsam haben und hatten als Abkömmlinge der gemeinsamen Lebensgrundlage, in der alle Erscheinungen wurzeln.

Bis hierher spricht dieses Vorwort für beide Autoren des Buches; doch nun möchte Toynbee seinem Partner Ikeda dafür danken, dass er die Initiative ergriffen, die Zusammenkünfte arrangiert und für die Veröffentlichung der Dialoge in Buchform gesorgt hat. Nachdem Toynbee ein Alter erreicht hatte, in dem das Reisen Mühe macht, kam Ikeda aus Japan zu ihm nach England. Er hat auch die Übersetzung seines Anteils am Dialog vom Japanischen ins Englische veranlasst und diesen in eine solche Form gebracht, dass er als Buch gelesen werden kann. Das war eine gewaltige Arbeit, und Arnold Toynbee ist Daisaku Ikeda sehr dankbar, dass er sie auf seine jungen Schultern genommen hat.

Anmerkung des Verlags

Dieses Vorwort wurde von Arnold Toynbee im Namen beider Autoren in der dritten Person geschrieben und erscheint auf ihren Wunsch in dieser Form.

Wähle also das Leben,

damit du lebst,

du und deine Nachkommen.

Deuteronomium 30:19

I Das persönliche und das gesellschaftliche Leben

1 Das elementare menschliche Sein

Einige unserer tierischen Aspekte

Ikeda: Die sogenannte sexuelle Befreiung – ein weltweites Phänomen, wenn auch besonders auffällig in Europa, Amerika und Japan – schreitet heute mit solcher Schnelligkeit und Gewalt voran, dass sie die Grundlagen der modernen Gesellschaftsordnung zu erschüttern droht. Dinge, die man früher als befremdlich ansah, werden jetzt mit der größten Offenheit gesagt und getan.

Natürlich muss Sexualität richtig verstanden werden; sie darf nicht töricht verheimlicht werden, denn das fördert nur eine verklemmte Haltung ihr gegenüber. Andererseits bezweifle ich, dass die gegenwärtige lockere und freizügige Einstellung zur Sexualität der Weg zur menschlichen Befreiung ist, wie manche behaupten. Freiheit und Zügellosigkeit sind nicht dasselbe; und ich bin überzeugt, die moderne sexuelle Freiheit hat einen schweren Defekt; es fehlt etwas Grundlegendes in dieser Einstellung zur Sexualität.

Toynbee: Der Mensch befindet sich in der sonderbaren und verwirrenden Lage, dass er ein Tier ist und zugleich ein geistiges Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist. Er weiß, dass ihm die geistige Seite seiner Natur eine Würde gibt, die andere Tiere nicht besitzen, und er fühlt, dass er seine Würde bewahren sollte. Daher werden die Menschen verwirrt von jenen physischen Organen und Funktionen und Gelüsten, die sie mit anderen, nichtmenschlichen Tieren gemeinsam haben und die unsere Menschenwürde in Frage stellen, weil sie uns an unsere physische Verwandtschaft mit niederen Tieren erinnern. Die nichtmenschlichen Tiere werden von den Funktionen ihrer physischen Natur nicht in Verwirrung gebracht, denn sie sind sich ihrer selbst nicht bewusst. Verwirrung aus Furcht, seine Würde zu verlieren, und das demütigende Gefühl, sie verloren zu haben, sind spezifisch menschliche Probleme.

Es gelingt jedoch dem Menschen, trotz des tierischen Aspekts seiner Natur die Würde zu bewahren und sich vom Tier zu unterscheiden, indem er gewisse Konventionen erfindet und befolgt, die den Tieren versagt sind, um jene Organe und Funktionen zu beherrschen, die ein integrierender Bestandteil unseres biologischen Erbes sind. Einer der Prüfsteine unserer menschlichen Kultur oder Zivilisation ist die Art und Weise, in der wir durch selbstgeschaffene Konventionen mit den allen Lebewesen gemeinsamen physischen Organen und Funktionen umgehen.

Ikeda: Jede Zivilisation hat ihre eigenen Sitten und Konventionen über Sexualität, und diese werden im Allgemeinen von einer Generation zur anderen weitergegeben. Heute aber wird die sexuelle Erziehung gelehrt, als handele es sich um etwas ganz Besonderes, während sie doch immer in dieser oder jener Form ein Bestandteil aller Kulturen gewesen ist.

Toynbee: Sicherlich haben die meisten Zivilisationen ihre Konventionen über diese Themen; und oft verändern sich diese Konventionen. Heutzutage, in unserer Kultur, tragen wir unsere Geschlechts- und Ausscheidungsorgane bedeckt; wir treiben keinen Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit und befolgen bestimmte Tischsitten. Gerade Tischsitten verändern sich sehr. Sie sind ein empfindlicher Index kultureller Verschiedenheiten, aber nicht das sicherste Symptom für kulturelle Gesundheit oder Krankheit; denn Essen und Trinken sind animalische Funktionen, und die Menschen schämen sich nicht, sie mit Ratten und Kühen gemeinsam zu haben (solange wir nicht Speise und Trank auf deren Weise zu uns nehmen). Andererseits sind Ausscheidung und Geschlechtsverkehr für alle Menschen zutiefst verwirrend, auf welcher Kulturstufe sie auch stehen mögen; und deshalb befolgen alle Menschen Konventionen in der Ausübung dieser natürlichen Funktionen.

Die Sexualität ist besonders verwirrend, weil sich der geschlechtliche Hunger des Menschen erst im Pubertätsalter bemerkbar macht. Deshalb muss ein heranwachsendes menschliches Wesen mit den sexuellen Fakten des Lebens bekannt gemacht werden, und dies ist ein heikles Erziehungsproblem. Wenn die Eltern daraus ein Geheimnis machen und die Aufklärung des Kindes hinauszögern, bis es von dem Erwachen seiner Sexualität überwältigt wird, werden sie einerseits die Neugierde des Kindes erregen, andererseits jedoch auch Unwillen darüber, dass es so lange im Dunkel gelassen worden ist. Die Folge kann sein, dass das Kind von dem Gedanken an Sex besessen und übereifrig bestrebt sein wird, den Geschlechtsverkehr auszuüben. Wenn andererseits die Eltern vor den Augen des Kindes geschlechtlich verkehrten, würden sie seine Achtung verlieren, und das Kind könnte auf Sex erpicht sein, bevor es die körperliche Reife dafür besitzt. Es ist schwer, in der Sexualerziehung einen befriedigenden Mittelweg zu finden zwischen schädlicher übermäßiger Offenheit und Großzügigkeit auf der einen Seite und schädlicher übermäßiger Geheimnistuerei und Beschränkung auf der anderen.

Ikeda: Sie haben ganz recht. Diese Frage ist wahrscheinlich immer schwierig gewesen; bestimmt ist sie es heute immer noch.

Toynbee: Der schwache Punkt bei der menschlichen Würde ist der, dass wir sie aufrechtzuerhalten keinen besseren Weg gefunden haben als den, unsere tierischen Organe und Funktionen künstlich zu verhüllen. Wenn irgendein nichtmenschliches Lebewesen zeitweise mit einem menschenähnlichen Intellekt ausgestattet wäre und Gelegenheit hätte, die menschliche Lebensweise unvoreingenommen zu inspizieren, dann würde dieser imaginäre Beobachter sicherlich bemerken, dass die menschliche Würde Heuchelei ist, aufrechterhalten durch konventionelle Maßnahmen, um die Wahrheit zu verheimlichen, dass die menschliche Spezies nicht mehr Würde hat als jede andere der Tierwelt. Der Mensch jedoch glaubt ehrlich, dass er Würde besitzt und auf ein untermenschliches Niveau herabsinkt, sobald er es unterlässt, seine Würde zu bewahren. Ich glaube, dieses ist die Wahrheit, mehr als das Verdikt meines imaginären Beobachters. Das Gefühl des Menschen für Würde ist nur ein anderer Name für seine Erkenntnis, dass er ein geistiges Wesen ist neben und trotz seiner physischen Existenz als tierischer Organismus.

Ikeda: Ja, wenn wir behaupten, die geistigen Aktivitäten des Menschen seien Lüge und Einbildung, werden alle Verhaltenskonventionen, die er erfunden hat, um seine Würde zu stützen, bedeutungslos.

Die Wahrheit jedoch ist die, dass der Mensch ein geistiges Wesen ist und dass seine geistigen Aktivitäten einen großen Teil seiner Existenz ausmachen. Infolgedessen haben die Konventionen, die den Sex, das Essen und andere menschlich-tierische Funktionen betreffen, eine erhebliche Bedeutung.

Toynbee: Indem er sich selbst Regeln und Gesetze zur Beherrschung seiner animalischen Organe und Funktionen gibt, sichert und schützt der Mensch sein Menschsein. Die Menschheit hat bis jetzt noch keine allgemeingültigen und überall gleichen Gesetze gehabt. Die moralischen Gebote in den einzelnen menschlichen Gesellschaftsordnungen sind unterschiedlich. Wenn wir sie vergleichen, finden wir, dass einige besser sind als andere. Wir ­modifizieren ständig unsere eigenen moralischen Gebote; aber keine menschliche Gesellschaft hat jemals, soviel wir wissen, auf alle Gesetze verzichtet. Man kann sich schwer vorstellen, wie eine Gesellschaft, die das täte, menschlich bleiben könnte. Die Menschen haben eine größere Aktionsfreiheit als Tiere; wir besitzen die Freiheit, uns entweder schlechter als Tiere zu benehmen oder besser. Und wenn wir nicht nach Gesetzen lebten, würden wir uns bestimmt schlechter benehmen.

Das Kriterium für die richtige Einstellung zum Geschlechtsverkehr ist die Aufrechterhaltung der menschlichen Würde; und in diesem Bereich ist unabdingbar für die Humanisierung der sexuellen Beziehungen ein geistiger Wert, der noch wichtiger ist als die Würde selbst, nämlich die Liebe. Eine sexuelle Beziehung ohne Liebe und Würde, reduziert auf die bloße Befriedigung eines animalischen Triebes, ist degradierend. Bei den Tieren geschieht die Befriedigung des Geschlechtstriebes unbewusst und ist daher unschuldig. Überdies wird bei ihnen das Geschlechtsleben durch natürliche Kontrollen reguliert; beim Menschen hingegen ist Sex ohne Würde und Liebe nicht einmal tierisch – er ist geistig und moralisch niedriger als das Geschlechtsleben der Tiere.

Ikeda: Natürlich würde eine Gesellschaft ohne Regeln und Gesetze nicht mehr menschlich sein. Sie würde sogar mit einer tierischen Gemeinschaft keine Ähnlichkeit mehr haben; denn die Wissenschaft hat festgestellt, dass alle Tiere, auch solche mit begrenzten geistigen Fähigkeiten, Gesetze befolgen. Gewisse Affenarten zum Beispiel haben bestimmte Verhaltensregeln bei der Nahrungsaufnahme und beim Geschlechtsverkehr, die von den Mitgliedern dieser Affengemeinschaften peinlich genau eingehalten werden. Der Mensch ohne Gesetze würde gesellschaftlich niedriger stehen als diese Affen.

Toynbee: Sexuelle Regeln sind am wichtigsten, denn die Sexualität ist der wesentlichste Teil der animalischen Seite der menschlichen Natur. Die anderen animalischen Funktionen betreffen nur das einzelne Individuum, während die geschlechtlichen Beziehungen zumindest zwei Personen betreffen und mehr, wenn sie ihr natürliches Ziel erreichen, die Geburt von Kindern. Einzelne Menschen können ohne Geschlechtsverkehr leben; Mönche und Nonnen verschmähen ihn. Aber die menschliche Spezieskann ohne ihn nicht bestehen, denn auf andere Weise kann sie sich nicht vermehren. Die Regulierung der geschlechtlichen Beziehungen kann bewirken, dass der von der Natur eingepflanzte sexuelle Hunger durch Liebe geadelt und verklärt wird. Die Liebe zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern ist, wie Konfuzius gelehrt hat, das Herz der menschlichen Gesellschaft und Moral.

Ikeda: Grundsätzlich stimme ich zu; ich glaube jedoch, dass der Verfall der sexuellen Moral und der Sexualverkehr ohne Liebe zu dem allgemeinen Trend gehört, das Leben nur in materiellen Aspekten zu sehen: der Sex wird zu einem bloßen Vergnügen reduziert, das mit Geist und Seele nichts mehr zu tun hat. Ich bin überzeugt, dass wir diesen Trend auf seine fundamentalen Ursachen hin untersuchen müssen, wenn wir zu einer Lösung kommen wollen.

Toynbee: Die Gesamtheit der Regeln, Sitten und Gewohnheiten einer menschlichen Gemeinschaft ist ein einziges miteinander verknüpftes Netzwerk. Auch wenn keine logische Verbindung zwischen den Gesetzen, von denen die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens regiert werden, erkennbar ist, besteht doch sicher eine psychologische Verbindung in dem Sinne, dass Zügellosigkeit auf der einen, Beschränktheit auf der anderen Seite auf die übrigen Bereiche überzugreifen droht. Es ist sicher kein Zufall, dass die Zügellosigkeit in den sexuellen Beziehungen von Zügellosigkeit in der Drogenszene und von zunehmender Unredlichkeit und Gewalttätigkeit als dem schnellsten Weg zur Erreichung persönlicher oder politischer Ziele begleitet wird.

Eine Ursache des Ausbruchs von Gesetzlosigkeit in vielen Lebensbereichen ist darin zu sehen, dass man in den beiden Weltkriegen und in den vielen Lokalkriegen, die seitdem und dazwischen geführt worden sind, aus Millionen Männern Soldaten gemacht hat. Der Krieg ist die absichtliche Umkehrung des normalen Verbots, Menschen umzubringen. Für einen Soldaten ist es Pflicht, seinen Mitmenschen zu töten, nicht das Verbrechen, das es bedeutet, wenn er als Zivilist einen Mord begeht. Diese willkürliche und unmoralische Aufhebung eines ethischen Grundgesetzes ist in sich bestürzend und demoralisierend. Darüber hinaus wird ein Soldat im Dienst aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und ist daher frei von allen gewohnten gesellschaftlichen Hemmungen. Wenn ihm zu töten befohlen wird, dann ist es nicht verwunderlich, dass er sich auch von anderen normalen Hemmungen gegen Raub, Vergewaltigung und Drogenmissbrauch befreit fühlt. Die Demoralisierung der amerikanischen Truppen in Vietnam war ein extremes Beispiel dafür, was mit Soldaten geschieht, wenn sie im Krieg sind.

Ikeda: Der Krieg hat zu allen Zeiten eine solche Demoralisierung zur Folge gehabt.

Toynbee: Der Krieg ist vom Übel; der Geist der Wissenschaft ist es nicht. Und doch hat unbeabsichtigt und indirekt der Geist der Wissenschaft, wie ich glaube, zu dem gegenwärtigen Ausbruch der Gesetzlosigkeit beigetragen, besonders auf dem Gebiet der sexuellen Beziehungen. Das ethische Verdienst der Wissenschaft besteht darin, dass sie sich zur Aufgabe macht, die Wahrheit zu entdecken und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie stellt alle überlieferten Anschauungen, Konventionen und Gewohnheiten in Frage. Die überlieferten Konventionen über das sexuelle Verhalten haben in allen Gesellschaftsordnungen in verschiedenen Graden restriktiv gewirkt; und ich finde es vom ethischen Standpunkt aus richtig. Doch je starrer die Restriktion, desto häufiger und schamloser wird sie durchbrochen, und desto heuchlerischer und geschickter geht es vor sich. Heutzutage werden die Kinder – nicht nur formell, sondern vom Zeitgeist – zu einem wissenschaftlichen Streben nach der Wahrheit und zu einer wissenschaftlichen Verachtung der Heuchelei erzogen. Infolgedessen ist heute das Prestige und daher auch die Autorität sowohl der Eltern als auch der Regierungen durch einen Mangel an Glaubwürdigkeit ausgehöhlt. Die Kinder von heute sind geneigt zu glauben, dass ihre Eltern nicht das tun, was sie über sexuelle Beziehungen oder sonst etwas predigen.

Ist dies ein Grund – und ich glaube, es ist einer – für den derzeitigen Aufstand gegen die überlieferten Konventionen im sexuellen Verhalten, dann ist es unwahrscheinlich, dass die heranwachsende Generation dazu gebracht werden kann, ihr sexuelles Verhalten zu regulieren, weder durch amtliche Repressivmaßnahmen noch durch eine freiwillige Aktion für sexuelle Askese.

Ikeda: Ich betrachte den Trend gegen sexuelle Askese in einem anderen Licht. Ich sehe die wahre Ursache in einer Schwächung der inneren Lebenskraft. Diese Schwächung ist durch die erdrückenden Einflüsse der modernen materialistischen Zivilisation herbeigeführt worden. Der pulsierende Geist der Liebe, der nötig ist, damit die Sexualität ihren richtigen Platz im menschlichen Leben findet, kann nicht aus einer geschwächten Lebenskraft geboren werden. Ich teile Ihren Glauben, dass durch das Wirken der Liebe ein Weg zur Überwindung der gegenwärtigen Situation gefunden werden kann; aber ich meine, man muss noch einen Schritt weiter gehen und Vertrauen in die Kräfte des Lebens setzen, von denen die Liebe geschaffen wird, wenn wir erwarten, dass geistige Bemühungen praktische Wirkungen haben sollen. Das Mittel, dem sexuellen Verhalten Menschlichkeit zurückzugeben, ist entweder, die äußeren Kräfte auszuschalten, die den Geist unterdrücken, oder die innere Kraft, die der Träger und der schöpferische Ursprung des Lebens ist, zu entwickeln, zu aktivieren und zu stärken. Wie ist das zu ermöglichen?

Toynbee: Das einzige aussichtsreiche Mittel gegen sexuelle Zügellosigkeit wird ein positives sein. Deshalb sollte der heranwachsenden Generation ein Ziel gegeben werden, das begeisternd, aber nicht utopisch ist. Kein bestimmter Sittenkodex für sexuelles Verhalten ist sakrosankt; doch das Leben des Menschen wird tierisch, wenn nicht seine sexuellen Beziehungen von einem Sittenkodex regiert werden, der dieser physischen Funktion, die der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, menschliche Würde gibt und allgemein anerkannt wird.

Vererbung und Umwelt

Ikeda: Es gibt, grob gesagt, zwei Richtungen in der Genetik: die orthodoxe von Mendel und Morgan und die von dem russischen Wissenschaftler Lyssenko begründete.

Die Lehre von Mendel lokalisiert die Gene, die Träger der Vererbung, im lebenden Organismus selbst und vertritt die Ansicht, dass der Vererbungsvorgang auf der Weitergabe von Eigenschaften von den Eltern auf die Kinder beruht. Die Gene, in präziser Ordnung innerhalb der in den Zellkernen enthaltenen Chromosomen gruppiert, folgen einem festen Mechanismus, um Erb­übertragungen zu bewirken. Neuere Forschungen in der Biochemie und der Molekularbiologie haben diese Theorie bestätigt. Und weiter hat die Molekularbiologie aufgezeigt, dass DNA der Grundbestandteil der Gene ist; und die Arbeiten von J. D. ­Watson und F. H. C. Crick haben die Beschaffenheit der komplexen Struktur dieser Substanz festgestellt.

Einige russischen Wissenschaftler betonen, dass die Vererbung als ein Teil des Stoffwechselprozesses der Organismen verstanden werden muss. Aber indem sie ihre Lehre mit der marxistischen Ideologie verknüpfen, die Umwelt als die einzige Vererbungsdeterminante ansieht und das Vorhandensein der Gene ignoriert, stellen sie mit ihrer Theorie ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler in Frage. Nach dem Tode Stalins rügte die Prawda diese Schule und ihre Lehre als Hindernis auf dem Wege der biologischen Entwicklung und gab dabei zu, dass die Wissenschaft, wenn sie politisch verzerrt wird, um sie an eine bestimmte Ideologie zu binden, sich nicht normal entwickeln kann. Ich glaube, dass sowohl die Gene als auch die Einflüsse der Umwelt wesentliche Elemente der Vererbung sind.

Toynbee: Ich stimme Ihnen bei, dass sowohl die Gene als auch die Umwelt berücksichtigt werden müssen bei jedem Versuch, das Wesen – oder wenigstens die Art des Vorgangs – der Evolution oder Schöpfung zu erklären, welches dieser beiden Konzepte auch immer einem geeigneter zu sein scheint, die Realität der Veränderung zum Ausdruck zu bringen.

Ikeda: Für ein tieferes Verständnis muss die Vererbung vom Standpunkt der Wechselbeziehungen zwischen lebenden Organismen und ihrer Umwelt studiert werden. Eine solche Betrachtungsweise wird neue Perspektiven auf dem weiten Feld der Vererbung eröffnen.

Toynbee: Vielleicht ist der Unterschied zwischen Vererbung und Umwelt eine dieser geistigen Analysen einer unteilbaren Realität an sich, die der Verstand machen muss, weil seine Denkfähigkeit begrenzt ist. Die Erschaffung einer spezifischen Ordnung der Gene, die durch den Vorgang der Zeugung von einem Vertreter der Spezies an einen anderen weitergegeben wird, ist gleichbedeutend der Erschaffung eines Zentrums für einen Organismus, der das ganze Universum umfasst. Natürlich kann diese Orientierung des Universums um eine aus einer faktisch unendlichen Zahl wetteifernder örtlich und zeitlich beschränkter Zentren nur partiell und temporär sein.

Ikeda: Meinen Sie, dass einzelne Angehörige einer Spezies von Lebewesen versuchen, sich zum Mittelpunkt des Universums zu machen?

Toynbee: Ja. Jeder einzelne Vertreter einer Spezies stirbt. Wenn auch der Mechanismus der Fortpflanzung durch eine unveränderliche Ordnung von Genen das Fortbestehen einer Spezies durch eine Abfolge ihrer Vertreter gewährleistet, kann die Spezies selbst schließlich aussterben. Vermutlich ist die Mehrzahl der Spezies von Lebewesen, die es gegeben hat, schon ausgestorben, und die verbliebenen Spezies sind wahrscheinlich eine kleine Minderheit. Doch während der kurzen Zeitspanne, die der einzelne Vertreter einer Spezies am Leben ist, ist dieser anscheinend unbedeutende Bruchteil des Universums in jedem Sinne nicht weniger als das ganze Universum. Es wird der Versuch gemacht, das ganze Universum um dieses besondere Lebewesen als dem Weltzentrum zu organisieren, und bis zu einem unendlichen Grad ist das ganze Universum wirklich beeinflusst von der Bemühung des einzelnen Lebewesens, sich am Leben zu erhalten. Auf diese Weise schließt die Umwelt eines Lebewesens nicht nur das ganze übrige Universum ein, sondern ist tatsächlich ein integrierender Bestandteil des Lebewesens selbst. Die geistige Unterscheidung zwischen einem Lebewesen und seiner Umwelt würde, glaube ich, in der Realität an sich keine Entsprechung finden, vorausgesetzt, die Realität an sich wäre dem menschlichen Verstand begreiflich.

Ikeda: Ihre Erklärung des Lebewesens und der Umwelt als eine unteilbare Einheit entspricht der buddhistischen Lehre, die Einheit von Leben und Umgebung genannt wird. Sie besagt, einfach ausgedrückt, dass Leben und Umwelt, obwohl in der Welt der Erscheinungen zwei getrennte Einheiten, im Wesen eins sind.

Toynbee: Die Lehre der Einheit von Leben und Umgebung scheint eine genaue Erklärung dessen zu sein, was vermutlich der »wahre Zustand« ist. Der egoistische Versuch eines Lebewesens, das Universum um sich herum zu organisieren, ist die Bedingung für seine Lebenskraft und zugleich deren Ausdruck. Tatsächlich sind Leben und Egoismus austauschbare Begriffe; und wenn dies wahr ist, dann trifft auch zu, dass der Preis für den Altruismus der Tod ist. Altruismus – auch Liebe genannt – ist ein Versuch, die natürliche Bemühung eines Lebewesens, das Universum um sich selbst zu ordnen, umzukehren. Die Liebe ist ein Gegenversuch des Lebewesens, sich dem Universum hinzugeben, statt es auszubeuten. Hingebung oder Aufopferung bedeutet, sich nach einem Mittelpunkt des Universums zu orientieren, der man nicht selbst ist.

Ikeda: Die großen Religionen und Philosophien versuchen, das Verhältnis des Individuums zum Universum zu verstehen und Wege zu entwerfen, wie sich das Individuum bewusst in Beziehung zum Universum setzen kann.

Toynbee: Alle großen Religionen und Philosophien erklären, dass das eigentliche Ziel für jedes Lebewesen darin besteht, seine natürliche Ichbezogenheit zu unterdrücken. Sie erklären auch einmütig, dass dieses Bestreben schwierig ist, denn es ist wider die Natur, aber dass es zugleich auch der einzig wahre Weg zur Selbsterfüllung ist und daher auch der Weg, Zufriedenheit und Glück zu erlangen.

Selbsterfüllung durch Selbstunterordnung und Selbstopfer ist ein Paradox. Wenn dieses Paradox wahr und richtig ist, dann ist der Versuch, ein einzelnes Lebewesen als eine vom übrigen Universum losgelöste Einheit zu verstehen, unnatürlich vom Standpunkt des Universums als eines Ganzen, obwohl es natürlich ist vom Standpunkt des einzelnen Lebewesens, das versucht, seine Besonderheit und Vorherrschaft zu behaupten.

Sowohl die Ichbezogenheit (Egoismus) als auch die Liebe (Altruismus) bezeugen, dass die Realität an sich – die offensichtlich das erblich bestimmte Individuum und seine Umwelt umfasst – eins und unteilbar ist. Die Ichbezogenheit ist ein Versuch, die temporär und partiell unterbrochene Einheit der Realität wiederherzustellen, indem sie das Universum um ein bestimmtes Lebewesen ordnet. Die Liebe ist ein Versuch, die Einheit der Realität wiederherzustellen, indem sie von der Ichbezogenheit ablässt und das Einzelwesen in das unteilbare Universum aufgehen lässt. Obwohl Liebe und Ichbezogenheit in ihren Zielen und nach den Begriffen der Ethik gegensätzlich sind, ähneln sie einander als zwei Impulse, deren gemeinsames Tätigkeitsfeld das Universum als Ganzes ist. Und das zeigt an, dass die verstandesmäßige Unterscheidung zwischen einem Lebewesen und seiner Umwelt in der Realität an sich nicht existent ist.

Ikeda: Nach dem Grundgedanken der Einheit von Leben und Umgebung, den ich vorhin erklärte, sind das Leben des Universums und die Kraft und das Gesetz, die ihm innewohnen, ständig wirksam mit dem Ziel, sich zu manifestieren. Als Ergebnis dieses Prozesses werden Lebewesen zur gleichen Zeit individualisiert, wie die Umwelt geformt wird.

Mir scheint, dass das Studium der Vererbungsphänomene, wenn es mit dieser Idee als Grundlage der Erforschung wechselseitiger Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt betrieben wird, zu neuen und interessanten Entwicklungen führen könnte.

Die psychosomatische Medizin bietet ein ähnliches interessantes Beispiel eines Weges, auf dem sich die Vererbungslehre der Zukunft entwickeln könnte. Die moderne abendländische medizinische Wissenschaft hat sich in dem Dualismus von physiologischer und psychologischer Behandlung entwickelt. Doch die psychosomatische Medizin hat durch die Konzentration auf die Wechselbeziehungen zwischen Körper und Geist ein völlig neues Bild des menschlichen Lebens geschaffen. Es scheint möglich, dass eine neue Vererbungslehre etwas Ähnliches tun könnte, indem sie zeigt, dass das menschliche Leben – natürlich durch genetische Phänomene vermittelt – in direkter Beziehung mit der Umwelt steht.

Toynbee: Die Entwicklung einer solchen neuen Vererbungslehre scheint durchaus glaubwürdig.

Körper und Geist

Ikeda: Von Anbeginn an haben Philosophen und Theologen verschiedene Konzeptionen der Beziehung zwischen Körper und Geist formuliert. Die aus diesen Konzeptionen entstandenen Lehren sind zahlreich und vielfältig; aber alle fallen in zwei Hauptkategorien: eine materialistische und eine spiritualistische. Die Anhängerinnen und Anhänger beider Denkmethoden haben viel für die kulturelle Entwicklung getan, und ich glaube, dass ihre Leistungen gebührende Anerkennung verdienen. Zum Beispiel haben bei der Auslegung von Moral und Liebe die Spiritualisten viel dazu beigetragen, die menschliche Gesellschaft wirklich human zu erhalten. Und die Materialisten haben ihrerseits die Grundlagen für die Bildung und Entwicklung der modernen Wissenschaft gelegt.

Dennoch bin ich außerstande, mir die eine oder die andere Auffassung vorbehaltlos zu eigen zu machen. Obwohl die Materialisten die geistigen Funktionen des Menschen anerkennen, indem sie den physischen Körper als die ursprüngliche Quelle des Lebens ansehen, neigen sie dazu, das Leben selbst als dem Wesen nach materiell zu betrachten. Andererseits kann ich, während ich mit den Spiritualisten einig gehe, dass Verstand, Einsicht, Verlangen und andere geistige Funktionen die Grundlagen einer wahrhaft humanistischen Lebensweise sind, mich nicht der Philosophie verschreiben, dass die physischen Aspekte des menschlichen Lebens und physisch bedingtes menschliches Verlangen geringzuschätzen sind. Sowohl die Materialisten wie die Spiritualisten scheinen jeweils nur einem Aspekt des Problems nachzugehen und versäumen, die Beziehung zwischen Körper und Geist zu erfassen.

Toynbee: Ja, ich stimme zu, dass weder der Materialismus noch der Spiritualismus eine ausreichende Erklärung der Realität liefert, wenn man den einen oder den anderen als die einzig mögliche Erklärung nimmt. Die Materie kann nicht in Begriffen des Geistes verstanden werden und der Geist nicht in Begriffen der Materie. Jede ist nur im Sinne einer Einheit, die beide Auffassungen umschließt, verständlich; und wir können nicht die Unteilbarkeit der beiden Aspekte innerhalb dieser psychosomatischen Einheit verstehen, da wir sie nicht auf eine mit dem Verstand erfassbare Einheit reduzieren können.

Ikeda: Die Beziehungen zwischen Körper und Geist scheinen mir am besten in der buddhistischen Lehre der Einheit von Körper und Geist (Jap. shikishin-funi) zum Ausdruck gebracht. »Körper« bezeichnet hier alle Lebensphänomene, die man mit naturwissenschaftlichen oder physiochemischen Forschungsmethoden erfassen kann. Mit anderen Worten ist es der materielle oder phänomenale Aspekt des Lebens. »Geist« bezieht sich auf all die verschiedenen noumenalen Aspekte des Lebens und die vielen Arten geistiger Aktivitäten, die nicht in den Begriffen physiochemischer Methoden erfasst werden können. Dazu gehören Verstand, Einsicht und die Wünsche, die das Forschungsobjekt der Spiritualisten sind. In den buddhistischen Lehren sind diese Aspekte zugleich getrennt und vereint.

Weder Körper noch Geist ist grundlegender als das andere. Sie üben aktive Kräfte in ihren individuellen Aspekten aus, und das Leben wird in seiner wahrsten Form nur manifest, wenn beide eine lebende Einheit werden. Die buddhistische Lehre der Einheit von Körper und Geist erklärt das Leben als eine Einheit der beiden Aspekte des Lebens: von Elementen, die der Deutung in wissenschaftlichen Begriffen zugänglich sind, und von anderen Elementen, die ein Teil der tieferen Unterströmung sind, auf der alle Lebensphänomene basieren. Der Materialismus beschäftigt sich nur mit der Welt des »Körpers« und der Spiritualismus mit der Welt des »Geistes«.

Toynbee: Da wir nur eine hypothetisch reale, wenn auch verstandesmäßig unfassbare Einheit in diesen offenbar unvereinbaren Bestandteilen analysieren können, vermute ich, dass die Lehre der Einheit von Körper und Geist die engste Annäherung an ein Verständnis der Realität an sich ist, die erreicht werden kann.

Ikeda: In den letzten Jahren sind die psychosomatische Medizin und Theorien wie die von Medard Boss, der sich mit der Wechselwirkung geistiger und physischer Kräfte im menschlichen Leben beschäftigt, dem buddhistischen Prinzip der Einheit von Körper und Geist nahegekommen. Aber der Buddhismus führt die Lehre weiter fort, indem er das Wesen des Lebens in der Erscheinungswelt als mit dem kosmischen Leben in Beziehung stehend erklärt. Ich glaube, nur wenn das Menschenleben als ein Teil des Stroms des kosmischen Lebens verstanden wird, wird es möglich sein, über die bloße Erkenntnis der Einheit von Psychischem und Physischem hinauszugehen und das Leben in der untrennbaren Verbundenheit von Körper und Geist in Richtung neuer Schöpfung auszurichten und voll zur Entfaltung zu bringen.

Toynbee: Ich glaube, dass die Einheit von Körper und Geist, die sich in jedem Vertreter jeder Spezies der lebenden Kreatur oder sonst irgendwo auf diesem Planeten manifestiert, ein Teil des Stromes des kosmischen Lebens ist. Wie ich schon sagte, ist jedes Lebewesen deckungsgleich und daher identisch mit dem Universum. Ich glaube, dass das Hinduwort Tat tvam asi – welches besagt, dass das Einzelwesen zugleich das Universum ist – die Wahrheit über die Beziehung zwischen dem einzelnen Lebewesen und der letztendlichen Realität zum Ausdruck bringt.

Das Unbewusste

Ikeda: Beim Studium des menschlichen Geistes sind die bewussten geistigen Vorgänge – Wahrnehmung, Denken, Willen – lange Gegenstand der philosophischen Betrachtung gewesen. Wie ich es sehe, sind alle westlichen Philosophien auf das Studium des Bewusstseins aufgebaut. Aber Bewusstsein ist nur ein Teil der menschlichen Existenz.

Toynbee: Da stimme ich zu; das Bewusstsein ist nur die wahrnehmbare Oberfläche der Psyche wie die sichtbare Spitze eines Eisberges, dessen größter Teil sich unter Wasser befindet.

Ikeda: Darum glaube ich, dass ein vollständiges Bild der Psyche des Menschen und auch des Lebens selbst unmöglich ist, wenn man nicht dem Reich des Unterbewusstseins hinter den menschlichen Taten, Gedanken und Wünschen Beachtung schenkt.

Toynbee: Das Unterbewusstsein ist die Quelle der Intuitionen, die das rationale Denken inspirieren, aber vom Verstand nicht erreicht werden können, solange er seine Tätigkeit auf die Ebene des Bewusstseins beschränkt. Es steht fest, dass zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse, die in logischen Begriffen ausgedrückt werden können und worden sind und durch Experimente bestätigt wurden, ursprünglich aus unbestätigten und unlogischen Intuitionen stammen, die vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein aufgestiegen sind.

Ikeda: Ja, bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen sind oft wie die Schöpfungen großer Künstlerinnen und Künstler das Ergebnis geistiger Intuition.

Toynbee: Das Unterbewusstsein ist zweifellos die Quelle der Dichtung und der religiösen Eingebung. Es ist auch die Quelle aller Emotionen und Impulse. Die moralischen Urteile, die wir auf der Ebene des Bewusstseins treffen, unterscheiden zwischen positiven und negativen Emotionen und Impulsen. Je mehr es uns gelingt, mit unserem Bewusstsein tiefer ins Unterbewusstsein einzudringen, desto größer wird unsere bewusste Beherrschung unserer Emotionen und Impulse. Die bewusste Beherrschung befähigt uns, jene Hervorbringungen des Unterbewusstseins, die wir für schlecht halten, zu unterdrücken und die zu fördern, die wir für gut halten.

Daher glaube ich, dass es für das Wohlergehen der Menschheit äußerst wichtig ist, die unbewussten Tiefen der menschlichen Psyche zu erforschen, um so viele dieser Emotionen und Impulse wie möglich unter die Kontrolle des Bewusstseins zu bringen. Das ist eine lohnende geistige Aufgabe, aber auch eine schwierige. Das Unterbewusstsein gleicht dem griechischen Meeresgott Proteus; es versucht, sich der Kontrolle zu entziehen und sich aufzulehnen, wenn man es unterworfen zu haben glaubt, und es verfügt über feine Mittel, sich am Bewusstsein zu rächen, wenn es beherrscht wird, und wieder auszubrechen, wenn man glaubt, es fest im Griff zu haben.

Ikeda: Der erste, der naturwissenschaftliche Methoden zur Erforschung des Unterbewusstseins angewandt hat, war der Tiefenpsychologe Sigmund Freud. Natürlich schätze ich seine Arbeit und die anderer Wissenschaftler gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr hoch ein. Aber schon in alter Zeit haben es buddhistische Gelehrte in Indien unternommen, in die Tiefen der menschlichen Psyche unter der Ebene des Bewusstseins zu tauchen.

Toynbee: Sie haben ganz recht, darauf hinzuweisen, dass die Entdeckung und Erforschung der unterbewussten Tiefen der Psyche, die im Westen erst mit Freuds Generation begann, schon vor mindestens 2400 Jahren von Buddha und seinen hinduistischen Zeitgenossen vorweggenommen wurden. Der moderne abendländische Versuch, das Unterbewusstsein zu erforschen und zu beherrschen, ist bis jetzt noch nicht über ein naives und grobes Frühstadium hinausgekommen. Hindus und Buddhisten haben dieses Ziel über einen viel längeren Zeitraum verfolgt und sind erheblich weiter gelangt. Auf diesem Gebiet hat der Westen noch eine Menge aus den indischen und ostasiatischen Erfahrungen zu lernen. Ich habe wiederholt in Büchern und Aufsätzen meine Leserinnen und Leser im Westen auf diese historische Tatsache hingewiesen als ein Teil meiner lebenslangen Bemühungen, die Menschen im Westen von dem lächerlichen Vorurteil zu befreien, die moderne abendländische Zivilisation sei allen anderen überlegen, weil sie sie überflügelt hätte.

Ikeda: Ich bin mir dessen bewusst, und ich respektiere Ihre aufrichtigen Bemühungen in dieser Hinsicht. Zwei führende Denker der indischen Nur-Bewusstsein-Schule, Asanga und ­Vasubandhu (beide im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung), haben den damals anerkannten sechs Sinnen neue Begriffe hinzugefügt. Die traditionellen sechs waren Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl und ein sechster Sinn, der die Funktionen der anderen fünf kontrolliert und vereint. Die zusätzlichen Begriffe, die diese großen Denker brachten, war die Fähigkeit, gründlich zu denken (das Mano-Bewusstsein), und die Fähigkeit der tieferen Einsicht in das Wesen des Lebens (das Alaya-Bewusstsein). Der siebte Sinn, die Denkfähigkeit, schließt eine tiefe Betrachtungsweise ein; Descartes’ »Ich denke, also bin ich« fällt in diese Kategorie. Die abendländischen Philosophen sind dieser Betrachtungsweise bis hierhin gefolgt; Vasubandhu ging weiter in der Entdeckung des achten Sinnes, vermittels dessen er tiefer und ohne Illusion in das Wesen des menschlichen Lebens blicken konnte. Tiantai in China (im sechsten Jahrhundert u. Z.), der Vasubandhus Idee weiterführte, entwickelte einen neunten Sinn (das Amala-­Bewusstsein), der zur letztendlichen geistigen Wesenheit gelangt, die alle anderen psychischen Tätigkeiten aktiviert. Seine Idee wurde die Saat, aus der der Tiantai-Buddhismus entstand. Ich habe diese Personen kurz erwähnt, um zu zeigen, dass von alters her buddhistische Denker versucht haben, die tieferen Schichten des Lebens jenseits des Bewusstseins zu verstehen.

Toynbee: Natürlich haben die Bestrebungen dieser Menschen wichtige Ergebnisse gezeitigt; ich glaube jedoch, dass nicht einmal die bewusste Oberfläche der Psyche, die verhältnismäßig erfassbar ist, vollständig und wirklich verstanden werden kann, wenn man sie nicht als einen bloßen Teil eines unteilbaren psychischen Ganzen sieht, in dem die unterbewussten Tiefen die bewusste Oberfläche beherrschen, in dem Maße, wie sie nicht wahrgenommen oder ignoriert werden. Der Wert, diese unterbewussten Tiefen oder zumindest die oberen Schichten davon in das Bewusstsein zu bringen, liegt darin, dass wir, indem wir uns ihrer bewusst werden, sie beherrschen können, statt unversehens von ihnen beherrscht zu werden.

Ich glaube, dass der indische buddhistische Philosoph Vasu­bandhu und der chinesische buddhistische Philosoph Tiantai tatsächlich mit ihrem Bewusstsein in die tieferen Schichten des Unterbewusstseins eingedrungen sind (das Raumwort tiefer ist unzulänglich und könnte in die Irre führen, doch ein Raumvokabular, metaphorisch gebraucht, ist das einzige, das uns zur Beschreibung psychischer Erscheinungen zur Verfügung steht). Ich glaube auch, dass die letzte Schicht des unterbewussten Abgrunds der menschlichen Psyche identisch ist mit der letztendlichen Realität, die dem ganzen Universum unterliegt.

Ikeda: Ich vermute, Ihre letztendliche Realität hinter dem Universum entspricht dem, was die buddhistischen Denker die universale Lebenskraft nennen, die die Quelle aller Erscheinungen im Universum ist.

Aber um uns auf eine etwas konkretere Ebene zu begeben, möchte ich nach Ihrer Meinung über die Methodenlehren fragen, die bei der Erforschung psychischer Phänomene angewandt werden. Die Forschung auf diesem besonderen Gebiet der menschlichen Psyche wurde von der Einführung und Entwicklung von Freuds Psychoanalyse und Tiefenpsychologie angeregt.

Die zahlreichen Zweige der Psychologie können grob in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die eine ist die Bewusstseinspsychologie, die sich mit der bewussten Ebene der menschlichen Psyche beschäftigt. Die andere ist die Tiefenpsychologie, die sich mit beiden Ebenen, der bewussten und der unbewussten, befasst, doch alle Phänomene ausschließt, die sich einem objektiven Wahrheitsnachweis entziehen.

Toynbee: Das moderne abendländische Studium der menschlichen Psyche ist viel jünger als das abendländische Studium der unbelebten und physischen Aspekte des Universums, wie es uns erscheint. Die wissenschaftlichen Methoden, die der Westen zum Studium dieses physischen Aspekts entwickelt hat, sind auf ihren eigenen Gebieten verblüffend erfolgreich gewesen. Ihr Ruf war so groß geworden, dass sie vorbehaltlos auf das Studium des psychischen Aspekts der Phänomene angewandt wurde, als der Westen endlich begann, diesen Aspekt ebenfalls zu studieren. Wie wir festgestellt haben, begannen Buddhisten und Hindus mit dem Studium der Psyche in Indien rund 2400 Jahre früher als die Menschen Europas; und in Indien wurde es nicht nach den Prinzipien eines vorangegangenen, gutfundierten und erfolgreichen Studiums des physischen Aspekts der Phänomene durchgeführt. Dieser nichtphysikalische indische Weg zum Studium der psychischen Phänomene scheint mir aussichtsreicher. Der moderne westliche Versuch, eine psychologische Wissenschaft nach den Prinzipien einer schon vorhandenen physikalischen Wissenschaft aufzubauen, kann die moderne westliche psychische Wissenschaft in die Gefahr bringen, von einer falschen Analogie irregeleitet zu werden. Das Studium der psychischen Phänomene kommt vielleicht der Wahrheit näher, wenn es, wie es die Inder taten, nach eigenen unabhängigen Prinzipien, die dem Wesen der psychischen Thematik dieses Studiums mehr entsprechen, durchgeführt wird.

Ikeda: Das trifft sicherlich zu. Die tiefen Schichten des menschlichen Lebens sind ihrem Wesen nach grundsätzlich anders als die Manifestationen der Oberfläche. Sie transzendieren Zeit und Raum, und deshalb werden Versuche, sie mit den Mitteln gewöhnlicher Raum- und Zeitmaßstäbe zu messen, uns dem Wesen der Lebenskraft selbst wahrscheinlich nicht sehr nahebringen. Infolgedessen scheint, wie Sie sagten, die indische Methode der Introspektion ein genaueres Wissen hervorbringen zu können als Versuche, über tiefschichtige psychische Phänomene anhand von Methoden zu rätseln, die zur Analyse bewusster Phänomene angewandt werden.

Ich habe die beiden Hauptrichtungen der modernen Psychologie kurz berührt; doch in den letzten Jahren sind mehrere neue Denkschulen entstanden und haben versucht, die Grenzen der herkömmlichen Psychologie zu überschreiten. Eine solche ist die Parapsychologie, die sich auf die Erforschung abnormaler Phänomene konzentriert: Telepathie, Distanztelepathie, Hellsehen, Psychokinese und Vorausahnung. Während einige Experimente auf diesem Gebiet Tests bestanden haben, die von gewissenhaften Gelehrten durchgeführt wurden, sind viele sogenannte erfolgreiche Experimente nichts als Schwindel gewesen. Einige übernatürliche Phänomene können vollauf erklärt werden, wenn man tiefer in die Schichten des Unterbewusstseins taucht, ohne ihnen angeblich übersinnliche Wahrnehmungsfunktionen zuzuschreiben.

Toynbee: Gewiss hat es bei den modernen Versuchen des Abendlandes in der Vorführung und Beobachtung psychischer Phänomene eine Menge Schwindel gegeben. Wahrscheinlich ist Betrug in psychischen Forschungsbereichen leichter als in physischen. Ich meine aber, dass die Mehrzahl der Experimentatoren und Beobachter in gutem Glauben gehandelt hat, sogar in solchen Fällen, bei denen ihre Erklärungen der Phänomene nicht überzeugen konnten. Das gilt jedoch, glaube ich, nicht nur für die Unterbewusstseinsforschung des modernen Abendlandes, sondern auch für das indische Yoga und den sibirischen Schamanismus.

Ikeda: Abgesehen von betrügerischen oder irrelevanten Fällen hat es auch Phänomene gegeben, die man nur erklären kann, wenn man sie mit etwas Übernatürlichem in Beziehung setzt. Es wäre falsch, die Parapsychologie im Ganzen abzutun. Der Hypnotismus, einst als Schwindel, nicht als Wissenschaft betrachtet, hat sich als eine wirksame Methode der Psychotherapie durchgesetzt. Natürlich müssen parapsychologische Theorien immer strengen Wahrheitsnachweisen unterzogen werden.

Eine andere Denkschule, den Hauptrichtungen der psychologischen Forschung noch weiter voraus als die Parapsychologie, ist der Spiritualismus, der sich mit der Erforschung der angeblichen Existenz der Seele befasst. Ohne jede Beziehung zur positiven Wissenschaft hat sich der Spiritualismus zu einer Art von religiösem Glauben entwickelt. Was halten Sie von solchen Methoden, sich der Psychologie des Menschen zu nähern?

Toynbee: Ich halte alle wahrnehmbaren Erscheinungen für normale Erscheinungen. Wie ich es sehe, sind die sogenannten übernatürlichen Phänomene, die der Gegenstand der sogenannten parapsychologischen Forschung sind, in Wahrheit ganz normale Phänomene, die entweder sehr selten sind oder so gewöhnlich, dass man sie bei uns im Westen bis vor Kurzem nicht beachtet oder vernachlässigt hat. Ich selbst war einmal unmittelbarer Zeuge einer telepathischen Kommunikation, die, soviel ich weiß, echt war. Vermutlich haben alle Lebewesen immer miteinander auf telepathischem Wege kommuniziert und sogar nach der Erfindung der menschlichen Sprache nicht aufgehört, sich nicht durch Wort und Schrift, sondern auch telepathisch miteinander zu verständigen.

Ikeda: Es ist wichtig und notwendig, aus diesen übernatürlichen Phänomenen Schlüsse zu ziehen. Aber sie ungebührlich als mystische Auswirkungen einer Art Übermacht zu preisen, kann bedenkliche Folgen haben. Erstens könnte es falsche Einsichten und betrügerische Praktiken hervorrufen. Zweitens, und das wäre noch schlimmer, könnte es den Weg zur Erwerbung exakter und verlässlicher Kenntnisse über diese Phänomene blockieren. Aber wenn man die Gedanken und Schlussfolgerungen auf diesen Gebieten einer allzu strengen Kritik unterzöge, würde man das tiefere Eindringen in diese Phänomene entmutigen, und das könnte zu einer Erstickung bisher unerforschter menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten führen.

Sie sagen, die sogenannten übernatürlichen Phänomene seien ihrem Wesen nach normal. So weit stimme ich Ihnen zu. Wenn der Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen den Dingen, die man heute noch in Begriffen der Parapsychologie für übernatürlich hält, entdeckt sein wird, werden diese Dinge selbst vermutlich als normal angesehen werden. Die Welt der Tiere liefert zahlreiche Beispiele von anscheinend übernatürlichen Kräften – die Heimatinstinkte vieler Vogelarten und ihre Fähigkeit, auf Wanderzügen große Entfernungen zurückzulegen –, die jetzt von der Wissenschaft erklärt werden. Wenn man sie einer sorgfältigen und gewissenhaften Beobachtung und Untersuchung unterzieht, können vielleicht auch sogenannte übernatürliche Phänomene auf ähnliche Weise erklärt werden.

Ein großer Teil des Austauschs von Absichten und Ideen geht bei den Menschen in Worten vor sich; aber es gibt Fälle, wo man keine Worte braucht. In der östlichen Welt wird großer Wert auf Kommunikationen auf geistiger Ebene zwischen den Menschen gelegt. Diese Art von Kommunikation (im Japanischen ishin-­denshin genannt) wird von Worten nicht unterstützt; ich vermute, es entspricht dem, was Sie unter Telepathie verstehen. Mir scheint, falsche Methoden, diese verborgene menschliche Fähigkeit zu entwickeln – oder sie überhaupt nicht zu entwickeln, sondern zuzulassen, dass sie missachtet wird und verkümmert –, haben verhindert, dass sie sich so entfaltet hat, wie es möglich gewesen wäre.

Etwas sehr Ähnliches ist der Intuition widerfahren. Sie wird oft weniger gerecht bewertet als die Vernunft, und da die Beispiele falscher intuitiver Einschätzungen allgemein bekannt werden, wird die Intuition als solche diskreditiert. Und weil man nicht weiß, wie sie arbeitet, wird sie vorschnell als unwissenschaftlich verurteilt. Eine solche Einstellung birgt die Gefahr, dass sich der Mensch ganz auf seine Vernunft verlässt und auf seine intuitive Kraft verzichtet.

Das Bewusstsein der tieferen Schichten vermag die Vernunft zu verwandeln und mit großer Schärfe, Schnelligkeit und Genauigkeit zu operieren. Diese Fähigkeit ist dem Leben selbst eigen, doch der wissenschaftliche Fortschritt der Menschheit hat sie geschwächt. Infolgedessen glaubt der Mensch, dass er ausreichend wirksam sein kann, auch wenn die Fähigkeiten seiner tieferen Schichten inaktiv bleiben. Mit anderen Worten: Das Oberflächenbewusstsein des Menschen, besonders die Vernunft, hat das tiefere menschliche Bewusstsein unterdrückt.

Toynbee: Jede ältere Fähigkeit hat die Neigung, zu verkümmern, wenn sie von einer neuen ergänzt wird. Das ist schade, denn die neue Fähigkeit verrichtet selten alle Funktionen der alten, wenn sie auch einige davon wirkungsvoller verrichten kann und zugleich neue Funktionen ausübt, die die alte Anlage nicht ausgeübt hat und nicht hätte ausüben können. Zum Beispiel ist bei Leuten, die des Lesens und Schreibens kundig sind, das Gedächtnis schwächer als bei nicht alphabetisierten Menschen; und andererseits leidet vielleicht die Lese- und Schreibfähigkeit durch den Gebrauch von Fernsehen und Radio als Kommunikationsmittel. Ähnlich ist, so glaube ich, das Unterbewusstsein bei den ­Menschen teilweise verkümmert durch die Erlangung des Bewusstseins, das jedoch Vernunft und Kultur mit sich brachte.

Wir können den gleichen Vorgang auf dem Gebiet der Kommunikationstechnologie beobachten. Kanäle sind durch Eisenbahnen verdrängt worden, Eisenbahnlinien durch Autobahnen, Schiffe von Flugzeugen, die Briefpost vom Telefon. Aber die neuen Hilfsmittel üben nicht alle Funktionen der alten aus, die sie zunichte gemacht haben. Sowohl im Materiellen als im Geistigen scheinen Fortschritte mit Verlusten errungen zu sein, die wir uns schwer leisten können.

Vernunft und Intuition

Ikeda: Vernunft und Intuition ergänzen einander dadurch, dass die Vernunft die Funktion der Intuition voraussetzt, während die Intuition von der Vernunft korrigiert und klargestellt wird. Der wiederholte Gebrauch der Vernunft kann die durch Intuition erworbene Weisheit systematisieren und erhellen. Während die Vernunft im Allgemeinen den analytischen Weg wählt und komplizierte Dinge in einfache Elemente aufzulösen bestrebt ist, ergreift die Intuition eine Sache als Ganzes und versucht, direkt in ihr Wesen einzudringen. Wenn auch diese beiden Methoden gegensätzlich zu sein scheinen, fühle ich doch, dass sie eng verwandte Aspekte der menschlichen Weisheit sind und eine erhebende Wirkung auf die menschliche Natur ausüben.

Toynbee: Die Daten der Sinneswahrnehmung bilden das Rohmaterial für wissenschaftliche Hypothesen. Eine Hypothese ist die provisorische Erklärung dieser Daten und benötigt dann den Beweis der Wahrheit. Es gibt zwei Wahrheitstests, die beide angewandt werden müssen. Der eine erfolgt mit den Mitteln der Vernunft. Ist die betreffende Hypothese mit anderen Hypothesen vereinbar und im Allgemeinen mit dem Gesamtkomplex ­vorläufig akzeptierten Wissens? Der zweite Test geschieht durch die Gegenüberstellung mit der Reihe der Phänomene, aufgrund derer unsere Hypothese aufgestellt worden ist. Erklärt die Hypothese sie ausreichend? Oder sind einige widersinnig? Offenbar kann eine Hypothese nie schlüssig und endgültig für richtig erklärt werden, denn wir sind niemals sicher, dass unsere Kenntnisse von einer Phänomenenreihe vollständig sind. Irgendwann später können wir eines Phänomens gewahr werden, das in diese Reihe gehört und von uns noch nicht bemerkt wurde. Das neu beobachtete Phänomen mag sich als unvereinbar erweisen mit der hypothetischen Erklärung dieser bestimmten Reihe von Phänomenen, die bis dahin akzeptiert worden war. Ein einziger widersetzlicher Fall genügt, um die hypothetische Erklärung der Reihe von Phänomenen, in die der Fall gehört, in Frage zu stellen.

Was ist die Quelle einer Hypothese? Sie wird uns nicht von den Daten der Sinneswahrnehmung präsentiert. Hypothesen sind keine Daten; sie sind Erklärungen von Daten. Sie stammen auch nicht aus der Vernunft; unsere Vernunft kritisiert und prüft Hypothesen, aber sie bringt sie nicht hervor. Die Vernunft kann erst tätig werden, wenn sie schon eine Hypothese zu bearbeiten hat. Vernunft und Sinneswahrnehmung wirken beide auf der bewussten Ebene des menschlichen Geistes; unsere Hypothesen hingegen werden uns von der Intuition gegeben, die aus unterbewussten Tiefen zum Bewusstsein emporquillt. Das Bewusstsein empfängt die Intuition vom Unterbewusstsein; sowohl die Vernunft wie die Sinneswahrnehmung sind unschöpferisch. Die schöpferische Aktivität des menschlichen Geistes ist intuitiv, und das Unterbewusstsein ist seine Quelle.

Ikeda: Was Sie sehr klar gesagt haben, erklärt die Taten der großen geistigen Schöpferinnen und Schöpfer der Welt, sowohl aus der Wissenschaft als auch der Religion. Nur die Intuition kann uns Einsicht in Regionen verschaffen, in die keine Vernunft dringt. Aber vielleicht wegen ihrer subjektiven Natur kann die Intuition, wenn sie einmal missverstanden wird, zur Selbstgefälligkeit führen. Die Gültigkeit intuitiv wahrgenommener Dinge muss durch rationale Erkenntnis bestätigt werden. Wenn dies getan ist, sehen wir, dass wir ein Bewusstsein auf einer neuen Ebene benötigen, wo Vernunft und Intuition einander ergänzen. Dieses Bewusstsein könnte man rationale Intuition oder intuitive Vernunft nennen.

Die Beispiele einiger großer Denker auf dem Gebiet der Physik mögen meinen Kernpunkt erläutern. Einsteins Relativitätstheorie und Newtons Entdeckung von der Tätigkeit der Schwerkraft sind als Ergebnis der Intuition von Genies zustande gekommen. Doch in beiden Fällen ist dem Augenblick der Intuition ein gewaltiger rationaler Denkprozess vorausgegangen. Es ist unmöglich, die großen Einsichten solcher Menschen auf der gleichen Ebene zu betrachten wie die zufälligen Einfälle, die wir alle von Zeit zu Zeit haben. Vom objektiven Standpunkt aus bleibt eine durch Intuition erlangte Wahrheit eine Hypothese, die bewiesen werden muss. Aber dies trifft offensichtlich nicht zu bei jemandem, der zu einer intuitiven Wahrheit als Folge intensiven rationalen Denkens gelangt ist. Was ich meine, ist dies: Die in solchen Fällen tätige Intuition ist keine zufällige, sondern das, was ich rationale Intuition genannt habe.

Toynbee: Ich verstehe Ihren Standpunkt und glaube, dass Sie ihn gut vertreten. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass die bewusste wie die unterbewusste Ebene nebeneinander unter Menschen und sogar ganzen Gesellschaften existieren. Weil sowohl die Sinneswahrnehmung als auch die Vernunft auf der bewussten Ebene operieren, sind verschiedene Menschen imstande, Aufzeichnungen darüber, was sie wahrnehmen und wie sie davon denken, zu vergleichen. Sie können zu gemeinsamen Darstellungen der Phänomene gelangen und gemeinsam Schlüsse aus ihrem Denken ziehen. Wir nennen diese gemeinsamen Darstellungen und Schlüsse objektiv und meinen damit, dass es nicht die persönlichen Ansichten und Gedanken nur eines einzigen Individuums sind. Aber wir können nicht wissen, ob diese gemeinsamen Inhalte unseres bewussten Denkens objektiv sind in dem Sinne, dass es echte und genaue geistige Reflexionen der Realität an sich sind. Es könnten bloße Massenhalluzinationen sein.

Einige Intuitionen sind subjektiv in dem Sinne, dass sie einem besonderen Individuum eigen sind, und diese persönlichen Intuitionen können für andere nicht überzeugend sein. Solche Intuitionen sind nicht für jeden einleuchtend, doch können sie trotzdem eine Anhängerschaft gewinnen. Die individuellen Intuitionen von Wissenschaftlern, Dichterinnen und religiösen Propheten sind von dieser Art. Soweit es jedoch überhaupt erforscht worden ist, scheint das Unterbewusstsein aus deutlich unterschiedlichen psychischen Schichten zu bestehen. Da scheint es eine Schicht unter der Ebene der individuellen Intuition zu geben, in der das Unterbewusstsein Mythen gebiert von der Art, die C. G. Jung »Urbilder« nannte. Wie unsere geistige Tätigkeit auf der Bewusstseins­ebene sind diese Mythen allen Menschen gemeinsam. Die gleichen Urbilder kommen in den Riten und in der Folklore vieler verschiedener Völker an die Oberfläche wie auch in den ausgeklügelten Dramen und Romanen, die in den verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten geschrieben worden sind. Urbilder haben eine hohe Ladung psychischer Energie und eine starke Wirkkraft. Manchmal überwältigen sie den bewussten Willen und zwingen den Menschen zu Handlungen, die seinen Vorsätzen und Absichten entgegengesetzt sind.

Ikeda: Ich vermute, dass Jungs Urbilder dasselbe sind, was man manchmal Gruppenbewusstsein nennt, und was bedeutet, dass sich in den verborgensten Teilen des Bewusstseins eines jeden Menschen ein Speicher von Erfahrungen befindet, die seit Anbeginn der Menschheit von Generation zu Generation weitervererbt worden sind. Diese Erfahrungen sind allen Menschen gemeinsam, obwohl sie im Allgemeinen unterdrückt bleiben.

Wenn man auch wahrscheinlich nicht fehlgeht, die Religion dem Gebiet der Intuition zuzuschreiben, wird eine nur von der Intuition getragene Religion nicht überzeugen. Nur wenn sie von dem Licht der Vernunft erhellt wird, kann das intuitive Wissen der Religion im realen Leben Wirkung entfalten. In diesem Sinne halte ich es für unerlässlich, dass die Intuition eine rationale Intuition ist. Und umgekehrt, da ich glaube, dass die Vernunft von dem intuitiven Wissen gestützt werden muss, halte ich eine intuitive Art von Vernunft für notwendig.

Toynbee: Ich meine, Wissenschaft und Religion erhalten Intuitionen sowohl von der individuellen als auch von der allgemeinen Schicht des Unterbewusstseins. In dieser Hinsicht sind die Hypothesen aus der Wissenschaft von der gleichen Art wie die Einsichten eines religiösen Propheten, nur dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es genauer damit nehmen, ihre Intuitionen im Lichte des Bewusstseins zu testen. Prophetinnen und Propheten sind eher gewillt, auf die Grundfragen nach dem Wesen des Universums und die Bedeutung des menschlichen Lebens mit Dogmen zu erwidern. Auf diese Grundfragen, die auf der einen oder anderen Stufe ihres Lebens die meisten Menschen stellen, kann man keine nachprüfbaren Antworten geben. Das würde die Kraft des menschlichen Geistes übersteigen. Dennoch sind es äußerst dringliche Fragen, die hartnäckig Beantwortung verlangen. Die Antworten der religiösen Prophetinnen und Propheten sind dogmatisch, denn sie sind nicht nachprüfbar. (Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes dogma heißt »Meinung« im Gegensatz zu einer allgemein anerkannten und bestätigten Wahrheit.)

Die Wissenschaft beschränkt sich darauf, Erscheinungen zu beobachten und zu versuchen, sie rational zu erklären und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Im Gegensatz zur Wissenschaft bietet die Religion den Menschen das Diagramm einer geheimnisvollen Welt, in der wir zum Bewusstsein erwacht sind und unser Leben verbringen müssen. Obwohl dieses Diagramm nur auf ­Mutmaßungen beruht, kommen wir ohne es nicht aus. Es ist eine Lebensnotwendigkeit und für uns von weit größerer praktischer Bedeutung als die meisten der wissenschaftlich getesteten und bezeugten Einblicke in den winzigen Ausschnitt des Universums, der uns für die wissenschaftliche Forschung zugänglich ist. Natürlich ist auch die Wissenschaft eine Lebensnotwendigkeit, doch die wirklich unentbehrliche ist die elementare. Wissenschaftliches Beobachten und Denken waren nötig, um die frühesten paläolithischen Werkzeuge zu schaffen. Diese elementare Wissenschaft genügte, um das Überleben unserer Spezies zu sichern. Der darauffolgende gewaltige Fortschritt der Wissenschaft war zum Zwecke des Fortbestehens der Menschheit überflüssig und könnte schließlich zu ihrer Selbstzerstörung führen.

Ikeda: Auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheitsgeschichte sind Religion und Wissenschaft, wie Sie sagen, Lebensnotwendigkeiten. Da beide notwendig sind, dürfen sie einander nicht bekämpfen. Tatsächlich muss die Wissenschaft auf der Religion basieren, und die Religion darf wissenschaftliche Vernünftigkeit nicht ausschließen. Ich glaube fest, dass die Herstellung einer Harmonie zwischen Wissenschaft und Religion eine Offenbarung für die ganze Menschheit sein würde. In diesem Zusammenhang meine ich, dass Albert Einsteins Worte – »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, und Religion ohne Wissenschaft ist blind« – heute von noch größerer Bedeutung sind als damals, als sie ausgesprochen wurden.

Toynbee: Wissenschaft und Religion sollten sich nicht widersprechen, und sie brauchen es auch nicht. Sie sind einander ergänzende Wege für den geistigen Zugang zum Universum und Versuche, es zu erfassen. Der Wissenschaft ist es untersagt, das Feld der Religion zu betreten; sie könnte es nicht tun, ohne unbeweisbare dogmatische Erklärungen abzugeben und damit sich selbst zu widerlegen, indem sie auf ihr eigenes bestimmtes Verfahren der Wahrheitsfindung verzichtet. Die Religion hat sich manchmal unbefugt auf das Feld der Wissenschaft begeben; doch musste sie sich zurückziehen, wenn die Wissenschaft ihre Besitzrechte geltend machte. Solche Rückzüge haben jedoch das eigentliche Feld der Religion unversehrt gelassen.

Ikeda: