Wahnsinns Liebe - Lea Singer - E-Book

Wahnsinns Liebe E-Book

Lea Singer

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Beschreibung

Mathilde, eine stille Frau zwischen zwei genialen Männern - dem Komponisten Arnold Schönberg und dem Maler Richard Gerstl.  Sie ist achtundzwanzig Jahre alt, hochmusikalisch, verheiratet mit einem mittellosen Genie und führt ein Leben in seinem Schatten. Mathilde, die Frau von Arnold Schönberg, glaubt nicht mehr daran, daß sie so etwas wie Liebe erfahren wird. Da begegnet sie Richard Gerstl, einem blutjungen Maler, den viele für wahnsinnig halten. Das Drama beginnt. Mit psychologischem Spürsinn begibt sich Lea Singer auf die Fährte einer dramatischen und wahren Geschichte im Wiener Künstlermilieu. Sie zeigt die Schattenseite jener vermeintlich glänzenden Zeit und erzählt von einer stillen Frau zwischen zwei genialen Männern: von Mathilde, der Frau des Komponisten Arnold Schönberg, die zur Geliebten des Malers Richard Gerstl wird.  

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Lea Singer

Wahnsinns Liebe

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2006

© 2003Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41170-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13434-7

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Eigentlich müßte er erleichtert...

Er zieht sich aus...

Sie gibt sich harmlos...

1921 fährt Schönberg gegen...

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

Keine menschliche Beziehung verdient, in Schweigen erstickt zu werden, und wenn sie in die finsteren und verborgenen Abgründe der menschlichen Seele herunterreicht– gerade dann verdient sie am meisten, ans Licht gebracht, von allen studiert, verstanden, aufgehellt zu werden.

Egon Friedell

|7|Eigentlich müßte er erleichtert sein, daß der Kerl tot ist. Mit ihm ist ein Problem aus der Welt, das ihn selbst beinahe umgebracht hat. Was ihn belastet, ist dieser Brief, den er jetzt schreiben muß. Alles würde er zahlen, wenn ihm das jemand abnähme. Aber erstens hat er nicht einmal genug Geld für die fällige Miete, und zweitens gibt es niemanden, der diesen Brief für ihn schreiben könnte. Es ist ja nicht einfach ein Kondolenzbrief an den Bruder des Toten. Es soll ein Drohbrief werden, der auf keinen Fall drohend klingen darf. Aber es muß unmißverständlich daraus hervorgehen, daß sein Name in Zusammenhang mit diesem Todesfall nicht genannt werden darf. Es wissen zwar einige, wie und warum dieser Kerl mit fünfundzwanzig Jahren ums Leben kam. Doch die meisten Mitwisser halten dicht. Und die näheren Umstände seines Todes dürfen sich auf keinen Fall herumsprechen. »Geben Sie seine Kränkungen wegen der ganzen Mißerfolge als Grund für die Tat an«, schreibt er.

Kann man das so stehenlassen?

Er zieht ein Taschentuch heraus und wischt sich die Glatze ab. So fest muß er den Füller umklammert haben, daß er eine hartnäckige Delle in den Mittelfinger gedrückt hat.

Durch das geöffnete Fenster dringt die naßkalte Novemberluft herein. Sie ist schwer vom Geruch des verfaulenden Laubs, doch sie tut ihm gut. Die passende Luft zu seinem Vorhaben. Von nebenan hört er ein |8|dumpfes Geräusch. Als wäre jemand zu Boden gefallen. Nein, er darf jetzt nicht an seine Frau denken. Das würde ihn ablenken von diesem Brief. Er will nicht wissen, was sie gerade macht und wie ihr zumute ist. Obwohl eben das sein Verhängnis geworden ist: daß er von ihr nichts weiß. Weder von dem, was ihr rundlicher, kleiner, weißer Körper begehrt, noch von dem, was sich hinter ihren dunklen Augen abspielt.

Vor ihm, über seinem Schreibtisch, steht eine Sperrholzwand, beklebt mit einer Girlandentapete. Sie ist nicht einmal an der Decke befestigt, sondern wird nur gehalten von Bücherregalen auf beiden Seiten. Zwei Fotos sind daran festgenagelt: zwei signierte Porträts des Mannes, den er einmal gehaßt hat und nun vergöttert. Von ihr, die er vor siebeneinhalb Jahren geheiratet hat, ist kein Bild zu sehen. Er wüßte nicht mal, in welcher Schublade er eines fände. Und ihr großes Porträt im Wohnzimmer wird er nun wohl vernichten. Oder verschenken. Nur dieses dünne Brett trennt die beiden, doch keine Wand könnte dicker sein.

Sie hat nicht damit gerechnet, daß er nach ihr schaut; ohne ersichtlichen Grund ist sie gerade gestolpert und hingefallen. Jetzt sitzt sie wieder am Schreibtisch und schreibt schnell, wie gehetzt. An denselben Adressaten wie ihr Mann. »Glauben Sie mir, er hat von uns beiden den leichteren Weg gewählt. Leben zu müssen ist in so einem Fall schrecklich schwer.« Sie setzt ab und schaut auf das Foto im angelaufenen Silberrahmen, das sie, ihren Mann und die beiden Kinder zeigt. Aber sie hat etwas anderes vor Augen: die Leiche eines jungen Mannes mit einer Schlinge um den Hals und einem Küchenmesser in der Brust. So sei er aufgefunden worden, hat man ihr gesagt. Wäre es besser, sie hätte das |9|wirklich gesehen? Dann wären wenigstens die Fragen beantwortet, die sie nun verfolgen.

Haben seine Augen offengestanden? Ist seine Haut verfärbt gewesen? Was hat er getragen, oder war er nackt? Wer hat ihn angefaßt und wo? Und wie haben sie ihn abtransportiert?

Sie legt den Füller zur Seite und geht hinüber ins Schlafzimmer. Es ist ungeheizt. Trotzdem zieht sie sich ganz langsam aus und schaut sich an in dem Spiegel, der in die Schranktür eingelassen ist. So sieht eine Frau aus, die zwei schwere Geburten hinter sich gebracht hat und keine Zeit hat, viel für sich zu tun. Sie legt ihre Hände unter ihre Brüste, läßt sie beben, fährt langsam über den weißen Bauch, das Schamhaar, zu den Schenkeln hinunter. Und schließt die Lider. »Diese Frisur entstellt dich. Mach dein Haar auf«, hört sie ihn sagen. Blind greift sie nach oben, zieht die Nadeln und den Kamm heraus. Spürt, wie die Haare fallen und ihren nackten Körper wärmen. Sie öffnet die Augen. Bis zur Taille umhüllt sie dieses dunkelbraune, rötlich schimmernde Fell. »Du bist schön«, hört sie ihn wieder. »Du bist schön und warm und wohltuend. Und ich bin bei dir zu Hause.«

Die Tür wird aufgerissen. Ihr Mann steht da. »Was machst du hier? Bist du des Wahnsinns? Es ist eiskalt hier.«

Er dreht sich weg und schlägt die Türe hinter sich zu.

Sie aber bleibt stehen. Tränenlos starrt sie sich an. Wozu hat sie ihn noch, diesen Körper? Überflüssiges, nutzloses Fleisch.

Strümpfe, Wäsche, Bluse, Rock, Schuhe. Sie kehrt zurück in jenes Abteil, das sie ihr Zimmer nennt, an ihren Schreibtisch, in die Gegenwart. Doch niemand |10|kann ihr die Erinnerung nehmen. Unwillkürlich lächelt sie. Drei Jahre hat sie gelebt. Und gelernt, was Liebe ist. Sie zieht die Schreibtischschublade auf und holt eine Horndose heraus. Braune Haare sind darin, seine Haare. Sie steckt die Nase hinein. Immer noch riechen sie nach ihm. Alles ist da, ganz nah. Und Mathilde sieht sich selbst am Anfang dieser Geschichte. Eine Frau von achtundzwanzig Jahren, geduldig, still, ohne Wünsche.

Um drei ahnt sie noch nicht, daß sich von diesem Tag an ihr Leben verändern wird. Sie bemerkt nur, daß es muffig riecht im Wohnzimmer. Wie immer haben sie ihre feuchten Mäntel übereinander auf einem Stuhl gestapelt. Warum stört keinen von den Männern dieser Geruch? Sie will sich nicht daran gewöhnen. Dabei hat sie sich an so vieles gewöhnt. Auch daran, daß alle sich immer hier zusammenrotten, ausgerechnet in dieser düsteren engen Wohnung. »…aber sie hat durchaus ihren Reiz«, sagen Besucher meistens verlegen. Ihr Mann und sie haben versucht, mit Phantasie und ohne Geld aus den vier kleinen, hohen, schlecht geschnittenen Zimmern das Beste zu machen. Die Gründerzeitmöbel, die sie aus Berlin mithergebracht haben, sind heiter wie Beichtstühle. Deswegen haben sie die Wände im Eßzimmer gelb, in seinem Arbeitsraum türkisfarben tapeziert, die Türen und eine Kommode azurblau lackiert, alte Orientteppiche, Kelims und geerbte Kaschmirschals über das Sofa, den Diwan und den Tisch gelegt und rotgrundige Teppiche |11|auf den Boden, egal wie abgetreten oder abgenutzt sie sind.

Ärmlich zu wohnen, damit hat sie keine Probleme. Denn verglichen mit ihrer Kindheit ist das hier prächtig. Fließend Wasser, eine Toilette, die sie nur mit ihrem Bruder teilen, der Wand an Wand mit ihnen wohnt; es ist ihr angenehm zu wissen, daß sie beim Putzen der Schüssel nur mit den Spuren von Menschen zu tun hat, die ihr vertraut sind. Und dann liegt die Wohnung in der Liechtensteinstraße, die in diesem Abschnitt zwar so wenig repräsentativ ist wie die Beiseln rechts und links, sich dafür aber im Alsergrund befindet. Im neunten Wiener Bezirk. Und der hat einen Ruf, der entschieden romantischer ist, als es Treppenhäuser mit Schwamm in der Wand, morsche Parkettböden und Zinkbadewannen in dunklen Küchen sind. Wer im Alsergrund haust, hat kein Geld, aber Einfälle, heißt es. Kein Renommee und keine Posten, aber gute Aussichten auf Nachruhm. Jedenfalls wohnen hier Maler, Psychoanalytiker, Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Theaterleute und eben auch Komponisten wie Zemlinsky und Schönberg.

Wie immer hält sich Mathilde Schönberg auch an diesem Nachmittag heraus aus seinem Zimmer, aus seinem Kreis. Daß die Besucher sie übersehen wie einen Einrichtungsgegenstand, wie einen Ofen, der Wärme zu spenden, aber nicht aufzufallen hat, das macht ihr längst nichts mehr aus. Denn sie erbringen dafür eine Gegenleistung: Sie machen ihren Mann erträglich. Wenn sich die Meute wieder verzogen hat, wenn sie die Asche zusammenfegt, die Aschenbecher leert, die Tassen spült, ist er immer gutgelaunt. Seine vorstehenden Augen sind dann nicht mehr voll Weltschmerz, sie |12|schauen wach, sogar optimistisch. Man müßte, denkt Mathilde dann, in Apotheken Bewunderung in Flaschen kaufen können. Auf jeden Menschen wirkt sie wie Medizin, mehr noch: wie eine Glücksdroge. Und von der verabreichen die Schüler Schönberg große Dosen. Sie sind ihm geradezu verfallen. Oft kommt es Mathilde so vor, als würden sie ihm auch noch in den Tod folgen, obwohl sie wissen, daß er keineswegs der Befreier oder gar der Erlöser ist. Es reicht ihnen, daß so viele gegen ihn hetzen und es schon fast einem religiösen Bekenntnis gleichkommt, für ihn zu sein. Das schweißt sie zusammen. Und ihre Anbetung wirkt Wunder. Auch an diesem Nachmittag. Schon als Mathilde die ersten beiden Kannen Kaffee hineinträgt, sieht sie Schönberg an, daß seine Niedergeschlagenheit sich für ein paar Stunden verkrochen hat. Wie verwandelt scheint er. Die wulstige Falte zwischen seinen Brauen ist geglättet. Doch sie hört, daß gar nicht von fachlichen Problemen die Rede ist, sondern von irgendeinem Mann, über den sie anscheinend alle einer Meinung sind. Üblicherweise läßt Mathilde das, worüber in der Schülerrunde geredet wird, an sich ablaufen. Doch heute merkt sie, wie ihre Neugier wachgekitzelt wird, schon allein von der Erregtheit, mit der sie über diesen Mann herziehen. Es könnte sich um einen Kollegen aus einem anderen Lager handeln, denn jeder erklärt ihn für verrückt. Einstimmig wird der Kerl als größenwahnsinnig verurteilt; der eine gibt seinen Kommentar erhitzt ab, der nächste abgeklärt wie ein alter Nervenarzt. Dreist, unberechenbar und hemmungslos, das sind noch die harmloseren Beschimpfungen. Wahrscheinlich, hört sie, sei die angestammte Heimat dieses Menschen der Narrenturm im Allgemeinen Krankenhaus, |13|ordentlich vergittert. Aufgebracht reden sie durcheinander, die Stimmung schaukelt sich hoch. Zurück in der Küche kann sie zwar die Worte nicht verstehen, doch sie hört, wie ungemütlich gereizt es klingt. Was kann das für ein Mensch sein, der diese sonst friedlichen Jünger derart feindselig stimmt? Was hat er ihnen angetan oder weggenommen, daß sie ihre kostbare Zeit beim Meister damit verschwenden, sich über diesen Außenstehenden das Maul zu zerreißen? Als sie fertig ist mit dem Abwasch des Mittagessensgeschirrs, sind die Schüler offenbar zurückgekehrt zum Thema Musik. Sie hört ihren Mann sprechen, Fragen zwischendrin, die übliche Geräuschkulisse. Aber als sie dann das Tablett mit Kannen, Tassen, Obers und Zucker zum zweiten Mal auf dem Beistelltisch absetzt, bricht das Geifern schon wieder los. »Er hat es zuerst bei Mahler versucht«, empört sich einer. »Und bei Ansorge soll er es auch probiert haben.« Sie haben noch mehr geraucht als sonst, und mit dem Geruch der regennassen Mäntel vermischt sich das zu einem schimmeligen, beißenden Gestank. Trotzdem geht sie nur ganz langsam zur Tür. »Bei Mahler! Wie kann er sich das nur herausnehmen! Der Kerl ist ja schamlos.« Und schon fast aus dem Zimmer, hört sie, wie einer ihren Mann begierig fragt: »Sag mal: Hat er sich an dich auch schon rangemacht?«

Die Küchenuhr zeigt Viertel nach fünf. Und sie ertappt sich dabei, wie sie unablässig versucht, sich ein Bild von diesem Mann zu machen. Von seiner Statur, seinem Blick, seiner Stimme. Bestimmt ist er groß und gutgewachsen, wahrscheinlich spricht er dunkel und leise, eher zögernd. Und sein Blick, der muß etwas haben, was irritiert, möglicherweise bedrängt, jedenfalls |14|etwas Ungewöhnliches. Kopfschüttelnd lächelt sie in sich hinein, weil sie feststellt, daß sie sich den Unbekannten schön und sympathisch denkt, so als wollte sie ihn mit dieser Vorstellung verteidigen gegen die Angriffe der anderen. Da ahnt sie zum ersten Mal, daß dieser Verrückte etwas für sie bedeuten wird. Glück oder Katastrophe? Nein, davon spürt sie nichts. Nur daß er mit ihr etwas zu tun haben wird– dieses Gefühl nistet sich ein in Mathilde.

Um sechs ist schlagartig Ruhe. Während sie im Durchzug die Stühle zurechtrückt, Asche auffegt und Kaffeepfützen von den Möbeln wischt, summt sie vor sich hin. Mahler. Mahler ist erlaubt. Seit ein paar Jahren allerdings erst, denn davor hat ihr Mann den berühmten Kollegen verachtet, den er nun gegen alle und jeden verteidigt, den er verklärt und zum Heiligen erhebt. Zwei Juden und Heiligenkult? Im Grunde leicht zu verstehen, findet Mathilde, denn wenn die Hochbegabten von all den bekennenden oder heimlichen Antisemiten in der Stadt angefeindet werden, ist es nur natürlich, wenn sie sich füreinander mehr entzünden, als es ihrem Charakter eigentlich entspräche. Denn insgeheim fällt ihnen das Bewundern schwer, und jeder möchte an seine Einzigartigkeit glauben; muß es ja auch, um durchzuhalten.

Genies unter sich– sie lächelt, wie üblich fast ohne die Mundwinkel zu heben, während sie direkt im Rücken ihres Ehemanns kehrt. Er sitzt schon wieder am Schreibtisch und arbeitet. Sie weiß, mit welchem Ergebnis: dafür, daß sie ihn wieder verspotten und niederbrüllen werden und öffentlich empfehlen, ihn in eine geschlossene Abteilung einzuweisen. Bizarr, denkt sie; Schönbergs Feinde schmähen ihn als geisteskrank, |15|Schönbergs Freunde aber bedienen sich derselben Vokabeln, wenn es einen anderen niederzumachen gilt.

Ihren Mann, das weiß sie, treiben solche Beschimpfungen in eine schwarze Stimmung, doch nie könnten sie ihn daran hindern, genauso weiterzumachen. Ob sich in diesem Trotz Genie zeigt, hat sich Mathilde schon oft gefragt. Und sie fragt sich auch, ob Mahler ihrem Mann wirklich etwas Gutes getan hat. Der Operndirektor hat Schönberg gelobt, empfohlen und ihm ermöglicht, seine Werke öffentlich aufzuführen. Aber das heißt auch: ermöglicht, Skandale loszutreten, die in Wien kaum ihresgleichen haben. Sie selbst hat sich an diese Skandale gewöhnt. Eine Hornhaut entwickelt gegen Anfeindungen, Beleidigungen und tätliche Übergriffe, die ihrem Mann gelten, aber sie mittreffen.

Gut, einige Freunde hatten sie davor gewarnt, sich mit Schönberg einzulassen. Ihr eigener Bruder am deutlichsten. »Er ist ein Genie«, hatte Alexander gesagt. »Einer, an den sich noch alle erinnern, wenn ich längst vergessen bin.« Dummerweise hatte er das damals in Payerbach gesagt, als sie sich einbildete, sich in genau den Mann verliebt zu haben. Hier in Wien hätte sie bei Genieverdacht sofort den Rückzug angetreten. Aber Payerbach an der Rax ist das, was Wiener Stadtbewohner eine Idylle nennen, also ein Ort, wo man sich beim Langweilen gesund und gut fühlt.

Es duftete nach Heu und durchsonntem Holz, sie trug ein neues Kleid, dunkelblau mit weißen Tupfen. Sommer macht die Seele gefügig und den Körper auch. Es ist viel leichter, sich im Sommer hinzugeben, sogar einfach mal herzugeben, als in der kalten Zeit. Und so kam es ihr fast natürlich vor, in einer schwülen Nacht, |16|die nicht abkühlen wollte, alle Bedenken und sich selbst zu vergessen, weil der ganze Körper ohnehin schon feucht und warm war. Außerdem machte diese Harmlosigkeit des Ortes sie leichtfertig. Die friedlichen, satten Menschen dort, die nichts tun als essen, trinken, schlafen und mit kleinen Schritten spazierengehen, kitzelten bei ihr die Lust wach, mittendrin alles zu tun, was sie skandalös fänden. Vielleicht reizte es sie auch, daß er besessen war von dem, woran er glaubte. Seine bedingungslose Hingabe an die Sache forderte sie heraus, die Versucherin zu spielen.

Wenn überall das träge Gelächter aus den Gartenwirtschaften zu hören war, wenn sich die biermüde gute Laune durch die Ortschaft ergoß, Teller klapperten, Bierkrüge mit dumpfem Klang aneinandergestoßen wurden, saß er, wie jetzt eben, an seinem Schreibtisch im Pensionszimmer und schrieb, neben sich ein Glas Veltliner mit Wasser. Ab und zu klatschte er eine Mücke auf seinem damals schon halbkahlen Kopf tot, aber sonst nahm er nichts wahr. Zwei Lieder hatte er schon komponiert, für eines hatte er nicht einmal acht Stunden gebraucht.

Es wurde gerade erst dunkel. Sie saß mit ihrem Bruder auf dem Holzbalkon, umhüllt von dieser Mischung aus Kuhstallgeruch und Tannen- und Wiesenduft, der ihr jeden Drang nahm, diesen Ort jemals wieder zu verlassen. Ihre Glieder wurden schwer und trotzdem lüstern.

»Er vertont einen Text von Dehmel«, sagte ihr Bruder. Sie kicherte.

»Warum lachst du?« fragte er. »Ich meine, ich bin ja froh, wenn du dich freust und nicht in Tränen aufgehst beim Gedanken an deinen vergötterten Poeten…«

|17|Sie kicherte noch heftiger. Denn dieser sogenannte Verehrer, der seit Jahren schon zögerte, eine Entscheidung zu treffen, sie zu wollen, sie endlich zu greifen und auszuziehen, jener Held der Melancholie mit den Händen aus Porzellan und dem Gemüt aus Glas: hier kam er ihr auf einmal nur lächerlich vor. Wie ein Huhn vor dem Überqueren der Straße, das vortrippelte, zurückfloh, Liebeschwüre gackerte, wieder nach vorn huschte. Schönberg dagegen mit seinen wulstigen Lippen, der immer nach Mann roch, der sich in Diskussionen erhitzte und das dann mit Wein und Bier und Schnaps zu löschen versuchte, der mit Heißhunger seinen Lungenbraten aß und den ofenwarmen Topfenstrudel vom Blech fingerte– der paßte besser hierher.

Es war sicher bereits zehn, als er zu den beiden trat, einen Stapel Papier in der Hand, eine Zigarette im Mundwinkel. Die Schuhe waren offen, die breite Krawatte hing wie ein Lumpen vor dem durchgeschwitzten Hemd. Er legte die Notenblätter auf dem wackeligen Balkontisch ab, direkt vor ihrem Bruder, seinem Lehrer, der nur zwei Jahre älter war. Aber, wie Schönberg spürte, zwei Jahrzehnte abgeklärter. Ihr Bruder steckte sein Gesicht, dieses Gesicht eines traurigen Kakadus, der sich jedoch über die Menschen lustig macht, sofort in die Blätter. Sein Schüler und Mathilde schwiegen. Schönberg zündete sich eine neue Zigarette an. Er paffte in die Nacht hinaus, aber die roch stärker.

»Ich habe es deiner Schwester gewidmet«, sprach er in die Rauchwolken. »Weil Mathilde die erste Frau ist, die ich kenne, die von Musik etwas versteht.« Sie hätte erröten wollen, was aber nicht geschah und im Dunkeln ohnehin keiner gesehen hätte. Ihr Bruder fuhr |18|zusammen, sagte jedoch kein Wort. Die Frau, die seiner Meinung nach mehr von Musik verstand als seine Schwester, setzte ihn, den angesehenen Alexander von Zemlinsky, seit einiger Zeit einem Wechselbad aus, das kaum zu ertragen war. Betörte, bewunderte und beleidigte ihn, verführte und verstieß ihn, machte ihn begehrlich und machte ihn fertig. Mathilde sah dem grausamen Spiel verwundert zu, ohne sich einzumischen; sie hatte sich noch nie eingemischt. Daß Alex das nicht verstand: Eine Alma Schindler, trotzig schön und überzeugt, eine Auserwählte zu sein, strebte nach Höherem. Sie wollte zwar ein Genie heiraten, aber ein anerkanntes.

Nun tat er so, als beschäftigte ihn nur die Urlaubsarbeit Schönbergs. Und als er schließlich nickte und fragte: »Gibt es hier eigentlich noch Wein im Haus oder Sekt?«, da erst setzte sich der Schüler zu den beiden.

Drei Stunden später trat Mathilde nackt und barfuß ans Fenster ihres Zimmers. Weil sich ihre Haut noch immer klebrig anfühlte, hatte sie sich entschieden, ohne etwas am Leib ins trockene Leinen zu kriechen. Sie stand da, horchte hinaus in diese Nachtgeräusche, versuchte zu erraten, welches Tier wie ein Kind wimmerte, welches wie ein alter Parkettboden knarzte und ob es ein Baum, ein Mensch oder ein Vogel war, der dieses Schnarren hervorbrachte. Da hörte sie Schritte, schlurfende Schritte, wie von jemandem, der sehr weite Sandalen anhat, und hörte, wie ihre Tür aufging. Dann spürte sie seine Hände an ihren Hüften.

Die folgenden drei Wochen wurde sie nie ganz nüchtern. Tags döste sie, mal über einem Roman, mal über einem Gedichtband. Meistens aber las sie nur im |19|Himmel wie ein Analphabet. Sie verstand nicht, was er sagte, was welche Wolke bedeutete. Und empfand es als erlösend, so dumm sein zu dürfen. Mittags tranken alle drei zu Sülze oder kaltem Braten Grünen Veltliner, den sie mit nassen Tüchern umwickelt in den Luftzug stellten. Sie tranken kräftig, um danach die größte Hitze durchzuschlafen. Einen ganz anderen Schlaf als sonst. Dann arbeitete Mathildes Bruder zwei, drei Stunden, sein Schüler mindestens sechs.

Als sie zusammen nach Wien zurückfuhren, jeder um die drei Kilo schwerer, glänzend und braungebrannt, hatte Schönberg vier Lieder geschrieben und ein Streichsextett, das er »Verklärte Nacht« nannte, nach einem weiteren Gedicht von Mathildes Verehrer. Und hatte sie wortlos zu seiner Frau gemacht. Ob er sie der schwülen Nächte wegen so heftig begehrt hatte, in denen beide, die glitschigen Leiber aufeinander, sich fühlten wie glückliche Tiere, die keine Zeit und keine Sorgen kennen? Oder um ab und zu den Fängen seiner musikalischen Einfälle zu entkommen? Oder aber, was ihr im nachhinein am wahrscheinlichsten vorkommt, weil sie die Schwester seines verehrten Lehrers war? Damals war ihr das gleichgültig. Sie genoß es, endlich jemandes Geliebte zu sein und nicht nur die Frau, die alles anhörte und so ziemlich alles verstand. Mit Anfang Zwanzig demütigte es sie, dauernd zu hören: »…aber sie ist gescheit. Sehr gescheit.« Und dann legte keiner seine Hand auf ihren Schenkel, und keiner bat sie zum Ball. Und wenn sie mal einer nach Hause begleitete, dann gab er sie unten an der Tür ab wie eine geleerte Flasche.

Erst später wurde ihr bewußt, warum sie so willig gewesen war: Begehrt zu werden macht begehrlich. |20|Eine simple Rechnung. Selbst ein in ihren Augen uninteressanter Mann hätte sie allein dadurch erobert, daß er ihr verfiel, daß ihr weiblicher Dunstkreis ihm den Verstand umnebelte und ihn haltlos werden ließ. Diese natürliche Macht der Frau zu erleben hatte sie berauscht.

Fünfeinhalb Jahre ist all das her an jenem Tag, an dem sie den Geruch der nassen Mäntel aus dem Zimmer zu verscheuchen sucht und überlegt, wer wohl der Irre sein könne, von dem sie geredet haben. Fünfeinhalb Jahre, gedrängt voll mit Umzügen, Hoffnungen, Enttäuschungen, fünfeinhalb Jahre unablässiger Geldnot. Summend wie so oft räumt und wischt sie an diesem Nachmittag hinter Arnolds breitem Rücken. Tausendmal hat sie das getan. Und um drei hätte sie noch nicht geahnt, was ihr heute dabei schlagartig bewußt werden wird. »Was soll der Lärm?« schreit er auf wie ein Schwerverletzter.

»Verzeih«, flüstert sie, hebt die blecherne Schaufel auf, die ihr aus der Hand gefallen ist und kehrt den Schmutz noch einmal zusammen. Es hat sie überfallen. Das Gefühl, nein: die Gewißheit, daß sie diesen Mann nicht liebt. Sie hat ihn niemals geliebt.

Mütterlich sei sie, haben ein paar seiner Schüler gesagt, und einige deutlich ältere Männer aus dem Bekanntenkreis haben das auch behauptet. Und jetzt auf einmal erkennt sie es: Sie ist seine Mutter. Denkt daran, daß sie ihm noch frische Hemden bügeln sollte, daß sie ihn dazu bewegen müßte, sich die Haare zu waschen, den Anzug zu lüften. Und sie ermahnt sich schon, an diesem Abend nicht nach dem Verrückten zu fragen, wenn Arnold über seine neueste Arbeit oder irgendeine seiner zahllosen Streitereien mit Journalisten |21|reden will. Trotzdem beschäftigt sie nur ein Gedanke: der Gedanke an den Mann, den sie wahnsinnig nennen.

Sie hat es um drei Uhr nachmittags nicht geahnt, daß sie nachts um halb zwei noch mit müden, weit offenen Augen im Bett liegen wird. Und ungeachtet des Genies an ihrer Seite an einen Verrückten denkt.

Sie steht nicht weit von der hohen Flügeltür und sieht sich jeden an, der in den Saal will. Die Physiognomie, die Haltung, die Hände, die Schuhe, die Schritte. Wie alle Frauen ist auch sie sich völlig sicher, Instinkt zu besitzen, und der meldet ihr eine Katastrophe. Friedlich oder gar gelassen sieht keiner aus, nicht einmal diejenigen, die sicher auf seiner Seite sein werden. Die Augen verengt, das Kinn, selbst wenn es von Natur aus fliehen möchte, nach vorn geschoben, der Mund verschlossen, damit ihm ja keine menschliche Regung entkommt. Dabei hatten sie in der Pause Gelegenheit gehabt, sich zu amüsieren und zu lockern. Aber sie wirken, als ballten sie bereits die Fäuste und spannten die Muskeln, und sehen in Anzug und Frack aus, als trügen sie eine Kampfuniform. Das Ganze wäre komisch, wenn es ihren Mann nicht an den Abgrund triebe. Wüßte sie nicht, daß eine verlorene Saalschlacht heute abend ihr Tage und Wochen beschert, an denen sie einen lebensmüden Mann davon abhalten muß, sich in Verzweiflung und Fusel zu ertränken, könnte sie sich amüsieren über diese Visagen. Soll einer behaupten, Kultur würde nicht wichtig genommen. Hier sieht es doch ganz danach aus, als ginge es um Leben und Tod.

|22|Wer ist dieser Kahlgeschorene mit dem düsteren Blick? Mathilde merkt, daß sie geladen ist mit Mißtrauen. Sogar vertraute Gesichter beäugt sie, als wären es fremde. Und fremde, als wären es von vornherein verdächtige.

Gut, daß sie selber unscheinbar ist und selbst von denjenigen, die oft bei ihnen zu Hause bewirtet werden, kaum einer sie auf der Straße wiedererkennen würde. Für Schönbergs Feinde existiert sie vermutlich gar nicht. Und jetzt im Moment ist ihr das nur recht.

»Ich komme erst am Schluß dran«, hat Arnold sie zu beruhigen versucht.

Trotzdem schmerzt ihre Galle, der eigene Angstgeruch steigt ihr in die Nase. Schnell tupft sie Veilchenwasser auf. Und hört ihren Bruder Alexander reden. »Ein Chaos, ein völliges Chaos«, hat er prophezeit. Seinem Stück haben sie Applaus gegönnt, aber nur pflichtschuldig, als müßten sie das Angenehme schnell hinter sich bringen, um sich mit unverbrauchter Energie in den entscheidenden Kampf zu stürzen.

»Aber sie werden doch in der Pause vor Arnolds Auftritt sicher in gute Stimmung kommen«, hatte sie gemeint. Sie sieht, daß sie sich getäuscht hat. Der Große Musikvereinssaal ist sehr gut besucht, doch die Gäste Musikfreunde zu nennen fiele keinem ein. Warum sind nur so wenige Frauen da? Na gut, es ist bei solchen Ereignissen schon Blut geflossen, zumindest aus ein paar Nasen.

Sie hat sich einen Platz am Gang geben lassen. Aus Bescheidenheit, redet sie sich ein. Aus Angst, weiß sie im Grunde; fluchtbereit will sie sein.

Ausgerechnet der Kahlgeschorene setzt sich neben sie, ein großer, hagerer Mann, noch jung, aber mit |23|scharfen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Auf welcher Seite der sich wohl befindet? Auf der Schönberg-Seite oder der feindlichen? Er wirkt körperlich kräftig. Irgendwo ist sie ihm schon begegnet. Wie ein Schatten steht die Erinnerung vor ihr, nicht greifbar. Während Schönberg aufs Podium tritt, sucht sie in ihrem Kopf nach der Szene, die diesen Schatten wirft, und versucht, die vorbeihuschenden Bilder scharf zu stellen. Ist es bei einem der letzten Mahler-Konzerte gewesen? Vielleicht.

Der Beifall für den Dirigenten und Komponisten Schönberg, der jetzt am Pult steht, tut weh: Jedes der klatschenden Händepaare erkennt sie. Hört die teigigen Hände von Berg und die ledernen von Webern, die gepolsterten von Krüger, die muskulösen von Wellesz und die knochigen von Jalowetz, die dürren von Horwitz, also nur von all denen, die ihre nassen Mäntel in ihrer Wohnung stapeln und ihren Mann anbeten. Und das, was er heute zum ersten Mal in Wien aufführt, finden sie selbstverständlich genial.

Sie findet es wie ihr Bruder vor allem schwierig. Unaufführbar, hat Alexander das Stück genannt, hat zugegeben, daß ihm die Augen und der Kopf schmerzen beim bloßen Lesen der Noten. Außerdem sei diese sogenannte »Symphonische Dichtung«, hat er unumwunden erklärt, »ganz unpraktisch«. Und auf solche Bemerkungen reagiert Arnold wie eine Frau, wenn ihr Mann ihr sagt, das Abendkleid mit Schleppe oder der neue Hut seien unpraktisch: Er ist beleidigt und will es erst recht. »Vieles ist zu überladen, vieles nicht ausführbar«, hat ihr Bruder seinen Schüler gewarnt, auch wenn er am Rande widerstrebend angemerkt hat, das Ganze sei übrigens ein Kunstwerk. Die Überladenheit |24|kann jetzt jeder sehen: an die zwanzig Holzbläser und ungefähr gleich viele Blechbläser, zwei Harfen, großes Schlagzeug, ein Streichorchester mit weit über fünfzig Leuten. Mehr als hundert Personen drängeln sich da vorn auf dem Podium. Mancher Bläser muß Angst um sein Augenlicht haben, wenn er zu nah an einem Geiger oder Bratscher sitzt. So etwas hassen Musiker verständlicherweise. Und dieser ganze Aufwand für eine intime Liebestragödie mit drei Personen. Pelleas und Melisande und Golaud, der Bruder des Pelleas.

Dabei könnte alles ganz einfach und gefällig sein.

Das Drama von Maeterlinck, das Schönberg vertont hat, käme dem Publikumsgeschmack durchaus entgegen. Denn alle Männer, die gerne fremdgehen, lieben Stücke, in denen Frauen ihren Gatten betrügen oder zumindest dessen verdächtigt werden und dafür von selbigem mit meist tödlichem Ausgang abgestraft werden. Es tut so gut, auf der Bühne büßen zu lassen fürs eigene schlechte Gewissen. Um nichts andres geht es doch, wenn immer von diesem reinigenden Effekt der Dramen geredet wird, denkt sich Mathilde und lächelt kaum sichtbar. Und alle Frauen im Publikum, die von ihren wichtigen Ehemännern angeödet sind, freuen sich bei solchen Geschichten daran, daß zumindest im Theater ihre Geschlechtsgenossinnen dann einfach einen hübschen Liebhaber vorziehen, der ihnen schöne Dinge sagt, sich Zeit zum Küssen und Streicheln nimmt und ihr Haar auf seinem Körper spüren will. Eigentlich ist Eifersuchtsdramen der Erfolg sicher, überlegt Mathilde. Aber wohl eher dann, wenn die Beteiligten auch auf der Bühne zu sehen sind, heulen, lechzen, schluchzen, sich umarmen, verfluchen und schließlich ermorden. Doch so ohne Aktion als symphonische Dichtung |25|und dann auch noch anstrengende Schwerarbeit für die Ohren und das Hirn?

Nein, sie hat nicht versucht, ihm dieses radikale Stück auszureden. Er hat schon immer herausfordern, sogar beleidigt werden wollen und fühlt sich dann manchmal wie ein Messias. Und sie beeindruckt das, mehr noch: An so einem Abend, wo sich alles gegen ihn richtet und er wie ein dicker kleiner Soldat unbeirrt seine Schlacht schlägt, da spürt sie, wie sie lüstern darauf wird, den müden heißen Kämpfer dann auf sich liegen zu haben. Er, stolz auf den geleisteten Widerstand, weiß das und holt sich diesen Lohn immer ab, gleichgültig, wie viele Gläser Blaufränkischen oder Marillenbrand er davor gekippt hat. Nur: wenn es soweit ist, wenn er, während er mit seinen großen Händen ihre Brüste packt, in sie eindringt, dann spürt sie nichts mehr. Ganz gleichgültig ist ihr Fleisch dann. So gleichgültig, als sei der Tastsinn aus ihr gewichen. Und dann huschen ihre Gedanken hinter geschlossenen Lidern zu Dehmel, dem in vielem lächerlichen Verehrer von früher; wenigstens für Sekundenbruchteile hatte er es geschafft, sie mit der einen oder anderen Berührung zu elektrisieren.

Oder liegt es an ihr? Ist sie erkaltet und hat, wie abgekühlter Grießpudding, eine dicke harte Haut angesetzt? Ist es nicht Arnolds Schuld, sondern ihre?

Da steht er nun, kampfbereit. Nur sie weiß, daß seine dicken Knie zittern unter der weiten Frackhose. Daß sein Hemd schon jetzt naßgeschwitzt ist. Und er den Taktstock so fest umklammert, daß die Fingerspitzen weiß sind.

Der erste von vier Teilen ist noch nicht vorbei, als es anfängt. Vor ihr halten sich die Leute die Ohren zu, |26|fangen an zu zischen wie Wasserkessel, scharren auf dem Boden. Pfiffe sind von hinten zu hören. Der Kerl mit dem kahlgeschorenen Schädel neben ihr sitzt ruhig da und krallt seine Hände ineinander. Will er die daran hindern, sich selbsttätig an die Ohren zu legen, oder vielmehr daran, tätlich zu werden?

Er riecht nach Terpentin, dieser Mensch.

Da beginnt der zweite Teil, wo Melisandes erwachende Liebe zu Pelleas, dem Bruder ihres Ehemanns, beschworen wird. Und ihr Thema und das von Pelleas einander umarmen. Davon ist leider wenig zu hören.

Mathilde spürt, daß ihr Rücken schmerzt. Der Kerl neben ihr krampft die Hände derart gewaltsam ineinander, daß sie kurz überlegt, ob er Epileptiker sei. Aber außer einem unterdrückten Stöhnen gibt er keinen Muckser von sich. Warum sind seine Fingernägel schwarz? Terpentin, dreckige Fingernägel– hat er etwas mit Kunst zu tun?

Sie versucht, sich auf die Musik zu konzentrieren. »Mein Mann«, hat sie Alex einmal gestanden, »interessiert sich nämlich sehr dafür, wie intensiv ich mich für ihn interessiere.« Und Alex hatte nur die Achseln gezuckt. »So ist das eben, wenn man mit einem Genie verheiratet ist.«

»Dann«, hatte sie gesagt, »müßte ich eigentlich mit Alma Mahler und deiner Frau einen Verein gründen.«

Schönberg behauptet, er spüre ihre Konzentration. Die stärke ihm den Rücken. Doch ihre Gedanken flutschen weg. Sie entgleiten mir, denkt sie, wie vor zwei Tagen der noch nicht ganz totgeschlagene Karpfen in der Küche. Sie hat ihn dann nach einem Rezept ihrer jüdisch-muslimischen Mutter aus Sarajewo gekocht, süß-sauer, gegart in einem Sud mit Lorbeerblättern, |27|Zwiebeln, Karotten, Nelken, Pfeffer, Zitronenscheiben und Knoblauch, in den zum Schluß Zucker und Essig kommen. Mein Gott, wenn Arnold wüßte, schimpft sie sich, daß ich an süß-sauren Karpfen denke, während er hier erbittert für seine Sache kämpft, die Feinde im Rücken.

Aber daran ist ihr Nachbar im Saal schuld.

Kennt sie den Kahlkopf vielleicht aus der jüdischen Ecke? Obwohl: ins israelitische Bethaus geht sie so gut wie nie, höchstens bei Beerdigungsfeiern für irgendwelche Onkel oder Tanten. Schließlich ist sie getauft, protestantisch getauft wie ihr Bruder Alex. Und nachdem sie nicht koscher kocht und auch nur selten mal dort einkauft, wo es koschere Sachen gibt… Nein, falsche Spur.

Der Lärm schwillt an, hinter ihr vor allem. Ausgerechnet jetzt, wo diese emphatische Kantilene beginnt, dieser schwierige, großartige Gesang von übermächtigen Gefühlen, die stärker sind als jede Vernunft. Warum setzen sich Stänkerer eigentlich immer nach hinten und niemals nach vorn? Sie wollen den anderen wohl im Nacken sitzen.

Er riecht wirklich nach Terpentin, eindeutig.

Bei der neueröffneten Wäscherei in der Liechtensteinstraße, überlegt Mathilde, da riecht es manchmal nach Terpentin. Warum weiß sie nicht. Könnte er aus ihrem, aus dem neunten Bezirk sein? Nein, das ist keiner, den sie von der Straße kennt oder vom Greißler.

Wie ein aufziehendes Gewitter nimmt der Unmut im Saal zu. Wut staut sich an. Ob er überhaupt durchhalten wird bis zum vierten Teil?

Da– jetzt ist es scharf, gestochen scharf und glasklar, das Bild: Der Kahlgeschorene steht in einem der wohltuend |28|nackten Säle im Secessionsgebäude und glotzt auf ein Gemälde. Er schaut nicht, er glotzt. Der Unterkiefer hängt herunter, sein Oberkörper ist vorgeneigt, als starrte er den eigenen Augäpfeln nach, die bereits aufgesogen sind von dem Bild. Vorletztes Jahr muß das gewesen sein, bei der Impressionistenausstellung. Genau, eine der fünf Van-Gogh-Landschaften ist es gewesen, die von den meisten Leuten ausgelacht worden sind. Und von ein paar wenigen erkannt wurden als Eruptionen eines Genies, das nichts Vergleichbares kennt. Ein Maler, könnte er Maler sein, der Mann neben ihr?