Waldis große Tat - Gert Rothberg - E-Book

Waldis große Tat E-Book

Gert Rothberg

0,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. An dem kleinen See zwischen Gut Schoeneich und dem Kinderheim Sophienlust hielt ein Wagen. Eine junge Frau stieg aus. Es war ihr anzusehen, dass sie ein Kind erwartete. Sie neigte sich zu dem heruntergekurbelten Fenster des Wagens. »Lass dir Zeit, Hans-Joachim. Ich will einen langen Spaziergang am See machen.« »Muss das wirklich sein, Andrea?«, erklang vom Fahrersitz eine Männerstimme. Der junge Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn machte ein bedenkliches Gesicht. »Du weißt, wie ungern ich dich allein lasse. Außerdem hattest du mir versprochen, mich auf die Bauernhöfe zu begleiten. Auf einmal ist dir etwas anderes eingefallen.« Die hübsche junge Andrea lachte. »Ja, werdende Mütter sollen launisch sein, Hans-Joachim. Das musste ich dir eben auch einmal beweisen.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Nein, so ist es nicht. Ich bleibe einfach lieber hier am See, statt im Wagen über die Feldwege zu deinen Bauern zu hoppeln. Dort hast du ja doch keine Zeit für mich, und nur im Kuh- oder Pferdestall zu stehen, macht mir heute keinen Spaß.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 161

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust Extra – 30 –Waldis große Tat

Ein kleiner Hund als Lebensretter!

Gert Rothberg

An dem kleinen See zwischen Gut Schoeneich und dem Kinderheim Sophienlust hielt ein Wagen. Eine junge Frau stieg aus. Es war ihr anzusehen, dass sie ein Kind erwartete. Sie neigte sich zu dem heruntergekurbelten Fenster des Wagens. »Lass dir Zeit, Hans-Joachim. Ich will einen langen Spaziergang am See machen.«

»Muss das wirklich sein, Andrea?«, erklang vom Fahrersitz eine Männerstimme. Der junge Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn machte ein bedenkliches Gesicht. »Du weißt, wie ungern ich dich allein lasse. Außerdem hattest du mir versprochen, mich auf die Bauernhöfe zu begleiten. Auf einmal ist dir etwas anderes eingefallen.«

Die hübsche junge Andrea lachte. »Ja, werdende Mütter sollen launisch sein, Hans-Joachim. Das musste ich dir eben auch einmal beweisen.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Nein, so ist es nicht. Ich bleibe einfach lieber hier am See, statt im Wagen über die Feldwege zu deinen Bauern zu hoppeln. Dort hast du ja doch keine Zeit für mich, und nur im Kuh- oder Pferdestall zu stehen, macht mir heute keinen Spaß. Schau doch, welch herrliches Wetter wir haben. Ich wundere mich nur, dass niemand von Sophienlust am See ist.«

»Es wäre mir auch lieber, wenn du Gesellschaft hättest, Andrea.«

»Aber mir nicht. Heute nicht. Ich freue mich auf das Alleinsein. Ich war in den letzten Tagen sehr oft in Sophienlust. Immer war dort großer Trubel. So gern ich die Kinder habe, jetzt werden sie mir doch schon manchmal zu viel.« Andrea warf ihrem Mann im Wagen eine Kusshand zu. »Also, sieh zu, dass du einem Kälbchen oder einem Fohlen auf die Welt verhilfst. Darüber freust du dich doch immer am meisten.«

Hans-Joachim seufzte. »Lieber würde ich mit dir hier spazieren gehen. Geh nicht zu nahe an das Wasser heran, Andrea, damit du nicht abrutschst.«

Die junge Frau lachte. »Ich kenne doch hier jede Stelle, Hans-Joachim. Hier tobte ich schon zu einer Zeit herum, da kannte ich dich noch gar nicht.«

»Ja, das mag stimmen. Aber heute kannst du nicht mehr toben, mein Schatz.«

»Freust du dich darüber vielleicht auch noch? Im nächsten Jahr bin ich wieder mit von der Partie. Das habe ich Nick, Henrik und den Großen von Sophienlust schon versprochen.«

»Wirst du mit dem Baby auf dem Arm mit den anderen um die Wette laufen, Andrea? Ja, ich glaube, du würdest auch das noch fertigbringen. Aber jetzt muss ich fahren. Ich rechne damit, dass ich in einer halben Stunde wieder hier bin. Ich werde laut hupen, falls ich dich nicht gleich entdecke. Bis dann, Andrea.«

»Bis dann, Hans-Joachim.« Andrea winkte ihrem Mann noch, dann ging sie langsam am Seeufer entlang. Schon nach wenigen Minuten schrak sie zusammen. Im Ried hinter ihr raschelte es. Keuchender Atem war zu hören, und jetzt tauchte ein Dackel auf.

»Waldi, du bist es? Mir so einen Schrecken einzujagen!« Andrea beugte sich zu dem Langhaardackel hinab und streichelte sein glänzendes sattbraunes Fell. »Dein Herrchen hat dich also aus dem Wagen gelassen und zu mir geschickt. Ich hätte mir denken können, dass ihm noch etwas einfallen würde. Also, meinetwegen, begleite mich. Aber vielleicht wird es dir hier bald zu langweilig. Auf einem Bauernhof hätte es dir sicher besser gefallen. Solche Besuche sind doch für dich immer sehr interessant.«

Andrea richtete sich auf, und Waldi drückte sich an ihre Beine. Die junge Frau kannte sein Liebesbedürfnis. Noch einmal bückte sie sich und tätschelte ihn. »Ja, ja, du bist der Kleinste, aber auch der Tüchtigste. Möchtest du das wieder einmal bestätigt haben?«

Waldi bellte freudig. Er lief ein Stück von Andrea weg und kam wieder zu ihr zurück. Die junge Frau wusste, warum er so übermütig war. Oft nahm sie ihre Dogge Severin auf ihre Spaziergänge mit. Das machte Waldi stets sehr eifersüchtig. Kein Wunder, wenn ihm ausgerechnet ein solches Ungetüm den Rang ablief. Auch im Tierheim hatte Waldi Schwierigkeiten. Zwar trug es seinen Namen, und Waldi galt als der Chef, aber seine kurzen krummen Beine brachten ihm doch gegenüber der Dogge, dem Bernhardiner und anderen großen Hunden manchen Nachteil ein. Deshalb musste man ihm ab und zu zeigen, dass ihm die besondere Gunst gehörte.

»Lauf zu, Waldi«, rief Andrea. »Aber ja nicht bis in den Wald.«

Der Dackel legte den Kopf schief, schlenkerte dann mit seinen langen Ohren und preschte durch das Ried.

Andrea ging noch ein Stückchen weiter bis zu einem Findling, der zum Sitzen einlud. Obwohl sie eigentlich einen weiten Spaziergang hatte machen wollen, setzte sie sich auf den Stein. Es war ein sehr schwüler Tag. Selbst um diese späte Nachmittagsstunde war es noch unerträglich. So frisch Andrea sich auch ihrem Mann gegenüber gezeigt hatte, jetzt fühlte sie sich doch schon müde. Aber sie konnte den Blick über den See auch von dieser Stelle aus genießen. Und träumen konnte sie auf diesem Platz ebenfalls.

Um Andreas Mund legte sich ein weiches Lächeln. Ja, das Träumen spielte in ihrem Leben eine große Rolle. Erst recht, seitdem sie das Kindchen unter dem Herzen trug. Von Tag zu Tag freute sie sich genauso wie Hans-Joachim mehr darauf. Beide konnten sie es kaum noch erwarten, bis sie das kleine Wesen würden im Arm halten können.

Andrea dachte in dieser Stunde auch an die Kinder, die ihr in den letzten Jahren ganz besonders ans Herz gewachsen waren. Immer waren es Schützlinge ihrer Mutter gewesen, Kinder, die durch Unglück in der Familie, durch den Verlust der Eltern oder weil man sie verstoßen hatte nach Sophienlust gekommen waren. So manchem dieser Kinder hatte auch sie, Andrea, helfen können. Da war der kleine Ali gewesen, den sie am liebsten bei sich behalten hätte. Aber er lebte nun bei seinen Eltern in Stuttgart und war häufig Gast in Sophienlust. Dann Manuela, von der die Bärin Isabell stammte, die jetzt mit ihren Kindern Taps und Tölpl im Tierheim lebte. Noch andere Kindernamen gingen Andrea durch den Sinn, und mit jedem Namen war ein besonderes Schicksal verbunden. Andreas Hand legte sich jetzt zärtlich auf den Leib. »Du wirst immer ein Zuhause haben«, redete sie vor sich hin, »immer Eltern, die dich lieben. Sehr junge Eltern, die aber das Glück werden zu schätzen wissen, ein Kind zu haben.«

Im Ried raschelte es. Waldi kam wieder einmal nachsehen, ob er gebraucht wurde. Auch wenn Andrea sehr leise gesprochen hatte, mochte er sie doch gehört haben. Sie beugte sich zu ihm hinab und gab ihm einen Klaps. »Ich rede nur mit mir selbst, Waldi, und mit jemandem, den du auch einmal sehr lieb haben wirst. Strolche getrost noch ein bisschen herum, bis unser allerhöchster Herr zurückkommt.«

Waldi ließ sich das nicht zweimal sagen. Er verschwand schon wieder. Andrea sah ihm nach. Wohl war er selbst nicht mehr zu entdecken, aber sie konnte seine Spur an den schwankenden hohen Halmen verfolgen.

Plötzlich kam es Andrea vor, als höre sie eine Stimme. Schade, dachte sie, ich bin doch nicht so lange allein geblieben, wie ich hoffte. Kam vielleicht gar jemand von Sophienlust? Nein, das war keine sprechende Stimme. Es kam ihr eher vor, als höre sie jemanden weinen.

Erschrocken lauschte Andrea. Ja, ein Kind weinte. Es musste am gegenüberliegenden Ufer des Sees sein. Auch dort stand hohes Ried. Bewegte es sich nicht?

Nun rutschte Andrea vor Schreck von dem Findling. Als sie auf den Füßen stand, stützte sie sich mit der Hand auf das Gestein. Wie gebannt starrte sie hinüber in das Ried. Es bewegte sich genauso wie vorhin, als Waldi verschwunden war.

»Nein!«, schrie Andrea auf und presste die Hände auf die Brust. Das Ried am gegenüberliegenden Ufer hatte sich geteilt. Ein kleines schwarzhaariges Mädchen war aufgetaucht. Da das Ried viel höher als das Kind war, hatte Andrea es nicht früher sehen können. Aber jetzt stand das Kind auf dem schmalen Streifen Sand am See.

»Geh zurück, bleib stehen!«, schrie Andrea und streckte die Arme abwehrend aus. Warum tauchte denn keiner hinter dem kleinen Mädchen auf? Es konnte doch nicht allein durch das Ried gekommen sein.

Das Kind starrte zu Andrea herüber und machte noch einen Schritt vorwärts.

Gehetzt sah sich Andrea um. Für sie gab es nur eine Möglichkeit, zu dem kleinen Mädchen zu kommen. Sie musste um den See herumlaufen. Aber das wäre schon normalerweise ein weiter Weg für sie gewesen. In ihrem Zustand hätte sie noch mehr Zeit dazu gebraucht.

Wieder schrie Andrea. Diesmal mit sich überschlagender Stimme: »Geh zurück! Du stürzt ja in den See! Geh zurück!« Das Kind schien ihre Stimme nicht zu hören, aber es ließ den Blick nicht von ihr. Hilfesuchend streckte es die Arme aus. Jetzt lachte es, und nun machte es nicht nur einen weiteren Schritt vorwärts, nein, es hob die Beinchen zum Laufen, als habe es nicht Wasser, sondern festen Boden vor sich.

Andrea schlug die Hände vors Gesicht. Nur für Sekunden. Als sie wieder an das jenseitige Ufer sah, war das kleine Mädchen von dem Sandstreifen verschwunden. Jetzt tauchte es einen Meter davon im Wasser auf, mit schlagenden Armen.

»Waldi!«, schrie Andrea gellend und setzte sich in Bewegung. Sie begann auf dem schmalen Steig durch das Ried zu laufen, das ihr die Sicht auf den See nahm. Jetzt hörte sie Waldi bellen. Er war nicht zu ihr zurückgekommen. Also schien er am jenseitigen Ufer zu sein. Andrea stolperte, raffte sich auf. »Das Kind! Das Kind!«, kam es stoßweise über ihre Lippen. Sie spürte, dass sie die Kraft verlor, und hatte Angst, zusammenzubrechen. Schon stürzten Tränen über ihr Gesicht. Warum hatte sie nicht ins Wasser springen und zu dem Kind hinüberschwimmen können? Zu jeder anderen Zeit hätte sie das ohne besondere Mühe geschafft. Der See war nicht allzu breit.

Jetzt torkelte Andrea aus dem Ried heraus ans Ufer. Sie war ein gutes Stück weitergekommen, aber ihr Atem kam keuchend aus ihrer Brust, und ihre Beine zitterten. Sie musste sich niederhocken.

Andrea hatte jetzt wieder einen freien Blick zur Unglücksstelle. »Waldi!«

Der Name des Dackels kam nur mehr zitternd über die Lippen der jungen Frau. Ihre Augen waren weit geöffnet.

Andrea starrte auf den im See paddelnden kleinen Hund, der verzweifelt kämpfte. Immer wieder schnappte er nach einem bunten Kleidchen. Ein schwarzer Kinderkopf tauchte auf, ging wieder unter. Die kleinen Arme schlugen jetzt nicht mehr um sich.

Noch einmal raffte Andrea sich auf. Sie taumelte ein Stück weiter. Die Hälfte des Weges hatte sie schon geschafft. Mit letzter Anstrengung rief sie: »Brav, Waldi, brav!« Sie sah, dass der Dackel das Kind bis an den Rand des Wassers gezogen hatte. Er stand schon im Sand. Wieder biss er sich in dem Kleidchen fest, zog und zerrte daran.

»Armer, kleiner Waldi, du bist nicht stark genug«, flüsterte Andrea. Sic sank in sich zusammen. »Severin hätte es geschafft …«

Andrea hörte nicht mehr das laute Hupen, sie sah auch nicht, dass ihr Mann aus dem Wagen sprang. Sie konnte auch nicht mehr Waldis klägliches kraftloses Bellen hören.

Aber Hans-Joachim von Lehn entging es nicht. Entsetzt sah er am Ufer des Sees entlang. Warum hockte Waldi so klitschnass und so, als läge er in den letzten Zügen, dort drüben im Sand? Hans-Joachims Gesicht verlor alle Farbe. Jetzt war nur ein Gedanke in ihm – Andrea. Er konnte sie nirgends entdecken.

Hans-Joachim setzte sich in Bewegung. In weiten Sprüngen rannte er los. Erst jetzt sah er den schwarzen Kinderkopf auf dem Sand und den kleinen Körper, über den immer wieder das Wasser schwappte.

Mit einem Ruck riss sich Hans-Joachim die Schuhe von den Füßen. Er sprang in den See. Hinüber ans jenseitige Ufer zu schwimmen, bedeutete Zeitgewinn gegenüber einem noch so schnellen Lauf um den See herum.

Mit kräftigen Stößen durchquerte Hans-Joachim von Lehn den See. Er konnte nicht ahnen, dass wenige Meter von der Stelle entfernt, an der jetzt seine Schuhe lagen, auch seine junge Frau auf Hilfe wartete. Andrea war bewusstlos geworden.

Als Waldi sein Herrchen kommen sah, fand er noch einmal die Kraft, laut anzuschlagen.

»Ja, ja, ich komme schon, Waldi«, rief Hans-Joachim. Er fand, knapp vor dem Ufer Grund unter den Füßen, dort, wo das kleine Mädchen schon hilflos mit den Armen hatte rudern müssen.

Hans-Joachim schob das Kind jetzt vollends auf den Strand. »Mein Gott, Waldi!«, stöhnte er und beugte sich über das Mädchen. Er sah in ein rundes bleiches Gesichtchen, auf Augen, die geschlossen waren. Seine Hände streckten sich aus. Er hob das Kind an den Füßen hoch und stellte es auf den Kopf. Wasser lief aus Mund und Nase des Kindes.

Waldi lag währenddessen ausgestreckt auf dem Boden. Seine Flanken zitterten, sein Atem hechelte. Er beobachtete, was Hans-Joachim tat. Dann setzte er sich mühsam auf, sah über den See und begann zu klagen.

»Wo ist dein Frauchen, Waldi?« Das fragte Hans-Joachim mit rauer Stimme, während er keinen Blick von dem Kind ließ. »Hat dein Frauchen Hilfe holen wollen? Ist Andrea nach Sophienlust gelaufen?«

Der Hund konnte ihm keine Antwort geben. Er starrte nur über den See. Jetzt wollte er aufstehen, sackte aber wieder zusammen. Erneut ließ er ein jämmerliches Klagen hören. Es fraß sich in Hans-Joachims Herz. Er kannte Waldi. Es musste noch etwas anderes geschehen sein. Waldi klagte sicher nicht nur deshalb, weil er zu Tode erschöpft war und Angst um das Kind hatte.

Ein Hüsteln klang jetzt an Hans-Joachims Ohren. Der Tierarzt stellte das Kind auf die Füße und hielt es unter den Armen fest. Nun begann das Mädchen laut zu husten.

»Es war noch nicht zu spät«, redete Hans-Joachim vor sich hin. Er hob das Kind auf seine Arme und sah sich um. Welches war der kürzeste Weg zu seinem Wagen? Er konnte mit dem Kind nicht durch den See schwimmen.

Schon begann er zu laufen. Quer durch das Ried, ohne den ausgetretenen Steig zu beachten. Dadurch kam er von der anderen Seite zu seinem Wagen und nicht an der Stelle vorbei, an der er in den See gesprungen war. »Bleib sitzen, Waldi!«, rief er zurück. »Ich komme gleich wieder, ich hole dich.« Schon bettete er das kleine Mädchen in den Fond seines Wagens, sprang auf seinen Sitz und startete.

Minuten später hielt Hans-Joachim vor dem Kinderheim Sophienlust.

Schwester Regine stand auf der Freitreppe und sah ihm entsetzt entgegen.

»Rufen Sie sofort Frau Dr. Frey an. Sie muss gleich kommen. Das Kind war am Ertrinken. Es ist noch bewusstlos. Schnell, bitte, Schwester Regine.« Als er mit dem Kind auf den Armen die Halle betrat, hatte Schwester Regine schon den Hörer in der Hand.

Aus dem ersten Stock kam Denise von Schoenecker herunter. Sie war durch die laute Stimme ihres Schwiegersohnes aufmerksam geworden.

Eben verschwand Hans-Joachim in dem kleinen Zimmer, das für Erste Hilfe eingerichtet worden war.

»Ist Andrea nicht hier?«, rief Hans-Joachim durch die offen stehende Tür.

»Andrea?« Denise von Schoenecker sah ihn entsetzt an. »Nein.« Sie lief zu der Liege mit dem Kind. »Wieso fragst du nach Andrea?«

Schwester Regine kam herein. »Frau Dr. Frey ist in wenigen Minuten hier. Ein Glück, dass sie nicht unterwegs war.« Schon neigte sie sich über das bewusstlose Kind.

Hans-Joachim taumelte aus dem Zimmer. »Das Kind ist jetzt bei Ihnen besser aufgehoben, Schwester Regine«, stammelte er und strich sich über die Stirn. »Mutti, bitte, rufe in Schoeneich an, ob Andrea dort ist.« Er sah an sich hinunter. Auf seine nasse Kleidung, auf seine Füße in nassen Socken. »Ja, sie muss in Schoeneich sein. Sie wird Vati haben zu Hilfe holen wollen.« Er sah Denise mit einem Blick an, als müsste sie ihm schon jetzt bestätigen, dass seine Vermutung stimmte.

Denise lief ans Telefon. Hans-Joachim hörte sie sprechen. Aus ihrer Reaktion erkannte er, dass Andrea auch in Schoeneich nicht sein konnte. Schon rannte er zum Ausgang. »Ich fahre an den See. Jemand soll nachkommen«, rief er zurück und verschwand.

Im Wagen redete er laut, als könnte er damit seine Angst übertönen. »Was ist eigentlich passiert? Waldi muss das Kind aus dem See gezogen haben. Und Andrea? Wo ist sie?« Mit quietschenden Bremsen hielt er am Ufer des Sees. Er formte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund und schrie: »Andrea!«

Hans-Joachim bekam keine Antwort. Aber hinter ihm hielt ein Wagen. Denise sprang heraus. »Frau Dr. Frey ist schon in Sophienlust.« Sie war totenblass. »Um Gottes willen, Hans-Joachim, was ist passiert? Wieso suchst du Andrea hier?«

»Ich habe sie am See zurückgelassen, als ich …«

Hans-Joachim sprang ein paar Schritte vor. »Waldi!« Er nahm den Dackel auf die Arme. Der Hund war eben aus dem Ried geschlichen gekommen. Seine Zunge hing weit heraus. Er hechelte jetzt noch stärker als vorher. »Ja, du brauchst auch Hilfe.«

Waldi strebte von Hans-Joachims Arm herunter. Er jaulte jämmerlich.

Plötzlich sah Hans-Joachim auf die Stelle, an der Waldi eben aus dem Ried gekommen war. War der Dackel um den ganzen See herumgelaufen? Es musste so sein. Aber warum hatte er nicht den kürzeren Weg gewählt? Den Weg, den er, Hans-Joachim, vorhin mit dem Kind auf den Armen genommen hatte? Warum war Waldi nicht seiner Spur gefolgt? Wenn er schon seinen Platz an der Unglücksstelle hatte verlassen wollen, so wäre es natürlicher gewesen, den anderen Weg zu nehmen. Und warum strebte Waldi jetzt in das Ried zurück, obwohl seine kleinen krummen Beine immer wieder vor Erschöpfung zusammenknickten und er fast auf dem Bauch rutschte?

»Waldi, soll ich mitkommen?«, fragte Hans-Joachim.

Der Dackel versuchte zu bellen und schlich dabei weiter.

»Komm mit, bitte, Mutti«, bat Hans-Joachim. Angst stand in seinen Augen.

Denise nickte ihm zu. Ihre Lippen pressten sich vor Erregung zusammen.

»Wir sind auf dem Steig.« Hans-Joachim nahm Waldi auf den Arm. »So kommen wir schneller vorwärts.« Mit weit ausholenden Schritten ging er den Steig entlang. Aber plötzlich wurde Waldi auf seinem Arm unruhig.

Hans-Joachim setzte den Dackel ab. Und nun schlug Waldi die Richtung mitten ins Ried hinein ein. Seine Nase schob sich auf dem Boden entlang, sein Klagen wurde stärker.

»Ist dein Frauchen hier, Waldi?«, fragte Hans-Joachim atemlos. Doch er kam nicht mehr dazu, den Dackel zu beobachten. Er starrte auf die freie Stelle im Ried, auf den Sandplatz am Ufer. »Andrea!«

Als Denise ihren Schwiegersohn erreicht hatte, hielt er Andrea schon auf den Armen. »Sie ist bewusstlos, Mutti.«

Hans-Joachim lief an Denise vorbei. Er spürte nicht die Unebenheiten des Bodens, nicht die gegen sein Gesicht klatschenden Halme. Er rannte zum Wagen zurück.

Dort standen Nick, Pünktchen und Henrik. Alle drei schrien auf, als sie Andrea sahen. »Pünktchen, setz dich in den Fond, schnell. Du musst Andrea halten. Nick, warte auf Mutti. Kommt dann alle nach. Ich fahre nach Sophienlust. Frau Dr. Frey ist dort.« Schon bettete Hans-Joachim seine bewusstlose Frau in den Fond.

Pünktchen legte ihre zitternden Arme um Andreas Oberkörper.

»Andrea!«, weinte sie.

Als Hans-Joachim durch das Tor von Sophienlust fuhr, schrie Pünktchen: »Andrea bewegt sich, sie atmet.«

»Ja, sie atmet, das habe ich bemerkt«, sagte Hans-Joachim mit dumpfer Stimme. Er ließ den Wagen auslaufen, sprang heraus und nahm Andrea wieder auf seine Arme. Pünktchen lief voraus.

In der Halle stand Frau Rennert. »Das Kind ist zu sich gekommen«, rief sie. Jetzt erst sah sie, dass Hans-Joachim Andrea auf den Armen trug. Die Heimleiterin unterdrückte einen Aufschrei. »In das Zimmer ihrer Mutter, Herr Doktor«, sagte sie gleich darauf mit beherrschter Stimme. »Schaffen Sie es noch über die Treppe? Ich schicke gleich Frau Dr. Frey.« Sie lief in das Erste-Hilfe-Zimmer.

Hans-Joachim hatte Andrea gerade erst auf die Couch im Zimmer von Denise gelegt, als Dr. Anja Frey eintrat.